Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 97: Jungs-Abend ----------------------- Jungs-Abend „Zwei Freunde müssen sich im Herzen ähneln, in allem anderen können sie grundverschieden sein.“ (Sully Prudhomme)   Am späten Nachmittag stand Justin vor der Haustür der Familie Luft. Es war seltsam, ganz alleine hier zu sein, und irgendwie machte es ihn nervös. Üblicherweise wählten die anderen die Gesprächsthemen und sorgten für gute Laune. Er selbst besaß dieses Geschick nicht. Wenn er ehrlich war, hielt er sich für alles andere als eine interessante Person. Im Bezug auf Beschützer-Angelegenheiten war sein nüchternes Wesen wohl nützlich, doch wenn es sich um Dinge handelte, die Leute in seinem Alter so taten, fühlte er sich deplatziert. Sicher würde er Vitali langweilen, schließlich wusste er, wie ungeschickt er im Umgang mit Gleichaltrigen war. Mehr als einmal hatte er schon gesagt bekommen, dass er sich unnormal verhielt, denn die Gepflogenheiten seiner Altersgenossen waren ihm völlig fremd. Abgesehen davon war er die meiste Zeit seines Lebens unsichtbar gewesen und dafür hatte er nicht einmal Vitalis Kräfte gebraucht. Mit Schwung wurde die Tür vor ihm aufgerissen. „Hey!“, rief Vitali ausgelassen und breit grinsend. Mit weniger Elan antwortete Justin. „Hallo.“ Vitali gestikulierte wild. „Komm rein, komm rein!“ Noch einmal Mut fassend betrat Justin die Diele des Hauses, während Vitali unbekümmert weiterredete. „Meine Family ist zu meiner bescheuerten Oma gefahren. Zum Glück durfte ich hier bleiben. Das heißt: Sturmfreie Bude! Woohoo!“ Er wirbelte herum. „Wir bestellen uns Pizza! Und wir können so laut sein wie wir wollen!“ Er brach in irres Gelächter aus, das Justin automatisch zum Schmunzeln brachte. Vitali führte ihn eilig ins Wohnzimmer und legte Justin die Karte des Pizzaservice vor, um ihm sogleich zu empfehlen, welche Pizzen die besten waren. Justin war bemüht, Vitalis sprudelnden Worten zu folgen, dabei irgendetwas davon auf der Karte ausfindig zu machen, als ihm einfiel, dass er seinen Geldbeutel gar nicht mitgenommen hatte. Beschämt sah er zu Vitali auf. Dieser bemerkte seinen Blick sofort. „Hast du schon gegessen?“, fragte Vitali fast entsetzt. „Nein, also ja, nicht jetzt. Also, was ich sagen will: Ich habe kein Geld mitgenommen.“ „Hä?“, stieß Vitali aus und schaute, als wäre er darüber wütend. Justin schämte sich. „Mann! Laber nicht!“, schimpfte Vitali. „Tut mir leid.“, druckste Justin und zog den Kopf ein. Vitali wurde noch lauter. „Du bist eingeladen, Mann!“ Er stieß die Luft geräuschvoll aus, als wäre er genervt. Justin ging davon aus, dass Vitali sich zu diesem Schritt gezwungen sah. „Das musst du nicht.“, sagte er kleinlaut. „Alter! Was ist dein Problem? Du bist mein Gast! Also benimm dich auch so!“ Justin war nun völlig verunsichert. Er hatte den Eindruck, schon in den ersten fünf Minuten die gesamte Stimmung ruiniert zu haben. Sicher bereute Vitali es bereits, ihn eingeladen zu haben. Vitali setzte sich und schaute unzufrieden, dann seufzte er. „Sorry.“ Justin konnte dem nicht folgen. „Wenn du keine Pizza willst, können wir das auch lassen.“, sagte Vitali. doch es war ihm deutlich anzusehen, dass die Aussicht, auf Pizza zu verzichten, ihn frustrierte. „Nein, so hab ich – Du kannst dir gerne was bestellen!“ Nun fixierte Vitali ihn grimmig. „Mann Justin! Ich will, dass wir zusammen Pizza essen! Das ist ein Männerabend! Wir bestellen ne Riesenpizza und essen davon bis uns schlecht wird! Wir machen jeden Scheiß, der uns einfällt, und … keine Ahnung! Irgendwas halt!“ Er zog einen unzufriedenen Schmollmund. „Ähm, … Okay!“, antwortete Justin bestätigend und nickte. Augenblicklich begann Vitali wieder zu strahlen und wollte wissen, welchen Belag Justin auf der Familienpizza haben wollte. Justin überließ Vitali die Auswahl. Vitali grinste, darüber offenbar erfreut. „Das wird super!“ Dann griff er auch schon zum Telefon, um die Pizza zu bestellen, während Justin einen Moment Verschnaufpause hatte. Sobald Vitali aufgelegt hatte, wirbelte er zu Justin herum und rief euphorisch aus: „Wir können alles machen, was wir wollen!“ Sofort stierte er Justin begierig an. „Was willst du machen?“ Justin war davon direkt wieder überfordert. „Mir egal.“ „Okay.“  Vitali lief zur Stereoanlage und griff dann nach einem Tablet, das daneben lag. Im nächsten Moment begannen laute, rockige Töne aus den Lautsprechern zu dröhnen. Augenblicklich begann Vitali dazu Luftgitarre zu spielen. Als Justin nur unbewegt sitzen blieb, gab er ihm gestisch zu verstehen, dass er mitmachen sollte. Justin erhob sich und stand dann reichlich hilflos neben Vitali. Mit steifen Bewegungen versuchte er Vitali nachzuahmen, der passend zur Musik seinen Kopf hin und her schleuderte und mit seiner Rechten wilde Zuckungen machte, die wohl das Spiel der Gitarre nachahmen sollten. Bei Justin sah es eher so aus, als würde er an einer mittelalterlichen Laute zupfen. „Nee, nee.“, sagte Vitali und wies seinen Freund fachmännisch in die Kunst des Luftgitarrespielens ein. „Du musst den Kopf dazu schütteln.“, erklärte Vitali und machte es vor. Justins Versuch wirkte weniger wie eine Tanzeinlage als vielmehr wie eine orientierungslose Bewegung nach einem Schleudertrauma. Vitali lachte sich schlapp und boxte Justin freundschaftlich gegen die Schulter. Justin jedoch kannte diese Art der Freundschaftbekundung nicht und fragte sich, ob er etwas falsch gemacht hatte. „Gleich noch mal!“, rief Vitali und wiederholte das Lied. Zögerlich folgte Justin der Aufforderung, bis Vitali am Ende des Liedes seinen Arm um ihn legte, weil er sich offenbar vor Lachen nicht mehr halten konnte. Da Vitali die meiste Zeit über die Augen geschlossen gehalten hatte, konnte es nicht an Justins schlechter Performance liegen. „Lass uns spielen!“, entschied Vitali ohne Umschweife und zog Justin mit sich, wo er ihm sogleich einen Controller in die Hand drückte und ein Spiel heraussuchte. „Was willst du?“, fragte Vitali und begann verschiedene Spieletitel aufzuzählen, die Justin allesamt nichts sagten. Doch Vitali schien auch gar nicht auf eine Antwort zu warten, denn schon hob er eine Spielhülle in die Höhe und lobte das Spiel lautstark. Sein Redeschwall ging weiter, während er das Spiel einlegte. Als er sich anschließend zu Justin wandte, der immer noch wie eine Marmorstatue dastand, warf er ihm einen irritierten Blick zu, um ihn sogleich anzulächeln. „Hock dich auf die Couch.“ Justin nickte und tat wie ihm geheißen. Der Startbildschirm eines Autorennspieles wurde auf dem Fernseher angezeigt und Justin betrachtete verwirrt die Tasten des Controllers, während sich Vitali neben ihn auf die Couch fallen ließ. Zaghaft ergriff Justin das Wort. „Äh, … Wie …?“ „Einfach mit A Gas geben.“ Justin sah Vitali hilflos an. „Hast du noch nie so was gespielt?“ „Das einzige Mal bei Serena. Mein Bruder hatte zwar früher mal eine Playstation, aber er hat mich nie mitspielen lassen.“ „Echt? Wenn ich Vicki nicht mitspielen lassen würde, würde meine Ma mir das Ding wegnehmen.“ „Gary hat es sich selbst gekauft.“ „Ah.“, war Vitalis Antwort darauf, ehe er dazu überging, Justin die Funktionen der einzelnen Knöpfe näher zu erläutern. Anschließend wählte er mit dem eigenen Controller den Ein-Spieler-Modus und reichte Justin seinen Controller, damit er erst einmal üben konnte. Während Justin daraufhin ein Fahrzeug auswählte und das Rennen startete, gab Vitali ihm Tipps, wo er abbremsen sollte, wo eine Kurve kam und wo es Abkürzungen gab. Als das Rennen beendet war, lobte Vitali ihn, obwohl Justin sicher war, sich sehr ungeschickt angestellt zu haben. Vitali nahm ihm den Controller wieder ab, um in den Mehrspielermodus zu wechseln. Sie fuhren ein paar Rennen. Zwar hielt sich Justin immer noch für einen schrecklichen Fahrer, aber Vitali machte es offensichtlich solchen Spaß über sein Ungeschick zu lachen und ihm dann aus der Patsche zu helfen, dass Justin es irgendwann selbst ganz lustig fand. Anschließend entschied Vitali, dass sie zusammen fernsehen könnten. Es lief gerade eine Comedyserie, bei der Vitali direkt stehen blieb. Er lachte sich über mehrere Stellen schlapp und ließ bei jeder Gelegenheit einen Kommentar ab. Offensichtlich ging es ihm weniger darum, die Serie anzuschauen, als sich mit Justin darüber zu unterhalten. Anfangs davon etwas irritiert, machte Justin schließlich mit und genoss es, mit Vitali herumzualbern. Besonders wenn Vitali über seine Scherze lachte, freute er sich sehr. Gary hatte ihm immer vorgehalten, wie dämlich seine Witze waren, daher hatte Justin mit zehn Jahren aufgehört, auch nur zu versuchen, lustig zu sein. Vitali dagegen schien alles witzig zu finden, was er sagte, egal wie unlustig es war. Irgendwie machte das Justin glücklich. Als die Sendung um war, schaltete Vitali weiter auf einen Musiksender. „Die ist heiß.“, sagte Vitali mit Bezug auf eine brünette Sängerin. Für ein Musikvideo hatte sie erstaunlich viel an und wirkte dank ihres Lächelns eher natürlich als sexy, weshalb Vitalis Wortwahl Justin ziemlich verwunderte. „Irgendwie… sieht sie aus wie Serena.“, stellte Justin fest, was vor allem an der Frisur mit dem Pony lag. Vitali ließ einen Schrei los. „Gar nicht!“ Hastig schaltete Vitali um und grummelte vor sich hin. Justin merkte zu spät, dass er das nicht hätte sagen sollen. Er war sich nicht sicher, wie er nun reagieren sollte. Offensichtlich war Vitali ziemlich verärgert. Vorsichtig hakte er daher nach, anstatt die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Magst du Serena nicht?“ Vitali hörte auf, wie ein Wilder herumzuzappen, woraufhin ein Ermittler ins Bild trat: ‚Die Indizien sprechen eine eindeutige Sprache.‘ „Nicht so.“, antwortete Vitali mit Schmollmund. „Achso.“, sagte Justin kleinlaut. Er wusste nicht, was er sonst hätte entgegnen sollen. Vitali schien immer noch gekränkt. Seine Stimme wurde knarzig. „Sie mag mich doch auch nicht.“ „Hm.“ Jäh wurde Vitali wieder laut. „Warum wollen mich immer alle mit ihr verkuppeln?!“, schimpfte er und schaltete weiter. Justin überlegte laut. „Vielleicht wissen die Mädchen, dass sie dich mag.“ Vitali hörte wieder auf zu zappen. Eine verheulte Frau schluchzte in viel zu lauter, schriller Stimme auf: ‚Ich bin ja so glücklich!‘ „Quatsch.“, blaffte Vitali. Im nächsten Moment neigte er seinen Kopf näher zu Justin. „Hat Vivien irgendsowas gesagt?“ Justin wich zurück und wurde leise. „Nein?“ „Aha.“ Eine Pause entstand. Vitali schrie: „Mann! Das ist voll das schwule Thema für einen Männerabend!“, Justin indes konnte nicht nachvollziehen, was das mit Homosexualität zu tun haben sollte. Er wollte verhindern, dass Vitalis Laune so blieb und erkundigte sich daher: „Was macht man an einem Männerabend?“ „Poker spielen!“, verkündete Vitali überzeugt. „Ich kann kein Poker.“, gestand Justin. „Ich auch nicht.“ Justin stieß die Luft amüsiert aus und musste lächeln. „Hey, das ist nicht lustig. Das müssen wir unbedingt lernen!“, meinte Vitali nun wieder ausgelassen. „Sind das nicht immer mehr Spieler?“, wandte Justin ein. Vitali machte ein entsetztes Gesicht. „Eeeeh?“ Dann verzog er den Mund geradezu angeekelt. „Dann müssen wir ja doch den Bonzen mitspielen lassen.“  Mit Bonze meinte er höchstwahrscheinlich Erik. Justin stellte sich automatisch ein Pokerspiel zwischen Vitali und Erik vor. Vitali mit seinem beeindruckend sprechendem Gesicht und Erik mit seinem natürlichen Pokerface. Von gleichen Chancen konnte da nicht die Rede sein.   Erik zog mit einer gekonnten Bewegung sein Jackett an und kontrollierte vor dem Spiegel noch einmal, ob seine Krawatte richtig saß. Mit erhobenem Haupt und selbstsicheren Schritten verließ er dann sein Zimmer. „Schick!“, rief es links von ihm. Reichlich widerwillig drehte er sich zu Rosa um, die selbst in ein rotes Abendkleid gehüllt war. „Hast du dich für jemand Bestimmten so rausgeputzt?“ „Ich sehe immer gut aus.“, entgegnete er kalt. „Ja, das hast du von Tamara.“, stimmte Rosa ihm zu. „Begleitest du uns ins Theater?“ Seine Mutter kam in einem schwarzen Kleid mit hohem Seitenschlitz, das ihre langen Beine und ihre athletische Figur betonte, gerade aus der Richtung ihres Schlafzimmers auf sie zu. Sie antwortete an seiner Stelle: „Er begleitet seinen Vater auf die Feier eines Klienten.“ Erik warf ihr einen bestürzten Blick zu, doch als sähe seine Mutter die unausgesprochene Frage nicht – und ob sie sie denn sehen konnte, wusste er nicht zu sagen – stand sie unbewegt in angemessenem Abstand von ihm entfernt, während Rosa erneut das Wort ergriff. „Ein Männerabend!“, jubilierte sie. Erik strafte sie mit einem Gesichtsausdruck voller Verachtung, bevor er sich wieder seiner Mutter zuwandte. „Mir hat niemand gesagt, dass er mitkommt.“ Es klang vorwurfsvoll und hart, und das sollte es auch. „Ihr fahrt mit dem Mercedes.“, sagte seine Mutter so gefühlsneutral wie immer. „Er ist noch nicht mal da.“, knurrte er. Offenbar mutete sein Kommentar ihr nicht gewichtig genug an, um eine Stellungnahme von ihrer Seite zu erzwingen. Eriks Kiefer verhärtete sich und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ob seine Mutter nichts davon wahrnahm oder es einfach nicht sehen wollte, war nicht zu sagen. Ohne weiteren Kommentar schritt sie an ihm vorbei die Treppe hinab. Rosa folgte ihr und rief ihm noch ein „Viel Spaß!“ zu. Erik stand kurz davor, die Einrichtung zu zertrümmern.   Tags zuvor bei Ariane zu Hause: Auf Arianes Frage nach Finsters Geburtstagsfeier hin wirkte ihr Vater überrascht. „Oh.“, stieß er aus. „Hatte Blanka dir nichts gesagt? Ihr hatte ich es gesagt.“ „Mama hat mir nichts gesagt.“, antwortete sie. Aus dem Badezimmer rief es: „Ich dachte, Stefan würde es dir sagen.“ Daraufhin drehte sich ihr Vater ihr frontal zu und verkündete feierlich: „Ariane, wir sind auf Finsters Geburtstagsfeier am Samstag um achtzehn Uhr eingeladen. Du hast doch nicht schon was anderes vor, oder?“ Sie verneinte. Ihr Vater lächelte und hielt dann verwirrt inne. „Wenn ich dir nichts gesagt habe und Blanka dir nichts gesagt hat, woher weißt du dann überhaupt von der Feier?“ „Erik hat mich unterrichtet.“ Ihr Vater bekam einen seltsam angespannten Blick. „Wer ist Erik?“ „Er war auch auf der Jubiläumsfeier.“, erklärte sie. „Sein Vater ist Finsters Anwalt. Wir gehen in die gleiche Klasse.“ Wieder ertönte die Stimme ihrer Mutter, nun geradezu flötend. „Redet ihr von Erik?!“ Sogleich erschien sie an der Badezimmertür, eine weiße Paste im Gesicht. „Woher kennst du Erik?“, wollte ihr Vater dringend erfahren. „Das ist doch der schnuckelige Schwarzhaarige!“, jauchzte ihre Mutter und machte eine mädchenhaft begeisterte Geste. Ariane murmelte: „Das ist Ansichtssache.“ Sogleich grinste ihre Mutter verschmitzt und stupste sie mit dem Ellenbogen an. „An den könntest du dich doch ranmachen. Er sieht super aus und hat ne Menge Kohle!“ Sie zwinkerte ihr zu. Ariane ignorierte es. „Wieso hat der Kohle?“, wollte ihr Vater wissen. „Stefan! Das ist doch der Sohn der Familie Donner, diese reichen Leute mit der Villa!“ Ihr Vater empörte sich: „Meine Kleine lässt sich doch nicht mit so einem reichen Schnösel ein!“ Er sah sie flehentlich an. „Nicht wahr, Spätzchen? Du magst lieber die netten Jungs, die so sind wie dein Papa.“ Ariane hätte gerne geantwortet, dass solche Dinge sie bis auf Weiteres herzlich wenig interessierten, doch dann hätte ihre Mutter nur wieder eine Predigt angefangen, dass sie ihre Jugend nicht mit Vernünftigsein verschwenden sollte, wenn sie nicht als alte Jungfer sterben wollte.   Stattdessen gab ihre Mutter ihrem Vater mit der Rückhand einen Klaps gegen die Brust. „Nur weil dich keine wollte, brauchst du Ariane nicht so einen Unsinn einreden.“ Verschwörerisch neigte ihre Mutter sich zu ihr und sprach hinter vorgehaltener Hand. „Männer mit Erfahrung sind immer gut.“ Ignorieren. Einfach ignorieren… „Was soll denn das heißen?!“, begehrte ihr Vater auf. „Ich hab mich für dich aufgehoben!“ Ihre Mutter gab ihrer Stimme daraufhin einen Klang, als würde sie mit einem süßen kleinen Hundewelpen sprechen. „Deshalb lieb ich dich doch auch so, mein kleiner Computerfutzi.“ Dann packte sie das Gesicht ihres Mannes mit beiden Händen und drückte ihm einen Kuss auf, bei dem die Paste ihrer Gesichtsmaske an ihm hängenblieb, woraufhin beide in Gelächter ausgebrachen. Manchmal war sich Ariane sicher, dass ihre Eltern verrückt waren. Verrückt und glücklich. Über diesen Umstand musste sie lächeln.   Die Geburtstagsfeier fand in den gleichen Räumlichkeiten statt wie die Jubiläumsfeier: im Erdgeschoss der Finster GmbH, dem mehrstöckigen Gebäude neben der Baustelle in der Stadtmitte Entschaithals. Ariane hatte sich aufgrund der Kälte gegen ein Kleid und für eine lange, schwarze Stoffhose, Stiefeletten und eine langärmlige Bluse entschieden, deren Taille durch einen schmalen Gürtel betont wurde. In diesem Outfit und mit den gelockten Haaren, die ihre Mutter so fixiert hatte, dass sie über ihre linke Schulter fielen, wirkte sie um einiges erwachsener. Hätte sie ihre Mutter nicht davon abgehalten, ihr dunklen Lidschatten aufzutragen, hätte sie vermutlich wie Mitte zwanzig ausgesehen. Der riesige Saal war dieses Mal anders geschmückt und von den Steintafeln, auf denen die Prophezeiung über die Beschützer stand, war keine Spur. Das große Büffet im hinteren Teil des Saales nahm wieder den meisten Platz ein. Das Rednerpodest von letztem Mal war entfernt worden und neben den Glasvitrinen, die dieses Mal andere Ausstellungsstücke bargen, standen nun mehrere Tische im Raum verteilt, auf denen Getränke und kleine Snacks dargeboten wurden. „Letztes Mal war es voller.“, stellte ihre Mutter fest. Ariane musste ihr Recht geben. Sie waren pünktlich eingetroffen, daher konnten die meisten anderen noch nachkommen. Dennoch sah es so aus, als würde die Belegschaft die Einladung zu Finsters Geburtstagsparty als weniger bedeutsam erachten. Dennoch konnte man sich nicht darüber beklagen, dass der Raum leer gewesen wäre. Es standen ein paar wenige Grüppchen herum, die sich miteinander unterhielten. Aus einer dieser Gruppen löste sich eine Gestalt, die Ariane sofort als Nathan Finster erkannte. Es war zwar erst das dritte Mal, dass sie ihm begegnete, dennoch glaubte sie an seiner Kleidung erkennen zu können, dass er offensichtlich kein Freund der Farbe Schwarz war, dafür aber einen Faible für verspielte Krawattenmotive hatte. Heute trug er einen hell-olivgrünen Anzug mit Krawatte, die dieses Mal kein Paisley-, sondern ein barockes Muster aufwies, wie Ariane es schon in Schlössern als Tapete gesehen hatte. Da er sonst die Angewohnheit hatte, aus dem Nichts aufzutauchen, fiel ihr erst dieses Mal auf, wie geschmeidig er sich bewegte. Sein Gang und seine Statur verleiteten sie zu der Annahme, dass er neben seiner Leidenschaft für alte Legenden eine Kampfkunst ausübte. Eine, bei der Meditation und Konzentration wichtig waren. „Schön, Sie zu sehen!“ Er reichte Ariane und ihren Eltern nacheinander die Hand, wobei er ihr ein besonders breites Lächeln schenkte. Aus der Nähe sah sie, dass das Grün seiner Krawatte diesen Farbanteil seiner Augen hervorhob. „Es freut mich, dass Sie es einrichten konnten.“ Arianes Mutter scherzte. „Ich musste meinen Mann zwingen, auch am Wochenende hierherzukommen.“ Nathan lachte. „Schatz.“, klagte Herr Bach. „Herr Finster denkt noch, ich komme ungern zur Arbeit!“ „Er hat den Scherz verstanden.“, meinte seine Frau. Nathan Finster lächelte Arianes Vater an. „Keine Sorge. Bei Ihnen würde ich nie auf die Idee kommen, dass Sie nicht gerne hier arbeiten. Sie sind immer mit Feuereifer bei der Sache.“ Anerkennend legte Finster ihm die Rechte auf die Schulter und nickte kurz. Vor Stolz schwoll die Brust ihres Vaters an, auch stand er mit einem Mal stramm, was Ariane mit einiger Belustigung wahrnahm. Es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass ein jüngerer Mann dem Älteren lobend auf die Schulter klopfte und damit eine solche Reaktion auslöste. Aber Nathan Finsters Ausstrahlung machte es nachvollziehbar. Er hatte das Auftreten eines Königs, als wäre er geboren, um ein gütiger, aber willensstarker Herrscher zu sein. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, fiel es Ariane ein. Nathan strahlte sie an und bedankte sich. Sofort taten Arianes Eltern es ihr nach. Eilig schüttelte Arianes Vater Nathan die Hand und entschuldigte sich dafür, dass er nicht zuvor daran gedacht hatte. Nathan lachte nur und sein Lachen klang genauso erhaben wie es seine Haltung war. Arianes Vater redete weiter. „Ich wollte Ihnen gestern schon gratulieren, aber irgendwie waren Sie immer gerade mit jemandem im Gespräch während der Mittagspause.“ Zur Feier des Tages hatte es Kaffee und Kuchen für die ganze Belegschaft gegeben und Herr Finster war zu seinen Angestellten gekommen. „Nehmen Sie das mit dem Datum nicht so genau, vielleicht bin ich ja auch schon ein, zwei Tage früher geboren.“ Ariane erinnerte sich daran, dass Nathan ihr geschrieben hatte, dass der zweite November zwar offiziell als sein Geburtsdatum galt, aber dies aufgrund der Tatsache, dass er in einer Babyklappe abgegeben worden war, nicht hundertprozentig sicher war. „Äh ja.“, sagte ihr Vater verlegen. Dass Nathan darauf hingewiesen hatte, dass er ein Findelkind war, machte ihn offenbar nervös. Nicht so seine Frau. „Wie alt sind Sie denn geworden?“ „Schatz.“, klagte Herr Bach. „Einen Mann darf man das doch fragen!“, verteidigte sich Arianes Mutter. „Dreißig.“, antworteten Ariane und Nathan gleichzeitig. Ihre Eltern starrten Ariane an. „Du kennst dich aber gut aus.“, bemerkte ihre Mutter amüsiert. Nathan Finster schmunzelte gütig und stellte klar: „Sie musste ein Referat über mich halten.“ Ariane war froh darüber, dass er sie damit an die Lüge erinnerte, die sie ihm aufgetischt hatte, um an Informationen zu kommen. „Wieso das?“, fragte ihre Mutter verdutzt. „Für Wirtschaft.“, erwiderte Ariane. „Wir sollten einen Unternehmer aus unserer Gegend vorstellen.“ „Was die heute in der Schule alles machen müssen.“, kommentierte ihre Mutter. „Es sind noch nicht so viele Kollegen da.“, merkte ihr Vater an. Nathan lächelte . „Ich habe bei meiner Planung den Feiertag vergessen. Viele haben sich gestern freigenommen und sind übers Wochenende weggefahren.“ „Ach so.“, sagte ihr Vater kleinlaut. Prompt meldete sich ihre Mutter zu Wort. „Sind Sie ohne Partnerin da?“ Ariane hätte sich in diesem Moment gerne versteckt. Sie hasste es, dass ihre Mutter immer am meisten am Beziehungsstatus irgendwelcher Leute interessiert war, selbst wenn sie sie überhaupt nicht kannte. Nathan dagegen nahm es mit Humor. „Glauben Sie mir: Keine lebende Frau würde es mit mir aushalten.“ Seine Antwort erheiterte Ariane. „Du meinst, Nichtlebende haben einen besseren Geschmack?“ Nathan lachte. „Untote haben einfach einen gewissen Charme.“ Ariane grinste. „Dann brauchst du ja nur noch das schwarze Buch der Toten finden.“ Nathans Augen wurden groß. Wie ein kleiner Junge und nicht länger wie ein König rief er aus: „Du hast ‚Die Mumie‘ gesehen!“ „Natürlich!“, rief Ariane ebenso begeistert.  „Ich dachte, du wärst viel zu jung, um den zu kennen. Der ist doch schon uralt!“, meinte Nathan beeindruckt. „Ein Klassiker!“, entgegnete Ariane strahlend. „Ja, nicht wahr?“ Arianes Eltern standen stumm dabei und lauschten der aufgekratzten Unterhaltung. „Ich war noch nie in Ägypten.“, gestand Nathan. „Dabei wollte ich schon immer mal hin.“ „Ich auch!“, pflichtete Ariane bei. „Als Kind wollte ich dort immer Ausgrabungen machen!“ Nathan wirkte erfreut. „Willst du Archäologie studieren?“ Arianes Lächeln schwand. Sie zögerte. „Ich weiß nicht.“ Unsicher sah sie zur Seite. Bisher hatten sich immer alle über sie lustig gemacht, wenn sie gesagt hatte, sie wolle Archäologin werden. Man entdeckte schließlich nicht irgendwelche verschütteten Städte und erlebte auch keine Abenteuer wie Indiana Jones. Nathan lächelte sie an. „Wenn du dann mal Ausgrabungen in Ägypten machst, komme ich dich besuchen.“ Ernüchtert antwortete Ariane: „Als Deutsche Ausgrabungen in Ägypten zu machen, ist eher unwahrscheinlich.“ „Nicht wenn man zu den Besten gehört.“, erwiderte Nathan entschieden. „Und ich bin sicher, dass du mit deinem Köpfchen alle anderen in den Schatten stellen wirst.“ Seine Stimme ließ es nicht klingen wie etwas, das man zu einem kleinen Kind sagte, um es glücklich zu machen, sondern als wäre er wirklich davon überzeugt. Ariane sah ihn an und war so berührt von dem Vertrauen, das er in sie setzte, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Dass er ihren Wunsch nicht als albern abtat, war… Es fehlten ihr die Worte. Nicht einmal ihre sonst so offenen Eltern hatten ihre Idee, Archäologie zu studieren, für sinnvoll erachtet. Nathan legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, wie er es zuvor bei ihrem Vater getan hatte, und sie konnte nur erahnen, dass es auf sie die gleiche Wirkung hatte. „Glaub an dich. Und verfolg deine Träume. Egal, was kommt.“ Sie nickte bloß und Nathan schenkte ihr ein Lächeln. Dann trat er einen Schritt zurück und bemerkte wohl jemanden hinter ihr und ihren Eltern. Ein wohlwollender Gesichtsausdruck erschien auf seinen Zügen. In freudiger Erwartung des Neuankömmlings folgte Ariane Nathans Blick und stockte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)