Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 83: Tanz mit dem Phantom -------------------------------- Tanz mit dem Phantom „Wenn du die Wahl hast, ob du steh‘n bleibst oder tanzt, dann hoff‘ ich, dass du tanzt.“ (aus dem Lied Wenn du die Wahl hast von Roger Cicero)   „Was?“ Ariane fühlte sich taub. Die Tränen hatten sie völlig erschöpft und ein dumpfes Gefühl in ihrem Schädel hinterlassen. Sie war froh gewesen, dass es im Aufenthaltsraum ein Waschbecken und Papiertücher gab, mit denen sie sich die Nase geputzt hatte. Langsam war ihr alles egal. „Schick ihn einfach weg!“, rief Serenas Stimme von der anderen Seite des Telefons. Ariane fragte nicht nach der Logik dieses Unsinns. Sie fand nicht die Kraft für eine Entgegnung. Schließlich legte sie auf. Für einen Moment saß sie bewegungslos da. Sie wollte überhaupt nicht, dass irgendwer zu ihr kam. Gut, dass sie den Türriegel des Raums zugeschoben hatte. Diese Riegel waren für den Fall eines Amoklaufs an allen Türen des Schulgebäudes angebracht worden, sodass die Schüler auch ohne den Schlüssel abschließen konnten. Im nächsten Moment hörte sie den Versuch, die Tür zu öffnen, der von wenig Erfolg gekrönt war. „Ich bin kein Amokläufer.“, sagte Eriks Stimme. Er hatte sofort verstanden, was seinen Versuch behindert hatte. Ariane schwieg. Auch von der anderen Seite kam kein Geräusch. Sie wartete. Noch immer drang kein Laut durch die Tür. Dass Erik so schnell aufgegeben haben sollte, glaubte sie nicht. Sie wartete. Draußen war es still. Vorsichtig erhob Ariane sich vom Sofa und näherte sich der Tür, darauf bedacht, mit ihrem Kleid keine unnötigen Geräusche zu erzeugen. Die Strumpfhose, die sie trug, hatte sicher schon mehrere Laufmaschen, vielleicht sogar Löcher, aber dafür machte sie im Gegensatz zu den Absatzschuhen keinen Lärm. Sie wusste nicht einmal, wieso sie sich überhaupt bewegte. Sie wollte nicht mehr denken. Ariane lauschte. Nichts. Sie nahm das Ohr von der Tür und wartete weitere Momente. Es änderte sich nichts an der Stille jenseits der Tür. Sie kniete sich hin und schaute durch das Schlüsselloch. Fast hätte sie erwartet, Eriks Auge ihr entgegenstarren zu sehen. Dem war aber nicht so. Niemand war zu erkennen. Sie hielt es immer noch nicht für möglich, dass er so einfach gegangen sein sollte. Andererseits hatte Serena gesagt, sie solle ihn einfach wegschicken. Sie wollte Serena nicht anrufen, um zu erfahren wie sie das gemeint hatte, sonst hätte Erik – so er noch draußen stand – es gehört. Also wartete sie. Schließlich wurde ihr das Warten zu blöd. Sie lauschte nochmals, kontrollierte noch einmal das Schlüsselloch und griff dann nach dem Türriegel – Sie hielt inne. Ihr kam eine bessere Idee. Sie ging zurück zum Sofa, auf dem sie ihre Handtasche, das Handy und ihre Schuhe hatte liegen lassen. Anschließend lief sie zurück zur Tür. Sie wählte Eriks Nummer und horchte, ob sie sein Handy klingeln hören konnte. Wieder nichts. Sie beendete den Anruf. Eigentlich gab es keinen Grund nun nachzusehen, ob er wirklich nicht da war. Es war hirnrissig und unnötig. Aber für einen Moment fühlte Ariane eine regelrechte Freude bei ihrer Detektivarbeit aufkommen. Endlich etwas, das sie ablenkte. Nun wollte sie prüfen, ob sie richtig gelegen hatte. Sachte schob sie den Riegel zurück und öffnete einen Spalt breit. Schlagartig schoss eine Hand vor und packte die Tür. Reflexartig wollte Ariane die Tür wieder zu ziehen, aber die andere Kraft war zu stark. Erik rückte in ihr Blickfeld. Er hatte sich neben der Tür versteckt gehabt und machte nun ein Schließen der Tür unmöglich. „Du willst doch wohl nicht meine Hand einklemmen.“, meinte er lässig. „Dann lass los!“ „Hatten wir das nicht schon einmal?“ Ariane unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass diese Tür nach außen geöffnet wurde, während ihre Haustür, bei der der letzte Streit zwischen ihnen stattgefunden hatte, sich nach innen öffnen ließ, sodass sie dieses Mal ziehen statt drücken musste. „Ich will nicht, dass du reinkommst.“, sagte Ariane, ohne ihn anzusehen. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, dann bemerkte sie eine Bewegung und sah, dass er die Hand weggezogen hatte. Für einen Moment starrte sie ihn an. Er schien nicht länger vor zu haben, sie am Schließen der Tür zu hindern. In der nächsten Sekunde, ließ seine zweite Hand den Türgriff los, so dass Ariane automatisch die Tür zu zog, da sie mit dem plötzlichen Ablassen der gegnerischen Kraft nicht gerechnet hatte. Einen Augenblick lang stand sie da, den Türgriff umfasst. Einem Teil ihres Verstandes war klar, dass es nur konsequent war, nun den Riegel vorzuschieben. Aber sie hörte nicht auf diesen Teil. Es kam ihr lächerlich vor. Sie ließ von der Tür ab und ging hinüber zum Sofa, wo sie sich in das Polster fallen ließ, ohne weiter darüber nachzudenken. Vielleicht wollte sie wissen, was jetzt passieren würde, wollte abgelenkt sein. Nein. Sie wollte einfach nicht denken.   Erik hatte den Laut, den der Riegel hätte erzeugen müssen, nicht gehört. Er wartete einen weiteren Moment ab und fragte sich, ob es richtig war, zu ihr zu gehen. Aber sie hatte nicht verzweifelt gewirkt. Sie hatte sogar die Kraft besessen, ihm Paroli zu bieten, ohne in Tränen auszubrechen. Ariane war nicht wie Serena. Solch ein Spiel hätte er mit Serena nicht veranstaltet. Aber Serena hätte sich gegen seine Anwesenheit auch nicht so gesträubt. Zögerlich umfasste er den Türgriff. Er hatte bei dem kurzen Blick auf Ariane ihre verweinten Augen gesehen. Ihre Wimperntusche und ihr Augen-Make-up waren verlaufen. Ihr Haar war von etwas verklebt. Er ging davon aus, dass es sich um Bowle handelte, da diese augenscheinlich auch ihr Kleid ruiniert hatte. Er musste herausfinden, was geschehen war, ohne sie zu fragen. Er drückte den Türgriff nach unten und zog die Tür auf. Ariane saß auf dem Sofa auf der rechten Seite des Raums. Gegenüber stand eine weitere, farblich nicht passende Couch. Zwischen den beiden Möbelstücken befand sich ein niedriger Tisch. Das hintere Ende des Raums wurde von mehreren Tischen und Stühle eingenommen, an denen man seine Schulaufgaben erledigen konnte. Rechts neben der Tür war ein Waschbecken mit Spiegel angebracht, links fanden sich mehrere Kleiderhaken. Erik schloss die Tür hinter sich mit einem dumpfen Laut und schob den Riegel wieder vor. Er wollte nicht, dass die anderen doch noch auf die Idee kamen, sich einzumischen. Ariane sah noch immer nicht in seine Richtung und schien auch das Schließen des Riegels nicht als Anlass zu einem Kommentar zu nehmen. Erik ging langsam zu ihr, seine Lederschuhe klackten auf dem Holzboden. Etwas abseits von ihr ließ er sich auf die Tischplatte sinken. Kurz warf er einen Blick auf sie, dann wandte er sich ab. Für einen Moment saßen sie schweigend da. Nur das leise Ticken einer Uhr im hinteren Teil des Raums war zu hören. „Willst du nicht fragen?“ Er glaubte, einen bitteren Unterton aus ihrer Stimme heraushören zu können. So als erwarte sie, seinen Spott zu ernten. Dass sie das annahm, bestürzte ihn. Er antwortete nicht. Ariane schnaubte zynisch. „Sehe ich so erbärmlich aus, dass du dich nicht traust?“ Mit einem Mal sprang Erik auf und schlug mit der Hand gegen die Wand hinter ihr. Nun stand er direkt über sie gebeugt und sah aufgebracht zu ihr herab. „Als wäre dein Aussehen wichtig!“, donnerte er. Sie sah verwirrt zu ihm auf. Erik nahm die Hand von der Wand und trat einen Schritt zurück, ohne sie anzusehen. Er holte Atem und sprach mit sachlicher Stimme: „Warum habe ich noch nie gesehen, dass etwas an dir nicht perfekt gestylt war? Warum gibt es keinen einzigen Moment, in dem du nicht so aussiehst, als könntest du direkt zu einem Fotoshooting gehen?“ Ariane starrte ihn an, als habe er ihr eine Ohrfeige verpasst. Ihre Haltung war jäh aufrecht, als sei ihre Würde das Letzte, das ihr geblieben war. Sie erinnerte ihn an eine Königin vor ihrer Hinrichtung. Und offenbar wartete sie nur auf seinen Richterspruch. Erik atmete aus und setzte sich wieder. „Warum hast du dich hier eingesperrt? Er sah sie an. „Weil du zur Abwechslung mal nicht perfekt aussiehst?“ Abrupt fuhr Ariane auf und Erik konnte gerade noch ausweichen, ehe sie ihm eine Ohrfeige verpassen konnte. „Du weißt nichts! Gar nichts über mich!“ Er konnte plötzliche Tränen in ihrem stolzen Gesicht auffunkeln sehen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch, sodass sie schließlich den Blick abwandte und sich zu beruhigen suchte. Sie blinzelte und eine Träne löste sich aus ihren Augen, woraufhin sie ihr Kinn reckte und nach oben sah, wie um weitere Tränen davon abzuhalten, ihrem Inneren zu entkommen. Erik sah sie geschockt an. Stockend brachte sie Worte hervor. „Weißt du, die Leute haben mir immer wieder gesagt, wie ich bin.“ Sie musste schlucken, um weiterzusprechen. Sie befeuchtete ihre Lippen und schnappte nach Luft, die sie vorsichtig wieder ausatmete. „Ariane, du bist hübsch, Ariane, du bist schlau, du bist eine Prinzessin, du hast ein gutes Herz. Ich habe ihnen geglaubt.“ Wieder sah er ihre Augen neue Tränen bilden. „Dann wurde ich älter und die Leute sagten. Ariane, du bist hübsch, Ariane, du bist eingebildet, Ariane, du bist nur auf dein Äußeres aus und nichts weiter.“ Sie gab sich nicht länger die Mühe, die Tränen zu verstecken. „Du bist oberflächlich. Und ich“ Sie schnappte nach Luft „habe ihnen geglaubt.“ Sie schniefte und atmete nun durch den Mund. Tränen rannen ihre Wangen entlang. Für einen Moment biss sie sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Sie sog Luft in ihren Mund und erzeugte dabei ein kaum hörbares Geräusch. „Du fragst mich, warum ich immer perfekt gestylt bin? Warum wohl?“ Sie sah ihn nun erstmals wieder an. „Das einzige,“ Sie musste erneut Atem holen, ihre Augen wurden von neuen Tränen überschwemmt. „das ich habe, ist doch mein Aussehen.“ Wieder liefen ihre Augen über, dieses Mal gefolgt von ihrer Nase. Schnell wischte Ariane es weg und griff nach dem Bündel Papiertücher, das sie wohl schon zuvor für solche Fälle bereitgelegt hatte. Sie schnäuzte sich. „Noch nie hat irgendwer etwas anderes gesehen als mein Aussehen.“, schluchzte sie und kniff die Augen zusammen. Erik erhob sich. Er berührte ihre Schulter. „Wie kannst du so was sagen?“ Ariane weinte. „Ich sehe dich nicht so, Vivien und die anderen sehen dich nicht so.“ Sie schluchzte und nahm die Hände vors Gesicht. „Ich habe nie etwas gemacht, dass die Leute mich arrogant finden könnten. Aber sie tun es trotzdem. Alle denken, ich sei so selbstverliebt.“ Ihre weinerlichen Atemgeräusche konnte sie nicht unterdrücken. „Ich habe doch nie etwas gemacht.“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Erik dann mit einem Mal stumm an. Erik wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, erst als ein bitteres Lächeln auf ihren Lippen erschien, begriff er ihre Gedanken. Er hatte sie am Anfang genauso behandelt – wie jemand, der an ihr nur das schöne Gesicht sah und sie für oberflächlich hielt. Die Erkenntnis traf ihn. Ihre Stimme war jäh ruhig. „Wenn ich mein Aussehen nicht mehr habe, dann habe ich gar nichts mehr.“ Erik fühlte die Worte wie einen Schlag in den Magen. Er erinnerte sich an das Gefühl, das er gehabt hatte, als er sein altes Selbst im Spiegel gesehen hatte. Er nahm die Hand von Arianes Schulter. „Willst du dich selbstbemitleiden?“ Ariane reagierte nicht. „Glaubst du, was diese Leute sagen?“ Wieder keine Reaktion. „Indem du das denkst, tust du was diese Leute wollen! Du bist nicht mehr du selbst, sondern was sie in dir sehen.“ Erik versuchte einen Blick auf ihr gesenktes Gesicht zu werfen. „Du bist nicht das, was andere in dir sehen, sondern das, was du selbst siehst.“ Wieder lachte Ariane bitter und hob ihren Blick. „Wie kann es sein, dass so viele Menschen falsch liegen und ich richtig?“ „Weil diese Menschen dich nicht kennen. Ich kenne dich.“ Er sah sie entschieden an. „Du bist stolz und willensstark, wirklich stur und reagierst oft empört. Aber du bist nicht arrogant.“ Er schnaubte spöttisch: „Wenn du noch bescheidener wärst, hättest du Minderwertigkeitskomplexe.“ Mit seiner behandschuhten Rechten berührte er ihre Wange und strich über den Bereich unterhalb ihrer Augen, wie um Tränen hinfort zu wischen. Die verschmierte Wimperntusche verfärbte seine weißen Handschuhe. Er senkte seine Lautstärke. „Und offenbar hast du die.“ Ariane packte seine Rechte und schob sie grob von ihrem Gesicht weg, vergaß dann jedoch sie wieder los zu lassen. Er drückte ihre Hand. „Sagst du das auch nicht nur, um mich zu trösten?“ „Doch natürlich.“, gab er locker zurück. Ariane warf ihm einen empörten Blick zu. Sein Ausdruck wurde wieder sanft. „Wir sind alle ein bisschen eingebildet. Vielleicht nur, um nicht zu zeigen, wo wir verletzlich sind.“ Er lächelte, dann wechselte sein Gesichtsausdruck erneut und er schmunzelte amüsiert. „Wir sind uns ähnlicher als du glaubst.“ Ariane brauchte einen Moment, um zu begreifen, worauf er hinaus wollte. Erwartungsvoll sah er sie an, als warte er auf ihren Einsatz. Schließlich erinnerte sie sich, dass sie ihm etwas Ähnliches damals auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH gesagt hatte, als sie sich das erste Mal normal unterhalten hatten. Was hatte er darauf entgegnet? „Das heißt wohl, dass ich dir jetzt vertrauen soll.“, rezitierte sie schließlich. „Das erwarte ich.“ Ariane stockte. Sie war sich sicher, dass sie damals gesagt hatte, dass sie das nicht erwartete. Erik lächelte weiterhin sanft und hielt noch immer ihre Hand. Ariane wurde mit einem Mal bewusst, dass sie allein in diesem Raum waren. Sie wusste nicht, wieso ihr das gerade jetzt kam, und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Es war ein komisches Gefühl. Gerade so, als wäre es verfänglich, auf sein Lächeln ihrerseits mit einem Lächeln zu reagieren. Ihr war seltsam zumute und sie getraute sich nicht, seinen Blick zu erwidern oder irgendetwas zu tun. Sie schrumpfte in sich zusammen. „Was ist?“ Noch immer klang seine Stimme so zärtlich, dass sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Hätte er sie nicht wieder ärgern können? Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Ihr Herz pochte und pumpte zu viel Blut in ihren Kopf. Er beugte sich zu ihr. „Alles okay?“ Ariane nickte eilig und wollte, dass er sich wieder entfernte. Sie hatte doch gar keinen Alkohol getrunken, dennoch hatte sie den Eindruck, dass ihr etwas zu Kopf stieg. „Ariane…“ Ihr ganzer Körper war angespannt bei dem Hauch seiner Stimme. „… die anderen warten sicher.“ Eilig hob sie den Kopf. „Ja.“ Hastig lief sie an Erik vorbei, sodass er ihre Hand loslassen musste. Sie eilte auf die Tür zu. Eriks Stimme folgte ihr nach. „Willst du dein Handy und deine Schuhe hier lassen oder soll das eine Aschenputtel-Aktion werden?“ Ariane stoppte, stapfte zurück, packte die Pumps ihrer Mutter, das Handy, ihre Handtasche und die benutzten Papiertücher. „Soweit ich weiß, braucht man dazu einen Prinzen.“, gab sie zurück. Erik lachte. Empört drehte sich Ariane um, warf die Papiertücher in den Papierkorb und lief zur Tür. Sie wollte sie gerade entriegeln, als Erik von hinten eine Hand auf die Tür vor ihr legte. „Das Phantom bittet um einen Tanz.“, flüsterte er neben ihrem Ohr. Verständnislos drehte sie sich zu ihm und fragte ihn mit einer Bewegung ihrer Schultern und Arme, ob er hier drinnen tanzen wolle. „Nicht hier drinnen.“, sagte Erik und schob den Riegel zurück. „Da kann dich ja gar niemand sehen.“ Sein Grinsen war jetzt wieder so diabolisch wie sie es kannte.   Als die anderen Ariane zu Gesicht bekamen, reagierten sie weit geschockter als Erik es getan hatte. Dies war wenig verwunderlich, hatte sich doch die schwarze Wimperntusche wie Pech um ihre Augen herum verteilt und ihr Kleid einen riesigen roten Fleck. Auch was von ihrer Frisur übrig geblieben war, war alles andere als ansehnlich. Daraufhin bestürmten die anderen sie mit Fragen und erkundigten sich nach ihrem Befinden. Während Ariane ihnen daraufhin erklärte, was vorgefallen war, war Erik froh, dass sie ihm das nicht zuvor schon erzählt hatte. Er hätte seine Wut gewiss nicht zurückhalten können. Sicher hätte er ihr Vorwürfe gemacht, dass sie sich das hatte gefallen lassen. Kurz hielt er inne. Er war genau wie sein Vater… Vivien war optimistisch wie eh und je. „Passt doch viel besser zu Halloween.“ „Wir sollten von hier verschwinden.“, sagte Serena und riss Erik damit aus seinen Gedanken. „Ich rufe meine Mutter an.“ „Und diesen Schnepfen den Triumph gönnen? Ganz sicher nicht!“, widersprach Erik. Aufgebracht funkelte die Banshee ihn an. „Schau dir Ariane mal an, glaubst du, sie will so noch mal da reingehen?!“ „Ja! Um zu beweisen, dass es ihr egal ist, was andere von ihr denken!“ „Keinem Menschen auf der Welt ist das egal!“, rief Serena. Erik sah Serena verwundert an. Es war das erste Mal, dass er sie etwas so Ehrliches vor den anderen aussprechen hörte. „Es ist mir nicht egal.“, stimmte Ariane ihr zu. „Aber …“ Erik sah, wie sie mit sich rang. Am liebsten hätte er sie mit sich auf die Tanzfläche gezerrt, aber im gleichen Moment wurde ihm bewusst, dass er damit wieder in die Fußstapfen seines Vaters getreten wäre. „Wenn du willst, gehen wir.“ Es gelang ihm nicht, seine Stimme so klingen zu lassen, als meine er es ernst. Er wusste, dass er Ariane damit unter Druck setzte, so als verbiete er ihr, seine Erwartungen zu enttäuschen. Ariane warf ihm einen zweiflerischen Blick zu. „Glaubst du, ich warte auf deine Erlaubnis?“ „Du hast gerade so geschaut!“, rief Erik und kam sich im gleichen Moment vor, als würde Vitalis Verhalten auf ihn abfärben. Seit wann benahm er sich trotzig? Er gab Ariane die Schuld daran. Mit ihrem unvorhersehbaren Verhalten brachte sie einen völlig aus dem Konzept. „Vivien hat Recht. Das Kostüm passt so viel besser zu Halloween und wir wollen das Geld doch nicht umsonst ausgegeben haben.“ Ariane lächelte die anderen an. „Ich will nur noch die Schuhe in die Garderobe bringen. Sie ständig herum zu schleppen, ist nicht so toll.“ Erik begleitete sie zur Garderobe und reichte ihr beim Herauskommen den Arm. „Ich hoffe, du hast den Tanz nicht vergessen.“ „Nein.“, sagte Ariane mit hoch erhobenem Haupt. Er wusste beim besten Willen nicht, wie sie einmal so eingeschüchtert und im nächsten Moment so beeindruckend stark sein konnte. Sie lächelte ihn keck an.   Während die sechs sich wieder auf den Weg zur Aula machten, zeterte Serena, was sie den Mädchen antun würde, die Arianes Kostüm ruiniert hatten. „Du machst ja doch nichts.“, meinte Vitali gelangweilt. „Meinst du?“, sagte Serena mit einem bedrohlichen Blick. Vitali drehte sich eilig zu Vivien und Justin. „Hat Ewigkeit nicht irgendwann mal gesagt, dass wir unsere Kräfte nur für den Kampf einsetzen dürfen?“ Vivien und Justin schüttelten die Köpfe. „Mist.“ Er drehte sich wieder zu Serena. „Ich halte es für keine gute Idee, irgendwelche Leute zu paralysieren.“ Ein gespenstisches Grinsen breitete sich auf Serenas Zügen aus. Offensichtlich war sie selbst gar nicht auf die Idee gekommen. „Als dein Partner bin ich dagegen!“, protestierte Vitali. Serena lächelte gruselig. „Du könntest uns unsichtbar machen!“ Nun schien Vitali nachdenklich zu werden. „Das wäre gar keine schlechte Idee.“ Auch er begann, unheimlich zu grinsen. „Hört auf mit dem Unsinn.“, schimpfte Ariane. „Das mit dem Rollenspiel finde ich langsam bedenklich.“, meinte Erik. „Das sind die Kostüme, dann bilden sie sich noch mehr ein.“, entgegnete Ariane und deutete Erik an, dass die beiden durchgeknallt waren. Serena warf Ariane einen entschiedenen Blick zu. „Wir sind der Tod und die Todesfee, wir lassen uns von einer …“ Serena schaute zu den anderen „Wie soll ich sie jetzt bezeichnen?“ Vivien schlug vor: „Die dreizehnte Fee aus Dornröschen!“ „Ist ein bisschen lang.“, fand Vitali. „Vielleicht böse Fee.“, war Justins Idee. „Wieso bin ich jetzt böse?“, beschwerte sich Ariane. „Nur weil man nicht perfekt aussieht, wird man gleich zum Bösewicht erklärt? Außerdem versuche ich euch davon abzuhalten, etwas Gemeines zu tun!“ Vivien rief: „Dann bist du das Gewissen!“ „Blutiges Gewissen.“, kommentierte Erik amüsiert. Ariane verzog den Mund. „Ich bin immer noch die gute Fee. Eine nicht ganz so konventionelle gute Fee.“ Wie um diesen Entschluss zu bekräftigen, zog sie ihren Zauberstab aus dem Band, das die Taille ihres Kleides definierte und in das sie den Stab gesteckt hatte. „Die Leiche einer guten Fee!“, war daraufhin Viviens Vorschlag. „Dann bin ich halt der Geist einer ermordeten guten Fee.“, lenkte Ariane widerwillig ein, damit die anderen endlich Ruhe gaben. „Also ich fand das mit dem Gewissen ganz interessant.“, meinte daraufhin Erik. Ariane gab ein genervtes Geräusch von sich, woraufhin er lachte. „Ich vergesse das gleich mit dem Tanz.“, drohte sie. „Glaubst du, ich habe es so nötig?“, fragte Erik. „Ja.“, gab sie trocken von sich. Er grinste. „Man kann ja auch nicht jeden Tag mit dem blutigen Gewissen einer ermordeten guten Fee tanzen.“ Ariane warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Als sie endlich in der Aula ankamen und sich auf Eriks Drängen hin etwas weiter in die Mitte der Tanzfläche vorgekämpft hatten, endete die Musik. Der DJ machte eine Durchsage, dass das nächste Lied allen Pärchen gewidmet sei. Ariane konnte nicht fassen, wie viel Pech sie an einem Tag haben konnte. „Perfekt.“, sagte hingegen das Phantom an ihrer Seite. Zumindest glaubte sie das von seinen Lippen ablesen zu können, hier drinnen war es zu laut, als dass man einander ohne Weiteres verstanden hätte. Erik verbeugte sich vor ihr und reichte ihr die Hand. Eine unmissverständliche Aufforderung. „Hast du nicht gehört, das ist für Pärchen!“, rief Ariane, um dem zu entgehen. Erik setzte ein verständnisloses Gesicht auf und deutete mit einer Geste an, dass er sie nicht hören konnte. Ariane war sicher, dass er sie sehr wohl verstanden hatte. Um sie herum stand eine Vielzahl an Leuten. Die Tanzfläche war voll und man hatte nicht viel Platz, um sich zu bewegen. Sie sah zu den anderen. Vivien hatte die Gelegenheit ergriffen, um Justin um diesen Tanz zu bitten. Dieser lehnte aber verlegen ab, woraufhin Vivien ihren Schmollmund einsetzte, bis Justin sich endlich überreden ließ. Serena und Vitali indes waren offenbar noch immer mit Racheplänen beschäftigt. Anders konnte sich Ariane nicht erklären, dass die beiden sich so angeregt miteinander unterhielten, indem sie sich abwechselnd in die Ohren schrien und unheilvoll lachten. Erik wartete noch immer darauf, dass sie mit ihm tanzte, und es gab offenbar nichts, was sie als Ausrede hätte benutzen können. Ihr Blick schweifte nochmals über die Menschenmenge. Ihr fiel jetzt erst auf, dass viele bei diesem Lied nicht tanzten und stattdessen diejenigen beobachteten, die es taten. Na großartig. Sie konnte von Weitem ihr bekannte Gesichter erkennen und glaubte, auch Ruths Kostüm weiter hinten ausmachen zu können. Daraufhin zog sie den Kopf ein. Sie wollte nicht gesehen werden. Erik, der es offensichtlich leid war, auf ihre Reaktion zu warten, trat einen Schritt auf sie zu, ergriff ihre Handgelenke und legte ihre Arme um seinen Nacken. „So tanzt man nicht!“, rief Ariane ihm ins Ohr. Er beugte sich im Gegenzug ebenfalls zu ihrer Ohrmuschel „Pärchen schon.“ „Wir sind kein Pärchen!“ Sie hörte ein kehliges Lachen an ihrem Ohr. Was sollte das bitteschön bedeuten? Plötzlich wurde ihr heiß. Dummer Erik. Er schlang seine Arme um ihre Taille, legte seine Hände auf ihren Rücken und schien nicht vorzuhaben, seinen Kopf wieder von ihrem zu entfernen. Ungeschickter als für sie üblich folgte Ariane seinen Schritten. Es war komisch, Erik so nahe zu sein. Zumindest war es die Seite, mit der Maske, die er ihrem Gesicht zugewandt hatte. Aber das änderte nichts daran, dass der Geruch seines After Shaves und das Gefühl, seinen Körper zu berühren, wenn auch nur flüchtig, sie verwirrten. Als Erik plötzlich sein Gesicht noch weiter zu ihrem Kopf hin drehte und sie seinen Atem an ihrem Ohr spürte, blieb sie abrupt stehen. „Dein Haar“, hauchte Erik, „riecht nach Bowle.“ „Weil Bowle darin klebt!“, kreischte Ariane und amüsierte Erik damit einmal mehr. Fast hätte sie ihm vorgeworfen, unromantisch zu sein, als ihr auffiel, wie unpassend dieser Begriff war. Geradezu abartig! Sie schämte sich, dieses Wort überhaupt im Sinn gehabt zu haben. Sie drehte ihr Gesicht weiter von Erik weg und begann wieder zu tanzen, dieses Mal ohne sich unnötige Gedanken zu machen. Eriks Worte gingen ihr durch den Kopf. Sie hätte nie geglaubt, dass gerade er ihr in einer solchen Situation helfen könnte. Aber er hatte es getan. Wenn Serena und Vivien zu ihr gekommen wären, hätte sie den Ball sofort dankbar verlassen. Sie hätte sich nie im Leben getraut, noch einmal die Aula zu betreten. Noch immer wusste sie nicht, woher sie die Kraft nahm. Der Gesang des Liedes, das gespielt wurde, drang in ihr Bewusstsein.   You raise me up so I can stand on mountains. Weil du mich aufrichtest, kann ich auf Bergen stehen. You raise me up to walk on stormy seas. Weil du mich aufrichtest, kann ich über stürmische Meere gehen. I am strong when I am on your shoulders. Ich bin stark, bin ich auf deinen Schultern. You raise me up to more than I can be. Weil du mich aufrichtest, bin ich mehr als ich es alleine sein kann.   Ariane seufzte und rief in Eriks Ohr ein „Danke“, zu dem sie sich von dem Liedtext genötigt gefühlt hatte. „Dass ich mit dir tanze?“ „Nein.“ Erik wartete einen Moment. „Du magst es nicht, wenn man dir Komplimente zu deinem Aussehen macht.“ Ariane wusste nicht, worauf er hinaus wollte und ging ein Stück nach hinten, um sein Gesicht zu sehen. Erik schien zu zögern, Er schüttelte kurz den Kopf, dann nahm er wieder seine Tanzposition ein. Offenbar hatte er nichts weiter zu sagen. Erst nach weiteren Klängen des Liedes, bei denen sie aufgrund der Enge immer nur kleine Schritte gemacht hatten und wohl eher aussahen wie Blätter, die vom Wind hin und her bewegt wurden, kam sein Mund ihrem Ohr so nahe, dass er dieses Mal nicht schreien musste. „Es ist nicht dein Aussehen, das dich schön macht.“ Ariane erfasste die Worte nicht sofort. Aber augenblicklich fühlte sie sich wieder verlegen. Dieses Mal wehrte sie sich nicht, als Erik seinen Kopf gegen den ihren lehnte, stattdessen versuchte sie, das ungewohnte Gefühl in ihren Wangen zu ignorieren. „Ich sehe dich.“, flüsterte Erik in ihr Haar, doch Ariane hörte die Worte sicher nicht, dafür war es zu laut. Es war auch nicht weiter wichtig. Erik genoss den Moment. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)