Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 84: Freigelassen ------------------------ Freigelassen  „Kein Ereignis ist so schrecklich wie die Angst davor.“ (Andreas Tenzer, Aphoristiker)   Ewigkeit hatte die ganze Woche damit zugebracht, herauszufinden, was Allpträume waren. Aber sie war zu keinem Ergebnis gekommen. Die Beschützer hatten ihr alle die gleiche Antwort gegeben und sich nicht weiter dafür interessiert. Dennoch konnte sich Ewigkeit damit nicht zufrieden geben. Jeden Morgen erwachte sie mit diesem Drang, als hätte sie die ganze Nacht lang einen stummen Kampf ausgetragen, an den sie sich nicht erinnerte. Und heute waren die Beschützer einfach auf diese Halloweenparty gegangen. Sie seufzte und wandte sich an Kai und Ellen, Vereinens jüngere Geschwister, die im Kinderzimmer saßen und ein Brettspiel spielten. „Wisst ihr, was Allpträume sind?“ Die beiden sahen sie überrascht an. Kai antwortete, als wüsste er genau Bescheid. „Das ist, wenn du schlecht schläfst und dann Monster in deinen Träumen vorkommen.“ „Monster!“, rief Ewigkeit aufgeregt und schwirrte auf und ab. „Wie Schatthen?“ „Ja, genau.“, bestätigte Kai bestimmt. Ewigkeit begann zu strahlen. „Schatthen!“ Dann zog sie ein ernstes Gesicht. „Wir müssen sie aufhalten!“ Ellen lachte. Kai sah sie ernst an. „Du kannst Albträume doch nicht aufhalten.“ „Wieso nicht?“ Nun war Kai sichtlich um eine Antwort verlegen. „Keine Ahnung.“ Unzufrieden drehte Ewigkeit wirre Pirouetten in der Luft und landete dann auf dem Spielbrett. „Was sind das für Monster?“ „Ganz verschieden!“, meinte Ellen. „Ja, das ist bei jedem anders.“, sagte Kai. Ewigkeit lief wie ein General mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf dem Spielbrett hin und her. „Sie können sich in alles verwandeln.“, murmelte sie vor sich hin. Sie blieb stehen und wandte sich wieder Kai und Ellen zu. „Und wo sind sie?“ Ellen brachte freudig ein: „Sie kommen wenn man schläft!“ „Das ist nur in deinem Kopf.“, versuchte Kai zu erklären. Ewigkeit schaute geschockt. „Sie gehen nachts in den Kopf! Und dann?“ Ellen antwortete: „Wenn man wieder aufwacht, sind sie weg!“ Wieder versank Ewigkeit in Gedanken, dann wirkte sie mit einem Mal entschlossen. Sie schwebte wieder in die Luft und stellte keine weiteren Fragen.   Seit Montagnacht schwirrte der Allptraum in dem gleichen kleinen Versuchsraum herum. Grauen-Eminenz hatte die angrenzenden Räumlichkeiten seither nicht mehr betreten. Einzig über ein Blickfenster behielt er die Kreatur im Auge. Dem Lichtlosen schien der Aufenthalt in Grauen-Eminenz‘ Schatthenreich nicht zu stören. Nein, er genoss ihn regelrecht! Oft witterte er etwas, als biete die Umgebung allein ihm genug Angst– als könne er sie aus den Wänden heraus saugen. Ekel kam in Grauen-Eminenz hoch, so oft er den Allptraum betrachtete. Der widerwärtige Gedanke, die Kreatur fresse sich immer tiefer in sein Inneres, ließ ihm keine Ruhe. Nach dem Vorfall hatte er im Intranet des Pandämoniums nach weiteren Informationen über die Allpträume gesucht, allerdings nichts gefunden. Man hätte meinen sollen, dass eine Organisation, die ein solch geschicktes Gefängnis für diese Kreaturen anfertigen konnte, etwas mehr über sie wissen müsste! Allerdings war er mittlerweile ziemlich sicher, dass das Pandämonium diese Allpträume entweder von einer anderen Organisation gekauft oder – wahrscheinlicher – gestohlen hatte. Daraufhin hatte er sich doch noch die Liste der weiterführenden Literatur über Allpträume angesehen. Zum Glück waren die Titel bei der Online-Bibliothek des Pandämoniums einzusehen. Er hatte sich nun ewig durch staubtrockene, theoretische Texte gequält, die wenig aufschlussreich gewesen waren, da sie alles in Abrede stellten, bis er sich schließlich genauer über die umstrittene Traumwelt-Theorie informiert hatte. Einfach nur weil diese in den ganzen Texten immer wieder als unsinnig betitelt worden war. Die Traumwelt-Theorie besagte, dass in die objektive Realität unzählige individuelle Wirklichkeiten eingelassen waren. An einer Stelle waren diese auch Seelenwelten genannt worden. Diese individuellen Wirklichkeiten waren an einzelne Lebewesen gebunden, wobei es offenbar Diskussionen darüber gab, was im Sinne der Theorie als Lebewesen galt. In diesem Kontext wurde die reale Welt als Hintergrundfolie verstanden, vor der unzählige individuelle Welten immer wieder neu entstanden und vergingen. Die Traumwelt stellte dabei eine seelenwelt-interne Dimension dar, die sich immer dann entfalten konnte, wenn bestimmte Gehirnwellen erreicht wurden, die typisch für den Schlafzustand waren. Von allen Seiten wurde diese Theorie als Unsinn und nicht durch Forschungsergebnisse belegt kritisiert. Ob die ganzen Aussagen aber nun hochwissenschaftlich waren oder nicht, war Grauen-Eminenz gerade herzlich egal. Er musste schließlich mit etwas arbeiten. Doch schlussendlich brachte ihm alle Theorie nichts. Er brauchte eigene Ergebnisse. Aber dazu musste er den Allptraum aus seinem Schatthenreich in die normale Welt entlassen. Nur so konnte er Erkenntnisse über die Kreatur und ihre Fähigkeiten gewinnen. Zu diesem Zweck hatte er in dem Nebenzimmer des Versuchsraums, in dem sich der Allptraum befand, ein Portal erschaffen, das in die normale Welt führte. Den Schatthen, der zuvor den Raum mit dem Allptraum geteilt hatte, hatte er bereits in eine andere Räumlichkeit umquartiert. Noch eine unberechenbare Bestie mehr war das letzte, das diese Gleichung gebrauchen konnte.   Freitagmittag: An der Stelle jenseits des Portals – einem alten, verlassenen Hinterhof – hatte Grauen-Eminenz mehrere Blickfenster errichtet. Die eine Hälfte diente der Bildaufzeichnung, die andere dem Aufzeichnen der Energierate. Doch dieses Mal wollte er sich nicht allein auf seine Blickfenster verlassen. Er musste mit eigenen Augen sehen, was die Kreatur tun würde, sobald sie in die normale Welt kam. Daher stand er nun selbst in eben jenem Hinterhof. Es war Tag, für ihn eine ungewöhnliche Zeit zu arbeiten, aber das menschliche Sehvermögen war nun einmal nachts eingeschränkter als tagsüber. Er beherrschte zwar das Sehen in der Dunkelheit, aber er würde seine volle Konzentration schon brauchen, um sich notfalls gegen den Allptraum wehren zu können. Auch wenn die Theorie besagte, dass der Lichtlose ihm nur gefährlich werden konnte, wenn er schlief oder sich in einer Traumwelt-ähnlichen Umgebung befand, wollte er auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Nicht nach dem letzten Vorfall. Um sich den Blicken des Allptraums zu entziehen, hatte er einen Spiegelungstrick angewandt, der den Anschein annähernder Unsichtbarkeit verlieh. Auch wenn er bezweifelte, dass dies die Kreatur täuschen konnte. Selbst der Einwegspiegel des Versuchsraums hatte seine Anwesenheit nicht vor dem Allptraum verbergen können. Diese Kreatur achtete auf andere Dinge als das Sehen. Grauen-Eminenz machte sich bereit. Ein Gedanke von ihm genügte, um die Luke zu dem Raum mit dem Portal zu öffnen. Dazu musste er nicht selbst im Schatthenreich anwesend sein. Er wusste nicht, wie lange der Allptraum brauchen würde, bis er den neuen Ausgang ausprobierte. Grauen-Eminenz wartete. Er musste nicht lange warten. Keine zwei Minuten später konnte er den Allptraum sehen. Er stand im Portal und starrte heraus, wie um abzuwägen, ob es sich lohnte den jetzigen Aufenthaltsort zu verlassen. Dann schwebte er heraus. Im gleichen Moment änderte sich etwas in seiner Substanz. Grauen-Eminenz war trainiert genug, um auch Phänomene zu erkennen, die normale Menschen nicht mehr sehen konnten, sodass er die Gestalt des Allptraums weiterhin in durchscheinender Form wahrnahm, als handle es sich um einen Geist. Grauen-Eminenz streckte seinen Arm aus, um der Energie nachzufühlen. Der Messapparat an seinem Handgelenk diente allein der Aufzeichnung. Was am verlässlichsten und genausten die Feinheiten herauszufiltern vermochte, waren seine eigenen Sinne und die lieferten nun erstaunlich eindeutige Ergebnisse: Dies war keine exotherme Reaktion. Der Allptraum setzte keine Energie frei, auch zog er keine aus der Umgebung. Tatsächlich schien er auf einen anderen Kanal umzuschalten und seinen Körper der neuen Frequenz oder Welle anzupassen. Die Sichtbarkeit des Allptraums nahm immer mehr ab, als ob die Kreatur auf eine andere Energieebene überwechselte. Grauen-Eminenz konzentrierte sich auf die Frequenz. Er fühlte etwas Vertrautes. Es erinnerte ihn an die Energiezustände, die in seinem Schatthenreich herrschten. Langsam glaubte er, dass er zum Egozentriker mutierte. Erst seine Auserwählten, jetzt die Allpträume, sah er in allem nur noch sich selbst? Irgendetwas lief hier verkehrt. Dann war der Allptraum verschwunden. Er konnte seine Anwesenheit nicht länger spüren, als hätte der Lichtlose sich in ein Dickicht geflüchtet, das jenseits von Grauen-Eminenz‘ Auffassungsgabe lag. Jähe Besorgnis machte sich in ihm breit.   Freitagnacht. Grauen-Eminenz sah auf seine Bildschirme und versuchte auszumachen, wo sich der Allptraum aufhielt. Irgendwo in der Stadt musste es Anzeichen dafür geben, dass der Allptraum sein Unwesen trieb. Er hatte seine Suchmaschine auf die Werte eingestellt, die er beim Verschwinden des Allptraums gemessen hatte. Es war jetzt zwei Uhr Nacht. In den letzten Stunden war es immer wieder zu einem kurzen Aufblitzen auf den Bildschirmen gekommen. Zu kurz, um den Standort lokalisieren zu können. So als bräuchte die Kreatur nur Sekundenbruchteile um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Vielleicht war auch Grauen-Eminenz‘ Suchlogarithmus einfach nicht geeignet, dieses Phänomen zu erfassen. Er fühlte sich, als würde er versuchen, mit veralteter Technik eine völlig unbekannte Erscheinung zu erforschen. Wie sollte das gehen? Plötzlich begann einer der Bildschirme zu seiner Linken gelb zu blinken. Grauen-Eminenz registrierte mit einiger Ernüchterung, dass es sich bloß um einen Anruf handelte. Er wusste, dass es nur das Pandämonium sein konnte. Wer sonst hatte auch seine Nummer? Die Leute vom Telefonbuch hatten ihn jedenfalls nie gefragt, ob er einen Eintrag haben wollte. Er fand das ziemlich diskriminierend. Nur weil man für eine streng geheime Organisation arbeitete, von der niemand etwas wusste – außer die Spinner, die Teil der Organisation waren – hieß das doch nicht, dass man nicht wenigsten fragen konnte, ob er gerne eine Anzeige mit Schatthenmeister Grauen-Eminenz. Im Schatthenreich 666. Telefonnummer Fax E-Mail-Adresse haben wollte! Vielleicht sollte er einfach eine Facebook Seite einrichten. Der Anrufer hatte in der Zwischenzeit leider immer noch nicht aufgegeben, sodass Grauen-Eminenz schließlich reichlich unwillig den Anruf entgegennahm. Statt des zu erwartenden Kamerabildes des Sprechers zeigte der Bildschirm nur das Logo des Pandämoniums: zwei Pentagramme, die sich – eines nach oben, eines nach unten zeigend – zum zehnzackigen Stern verbanden und von einem breiten Ring umgeben waren, der mit einer Mischung aus trigonometrischen Linien und antiken Schnörkeln geziert war. Darüber stand in einer altertümlich wirkenden Schrift Pandämonium. Grauen-Eminenz war immer wieder baff, wie furchtbar einfallslos diese Organisation war. Sicher war die Schatthenmeister-Vereinigungs-Sache für das Pandämonium nur ein Hobby und in Wirklichkeit war es hauptberuflich eine Sekte, die übers Internet Esoterik-Artikel vertickte. „Wieso ist der Auftrag immer noch nicht ausgeführt?“, bellte eine tiefe Stimme. „Wir haben Ihnen vor fast einer Woche die Allpträume geliefert und noch immer keine Daten vorliegen!“ Grauen-Eminenz musste sich schwer zusammenreißen, um seinen Gesprächspartner nicht anzuschreien, dass das Pandämonium ihm ja auch nicht gerade hilfreiche Informationen geliefert hatte! Mühsam beherrscht begann er zu sprechen. „Die Sache erweist sich als komplizierter als gedacht. Die Allpträume sind unberechenbar und ich muss erst herausfinden, wie genau sie -“ Die Männerstimme von der anderen Leitung fuhr ihm ins Wort. „Die beste Gelegenheit für die Studie wäre morgen Nacht, zwischen zwei und drei Uhr, wenn die Uhrzeit umgestellt wird.“ „Das ist zu früh, ich habe noch nicht ausreichende Tests –“ „Dann kümmern Sie sich um die Tests! Bis Ende nächster Woche will ich Ergebnisse haben!“ Das Zeichen, dass das Telefonat beendet worden war, ertönte. Grauen-Eminenz gaffte auf den Bildschirm. Was für ein bekloppter Drama-King. Was wollte der Typ machen? Ihm das Gehalt kürzen? Er stöhnte, denn er wusste, dass es nicht um sein Gehalt ging. Sein Schatthenreich verstieß eigentlich gegen die Regeln. Es wäre ein Leichtes, ihm die Benutzung zu verbieten, wenn das Pandämonium einen Grund dafür fand. Und da dieser Auftrag offenbar direkt mit seinem Schatthenreich in Verbindung stand, hatte er wohl keine andere Wahl. Wut packte ihn für einen Moment. Aber er hatte keine Lust, schon wieder eine neue Einrichtung zu erschaffen, nur weil er in einem Wutanfall alles in die Luft gejagt hatte, also riss er sich zusammen und stand auf. Er verließ den Kontrollraum und beschleunigte seinen Lauf, ehe er die Tür vor sich sah, durch die er jede Nacht trat. Zögernd griff er nach der Türklinke, die nichts als Zierde war. Jede Nacht gab er dieser Tür ein anderes Aussehen, sodass nur er wusste, welche es war. Etwas hielt ihn davon ab, sie zu öffnen. Er rang nach Atem. Er durfte sich davon nicht beeinflussen lassen. Er zog die Tür auf.   Justin und Vivien waren heute ungewöhnlich früh zur Schule gelaufen. Den ganzen Weg lang war Vivien aufgedreht, hielt sich aber damit zurück, etwas zu sagen. Nur das Permanentgrinsen konnte sie nicht abstellen, seit Justin ihr eröffnet hatte, ihr etwas Wichtiges sagen zu wollen. Aus Justins unsicherem Verhalten bei dieser Ankündigung zu schließen, war es nichts, was mit ihren Beschützer-Aufgaben zusammenhing. Als sie in der Schule ankamen, fanden sie das Klassenzimmer leer vor. Perfekt. Vielleicht nicht der romantischste Ort, aber für Vivien war jeder Ort romantisch mit Justin an ihrer Seite. Sie setzten sich auf ihre Plätze. Mit kaum verhohlener Vorfreude in den Augen drehte Vivien sich zu ihm und lächelte. Verlegen wandte Justin sich ab und senkte den Blick. Sie sah, wie er seine auf dem Tisch liegenden Hände zu Fäusten formte. „Vivien…“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Da ist was, das ich dir sagen muss.“ Er schluckte. „Schon lange.“ Vor freudiger Erwartung wurde sie ganz aufgeregt. Mit flatterndem Herzen strahlte sie ihn an. Zögernd lugte Justin zu ihr, dann zog er schüchtern den Kopf ein. „Ich…“ Vivien konnte das euphorische Auf und Ab ihres Inneren spüren. Ihre Mimik war in Bereitschaft für den größten Freudenausbruch ihres Lebens! Sie hörte ihr Herz klopfen und das Glück in jeder ihrer Zellen pochen. Am liebsten hätte sie verliebt losgekichert. Verängstigt sah Justin sie an. Sein Gesicht war bleich, seine Augen weich und verletzlich. Vivien konnte nicht ausdrücken, wie sehr ihr Herz zu ihm drängte, wie sehr sie ihn berühren wollte. Ihm endlich ihr Glück in allen Facetten offenlegen! Ihr ganzes Selbst für ihn schlagen zu lassen! Was für ein unsagbarer Freudentaumel! Sie wusste nicht, ob sie den Moment lieber in die Länge gezogen oder verkürzt hätte. Sie wartete. „Du weißt, was…“, druckste Justin herum. Er schien noch einmal Mut zu holen. „Ich mag dich.“, presste er halblaut hervor. Wie von einem unsichtbaren Schmerz gepeinigt, wich er nochmals ihrem Blick aus. Er sah aus, als wäre er den Tränen nahe. Sie wusste nicht, ob sie ihm jetzt schon um den Hals fallen durfte oder ob er noch mehr sagen wollte. „Vivien, ich…“ Sie konnte es kaum noch ertragen, ihn so zu sehen. Sie wollte ihm versichern, dass sie viel mehr in ihn verliebt war als es zu fassen war! Dass ihr ganzer Kopf schwirrte, wenn sie an ihn dachte, wenn sie ihn vor sich sah, wenn sie – „Ich fühle nicht dasselbe.“ Die Worte wirkten so deplatziert, dass Vivien verwirrt war. Ehe die Aussage in ihrem Herzen ankam, sprach Justin in geduckter Haltung leise weiter. Seine Hände hielten den Tisch umfasst. „Es tut mir leid.“ Aus seiner Stimme klangen unterdrückte Tränen. Vivien konnte sich selbst von außen beobachten, wie sie vor Justin saß, der ihr Worte sagte, die ein Teil von ihr begriff und die für einen anderen Teil nicht in die Realität gehörten. Justin würde das niemals sagen. Nicht ihr Justin. Nicht der Justin, den sie kannte. Sicher würde er ihr gleich gestehen, dass er sie liebte. Sicher hatte er gemeint, dass er sie nicht als bloße Freundin ansah und ihm das leid tat. Schließlich war es Justin! Sie musste nur warten. Er sagte nichts weiter. Die Atmosphäre, die Realität wurden immer drückender. Vivien konnte sich nicht länger davor verschließen. „Was –“ Mehr brachte sie nicht heraus. „Wenn ich mich in dich verlieben könnte, dann würde ich es tun, glaub mir.“, sagte Justin in einem so herzzerreißenden Ton, dass sie wirklich fühlte wie ihr Innerstes zerriss. Wenn ich mich in dich verlieben könnte… Sie hatte nie etwas Grausameres gehörte. Sie hörte sich selbst schluchzen, ohne es beeinflusst zu haben. Getroffen drehte sich Justin zu ihr. „Vivien…“ Sie ertrug es nicht. Von selbst stand sie auf. Fühlte sich weit entfernt. Sie hörte ihren Stuhl quietschen, als sie sich erhob, sah Justin wie aus ewig weiter Entfernung sie anstarren. Sie hätte erwartet, nach einem solchen Moment würde die Welt untergehen. Aber die Welt hatte nicht vor, sich ihren Gefühlen anzupassen. Alles war so grotesk normal. Andere Schüler betraten das Klassenzimmer. Der Raum drehte sich nicht, Justins Gestalt zerfloss nicht und sie wurde nicht ohnmächtig. Es war alles so entsetzlich gleichgültig gegenüber ihrem Schmerz. Sie schluchzte abermals und wollte, dass er sie umarmte wie er es immer tat, wenn es ihr schlecht ging. Dass er sie umarmte und ihr sagte, dass das alles nicht wahr war. Bei dem Gedanken fühlte sich ihr Kopf so dumm an. Sie wich ein paar Schritte zurück und lief langsam aus dem Raum, ignorierte Justins Ruf, wollte, dass er weiter nach ihr rief, dass er niemals mehr aufhörte, nach ihr zu rufen. Auf dem Gang wurde ihr heiß und kalt, die ganze Welle an Gefühlen übermannte sie und sie brach kreischend in sich zusammen. Ob andere sie so sahen, war ihr völlig egal. Sie glaubte ersticken zu müssen an ihrem Schmerz. Etwas schüttelte sie. Ihr Schluchzen, ihr Leid, übertönte alles. Sie wollte nie wieder daraus emporsteigen. Nie wieder. „Vivien!“ „Vivien!“ Ihr eigener Klagelaut schrillte von fern zu ihr. Heftig atmend riss sie die Augen auf. Sie konnte für eine Sekunde die Dunkelheit nicht verstehen. Ellen stand vor ihr, die kleinen Hände auf Viviens Körper. Erst jetzt begriff Vivien, dass ihre kleine Schwester sie offenbar wachgerüttelt haben musste, dass es ein Traum gewesen war. Sie schloss die Augen wieder. Sie war so – Tränen bildeten sich in ihren Augen. Sie schluchzte. „Vivien, ich hab schlecht geträumt.“ Wieder hob Vivien ihren Blick und setzte sich auf. Wie automatisch machte sie in ihrem Bett Platz für Ellen und sah hinüber zu dem Bett ihres Bruders, ehe sie sich daran erinnerte, dass er heute bei einem Freund übernachtete. Ellen krabbelte neben sie und schmiegte ihren warmen kleinen Körper an den ihren. Vivien sank zurück in die Kissen. Normalerweise hätte sie Ellen eine Geschichte erzählt, um sie zu beruhigen, aber die Bilder ihres eigenen Traums umwaberten ihre Gedanken wie dichter Nebel. Es war anstrengend genug, nicht zu schluchzen. Sie schloss ihre Arme um Ellen und dachte an Justin.   Eine Präsenz war zugegen. Sie konnte nicht fühlen – nicht wie man es mit dem Körper tat – konnte nicht sehen, keine Laute vernehmen, aber sie wusste, dass etwas – jemand – anwesend war. Nahe. Sie trieb in diesem Meer der Sinn-Losigkeit dahin, ohne Atem, ohne Herzschlag. Sie war abgetrennt und doch zu Hause, aber taub. Taub, stumm, blind, lose. Sie kannte dieses Etwas, diese Person. Trotz ihres Unvermögens sich zu regen, war sie ruhig. Die andere Präsenz sprach zu ihr. Ihre Sinne waren so stark betäubt, wie in Watte eingewickelt, dass die Klänge nicht bei ihr ankamen. Es waren keine Laute, die sie erreichten, obgleich die ungehörte Stimme des Anderen ihr eine Sicherheit schenkte, etwas Vertrautes. Ein Teil von ihr musste die Stimme hören. Vielleicht nicht hören, vielleicht fühlen, vielleicht erahnen – vielleicht glauben.   Ewigkeit kam langsam wieder zu sich, entfernte sich von der Erinnerung an ihren Traum, der ihr ganzes Selbst in Ruhe wiegte, entfernte sich von dem Gefühl, von der Berührung ihrer Sinne, bis die Eindrücke zu einem undeutlichen Schemen, einer bloßen Idee verkamen. Ein seltsames Geräusch trat an ihre Stelle und lockte sie zurück in den Wachzustand. Das gepeinigte Stöhnen und Winseln war nicht länger zu überhören. Ewigkeit fuhr auf und begriff, wo sie sich befand. Nachdem Vereinen nach Hause gekommen war, war sie hinüber zu Vertrauen gegangen, um ihn auszufragen, ob er irgendwelche Anzeichen von Schatthen auf der Halloweenparty entdeckt hatte. Dem war nicht so gewesen. Auf seinem Fenstersims, wo er ihr eine Liegestätte aus Kleidung hergerichtet hatte, war sie schließlich eingeschlafen. Eilig erhob sie sich in die Luft und schwebte hinüber zu Vertrauens Bett. Der Junge drehte seinen Kopf hin und her, als müsse er im Traum gegen etwas ankämpfen. Sein Körper zuckte. Die hilflosen Laute drangen weiter aus seinem Mund. Ewigkeit wusste nicht, was sie tun sollte. Sie musste ihm helfen! Überstürzt flog sie über sein Gesicht. Sie musste das Monster irgendwie aus seinem Körper entfernen! In ihrer Not ließ sie ein grelles Licht um ihren Körper aufblitzen. Vertrauen gab einen erschrockenen Laut von sich und öffnete die Augen. Zunächst schien er nicht zu begreifen, was geschehen war. Dann sah er Ewigkeit, doch anstatt ihr Beachtung zu schenken, sprang er von seinem Bett auf. Torkelnd eilte er aus seinem Zimmer, Ewigkeit ihm hinterher. Sie folgte ihm zu dem Schlafzimmer seiner Eltern, wo er die Tür aufriss und schwer atmend hineinlugte. Er lauschte. Sein Vater drehte sich gerade auf eine andere Seite und Ewigkeit hörte Vertrauen aufatmen. Ganz langsam zog er sich aus dem Zimmer zurück und schloss die Tür so geräuschlos wie möglich. Als wäre die Quelle seiner Energie mit einem Mal versiegt, sank er in sich zusammen und kniete mit gesenktem Blick auf dem Boden. Für Sekunden verharrte er in Todesstille. Ewigkeit stand neben ihm, ohne etwas zu sagen. Als er sich schließlich wieder erhob, schlurfte er halb bewusstlos zurück in sein Zimmer und ließ sich dort zurück auf das Bett fallen. Mit dem Arm bedeckte er seine Augen. Ewigkeit landete neben seinem Kopf. Geradezu ängstlich stand sie da und wartete. Schließlich fasste sie Mut und berührte seine Wange. Im selben Moment gab er einen erstickten Laut von sich. Ewigkeit lehnte sich gegen seine Gesichtshälfte und schenkte ihm etwas von ihrer Wärme. Das war alles, was sie geben konnte.   Als Justin am nächsten Morgen das Haus verließ, hielt die Erinnerung an seinen Albtraum ihn immer noch im Bann. Seine Stimmung war gedrückt und seine Mundwinkel wollten sich nicht heben. Er sah nicht auf, ging nicht hinüber zu Viviens Haus, um zu klingeln, sondern stand nur stumm da, bis Vivien schließlich aus ihrer Haustür trat. Er bemerkte nicht, dass sie auf ungewohnte Weise das Haus verließ, zögerlich, als wage sie es nicht, einen Schritt hinaus in die Wirklichkeit zu machen. Er sah nicht, dass sie bei seinem Anblick zusammenzuckte und in der Tür stehen blieb, wie es so gar nicht ihre Art war. „Hallo.“, sagte er schließlich, nachdem er sich endlich dazu durchgerungen hatte, den Blick zu heben. Im gleichen Moment riss Viviens besorgniserregender Anblick ihn aus seiner melancholischen Stimmung. „Was ist?“ Ehe Vivien antworten konnte, tauchte Ewigkeit urplötzlich zwischen ihnen auf und begann zu kreischen. „Allpträume!!!“ Sie klatschte wie eine Fliege an Viviens Wange. „Sie greifen an!!!“ „Es sind keine Schatthen.“, sagte Justin abgestumpft. Er hatte schon den ganzen Morgen lang versucht, Ewigkeit klar zu machen, was Albträume waren, aber sie hatte nicht hören wollen. Vivien zog auf einmal ein seltsames Gesicht, das Justin nicht zu deuten wusste. Sie zögerte. „Hattest du –“ Sie unterbrach sich und zupfte Ewigkeit von ihrer Wange. „Was sind Albträume?“, fragte sie, als wäre ihr der Begriff völlig neu. „Monster!“, rief Ewigkeit. Justin seufzte. „Ich hatte heute Nacht einen Albtraum, deshalb denkt sie, dass Albträume Monster sind.“ Wieder warf ihm Vivien diesen seltsamen Blick zu. „Was hast du geträumt?“ Justin wich ihrem Blick aus. Es herrschte kurzes Schweigen. Viviens Stimme klang schwach. „Glaubst du, dass es wahr wird?“ Abrupt starrte er sie an. Woher wusste sie…? „Du hast schon einmal Dinge im Traum gesehen.“, setzte Vivien fort.  „Dass man mit deinen Kräften auch in die Zukunft sehen kann, ist nicht so abwegig.“ Er schwieg. Vivien senkte den Blick. „Ich weiß nicht, wie lange ich eure Kräfte anwenden kann.“ Justin verstand nicht und wartete darauf, dass sie weitersprach, aber sie tat es nicht. „Was meinst du?“ „Wir sollten gehen.“ Vivien wandte sich um, um zum Training zu gehen. Über den jähen Wandel war Justin überrascht. Er hatte noch nie erlebt, dass Vivien einer Frage auswich. „Aber die Allpträume!“, rief Ewigkeit. Keiner der beiden Beschützer schenkte ihr Gehör. In einer gespenstischen Langsamkeit und in profundes Schweigen gehüllt liefen sie aus der Blumenallee. Empört schrie Ewigkeit auf. „Allpträume sind Lichtlose! Geschöpfe wie die Schatthen, die in Träume eindringen können, um sich dort von der Angst der Träumenden zu ernähren! Sie können jedes Bild wachrufen, das sie wollen! Und sie wissen genau wovor man Angst hat!“ Zeitgleich drehten sich Justin und Vivien zu ihr und sahen sie sprachlos an. „Was?“, gab Justin von sich. „Allpträume sind Lichtlose. Geschöpfe wie die Schatthen, die in Träume –“, begann Ewigkeit ihre Worte zu wiederholen, wurde aber von Vivien unterbrochen. „Du denkst, dass so ein Allptraum heute Nacht bei uns war?“ „Ja!“ Justin mischte sich ein. „Woher weißt du das?“ „Die Stimme hat es mir erzählt.“, antwortete Ewigkeit. „Was für eine Stimme?“, wollte Justin wissen. „Sie hat mir gesagt, dass der Schatthenmeister die Allpträume einsetzen wird. Wir müssen uns beeilen!“ Für einen Moment wirkten Ewigkeits Worte einfach nur grotesk. Justin konnte sich nicht vorstellen, dass sein Albtraum von einer Kreatur hervorgerufen worden war, die sich des Nachts in seinem Kopf eingenistet haben sollte. Noch immer drangen die Bilder und die Machtlosigkeit auf ihn ein. Vivien wandte sich an ihn. „Ellen hatte auch einen Albtraum. Vielleicht haben wir doch nicht die Zukunft gesehen.“ Justin zog verständnislos die Augenbrauen zusammen, ehe er begriff. „Du dachtest –“ „Ich zapfe deine Kräfte ständig ab.“, erinnerte Vivien. „Ja, aber…“ Er sah sie an. „Du hattest Angst, dass es wahr wird?“ Vivien nickte und senkte den Blick. „Tut mir leid.“ Vivien reagierte nicht. Auch sein Blick glitt zu Boden. Er rang sich zu Worten durch. „Ich habe geträumt, mein Vater hätte Krebs und –“ Er konnte nicht weitersprechen. Viviens Hand legte sich auf seinen Arm. „Das passiert nicht.“ Justin nickte und lächelte sie dann traurig an. „Es passiert nicht.“, wiederholte sie, als müsse sie sich selbst davon überzeugen. Ihr Griff um seinen Arm wurde fester. Sie wirkte selbst mitgenommne. Er sah sie stumm an, versuchte daraus schlau zu werden. Vorsichtig stellte er die Frage: „Was hast du …“ Vivien ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Sie ließ ihn los. „Wir müssen den anderen Bescheid sagen.“, verkündete sie. Offenbar wollte sie nicht darüber reden. Er akzeptierte das, schließlich konnte er nicht behaupten, dass ihm das leicht gefallen war. Dennoch war es ihm ein Bedürfnis, irgendwie auszudrücken, dass er für sie da sein wollte. Mit Herzklopfen berührte er mit der Linken ihre Hand. Geradezu verängstigt sah sie ihn an. Beschämt wollte er ihr zu verstehen geben, dass er ihre Hand halten wollte. Er getraute sich nicht, sie einfach zu ergreifen. Deutlich zaghafter, als er es von ihr gewöhnt war, legte sie ihre kleine Hand in die seine. Irgendwie ließ das die Weichheit ihrer Haut noch mehr in seinen Fokus rücken. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Ewigkeits Stimme ertönte: „Wir müssen sie aufhalten!“ Justin schreckte auf und nickte Ewigkeit zu. Sicher war er wieder puterrot im Gesicht. Vivien drückte seine Hand. Bei einem weiteren Blick in ihre Richtung bemerkte er, dass sein Griff sie etwas zu beruhigen schien. Daher bemühte er sich, seine Scham unter Kontrolle zu halten, und ließ nicht los. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu ihrem Hauptquartier. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)