Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 106: [Plötzlich verfeindet] Opfer und Täter --------------------------------------------------- Opfer und Täter   „Das Opfer vergisst nicht so schnell wie der Täter.“ (Gert von Paczensky)   Nach dem Vorfall in der Finster GmbH hatte Ewigkeit das Verhalten der Beschützer mit einiger Besorgnis verfolgt. Wie die fünf ihr befohlen hatten, war sie nicht wieder zu dem unheimlichen Jungen gegangen. Stattdessen hatte sie sich von einem Beschützer zum anderen teleportiert, um auf sie aufzupassen. Die fünf waren jedoch so sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft gewesen, dass sie ihrer Anwesenheit nicht einmal wahrgenommen hatten. Schicksal hatte niedergeschlagen gewirkt, derweil hatte Vertrauen den Eindruck gemacht, von Schuld- und Ohnmachtsgefühlen gequält zu werden. Während Ewigkeits Visite hatte Wunsch das Gesicht zumeist in ihren Kissen vergraben gehabt, Vereinen indes war ungewöhnlich still und nachdenklich in ihrem Zimmer gesessen. Einen ganz anderen Anblick hatte Verändern geboten. Zunächst war er mit wütender Miene einfach da gesessen, dann war er aufgesprungen und in seinem Zimmer auf und ab getigert, hatte dabei aufgebrachte Gesichter gezogen, und immer wieder wild mit den Armen gestikuliert, als würde er in Gedanken jemanden anschreien. Von allen fünf Beschützern war seine Vorstellung auf jeden Fall die unterhaltsamste gewesen, weshalb Ewigkeit sich erst nach einer Weile davon hatte loseisen können. Als die Beschützer schließlich zu Bett gegangen waren, hatte Ewigkeit jeweils eine Viertelstunde über den Schlaf eines jeden von ihnen gewacht, ehe sie sich zum nächsten begeben hatte. Auch davon bemerkten die fünf nichts. Allein Vertrauen, der offenbar keinen Schlaf finden konnte, hatte ihr mehrfaches Erscheinen mitbekommen und hatte kurz mit ihr darüber gesprochen, war dann jedoch in ein tiefes Schweigen verfallen. Die nächsten Male hatte er sie nicht mehr angesprochen, auch wenn sie erkannt hatte, dass er sich noch immer unruhig hin und her wälzte in einem vergeblichen Versuch, endlich einzuschlafen. Stumm war sie in einer Ecke seines Zimmers gesessen wie ein unerkannter Schutzgeist und hatte sich schließlich wieder zum nächsten Beschützer teleportiert. Es wurde fünf Uhr morgens, dann kurz vor sechs. Ewigkeit wusste, dass die Beschützer in Kürze erwachen würden, auch wenn es draußen noch dunkel und trostlos aussah. Weitere Minuten saß sie da und überlegte. Die Beschützer hatten nur gesagt, sie dürfe in der Nacht nicht zu dem Jungen gehen. Die Nacht war nun um. Wenige Minuten wartete sie noch, dann stand sie auf und teleportierte.   Ewigkeits Augen waren bereits an die Dunkelheit gewöhnt, als sie in seinem Zimmer erschien. Der schwarzhaarige Junge lag reglos da. Ewigkeit sah sich um, aber sie konnte keine weitere Gefahrenquelle entdecken. Vorsichtig schwebte sie näher an den Jungen heran, darauf gefasst, schnellstmöglich zu flüchten, wenn er eine verdächtige Bewegung machte. Vielleicht stellte er sich ja nur schlafend. Obwohl sie sich langsam bewegte, war ihr leiser Glöckchenklang zu vernehmen und ließ erst nach, als sie in direkter Nähe zu ihm stehenblieb. Je näher sie kam, desto argloser und unschuldiger wirkte der Junge auf sie. Das Dunkel seiner Wimpern – als würde eine sternenklare Nacht darin ruhen – sah so mild und verletzlich aus, wie etwas, das nie das Sonnenlicht gesehen hatte und vom grellen Alltag unberührt geblieben war. Niedlich wie ein Kind lag er mit ruhigen Atemzügen in seinem Bett, als könne man ihn mit einem Ausbreiten der Arme aufnehmen, so klein erschien er ihr. Dabei waren Ewigkeits Arme nicht einmal dazu geeignet, sein ganzes Gesicht zu umschließen. Mit einem Mal begannen die Augenlider des Schlafenden leicht zu flattern. Überstürzt suchte Ewigkeit hinter der kleinen Lampe auf dem Nachttischchen Schutz und verursachte dabei ein wildes Schellen und Klingeln wie ein vom Sturmwind durcheinanderwirbelndes Windspiel. Ein Brummen ertönte und Ewigkeit lugte vorsichtig hinter der Nachttischlampe hervor. Der Junge fasste sich an die Stirn, bewegte sich dann nicht mehr, brummte nochmals und – seine Hand bewegte sich in ihre Richtung! Panisch teleportierte Ewigkeit in weitere Entfernung. Einen Meter vor dem Bett, jenseits seiner Reichweite, erschien sie wieder. Von hier aus erkannte sie, dass seine Hand nach etwas auf seinem Nachttisch griff:  sein Smartphone. Er hob es über sein Gesicht und kontrollierte mit einem Knopfdruck die Uhrzeit. Sie hörte ihn ausatmen und sah wie er das Smartphone wieder weglegte und noch einen Moment liegenblieb. Er bedeckte seine Augen mit beiden Händen und machte eine Bewegung, als wolle er sich das Gesicht waschen oder unliebsame Nachtgespenster daraus vertreiben. Er setzte sich auf und hielt sich den Kopf, wirkte leicht benommen. Ewigkeit wartete und wich weiter von ihm weg, als er aufstand. In sicherer Entfernung folgte sie ihm, als er sich auf seine Zimmertür zu bewegte. Ihre Glöckchenlaute schien er nicht zu vernehmen. Dennoch blieb sie auf der Hut, vielleicht wollte der Junge sie auch nur in Sicherheit wiegen.   Erik war irritiert. Er hatte gestern offenbar vergessen, seinen Wecker zu stellen, überhaupt konnte er sich nicht mehr an den Abend erinnern. An ihm haftete ein ekelhaftes Gefühl. Seine Brust fühlte sich an, als habe jemand ein schwarzes Loch hineingeschabt. Irgendwas an ihm war ihm fremd und unvertraut. Wahrscheinlich hatte er einen schlechten Traum gehabt. Wie in letzter Zeit so häufig. Wie gerne hätte er das fremdartige Gefühl einfach von sich abgestreift. Stattdessen entledigte er sich, im Badezimmer angekommen, seines sich seltsam klamm anfühlenden Oberteils. Er musste gestern plötzlich eingeschlafen sein, ohne noch seinen Schlafanzug anzuziehen. Vielleicht hatte er ja Fieber gehabt, dass hätte den Schweiß erklärt. Er wusch sich das Gesicht und versuchte sich der Nebelschleier fremdartiger Ahndungen zu entledigen, die unsichtbar wie Spinnenfäden an ihm klebten. Selbst als er kaltes Wasser über seinen Kopf laufen ließ, half das nur bedingt und das Duschen fiel ihm ungewöhnlich schwer, als wäre das Wasser heute etwas Feindliches, von dem er sich nicht berühren lassen wollte. Oder lag es an seinem Körper? Er wurde das Fremdheitsgefühl einfach nicht los. Er lehnte seine Stirn gegen eine der Duschwände und bemühte sich, seinen Körper wieder richtig wahrzunehmen, doch jedes Mal, wenn er das versuchte, wurde es schlimmer. Schließlich packte er ein Handtuch und trocknete sich ab.   Würde Erik in der Schule wieder der Alte sein? Würde er sich wirklich an nichts erinnern? Und wenn ja, wie sollten sie sich ihm gegenüber verhalten? Würde er sie in der Schule angreifen, wenn er wieder zum Bedroher geworden war, oder würde er gar nicht erst kommen? Zu viele Fragen gingen an diesem Morgen in den Köpfen der fünf hin und her und hielten sie davon ab, logisch zu denken oder irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Vielleicht hätten sie sich vorher treffen sollen, vielleicht hätten sie gemeinsam auf Eriks Schulweg auf ihn warten sollen. Vielleicht hätten sie auch zu Hause bleiben sollen. Die Entscheidungen waren zu viele. Daher hatten sie sich überhaupt nicht entschieden. Sie waren einfach zur Schule gelaufen, obgleich dieser Tag nicht war wie jeder Tag. Serena und Ariane wagten nicht, das Thema anzusprechen. Schweigend liefen sie zur Schule, ängstlich und zögerlich, als wollten sie den Moment hinauszögern, in dem sie erfahren würden, wem sie in der Schule gegenüberstehen würden: Erik oder Secret. Auch Vivien und Justin hielten sich nicht mit Gesprächen auf. Vivien schlug ein so hohes Tempo an, als könne sie die Minuten, die sie noch von einem Zusammentreffen in der Schule trennten, kaum noch ertragen. „Vivien.“ Justin eilte ihr hinterher. „Ich will vorher noch mit den anderen sprechen.“, sagte Vivien. „Ich muss ihnen erzählen, was gestern passiert ist.“ Justin schwieg. Er wusste noch immer nicht, was zwischen Vivien und Erik vorgefallen war. Zu ihrer Überraschung trafen Vivien und Justin in der Schule bereits auf Vitali, nur von den Mädchen war noch keine Spur. Vitali wirkte aufgekratzt und verwickelte Justin sofort in ein Gespräch, das einzig aus Schimpftiraden über Erik bestand und bei dem Justin nicht zu Wort kam. Derweil holte Vivien ihr Handy hervor und rief Ariane an, um zu erfahren, wie lange sie und Serena noch brauchen würden. Da Vivien nicht auf das Ankommen der Mädchen warten und sie und die Jungs einem unvorhergesehenen Zusammentreffen mit Erik aus dem Weg gehen wollten, begaben sie sich in den Aufenthaltsraum im Gartengeschoss der Schule. Vivien begann Justin und Vitali – sowie Ariane und Serena am Telefon – zu erzählen, was bei ihrem Besuch bei Erik geschehen war. „Warum hast du uns davon nichts erzählt?“, forderte Arianes aufgewühlte Stimme aus dem Lautsprecher zu erfahren. „Ich wollte es euch sagen, nachdem wir uns in der Finster GmbH umgeschaut hätten.“, erklärte Vivien. „Aber nach allem, was dann passiert ist –“ Sie brach ab. „Wir sind jetzt da. Am Haupteingang.“, informierte Serenas Stimme. „Okay.“, sagte Vivien. „Bis gleich.“ Sie legte auf. Sie und die Jungs liefen wieder die Treppe nach oben. Im Foyer vor dem Haupteingang warteten Serena und Ariane.   Sobald sie in Hörweite waren, rief Serena aufgebracht: „Du hättest das nicht machen sollen!“ Dabei war Vivien davon ausgegangen gewesen, dass Ariane diejenige sein würde, die sie anschrie. Justin trat vor Vivien, wie um sie aus der Schussbahn zu nehmen. „Sie hat nicht wissen können, -“ „Sie hätte verletzt werden können!“, schrie Serena. Vivien stockte. Serenas Aufregung war ihr anzusehen. „Was, wenn er sich da schon verwandelt hätte? Wir hätten nicht mal gewusst, wo du bist! Bist du völlig irre?!“ Keiner sagte etwas. Ariane drehte sich zum Haupteingang in Erwartung von Eriks Ankunft. „Wenn der Spinner kommt, kriegt der was von mir zu hören!“, beschwerte sich Vitali. Ariane starrte nur weiter auf den Eingang, durch den andere Schüler geströmt kamen. Keiner machte Vitali darauf aufmerksam, wie bescheuert sein Plan war, Erik zu maßregeln. Ebenso wenig wagten sie es, die Frage laut auszusprechen, ob Erik, wie sie ihn kannten, überhaupt noch existierte. Sie wandten sich allesamt dem Haupteingang zu wie ein unangenehm angespanntes Begrüßungskomitee, das den Zerstörer der Welt in Empfang nehmen sollte. Sie warteten. Erik kam nicht. Ariane nahm ihr Handy wieder zur Hand und wählte Eriks Nummer aus, zögerte aber. Unsicher sah sie die anderen an und drückte dann Anrufen. Sie stellte auf Lautsprecher. Jedes Rufzeichen war eine Zerreißprobe für ihre angespannten Nerven. Aufgeregt warteten die fünf darauf, dass jemand abnahm, und wussten nicht, ob sie sich diesen Moment herbeisehnten oder es ihnen lieber gewesen wäre, wenn sich niemand meldete. Noch immer piepste es bloß. Dann plötzlich der Klang, dass der Anruf entgegengenommen wurde. Eine endlos entnervte Stimme drang vom anderen Ende, als würde der Sprecher dem Anrufer einen bitteren Vorwurf machen wollen. „Hallo?“ Ariane bekam keinen Ton heraus. „Bist du’s?!“, rief Vitali an ihrer Stelle viel zu laut in das Mobiltelefon. Schweigen. „Erik!“, schrie Vitali aufgeregt, als würde er fürchten, sein Freund würde gerade von Terroristen entführt werden. „Wer soll’s sonst sein?“, knurrte Eriks Stimme. Nun hatte auch Ariane ihre Stimme wiedergefunden. „Wo bist du?“, fragte sie besorgt. „In der Schule, wo sonst? Die Herbstferien sind um, falls ihr das noch nicht gemerkt habt.“ Die Entnervtheit seiner Stimme erreichte einen neuen Höhepunkt. „Im Klassenzimmer?“, hakte Ariane nach. Erik gab erst gar keine Antwort darauf. „Und du bist normal?!“, fragte Vitali ungläubig schrill. Erik legte auf. „Ich brauche keine Eskorte zum Klassenzimmer.“, sagte eine Männerstimme und die fünf erkannten Herrn Mayer, ihren Wirtschaftslehrer, der gleichzeitig ihr Klassenlehrer war, hinter sich. Er warf ihnen einen vielsagenden Blick zu, denn gerade läutete es zum Unterrichtsbeginn. Die fünf verstanden und begaben sich von ihrem Lehrer gefolgt zu ihrem Klassenzimmer. Dort angekommen, blieben sie jedoch direkt in der Tür stehen, wie um Herrn Mayer nicht durchzulassen. An seinem üblichen Platz saß Erik und warf ihnen einen finsteren Blick zu. Um seinen Kopf schwebte Ewigkeit.   Die fünf, Vitali und Ariane voran, blieben bei seinem Anblick abrupt stehen. Erik warf ihnen einen distanzierten, wenig freundlichen Blick zu, ehe er Herrn Mayers Stimme hinter den fünfen vernahm. „Bleibt nicht mittendrin stehen. Rein mit euch!“ Noch eine Millisekunde zögerten die fünf. Dann erst setzten sie sich wieder in Bewegung, wobei sie ihn keine Sekunde aus den Augen ließen, als wäre er ein seltenes Naturphänomen oder eine näherkommende Naturkatastrophe. Erik drehte sich weg. Wer wusste, was Ariane und Vivien den anderen erzählt hatten. Sowohl sein Auseinandergehen mit Ariane auf Finsters Geburtstagsfeier als auch das gestrige Zusammentreffen mit Vivien waren alles andere als erfreulich verlaufen… – War ihm doch egal, was die anderen jetzt von ihm dachten! Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Herrn Mayer und nahm sich vor, nicht länger jegliche Sekunden an diese fünf Spinner zu verschwenden, mit denen er nichts zu tun hatte. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.   Während Herr Mayer die Klasse begrüßte und mit dem Unterricht begann, rief Justin per Telepathie Ewigkeit zu sich. Sofort folgte sie seinem Aufruf. ○ Was ist passiert?, fragte er sie gedanklich. „Ich hab auf ihn aufgepasst!“, verkündete Ewigkeit stolz. „Er wird euch nichts tun.“ Sie lächelte und fügte dann etwas kleinlauter an: „Glaub ich…“ Ariane und Serena hatten sich auf Ewigkeits Worte hin zu Vivien und Justin umgedreht. „Er scheint wieder normal zu sein.“, wiederholte Serena an Ariane gewandt, wohl um diese nochmals zu beruhigen. Ariane nickte schwach und sah dann wieder in Eriks Richtung. Doch Erik schien bewusst keine Notiz von ihr oder den anderen zu nehmen. Selbst Vitali wurde von ihm ignoriert. Zumindest versuchte er nicht, sie zu töten. „Hier spielt die Musik.“, rief Herr Mayer und ermahnte Serena und Ariane, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.   Als die erste Doppelstunde Wirtschaft beendet war, getraute sich selbst Vitali nicht, Erik anzusprechen. Hilfesuchend blickte er zu den anderen, während Erik sich demonstrativ mit seinem Smartphone beschäftigte. Schweigend tauschten alle fünf Blicke aus. Nicht einmal Vivien schien den Mut zu haben, ihn anzusprechen. Ewigkeit, die bis dahin noch damit beschäftigt gewesen war, Erik zu beobachten, erschien zwischen ihnen. Sie begutachtete einige Momente das Verhalten der Beschützer. „Mögt ihr ihn jetzt nicht mehr, weil er böse ist?“ „Er ist nicht böse!“, platzte Ariane heraus. Von dem Ausruf aufgeschreckt, sah selbst Erik in ihre Richtung. Schnellstens wandte Ariane ihren Blick ab. Keiner von ihnen sah in Eriks Richtung, keiner sagte ein Wort. „Warum redet ihr dann nicht mit ihm?“ Manchmal stellte Ewigkeit einfach zu dumme Fragen! Merkte sie denn nicht, was für eine angespannte Stimmung herrschte? Außerdem: Was hätten sie denn sagen sollen? Jedes Thema kam ihnen belanglos vor angesichts dessen, was gestern geschehen war. Und darüber konnten sie nicht reden. Erik atmete geräuschvoll aus. Alle wandten sich in seine Richtung, als warteten sie darauf, dass er irgendetwas tat.   Erik packte sein Smartphone weg, ohne Vitali anzuschauen. Er rang mit sich. Er hätte einfach fragen können, wie der Jungs-Abend gewesen war. Aber er wollte nicht auf Heile Welt machen, wenn die anderen ihn für einen Irren hielten, der Ariane beleidigte und Vivien aus dem Haus warf. Und wenn er eines ganz sicher nicht tun würde, dann sich entschuldigen. Eher würde er sterben. Wenn es ihnen nicht passte, wie er sich verhielt, dann sollten sie sich einfach von ihm fernhalten! Das kam ihm gerade recht. Er wollte sowieso nichts mehr mit ihnen zu tun haben! Er würde sich einfach einen anderen Sitzplatz suchen und nicht mehr mit ihnen reden. „Tut mir leid!“, schrie es plötzlich und Erik drehte sich perplex in Viviens Richtung. „Tut mir leid!“ Vivien schluchzte und starrte Erik mit weinerlichem Gesichtsausdruck an. „Es tut mir wirklich leid.“ Erik wusste beim besten Willen nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Ich wollte dich nicht nerven.“, heulte Vivien. „Erik.“ Erik stierte sie sprach- und hilflos an. „Sei mir nicht böse!“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen und verwirrt verzogenem Mund suchte Erik nach einer Entgegnung. Schließlich stöhnte er entnervt und hielt sich die Stirn. „Ich bin nicht böse.“, knurrte er halblaut. „Was?“, schluchzte Vivien umso lauter. „Ich bin nicht böse!“, schrie Erik. Vivien sah ihn mit großen Augen an. „Wirklich?“ Erneut stöhnte Erik, während der Teil seines Fanclubs, der in der Pause nicht das Klassenzimmer verlassen hatte, zu tuscheln anfing. Nochmals genervt die Luft ausstoßend, schob Erik seinen Stuhl zurück. erhob sich abrupt und stapfte mit betont männlich festem Schritt um seinen Tisch herum zu Vivien, neben deren Tisch er stehenblieb und auf sie herabblickte. Ab da versagte ihm offenbar der Mut, denn er sagte nichts mehr. „Sind wir immer noch Freunde?“, fragte Vivien mit großen Kulleraugen. Erik sog nur die Luft ein und stieß sie wieder aus. Alle fünf schienen auf seine Antwort zu warten. Eine Antwort, die er nicht geben wollte. „Natürlich.“, sagte Serena leise. Erik starrte sie an, woraufhin sie beschämt den Blick senkte. Er konnte nichts entgegnen. Vielleicht kannte er auch einfach die Antwort nicht. Er wollte keine Freunde. Er hatte noch nie Freunde gewollt! Freunde waren etwas für schwache Menschen, die nicht alleine zurechtkamen. ‚Ich brauche keine Freunde‘, ging es ihm durch den Kopf. Er wollte es laut aussprechen und ihnen den Satz wie einen Vorwurf an den Kopf knallen. Nur weil er nett zu ihnen gewesen war, brauchten sie sich nichts darauf einbilden. Man war auch nett zu Leuten, die man nicht leiden konnte, wenn die Situation es gebot. Nettigkeiten waren nur dazu da, mit Menschen ausgetauscht zu werden, mit denen man versuchte gut auszukommen. Freundschaft – Pah! ‚Wir waren nie befreundet.‘, klang es in seinem Kopf, ohne dass er die Worte ausgesprochen hätte. Schließlich biss er die Zähne zusammen. Seine Stimme wurde hart: „Du weißt doch gar nicht, was Freundschaft ist.“ Vivien starrte ihn an. Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, verließ Erik das Klassenzimmer. Entsetzt sahen die anderen ihm nach. Ewigkeit nahm sofort die Verfolgung auf.   Shit! Was hatte er sich dabei gedacht? Erik lief zum Treppenhaus. Es war gemein, so etwas zu sagen. Aber er konnte es nicht bereuen. Auch konnte er nicht umhin, eine tiefe Wahrheit in seinen Worten zu entdecken. Was wusste Vivien schon von Freundschaft? Sie war immer nur gut gelaunt und fröhlich. Wenn sie etwas von Freundschaft verstanden hätte, hätte sie gewusst, dass man mit ihm nicht befreundet sein konnte. Er war niemand, der andere Menschen an sich heran ließ. Er wollte niemandem wehtun, aber noch weniger wollte er, dass jemand anderes ihm – Nein, nicht wehtat. Er war am Fenster des Treppenhauses angekommen und sah hinaus. Er wollte nicht, dass jemand anderes ihn sehen konnte. Ihm nahe kam. Wie das Wasser am Morgen – es ekelte ihn von anderen berührt zu werden. Es war ein entsetzliches Gefühl. Freundschaft hieß, berührt werden zu wollen. Hinter sich konnte Erik die schnatternden Stimmen von Mädchen und Schritte auf der Treppe hören, die heraufkamen. Abrupt brachen die Geräusche ab. Erik drehte sich um und stand drei Mädchen gegenüber, die ihn ängstlich anstarrten und den Anschein machten, als würden sie sich nicht trauen, an ihm vorbei zur Treppe in den nächsten Stock zu gehen. Erik machte einen Schritt zur Seite, um den Mädchen zu demonstrieren, dass sie ohne Sorge an ihm vorbeigehen konnten. Hastig huschten die drei hintereinander an ihm vorbei, wie um schnellstmöglich seiner Nähe zu entkommen. Er sah ihnen schweigend nach. Genau so musste sein Umgang mit anderen Menschen ablaufen.   Vitali war zu den anderen getreten. „Was machen wir jetzt?“ Vivien hatte sich die Tränen aus den Augen gewischt und machte den Eindruck, als habe sie das Weinen nur gespielt, doch bei ihr war das schwer zu sagen. Sie lächelte. „Er hat mit uns geredet!“ „Er hat dir vorgeworfen, dass du nicht weißt, was Freundschaft ist.“, stellte Ariane entsetzt fest und wirkte, als habe der Vorwurf sie weit mehr getroffen als Vivien.  „Ja!“, frohlockte Vivien. „Das war richtig vorwurfsvoll!“ Sie kicherte vergnügt. „Das heißt: Er mag mich!“ Die Logik war den anderen zu hoch. „Wenn dir jemand egal ist, dann machst du ihm keine Vorwürfe.“, versuchte Vivien ihnen auf die Sprünge zu helfen. Serena warf ein: „Aber was, wenn man so enttäuscht ist, dass man nichts mehr mit der Person zu tun haben möchte?“ „Dann muss man die Person sehr lieben.“, sagte Vivien mit sanftem Blick. „Das heißt aber nicht, dass man ihr verzeihen kann!“, klagte Serena und zog einen Schmollmund. Vivien kicherte bloß, als wäre das allein schon Antwort genug. Serena seufzte und nickte schließlich. Wenn jemand deutlich zu hartnäckig war, um sich von jedwedem noch so abweisendem Verhalten vertreiben zu lassen, dann Vivien. Justin beendete das Thema. „Das Wichtigste ist doch, dass er wieder er selbst ist.“ Selbst Ariane stimmte dem zu.   Ewigkeit wich Erik auch in der nächsten Doppelstunde nicht von der Seite. Allerdings ließen ihre Kräfte allmählich nach. Der Schlafentzug machte sich langsam bemerkbar, sodass sie gegen Ende der Englischstunde fast abgestürzt wäre. Halb benommen war sie unwillkürlich auf Eriks Kopf gelandet und hatte ihre Augen geschlossen. Die Pausenglocke jedoch riss sie abrupt wieder aus ihrem Schlummer. Vitali starrte gebannt auf Eriks Kopf, auf dem Ewigkeit aufschreckte, fast heruntergefallen wäre und sich dann etwas umständlich wieder in die Lüfte zu erheben versuchte. „Was ist?“, wollte Erik mit tiefer Stimme von ihm wissen. Vitali setzte zu einer Antwort an, brach jedoch kopfschüttelnd ab, wobei er wieder das für ihn typische facettenreiche Mienenspiel zur Schau stelle. „Was soll das?“ „Nichts.“ Vitalis Gesicht schwankte zwischen einem amüsierten und einem bedauernden Grinsen. „Du würdest es doch nicht glauben.“ Erik gab ein Brummen von sich, wandte sich ab und stieß dann die Luft aus. Zu Vitalis Überraschung ergriff er nochmals das Wort. „Wie war der Jungs-Tag?“ „Männerabend!“, korrigierte Vitali prompt. „Wie war der Männerabend?“, wiederholte Erik seine Frage mit abfälliger Betonung des letzten Wortes. „Fantastisch!“, rief Vitali. „Du warst schließlich nicht da.“ Er grinste über das ganze Gesicht und sah dabei ziemlich dämlich aus. Erik antwortete mit einem grimmigen Lächeln. Er wollte gerade eine schnippische Entgegnung machen, als Vitali überfröhlich zu strahlen anfing, wohl weil er Eriks Lächeln als etwas wie eine freundschaftliche Geste fehlgedeutet hatte. Vitali verschränkte die Arme vor der Brust und redete nach vorne, als würde er mit einem unsichtbaren Dritten reden. „Unglücklicherweise werden wir wohl nicht drum herum kommen, dich das nächste Mal einladen zu müssen, weil wir noch jemanden zum Pokerspielen brauchen.“ „Du solltest einen Grundschüler fragen, dann hättest du vielleicht Chancen zu gewinnen.“ Vitali zog ein übertrieben mürrisches Gesicht, auf das hin Erik sich kaum das Grinsen verkneifen konnte. Vitalis Mienenspiel war einfach zu erheiternd! „Du solltest besser Scharade spielen, dein Gesicht ist dazu besser geeignet.“ „Halt’s Maul!“, grummelte Vitali. „Nur weil du ne Fresse hast, als würdest du dir täglich Betäubungsmittel spritzen.“ Erik schnaubte belustigt und konnte das Grinsen nicht länger unterdrücken. „Blöder Muskelprotz.“, legte Vitali in eingeschnapptem Ton nach und brachte Erik damit vollends zum Lachen.   Ariane sah zu Erik und Vitali und konnte kaum fassen, dass es Vitali gelungen war, ihn zum Lachen zu bringen. Wie hatte er das bloß angestellt? Die Anspannung ließ von ihr ab und ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Eine leichte Berührung am Arm ließ sie sich zu Serena drehen. Diese schenkte ihr einen aufmunternden Blick, als wolle sie ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. Ariane nickte und glaubte erstmals wieder daran.   Vivien gab derweil Ewigkeit, die wieder an Höhe gewonnen hatte, mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie zu ihr kommen sollte. Träge schwebte das Schmetterlingsmädchen zu ihr. Auch Justin sah die Kleine besorgt an. „Du solltest schlafen.“, sagte er sacht. Ewigkeit wirkte kaum noch so, als würde sie das Gesprochene verstehen, dennoch schien sie eisern wachbleiben zu wollen. Vivien lächelte sie sanft an. „Keine Sorge. Wir können ab jetzt auf ihn aufpassen.“ Ewigkeit blinzelte schlaftrunken. Liebevoll flüsterte Vivien ihr zu „Geh nach Hause.“ und tätschelte ihr mit dem Zeigefinger das kleine Köpfchen. Ewigkeit nickte, vielleicht fiel ihr aber auch nur der Kopf auf die Brust. Das war nicht klar zu sagen. Dann war sie auch schon verschwunden.   Ewigkeit öffnete nochmals die Augen, zu müde, um zu erkennen, bei welchem Beschützer zu Hause sie aufgetaucht war. Sie glaubte noch, diesen furchtbar schlechten Autofahrer zu sehen, den der Allptraum dem Schatthenmeister gezeigt hatte. Hinter ihren Augenlidern empfing sie die Erinnerung an seine grün-grauen Augen und seinen geschockten Blick – so als hätte er sie direkt angesehen. Dann schlief sie endgültig ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)