Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 86: Familien-Albtraum ----------------------------- Familien-Albtraum   „Mich stört nicht dein Dasein, sondern dein Hiersein“ (Klaus Klages)   Erik stand neben seiner Mutter in der Diele des Hauses und wartete auf die Ankunft seiner Tante. Sein Smartphone zeigte kurz nach drei an. Im ersten Stock hörte man die Schritte seines Vaters, der gerade an dem Bereich vorbeiging, der über die große Treppe einzusehen war. „Rosa kommt um drei.“, sagte Eriks Mutter in die Richtung ihres Mannes. „Sie wird ohnehin zu spät kommen.“, entgegnete Herr Donner, ohne sich ihr zuzuwenden und verschwand aus dem Blickfeld. Selbst Erik konnte aus dem undurchdringlichen Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht erschließen, ob sie sich über seinen Vater ärgerte oder über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nachdachte. Im Hause Donner wurde nicht gestritten, nicht geschrien. Es gab keine Probleme. Seine Mutter verließ ihren Platz, um in der Diele umher zu schreiten und das Interieur zu arrangieren. Obwohl sie dabei einen souveränen, strengen Eindruck auf andere machen mochte, wirkte sie auf Erik nervös. Er wandte sich der Tür zu. Der ehrwürdige Eindruck der breiten Haustür aus Ebenholz, durch die schon Generationen der Familie Donner gegangen waren, hatte ihn als kleinen Jungen in Faszination versetzt und in eine Art Schrecken. Manchmal hatte er geglaubt, die Tür würde nicht dulden, dass er durch sie hinaus oder hinein ging, als müsse sie das Verlorengehen von Einrichtungsgegenständen und das Eindringen von Fremdkörpern verhindern. Und er war beides. Ein ehrfurchteinflößendes Läuten erklang, wie das Schlagen einer Wanduhr. In erhabener Langsamkeit ging seine Mutter auf den Eingang zu. Sobald sie die Tür geöffnet hatte, riss die davor stehende Frau ihre Arme in die Höhe – in der einen Hand noch eine pinke Einkaufstüte haltend. „Hallo!“, quietschte die Besucherin in einem hohen, mädchenhaften Ton und stürzte auf seine Mutter zu, um sie überschwänglich zu umarmen und ihr Luftküsse gegen die Gesichtshälften zu drücken. Diese übermäßig unbekümmerte und an einem Mangel an Respekt leidende Wahl-Blondine in dem heiter-rosa Kleidchen – das viel zu sommerlich für die Jahreszeit aussah – ließ die Szene in diesem von Tradition durchdrungenen Haus immer wie den Drehort einer flachen Parodie erscheinen. Jäh gab Rosa ein Gequieke von sich, als würde sie ein fröhliches Schweinchen nachahmen wollen. „Wenn das nicht unser kleiner Erik ist!“, kicherte sie überfreudig. „Du bist so groß geworden! Und gutaussehend!“ Sie drehte sich zu ihrer Schwester. „Gut, dass er deine Gene hat.“ Sie klopfte seiner Mutter ungeniert auf die Schulter. Dann drehte sie sich dem Hausflur zu und sah sich seufzend um, als wäre sie nach Ewigkeiten nach Hause zurückgekehrt. „Ach ja, die verstaubte Bude. Gut, dass ich mal wieder ein bisschen Schwung hier reinbringe!“ „Thomas ist noch am Arbeiten. Er wird gleich runterkommen.“, sagte Eriks Mutter gefühlsneutral. „Ach, der alte Griesgram, dem wäre es am liebsten, wenn er mich gar nicht sehen müsste.“, lachte Rosa. Erik nahm an, dass sie damit richtig lag. „Im Esszimmer stehen Kaffee und Kuchen bereit.“, sagte Tamara Donner, als würde es sie gar nicht interessieren, was ihre Schwester von sich gab. „Aber erst mal muss ich mein Gepäck reinbringen.“, antwortete Rosa. „Erik! Du bist doch so ein großer, starker Mann, du wirst mir doch sicher helfen.“ Sie lächelte ihn gewinnend an, zumindest ging Erik davon aus, dass sie ihr Lächeln für gewinnend hielt. Er erwiderte nichts, stattdessen lief er wie ein Page vor die Tür und ergriff Rosas roten Koffer mit den weißen Punkten und den farblich passenden Trolley.   Eriks Vater saß am Kopfende, rechts von ihm seine Frau, ihm gegenüber am anderen Ende des Tisches hatte Erik den Sitzplatz eingenommen, den er seit seiner Kindheit gewöhnt war und der es seinem Vater ermöglichte, ihn einer genauen Inspektion zu unterziehen und dabei so weit wie möglich von sich fernzuhalten. Erik sah auf den Tisch und hob seinen Blick nur so weit, dass er nicht in die Bedrängnis geriet, seinen Eltern in die Augen zu blicken. Auf einer großen Kuchenplatte aus Kristallglas waren verschiedene Tortenstücke arrangiert, die mit ihren Verzierungen und ihrem süßen Geruch, gemischt mit dem Duft des frischen Kaffees, direkt aus einem Magazin für perfekte Gastgeber hätten stammen können. Vier Porzellanteller, passend zu den zierlichen Kaffetassen und der zugehörigen Kaffekanne, standen auf der Tischdecke bereit. Auf den weißen Stoffservietten ruhten die kostbaren silbernen Kuchengabeln. Ein großes Bouquet rosafarbener Rosen, von zartweißem Schleierkraut und verschiedenem Grün ergänzt, bildete das Zentrum der Tischdekoration. Der Name der kleinen weißen Blüten, die als Rosenbegleiter dienten, war Erik nur vertraut, weil er sich als Kind für Blumen interessiert hatte. Heute war ihm unklar, was ihn damals dazu bewogen hatte. Keiner sprach ein Wort. Wie üblich. Die Tür in Eriks Rücken öffnete sich mit einem leisen Geräusch und Rosas schrille Stimme zerfetzte das profunde Schweigen mit einem lauten „Oh! Das ist ja wunderschön!“ Herr Donner begrüßte seine Schwägerin in einem Ton, der keinen Hehl daraus machte, dass er aus purem Zwang heraus das Wort an sie richtete. „Hallo Rosa.“ Rosa ignorierte ihn und strahlte stattdessen ihre Schwester an. „Wo hast du die Rosen her? Die sind ja wunderhübsch!“ Gefühllos wie immer antwortete Eriks Mutter. „Ich dachte mir, dass sie dir gefallen.“ „Blumen waren schon immer das einzige, bei dem du Emotionen gezeigt hast!“, scherzte Rosa und nahm gegenüber ihrer Schwester Platz. Bei ihren Worten wurde Erik übel. „Und das einzige, bei dem du keine Emotionen gezeigt hast.“, antwortete seine Mutter. Rosa lachte hell auf. „Da hast du wohl Recht.“ Eriks Mutter erhob sich und verteilte die verschiedenen Kuchenstücke auf die emotionslose Art, die ihm vertraut war. Dennoch war es seltsam zu sehen, wie sie etwas tat, das einer Hausfrau ähnelte. Jemanden zu bedienen widersprach so ziemlich allem, wofür sie stand. Während sie seinem Vater ein Stück Torte reichte, redete Rosa weiter. „Erik wird immer mehr wie sein Vater.“ Mit desinteressierter Stimme antwortete seine Mutter: „Er ist sein Sohn.“ „Aber jetzt sieht man die Ähnlichkeit immer deutlicher.“ Erik konnte den Blick seines Vaters auf sich spüren und wusste, dass sein Vater zu einem anderen Ergebnis kam. Rosas übertrieben lebhafte Stimme sprach weiter. „Du solltest aufpassen, dass er nicht genauso verbittert wird!“ Erik biss die Zähne zusammen. „Welches Stück möchtest du?“, fragte seine Mutter ihn. Ohne Interesse an dem Sortiment an verschiedenen Torten-, Kuchen- und Biskuitstücken wählte er das erstbeste, reichte seiner Mutter den Teller und nahm ihn wieder entgegen. Momente lang widmete sich jeder seinem Teller. Nur Rosa musste direkt kommentieren, wie lecker der Kuchen war.   Dann rief sie in seine Richtung: „Du siehst aus, als würde dein Stück gar nicht schmecken!“ Erik sah sie nicht an. „Ich bin kein Fan von Süßigkeiten.“ Rosa lachte. „Man muss auch die süßen Dinge im Leben genießen können!“ Dann hörte er aus ihrer Stimme einen spielerischen Tadel. „Mit so einer Einstellung gewinnt man keine Mädchenherzen, auch wenn du noch so gut aussiehst.“ Die raue Stimme seines Vaters erklang. „Es ist mir lieber, er bringt kein Mädchen nach Hause als eines, das so denkt.“ Eriks Hand krampfte sich um die Gabel. „Es ist auch besser, wenn er dir seine Freundin nicht vorstellt, sonst rennt sie noch davon.“ Rosa lachte schallend. Erik legte die Gabel auf den Teller, hörte Rosas Lachen, sah das Stück Kuchen vor sich, die rosa Farbe der Himbeercreme zwischen dem gelblich-weißen Biskuitteig. Er schob seinen Stuhl nach hinten und erhob sich. Als hätte er ein Schauspiel unterbrochen, starrten die Anwesenden ihn geschockt an. Sie durchbohrten ihn mit Blicken, forderten etwas – etwas, das das Schauspiel wieder in Gang setzte. „Ich muss die Sprühsahne holen.“ Er ging um seinen Stuhl herum und verließ den Raum. Schnellstens entfernte er sich aus dem Bereich, von dem aus man ihn durch das verzierte Glas der Esszimmertür noch sehen konnte. Endlich in der Küche angekommen, blieb er einen Moment stehen und lehnte sich unwillkürlich gegen die Tür in seinem Rücken, als suche er Halt. Wie er das alles hasste. Aus seiner Hosentasche holte er wie in einer automatisierten Geste sein Smartphone hervor. Keine neuen Nachrichten. Natürlich. Er ließ es zurück in seine Hosentasche gleiten. Mit betont festen Schritten lief er zum Kühlschrank. Aus dem Inneren des Stahlriesen holte er die Dose Sprühsahne. Er schloss den Kühlschrank wieder, drehte sich um und zögerte. Einen Augenblick hielt er inne. Seine Linke stellte die Sprühsahne auf die Arbeitsfläche neben sich. Seine Rechte griff nochmals in seine Hosentasche, um sein Handy hervorzuholen. Wie eine Kristallkugel starrte er das erloschene Display an. Für Atemzüge schwankte er, war geneigt… – Er begann eine Nachricht zu tippen, löschte die Zeilen wieder, stand still und begann von Neuem.   Auf dem Heimweg frohlockte Vivien, als wäre sie die Moderatorin einer Dauerwerbesendung. „Das war doch ein super Training für den Kampf mit den Allpträumen!“ Vitali grummelte verärgert. „Was soll daran ein super Training gewesen sein?“ Vivien lächelte ihn an. „Weil die Allpträume genau das gleiche machen.“ Vitalis Augenbrauen zogen sich zusammen. Ewigkeit präzisierte. „Sie benutzen das, was euch am meisten wehtut.“ Entsetzt stieß Vitali aus: „Soll das heißen, ich hab dann mehrere Tinys in mir?!“ „So etwa.“, kicherte Vivien. „Ich bin kein Allptraum!“, beschwerte sich Serena. „Jupp, du bist nicht nur ein Allptraum, du bist auch noch ein Schatthenmeister“, erwiderte Vitali. Serena verzog das Gesicht. Daraufhin legte Vitali ihr locker die Hand auf die Schulter und stützte sich halb auf sie. „Hey, dafür hast du gleich nen potentiellen Arbeitgeber, wenn wir den Kampf verlieren. Du bist sicher sehr gefragt bei den Bösewichten.“ Es war nicht zu übersehen, dass Serena das nicht lustig fand. „Wieso bin ich ein Schatthenmeister?“, wollte sie stattdessen wissen. Doch keiner der anderen antwortete ihr. Vitali ließ von ihr ab und wandte sich an die anderen. „Wie soll das jetzt weitergehen?“ „Hey, wieso bin ich ein Schatthenmeister?“, rief Serena dazwischen und wurde ignoriert. Justin ergriff das Wort. „Serena hat zwar geschafft, uns wieder aus deiner Seelenwelt zu holen, aber sie braucht mehr Übung darin.“ Vitali zog die Nase kraus. „Wieso bin ich ein Schatthenmeister??!!!“ Ariane wandte sich an Ewigkeit. „Und du bist sicher, dass unsere Kräfte bei den Allpträumen wirken, wenn wir in der Seelenwelt sind?“ „Vielleicht müsst ihr die Schwingung ändern.“ Die fünf warfen sich verwirrte Blicke zu. Serena hatte mittlerweile aufgegeben, nach der Bedeutung von Vitalis Worten zu fragen. „Die Allpträume sind nicht aus Hass und Zorn gemacht.“ „Großartig.“, nörgelte Serena. „Das heißt, wir wissen nicht mal, ob unsere Kräfte irgendeine Wirkung zeigen?“ „Die Beschützer können alles!“, verkündete Ewigkeit, als würde sie das Motto einer Sportmannschaft aufsagen. Serena spottete. „Wie wär’s wenn du das den Allpträumen erzählst? Dann verschwinden sie vielleicht von sich aus wieder.“ „Das ist eine super Idee!“, rief Vivien. „Psychologische Kriegsführung!“ Ein seltsames Geräusch ertönte und Ariane griff in ihre Tasche, um ihr Handy hervorzuholen. Sie warf einen Blick auf das Display und öffnete die Nachricht. Daraufhin erschien ein Lächeln auf ihren Lippen. „Was ist?“, wollte Vitali wissen. „Erik.“, antwortete Ariane, ohne den Blick vom Bildschirm zu heben. „Was schreibt er?“, mischte sich Vivien ein. Ariane überflog nochmals seine Worte.   Verbringst du einen ebenso spannenden Nachmittag wie ich? Bei uns ist Familienversammlung, weil meine verschollene Tante bei uns eingekehrt ist. Das ist seeehr lustig. Meine Eltern schweigen, meine Tante redet und ich wünschte, ich könnte mir einfach die Kopfhörer meines iPhones in die Ohren stecken. Möchtest du dem nicht beiwohnen?   „Er muss den Nachmittag mit seiner Familie verbringen und ist gar nicht begeistert.“ Sie sah zu den anderen. „Ist es okay, wenn ich antworte?“ Die anderen schauten, als wäre das eine unnötige Frage. Ariane tippte auf dem Display herum. Besser nicht. Dein Vater würde bei meinem Anblick noch einen Herzinfarkt bekommen. :) Wenige Momente später erhielt sie eine Antwort. Wann kannst du kommen? Fast hätte sie laut losgelacht, stattdessen grinste sie breit und tippte. *lach* Das wirst du auch ohne mich überstehen. Antwort: Auf deine Verantwortung. Hast du demnächst Zeit, damit ich eine Ausrede habe, von hier abzuhauen? Ariane schrieb: Sicher. Eine weitere Antwort. Gut. Muss wieder rein. Drück mir die Daumen. Ariane tippte eine letzte Nachricht. Mach ich. :) Alles Liebe. „Schreibt ihr euch immer so viel?“, fragte Vitali verdutzt. Ariane stutzte. „Nein, eigentlich nicht. Normalerweise schreiben wir uns gar nicht. Aber du schaust nie auf dein Handy und Justin hat keines, deshalb bringt es nichts euch Nachrichten zu schicken. Bei mir weiß er, dass ich antworte.“ „Du meinst, er würde jedem schreiben, der ihm antwortet?“, fragte Vitali ungläubig. „Besser als jemandem, der nicht antwortet.“, erwiderte Ariane. „Vielleicht vermisst er euch!“, sagte Ewigkeit heiter. „Wir haben uns gestern erst gesehen.“, warf Vitali ein. Ewigkeit schaute, als verstünde sie den Einwand nicht. Vivien hatte einen Vorschlag. „Wir können ja mit Erik zusammen unseren Sieg über die Allpträume feiern!“ „Falls wir gewinnen.“, wandte Serena ein. „Fokussiertes Denken!“, verkündete Vivien. „Du musst dir vorstellen, wie die Hand durch das Brett hindurchschlägt, nicht auf das Brett.“ Vitali wandte sich an Justin. „Wovon redet sie eigentlich?“ Justin schaute unsicher. „Ich glaube Karate.“ Um den vorigen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, sagte Ariane: „Erik hat ohnehin gefragt, ob wir demnächst etwas unternehmen wollen.“ „Dann Siegesfeier mit Erik!“, rief Vivien. „Oder Beerdigungsfeier.“, grummelte Serena. Zur Strafe verwuschelte Vitali ihr das Haar, sodass sie laut aufschrie, ohne jedoch seine Hand wegzuschlagen. Ewigkeit kicherte glockenhell, als ginge sie davon aus, dass die beiden dabei Spaß hatten. Vivien ergriff Justins Hand und lächelte ihn fröhlich an. „Was ist?“ Sie lächelte bloß weiter und blieb ihm eine Antwort schuldig.   Grauen-Eminenz hatte bei der Pandämoniums-Auskunft angerufen und war ewig und drei Tage in der Warteschleife gehangen. Wenigstens hatte er nicht Konversation mit einer Computerstimme betreiben müssen, die sich über Tastendrücken mit ihm unterhalten wollte. Wenn Sie restlos entnervt sind, dann drücken Sie die Sieben. …Piep. Lieber Kunde, Sie sind restlos entnervt. Wenn der Grund für Ihre Entnervtheit die Computerstimme ist, die nichts aus der Ruhe bringen kann, dann drücken Sie die Eins. Wenn es die Hintergrundmusik ist, die Sie in den Wahnsinn treibt, drücken Sie die Zwei. Wenn es die verschwendete Lebenszeit ist, die Sie damit verbringen, irgendwelche Tasten zu drücken, drücken Sie die Drei. Wenn es eine Kombination aus den zuvor genannten Gründen ist, drücken Sie die Vier. Er hätte erwartet, dass das Pandämonium sich wenigstens eine beeindruckende Wartemelodie ausgesucht hätte, ‚Eine Nacht auf dem kahlen Berge‘ von Modest Mussorgski oder die Erkennungsmelodie vom weißen Hai oder Darth Vader. Aber nein, sie hatten die Standardmelodie eines Callcenters, ein einfaches Gedudel. Jedenfalls war er schließlich durchgestellt worden, um dann zu erfahren, dass er seine Anfrage doch bitte an den für den Auftrag zuständigen Projektleiter stellen sollte, den er dem Anschreiben entnehmen könne. Restlos entnervt war Grauen-Eminenz dieser Anweisung gefolgt und hatte demjenigen eine E-Mail geschrieben, da er genug von Telefonwarteschleifen hatte. Er hatte nachgefragt, ob dieser ihm Informationen darüber geben konnte, wie er die Allpträume wieder einfangen sollte. Tatsächlich hatte er daraufhin eine Antwort bekommen. Der Sachbearbeiter hatte ihm erklärt, dass sich die Box, in der sich die Allpträume befanden, tatsächlich als eine Art Staubsauger benutzen ließ. Darüber hinaus hatte er behauptet, die Instruktionen dazu seien der Sendung beigelegen. Aber Grauen-Eminenz hatte alles doppelt und dreifach durchgesehen und nichts gefunden! War ja klar. Wenn das Pandämonium einen Fehler machte, wurde es auf ihn geschoben. Nun war er bloß umso sicherer, dass seine Organisation selbst keine Ahnung hatte, wie man mit diesem Apparat umging. Und leider war das Ding alles andere als selbsterklärend. Als er daraufhin nochmals per Mail nachfragte, wie das Einfangen funktionieren sollte, sobald er die Allpträume freigelassen hatte und sie über die ganze Stadt verteilt waren, bekam er keine Antwort mehr. Großartig.   Die sonntägliche Ruhe im Hause Donner wurde von einer quietschigen Frauenstimme unterbrochen, die vom Ende des Ganges im ersten Stock zu Erik schrillte. „Erik, kannst du mal kommen?“ Jetzt war er nicht mal mehr auf der Strecke vom Bad zu seinem Zimmer davor sicher, von ihr behelligt zu werden. Das Gästezimmer befand sich am Ende des rechten Ganges und zählte mit seiner einem riesigen Wohnzimmer entsprechenden Größe zu den kleineren Räumen im Hause Donner. Rosa hatte sich persönlich um seine Ausgestaltung gekümmert. Entsprechend war die Einrichtung bunter und flippiger als im Rest des Hauses, wo gedeckte Farben wie Schwarz, Dunkelbraun und verschiedene Grau- und Beigetöne vorherrschten. Auf Erik wirkte das Ganze immer so, als würde er durch die Tür in ein Geschwür schauen. Etwas, das nicht Teil dieses Haus war, in dem sonst alles einer klassischen Linie folgte. Rosa stand mit ihrem Koffer in der Hand da. „Könntest du den auf den Schrank stellen?“ Erik fragte sich, wieso sie den Koffer nicht einfach neben dem Schrank stehen ließ, aber nach dem Warum zu fragen, hätte nichts weiter gebracht, als dass er sich unnötigerweise ihr Gerede hätte anhören müssen. Daher nahm er ihr stattdessen den leeren Koffer ab und hievte ihn auf den Kleiderschrank. „Danke.“ Ohne Worte wollte sich Erik wieder entfernen. Die Zimmertür hatte er bewusst gleich offen stehen lassen. Doch Rosa musste erneut das Wort an ihn richten. „Wie geht es dir?“ Am liebsten hätte er sie ganz einfach ignoriert, schließlich hatte sie ihm die gleiche Frage zum Frühstück gestellt, was nur ein paar Stunden her war. Seine Eltern waren an diesem Sonntag bei einem befreundeten Ehepaar zum Brunch eingeladen, daher hatte Rosa niemand anderen zum Nerven. „Gut.“, gab Erik also zum zweiten Mal an diesem Tag von sich und wollte das Zimmer verlassen. Erneut vereitelte Rosa sein Entkommen. „Tamara hat erzählt, dass du jetzt hier zur Schule gehst.“ Erik erzeugte ein zustimmendes Geräusch. Er war nur Schritte von der Tür entfernt, seine ganze Körperhaltung musste doch demonstrieren, dass er endlich gehen wollte. Aber anscheinend genoss Rosa es, ihn in der Falle zu sehen. Sie lachte spöttisch auf. „Hast du Angst vor mir?“ Mit ihrem Kommentar bezog sie sich offensichtlich darauf, dass er sie nicht ansah. Widerwillig drehte sich Erik zu ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. Zu der schnippischen Antwort, die ihm auf der Zunge lag, kam er nicht. „Es ist schön, dass du jetzt wieder öfter hier bist. Tamara freut sich.“ Sie lächelte. Eriks Laune sank auf den Tiefpunkt. Rosa wusste überhaupt nichts! Sie wusste nicht im Geringsten, was seine Mutter fühlte oder dachte! Seine Mutter hatte es nie interessiert, ob er im Internat war oder hier. Für sie war er ein seltsames, fremdes Wesen, mit dem sie nicht umzugehen wusste. Wie ein Unbekannter, der eines Tages vor ihrer Tür stand und ihr verkündete, er sei ihr Sohn. Sein Vater dagegen hatte nie etwas anderes in ihm gesehen: Sein Fleisch und Blut, sein Schuldner. Erik gehörte ihm und Eriks ganze Existenz war von ihm abhängig. Ganz gleich was Erik auch tat, diese Abhängigkeit hörte nicht auf. Solange er unfähig war, den Erwartungen seines Vaters zu genügen, solange war er gefangen. Dabei hatte er längst aufgegeben, in den Augen seines Vaters irgendetwas sein zu wollen. „Du hast es schwer, nicht wahr?“, sagte Rosa mit einem Lächeln, das er ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte. „Nein.“ Rosa strahlte ihn an. „Stimmt. Du bist groß und stark geworden. Jetzt ist es sicher einfacher für dich.“ Erik wurde übel, als der Gedanke in ihm hochkam, dass alles schlimmer geworden war. Rosa tätschelte ihm die Schulter, als wäre er ein Hund. „Lass dich von deinem Vater nicht unterkriegen.“ „Mein Vater ist nicht das Problem.“, erwiderte er in einem so wütenden Ton, dass Rosa ihn unverwandt ansah. „Was ist es dann?“ Erik schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Er war das Problem.  Er drehte sich um und ging.   Ob das Erwachen den Kopfschmerz einleitete oder der Kopfschmerz das Erwachen, konnte Erik nicht sagen. Mit der Hand an der Stirn, um sein Angesicht gegen die ins Zimmer dringenden Sonnenstrahlen abzuschirmen, verblieb er in seiner Lage. Das grelle Licht, das seine Umgebung eingenommen hatte, glomm orangerot hinter seinen Augenlidern. Vergeblich versuchte er dem Eindringling zu entrinnen. Einem wütenden Aufbäumen gleich setzte er sich mit einem Ruck auf und beugte sein Haupt, um der peinigenden Wahrnehmung zu entgehen. Als seine aufwühlende Gegenwehr gegen die Helligkeit schließlich nachließ, tastete er nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch. Zwölf Uhr. Er stöhnte. Unter normalen Umständen hätte er nie solange geschlafen. Eben wollte er das Mobiltelefon aus der Hand legen, als das Display erneut aufleuchtete. Mehr aus träger Routine als aus Interesse entsperrte Erik das Handy. Er versprach sich davon nichts, vermutlich nur eine Benachrichtigung über ein anstehendes Update. Zu seiner Überraschung handelte es sich um eine Nachricht. Die dösige Wolkendecke um seine Sinne herum riss schlagartig auf. Hi! Wie geht’s? Hast du auch so schlecht geschlafen? Ich hatte Albträume. Ariane Das leise Glücksgefühl, das ihr Name in ihm ausgelöst hatte, konnte der Reaktion auf ihre Worte nicht lange standhalten. Unliebsame Bildfetzen kamen als Blitzlichtgewitter aus den Tiefen seiner Erinnerung zurück an die Oberfläche geschnellt. Gewaltsam drängte er sie zurück in die Schatten und wählte Antworten. Gewillt zu schreiben, was ihm gerade durch den Kopf ging, hielt er nochmals inne und verwarf seine naiven Absichten. Still ermahnte er sich: Einblick in das zu gewähren, was hinter der Maske lag, hieß abstürzen. Soll das heißen, du hast wieder von mir geträumt?, antwortete er stattdessen. In ungeduldiger Erwartung hielt er sein Smartphone in Händen, obwohl er wusste, was Ariane schreiben würde: ‚Ganz sicher nicht!‘ Endlich spürte er den Vibrationsalarm und sah das Display aufleuchten. Ja. Und in dem Traum hast du mir dämliche Fragen gestellt, um mein Hirn explodieren zu lassen! Erik schmunzelte. Es gelang ihr doch immer wieder, ihn zu überraschen und seine Gedanken auf andere Bahnen zu lenken, fast wie ein Himmelskörper, dessen Anziehung verhinderte, dass man in der Schwärze verloren ging. Wieder tippte er. Das ist natürlich ein sehr beängstigender Traum. Aber absolut abwegig. Ich stelle niemals dämliche Fragen. Außerdem verdrehe ich dir viel lieber den Kopf als ihn explodieren zu lassen. Es dauerte etwas, bis er ihre nächste Antwort erhielt. Du willst mir also das Genick brechen. Auch nicht besser. – Während des Lesens musste er grinsen. – Zumindest bin ich froh, dass du gut schlafen konntest. Dass sie erneut auf seinen Schlaf ansprach, machte ihn stutzig. Ein zweites Mal auf so etwas Belangloses hinzuweisen, konnte nicht einfach als Flüchtigkeitsfehler gedeutet werden. Nicht bei jemandem wie Ariane. Dafür war sie zu clever – und zu sehr darauf bedacht, sich vor ihm keine Fehler zu leisten – wie er leicht amüsiert ergänzte. Wieso also? Allein schon diese Frage als Aufhänger für ihre erste Nachricht zu nehmen, schien suspekt. Das war doch kein Grund jemandem zu schreiben. Er fuhr sich über die Stirn. Er war wohl der einzige, der sich über solche Dinge Gedanken machen konnte, wenn die Person, über deren Nachricht er sich schon aus Prinzip hätte freuen sollen, eine gehaltlose Kurznachricht schrieb. Dennoch wollte er nicht glauben, dass ihre geistigen Fähigkeiten sie verlassen haben sollten, wo sie doch auf seine Antworten mit ihrer typischen Schlagfertigkeit reagiert hatte. Wie passte das zusammen? Ein Klopfen unterbrach seine Überlegungen. Erik legte das Handy beiseite, erhob sich und lief zur Tür. Das Rufen von „Herein“ oder „Ja“ mochte für andere Menschen eine gängige Methode sein, dem Klopfenden die Erlaubnis zum Eintritt zu gewähren – nicht so im Hause Donner. Dies lag nicht etwa daran, dass Erik um jeden Preis verhindern wollte, dass sein Vater einen Fuß in sein Zimmer setzte. Sein Vater klopfte nicht. Und ob Erik seine Anwesenheit duldete oder nicht, interessierte ihn herzlich wenig. Nie hätte sein Vater auch nur eine Sekunde Eriks Privatsphäre respektiert. Schlimmer. Für ihn besaß Erik keine Privatsphäre. Diese Sache, die sein Vater nur Menschen zugestand, die er als gleichwertig ansah. Von dem Klopfen wusste Erik, dass seine Mutter vor der Tür auf ihn wartete. Mittlerweile kannte er die Prozedur, die sich seit seinem Wiedereinzug vor drei Monaten herauskristallisiert hatte: Er öffnete, trat hinaus in die Diele und ließ das Zimmer hinter sich, das seine Mutter mied wie der Teufel Weihwasser. Um ihr den bloßen Anblick zu ersparen, schloss er die Zimmertür. Dieses Zimmer und alles, was sich darin befand, war geheim. Nicht aus einem ihm innewohnenden Wesenszug, sondern weil die Öffentlichkeit seine Offenbarung nicht wünschte. Und so blieb es geheim. „Rosa und ich gehen Essen.“, informierte seine Mutter trocken. Für die Dauer von Tante Rosas Besuch, hatte seine Mutter der Haushälterin Urlaub gegeben, dementsprechend gab es im Hause Donner keine warmen Mahlzeiten mehr. Vom Ende des Ganges kam Rosa mit beschwingtem Schritt angetänzelt. „Erik! Ist dir Chinesisch oder Italienisch lieber? Oder deutsche Hausmannskost? Ich kann mich nicht entscheiden.“ „Ich hab keinen Hunger.“, entgegnete Erik knapp. „Wenn du bis mittags schläfst.“, antwortete seine Mutter emotionslos. Erik schwieg. „Hast du auch schlecht geschlafen? Ich hatte schreckliche Albträume!“, stieß Rosa aus. „Tamara auch. Nicht wahr?“ Sie drehte sich zu Eriks Mutter. Diese schwieg. „Vielleicht war Vollmond! Es passieren ja die verrücktesten Dinge bei Vollmond. Ich war mal mit einem Polizisten zusammen. Der hat erzählt, dass es viel mehr Gewalttaten in Vollmondnächten gibt. Verrückt oder?“ Erik gab darauf keine Antwort. „Ich kann mir selbst was zu essen machen, wenn ich Hunger kriege.“ „Tu deiner Mutter doch den Gefallen!“, quengelte Rosa. Erik warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Es erfüllte ihn mit unbändiger Wut, dass Rosa die dumpfe, halb abgetötete Hoffnung des Kindes in ihm zurück ans Tageslicht zu zerren versuchte. Er wollte sich niemals wieder der Hoffnung hingeben, geliebt zu werden. Einem so absurden Wunsch. Die Übelkeit der vergangenen Nacht schoss wieder in ihm hoch. „Leg dich wieder hin. Du siehst krank aus.“, sagte seine Mutter und wandte sich ab. Verblüfft wirbelte Rosa herum und folgte ihr nach. „Warte!“ Erik blieb stehen. Das wiedererwachte Schwächegefühl ließ nicht von ihm ab. Reflexartig starrte er auf seine Hände. Er drehte sich zu seinem Zimmer um. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)