Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 132: [Begehren und Selbstbeherrschung] Femme Fatale - Entflammte Gefühle -------------------------------------------------------------------------------- Femme Fatale – Entflammte Gefühle   „Liebe ist Freundschaft, die Feuer gefangen hat.“ (Unbekannt)   Montagmorgen. Serena wusste nicht, wann sie das letzte Mal so freudig erregt gewesen war. Ihr Herz pochte wie wild bei dem Gedanken, ihn endlich wiederzusehen. Zum Glück war Ariane heute etwas früher vorbeigekommen, um sie abzuholen. Doch leider war Vitali noch nicht im Klassenzimmer, als sie eintrafen. Serena versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber es war ihr unmöglich. Sie hatte dieses Gefühl so lange weggedrückt – seit ihrer ersten Begegnung – hatte es mit Wut und Ablehnung überdeckt. Aber vor allem hatte sie sich immer wieder selbst verboten, es zuzulassen. Denn was brachte eine Empfindung, die ihr zwangsläufig nur Leid bescheren konnte, die nur Enttäuschung und Schmerz im Gefolge hatte? Doch etwas hatte sich seit Samstag verändert. Die Aussichtslosigkeit, die ihre Gefühle für Vitali stets düster und bedrohlich gefärbt hatte, war einer ungewohnten Leichtigkeit gewichen. Gespannt starrte sie auf die Tür und hoffte, jede Sekunde sein Gesicht sehen zu können. Was würde sie zu ihm sagen? Würde er sich freuen? Würde er lächeln?   Vitali war müde. Er hatte keinen Bock auf Schule. Warum konnte man den Montag nicht einfach aus dem Kalender streichen? Aller Welt wäre dadurch geholfen! Niemand mochte Montage. Absolut niemand! Außer vielleicht Leute, die am Wochenende arbeiten mussten... Stöhnend schleppte er sich zur Klassenzimmertür und trat ein. „Morgen.“, begrüßte ihn Ariane. „Jo.“, antwortete er bloß. Dann erklang eine fremdartige Stimme. Zumindest die Stimmlage war fremdartig, so ungewohnt hoch und zaghaft. „Hallo.“ Irritiert drehte er sich zu Serena. Sie lächelte. Völlig verdattert starrte Vitali sie an und suchte hinter sich nach einer Ursache für ihre freundliche Miene. Aber hinter ihm stand niemand und bei einem Kopfschwenk zu seiner Schulbank erkannte er, dass Erik bereits an seinem Platz saß. Er sah zurück zu Serena, deren Lächeln daraufhin noch lieblicher wurde. Arianes Stimme brach in seine Erstarrung ein: „Alles ok?“ „Öh ja.“, gab Vitali von sich und riss sich von Serenas Anblick los. Verwirrt lief er zu seinem Platz und setzte sich. Mit einem vielsagenden Schmunzeln wandte sich Erik an ihn: „War was zwischen dir und Serena?“ „Hä?“, machte Vitali. „Sie schaut dich so an.“ Erik wirkte deutlich amüsiert. Vitali öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an, brach ab und linste nochmals zu Serena. Mit einiger Bestürzung stellte er fest, dass sie in seine Richtung sah und ihn schüchtern und niedlich anlächelte. Hastig wendete er sich ab. „Ich hab keine Ahnung, was mit ihr los ist.“, knarzte er und hielt seinen Blick auf die Tischplatte fixiert. Erik gab ein belustigtes Geräusch von sich, als verstünde er mehr. „Was?!“, fragte Vitali aufgebracht. „Nichts.“, entgegnete Erik grinsend. Vitali war pikiert. Wieso schien Erik aus dieser Situation schlau zu werden und er nicht? Das … das ergab einfach keinen Sinn!   Der Wirtschaftsunterricht lenkte Vitali von weiteren Gedanken ab, sodass er Serenas Verhalten erfolgreich verdrängt hatte, bis die Pause begann. Unerwartet stand Serena plötzlich neben seinem Tisch. Verdutzt sah er sie an. Serena wich schüchtern seinem Blick aus. „Willst du… raus?“, fragte sie in einem zaghaften, hohen Ton. Üblicherweise verbrachte die ganze Clique die zweite Pause im Schulhof, außer wenn es sehr kalt war. Aber das hier war die erste Pause. Und Serena war eigentlich immer diejenige die dafür plädierte, überhaupt nicht rauszugehen, weil sie ständig fror. Und wieso fragte sie eigentlich ihn und nicht Vivien, die das normalerweise koordinierte? Er begriff nicht, was das zu bedeuten hatte. Es machte ihn unnötig nervös!!! Plötzlich spürte er einen Stoß von hinten. „Hey!“, schimpfte er und funkelte Erik wütend an. Dieser hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, als wolle er ihn dazu auffordern, endlich auf Serenas Frage einzugehen. Vitali reagierte nicht, woraufhin sich Eriks Augenbrauen senkten, als wolle er ihn für sein Verhalten tadeln. Vitali verzog den Mund eingeschnappt. Mann, konnte er sich nicht raushalten?! Das machte es nur noch peinlicher! Erik verdrehte die Augen. „Willst du ihr noch antworten oder sie da noch lange stehen lassen?“ Auf diesen Kommentar hin wandte sich Vitali wieder Serena zu, die mittlerweile in sich zusammengeschrumpft war. Oh Mann, warum sah sie denn jetzt so verängstigt aus? Er begriff immer noch nicht, was hier vorging, und wusste entsprechend nicht, was er antworten sollte. „Was?“, entgegnete er daher, als habe er sie nicht verstanden – was ja auch irgendwie der Fall war. Serenas Gesicht verzog sich, als wolle sie die Worte nicht nochmals aussprechen. „Geh mit ihr raus.“, grollte Erik hinter ihm. Warum sollte ausgerechnet Serena …? Das … das konnte nicht… Erik stöhnte entnervt. „Willst du nicht?“ Ihre Stimme klang so unsicher. In Ermangelung einer passenden Antwort, stand er einfach auf. „Wohin?“ Serena zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. Irritiert folgte Vitali ihr. Vor der Tür wartete sie auf ihn und lief erst weiter, als er neben sie getreten war. Das kam ihm alles so fremd vor. „Willst du mir was sagen?“ Vielleicht hatte das Ganze ja wirklich irgendeinen Grund! Serena zog automatisch die Schultern hoch, als müsse sie sich vor etwas schützen. Wie reagierte man darauf? „Ich … äh… höre zu.“, druckste er. Er hatte keine Ahnung, wie man mitfühlend und unterstützend war! Wieso wollte Serena denn ausgerechnet mit ihm reden?! Gefühlstechnisch war er doch nun wirklich nicht die erste Wahl, wenn es darum ging, jemandem sein Herz auszuschütten… Oh Mann, hätten die anderen ihm doch bloß helfen können! Er hatte Angst, das hier total zu vermasseln!!! Ein Seufzen entrang sich seiner Kehle. Wieder nahm Serenas Stimme einen unsicheren Klang an. „Ist dir das unangenehm?“ „Hä?“ „Mit mir.“ Sie zog wieder den Kopf ein. Vitali war davon überfordert. Was wollte sie denn damit andeuten? Aaah, er dachte zu viel Blödsinn! Krieg dich wieder ein! „Wieso?“ Serena zuckte mit den Schultern und deutete ein Kopfschütteln an. Sie wirkte mal wieder niedergeschlagen, daher versuchte er sich an aufbauenden Worten, doch seine Stimme klang eher grummelig als aufbauend. „Schon ok.“ Genau! Es war alles ok! Sie waren schließlich Beschützerpartner! Vielleicht wollte sie ja deshalb mit ihm reden! Wenn er es recht bedachte… Er wäre stinksauer geworden, wenn sie stattdessen Erik gefragt hätte, ob er mit ihr rausgehen wollte! Endlich hatte sie begriffen, dass er ein echter Freund war! Nur … Wie war man ein echter Freund für Serena? Angespannt starrte er sie an, wie um die Antwort an ihrer Nasenspitze abzulesen. Serena reagierte darauf mit geradezu ängstlichem Blick und Vitali begriff, dass sein Gesichtsausdruck durch seine Konzentration ziemlich ernst wirken musste. Er drehte sich wieder nach vorn. „Vitali…“ Er sah sie wieder an, doch sie sagte nichts. Ein langes Seufzen von ihr folgte. Als sie den Blick wieder hob, war eine jähe Entschlossenheit in ihren Blick getreten. „Komm mit!“ Ohne Umschweife packte sie ihn am Unterarm und zog ihn mit sich zur Treppe. Bereitwillig ließ er sich von ihr ins Untergeschoss führen, in einen Gang, in dem es erstaunlich still war. Abrupt ließ sie von ihm ab und drehte sich mit entschiedener Miene zu ihm. „Mach uns unsichtbar.“, forderte sie. Irritiert gaffte er sie an, doch sie schien das wirklich ernst zu meinen. Nochmals sah er sich um. Gerade war niemand in Sichtweite. Plötzlich machte Serena einen Schritt auf ihn zu und ergriff seine Hand. Hä? Es waren vielleicht grade mal noch zehn Zentimeter zwischen ihnen. Dabei wusste sie doch, dass eine einfache Berührung reichte, damit die Unsichtbarkeit auf sie überging. Aber vielleicht wollte sie ihm ja zuflüstern, worum es ging. Keine Ahnung, warum er sie dafür unsichtbar machen sollte. Vielleicht ging es ja auch um etwas völlig anderes. Vielleicht wollte Serena ja irgendwen belauschen oder beschatten? Als Beschützer jemanden ‚be-schatten‘, das war schon lustig. Er grinste über seinen eigenen Witz und setzte seine Unsichtbarkeit ein. Doch mit Serenas nächstem Zug hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er schrak zusammen, als sich ihr Körper gegen ihn drückte, spürte, wie sich erst ein Arm um ihn legte, dann seine Hand losgelassen wurde, und sich ein zweiter hinzugesellte. Waaaaaaaaaaaas? Völlig regungslos, wie erstarrt, verharrte er an seinem Platz. Auch seine Gedanken waren abgerissen. Er spürte nur noch Hitze und etwas, das er nicht benennen konnte, in sich aufsteigen. Nicht mal mehr die Frage, was hier vor sich ging, trat in sein Bewusstsein. Da war nur noch die Wahrnehmung von Serenas Nähe. Davon, wie sich ihr Körper anfühlte, ihre Wärme. Serena sagte nichts. Sie umarmte ihn nur weiter. Seine Atmung wurde unregelmäßig. Die Schulglocke läutete das Ende der Pause ein. Im gleichen Moment ließ Serena ihn los und wurde durch das Abreißen des Körperkontakts wieder sichtbar. Vitali starrte sie an und hätte darüber fast vergessen, sich selbst wieder sichtbar zu machen. Er beendete seinen Kräfteeinsatz. Wie selbstverständlich nahm Serena ihn bei der Hand und führte ihn mit festen Schritten zurück zur Treppe nach oben. Er war zu perplex, um sich dagegen zu wehren. Sein Verstand konnte sich nicht entscheiden, ob er sich allein der Tatsache widmen sollte, dass Serena hier in der Schule seine Hand hielt, oder dem, was gerade geschehen war – was überhaupt keinen Sinn ergab! Im Gang ihres Klassenzimmers angekommen, erkannte er, dass die Zimmertür bereits geschlossen war. Frau Schäfer, ihre Englischlehrerin, war heute wohl besonders pünktlich. Serena ließ sich davon nicht beirren, sie öffnete ohne Zögern die Tür und zog ihn mit sich in den Raum. „Sorry.“ Eine Welle der Scham rollte durch seinen Körper. Hatte sie vergessen, dass sie immer noch seine Hand hielt?! Die ganze Klasse konnte das sehen!!! „I expect punctuality!“, sagte Frau Schäfer. Jäh ließ Serena ihn los und drehte sich zu ihm. „Die Tür.“ Er begriff jetzt erst, dass er die Tür nicht geschlossen hatte, und holte dies nach. Als er sich wieder umdrehte, hatte Serena schon den Weg zu ihrem Platz neben Ariane eingeschlagen. Vitali sah völlig verwirrt in ihre Richtung, dann eilte er zu seiner Schulbank. Er war immer noch aufgewühlt und kam sich so vor, als wäre er in einem Paralleluniversum gelandet. Ein Paralleluniversum, in dem es eine Serena gab, die zwar aussah wie die Serena, die er kannte, die aber eindeutig einen komplett anderen Charakter hatte! Einen Charakter, dessen Handeln überhaupt keinen Sinn ergab!!! „Die Englisch-Sachen.“, flüsterte Erik ihm zu. Wirr drehte er sich in die Richtung seines Banknachbarn und nickte, ehe er nach seinem Rucksack griff.   In der zweiten Hälfte der Englischstunde sollten sie in Partnerarbeit eine Kommunikationsübung durchführen. Frau Schäfer lief währenddessen durch das Klassenzimmer. Sobald sie definitiv außer Hörweite war, ergriff Erik das Wort. „Seid ihr jetzt zusammen?“ Vitali starrte ihn an. „Was?“ „Du und Serena.“ Vitalis Gesichtsmuskeln zuckten. „Nein.“ Ein zweifelndes Lächeln erschien auf Eriks Lippen, als unterstelle er Vitali entweder nicht die Wahrheit zu sagen oder die Wahrheit nicht zu begreifen. Vitali stockte und versuchte daraus schlau zu werden. Ab wann… war man denn zusammen…? Wurde man darüber nicht informiert? In einem Spiel gab es eine Benachrichtigung, wenn man das nächste Level oder einen neuen Status erreichte oder wenn eine Weiterentwicklung bevorstand. Und dann konnte man notfalls noch Abbrechen drücken oder vorher speichern und einfach ausschalten, um wieder am vorigen Punkt zu sein! Wie zum Henker ging das im echten Leben?! Und was, wenn er auf diesem Level scheiterte??? Konnte er dann einfach auf Wiederholen drücken? Wie viele Herzen hatte er zur Verfügung? Das war zu kompliziert!!! Wahrscheinlich war sein Mienenspiel während seiner Überlegungen wieder sehr expressiv gewesen, denn Erik lehnte sich mit beruhigender Stimme zu ihm. „Ganz ruhig. Du magst sie doch.“ Vitali verzog das Gesicht hilflos. Erik wirkte daraufhin besorgt und seufzte. „Sei einfach du selbst.“ Er sah ihn nochmals an. „Nur vielleicht etwas weniger verängstigt.“ „Ich bin nicht verängstigt!“, schimpfte Vitali lautstark. „Vitali, a little more quiet, and in English, please!“, rief die Englischlehrerin, woraufhin er in sich zusammenschrumpfte.   In der nächsten Pause blieben er und die anderen im Klassenzimmer, da Vivien noch die Physikhausaufgaben abschreiben musste, die sie komplett vergessen hatte. Da Vivien ein Mathe-As war, war das tatsächlich ungewöhnlich. Zu Vitalis Erleichterung kam Serena nicht nochmals in seine Nähe. Er seufzte lang und betrübt. „Was ist dein Problem?“, fragte Erik ihn in gedämpftem Ton. „Ich hab kein Problem!“, blaffte Vitali. Erik ließ ihm einen vielsagenden Blick zukommen. Vitali verzog säuerlich das Gesicht und ärgerte sich, dass man ihm immer ansehen konnte, wie er sich wirklich fühlte. „Hast du darauf nicht gewartet?“ Vitali schwieg. Seine Unterlippe schob sich vor. Das war nicht die Serena, die er kannte. Er verstand das nicht. „Was hast du gemacht, dass sie auf einmal so offen ist?“, wollte Erik wissen. Vitali war überfragt. Ja, er hatte sie am Samstag spektakulär gerettet. So wie zigmal zuvor!!! Und das hatte bisher nie einen Unterschied gemacht! Ganz gleich wie viel Mühe er sich auch gegeben hatte… Vitali ließ den Kopf hängen. Serena war zwar mittlerweile weniger abweisend geworden. Am Samstag war sie manchmal sogar ziemlich nett gewesen und hatte ihn sogar vor Secret verteidigt. Aber das hatte sich alles noch im Bereich des Normalen bewegt. Das heute – war nicht normal. Er seufzte und sah, dass die anderen sich erhoben, um zum Physiksaal aufzubrechen. Erik und er taten es ihnen gleich. Serena blieb neben ihrer Bank stehen, als würde sie auf ihn warten. Vitali trat zögerlich an ihre Seite und wandte verlegen den Blick ab. Dann spürte er von der anderen Seite einen kumpelhaften Schlag. Erik schmunzelte und war sogleich aus der Tür. Vitali warf ihm einen mürrischen Blick nach, dann sah er nochmals zu Serena. Sie lächelte schüchtern. Verschämt griff Vitali sich an den Hals. „Gehen wir?“, fragte sie sanft. Vitali nickte. Sie versuchte nicht nochmals seine Hand zu nehmen. Das… das war gut! Vor dem Physiksaal mussten sie wie immer auf die Ankunft des Lehrers warten. Serena stand neben ihm. Plötzlich spürte er, wie ihr Oberarm den seinen berührte. Er riss den Kopf zu ihr herum und starrte sie entsetzt an. Doch anstatt daraufhin vor ihm wegzuzucken und ihn zu beschimpfen – wie er es von ihr gewöhnt war – machte sie nicht den Ansatz, an dem Zustand etwas zu ändern. Er drehte sich wieder nach vorn und hoffte, dass kein anderer mitbekam, wie nah sie ihm war. Keine Szene machen! Einfach still dastehen! Das wurde doch von ihm erwartet, oder? Er hatte keine Ahnung!!! Was wollte sie denn jetzt von ihm, wie er sich verhielt? Hätte sie ihm nicht vorher ein Handbuch mit Anweisungen zuschicken können? Zugegeben, er hätte es mit ziemlicher Sicherheit eh nicht gelesen. Aber er hätte zumindest die Chance dazu gehabt! Oh Mann, er war ihr doch schon öfter nah gewesen, wieso war das jetzt so komisch? Weil Serena normalerweise vor ihm weg zuckte! Wieso tat sie es jetzt nicht? Was war in sie gefahren? Waren sie jetzt wirklich ein Paar?!!   In der Mittagspause bis zum Sportunterricht blieb Serena auf Abstand zu ihm, was Vitali die Möglichkeit gab, sie bei der Interaktion mit den anderen zu beobachten. Sie lächelte heute so viel. Irgendwie wirkte sie total fröhlich. So kannte er sie gar nicht. Natürlich hatte er sie in einzelnen kurzen Augenblicken schon lächeln gesehen, aber nie so viel am Stück wie heute. Es war wohl ziemlich bescheuert von ihm, sich dennoch die alte Serena zurück zu wünschen. Schließlich war ihr Lächeln wirklich hübsch, vor allem der Klang ihres Lachens. Irgendwie war er immer davon ausgegangen, dass sie überhaupt nicht lachen konnte. Auch wenn er es in seltenen Momenten schon gehört hatte. Er horchte auf das Gespräch der anderen. Ariane wandte sich an Serena. „Du hast heute so gute Laune.“ Serena senkte den Blick und lächelte lieblich in sich hinein. Vitali fühlte Aufregung in sich aufsteigen. Sie lächelte doch nicht, weil sie ihn vorhin umarmt hatte, oder? Ach Quatsch! Zögerlich sah er nochmals zu ihr. „Dafür ist Vitali ziemlich still.“, merkte Ariane an und sah in seine Richtung. „Ich bin nicht still!“, schimpfte er. „Ich bin nur müde. Es ist Montag!“ Er sah Serena ihn anlächeln, auf diese süße Art und Weise. Automatisch verzog sich sein Gesicht. „Sicher, dass es dir gut geht?“, fragte Ariane besorgt, die Serenas Mimik in ihrem Rücken nicht mitbekommen hatte. „Ja!“, schrie er viel zu laut. „Okaaay…“, sagte Ariane gedehnt und unterließ es, ihn nochmals anzusprechen. Vivien kicherte vergnügt, ohne einen Kommentar abzugeben. Erik indes hatte glücklicherweise damit aufgehört, ihn mit der Situation aufzuziehen.   Der Sportunterricht war für Mädchen und Jungen getrennt, allerdings fand er in der gleichen Halle statt. Der große Hallenraum wurde nur durch eine Plane in der Mitte in zwei Abschnitte geteilt. Vitali war über die Aussicht erleichtert, die nächsten zwei Stunden Ablenkung zu bekommen und Serena nicht in Sichtweite zu haben. Der Gang, der in die Halle führte, war für Jungen und Mädchen derselbe, sie wählten bloß unterschiedliche Eingangstüren. Als Vitali mit Justin und Erik aus der Umkleidekabine trat, kam plötzlich Serena zu ihnen gejoggt. Irritiert blieb er stehen. Justin wollte wohl warten, doch Erik schob ihn mit sich. „Was ist?“, fragte Vitali sie verwirrt. „Komm in zehn Minuten hierher.“, sagte Serena, drehte sich im gleichen Moment um und rannte zu ihrer Gruppe zurück. Verdattert stand Vitali da. Was – Was sollte das denn heißen?!!! War sie jetzt komplett übergeschnappt?! Er stöhnte und spürte sein Herz heftig pochen. Das… das war doch bescheuert!   Während des Aufwärmtrainings, das aus Rennen im Kreis und ein paar Dehnübungen bestand, sah Vital immer wieder auf die große Wanduhr. Zehn Minuten. Der Moment war gekommen. „Äh, ich müsste mal kurz raus.“, sagte er zu Herrn Koch, dem Sportlehrer. „Ich will auch viel.“, entgegnete dieser. „Äh, nee, also, ich müsste wirklich.“ „Und wieso?“, fragte der bullige Herr Koch mit finsterer Miene. Vitali legte seine Hand auf seinen Unterbauch. „Mir geht’s grad nicht so gut. Ähm, wirklich.“ „Meinetwegen, bevor du dir hier noch in die Hose machst. Aber beeil dich.“ Vitali spurtete zur Tür. Sobald er in dem dunklen Zwischengang stand, seufzte er. Oh Mann, er hätte sich rechtzeitig eine gescheite Ausrede einfallen lassen sollen. Er tat ein paar weitere Schritte und erkannte Serena. Sofort rannte er zu ihr.   Was tat er denn da? Direkt vor ihr stoppte er abrupt ab. Er legte seine Rechte kurz auf die Seite seines Halses, ehe er die Verlegenheitsgeste bemerkte und sie abstellte. „Was willst du?“ Seine Stimme klang deutlich gereizter als er es beabsichtigt hatte. Doch zu seiner Überraschung machte das Serena nicht wütend, stattdessen lächelte sie ihn an. Etwas Spitzbübisches trat auf ihre Züge. „Dich?“ Hirnausfall. Alarmsirenen. Notstand. Serena lachte leise. Vitalis Verstand wurde wieder neu gestartet. Wütend verzog sich sein Gesicht. „Haha.“ Er ärgerte sich, nicht gleich gecheckt zu haben, dass sie sich einen üblen Scherz mit ihm erlaubte. Ihr Lächeln wurde geradezu schelmisch. „Brauche ich einen Grund, um dich zu sehen?“ Vitalis Gesichtsausdruck konnte sich nicht entscheiden, welchem Impuls er folgen sollte. „Du … Du siehst mich doch später wieder.“ „Ich meine allein.“, hauchte sie. Vitali stockte. Serena kam näher. „Wenn du einen Grund brauchst.“ Bevor er überhaupt registriert hatte, was passierte, hatte sie sein Gesicht ergriffen und presste ihre Lippen kurz auf seine Wange. Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an. „Grund genug?“, fragte sie, ohne sich wieder von ihm zu entfernen. „Oder…“ Ihre Tonlage wurde tiefer, ihr Blick glitt kurz seinen Körper hinab, ehe ihre Augen wieder in die seinen tauchten. „… willst du mehr?“ Er war unfähig, darauf zu reagieren, schaute verstört. Sie grinste. In einer fließenden Bewegung hob sie ihren Arm und fuhr ihm durchs Haar, ohne dass er Gegenwehr geleistet hätte. Ihre Hand bewegte sich über seine Ohren zu seinem Gesicht. Zärtlich strich sie ihm über die Wange, ehe ihre Finger seinen Hals entlang wanderten. Bestürzt schreckte er vor ihr zurück. Sie lächelte neckisch und erkennend. „Das gefällt dir.“ Lasziv biss sie sich auf die Unterlippe. Ertappt und beschämt starrte er sie an, als mache sie ihm Angst. Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder weich. „Willst du nicht, dass ich dich berühre?“, fragte sie. „Oder willst du nicht, dass ich dich“, sie verwies auf die Umgebung, „hier berühre.“ Vitali wich noch weiter vor ihr zurück. Sie schien sich davon nicht beirren zu lassen. Ihr Blick hatte etwas Lockendes. In seiner Not rief er eilig: „Ich muss rein!“ und rannte wie auf der Flucht.   Ein selbstbewusstes Lachen folgte ihm nach.   Hektisch atmend kam er zurück in die Turnhalle. Er musste sich beruhigen. Die anderen Schüler hatten schon mit Basketballübungen angefangen. Nichts anmerken lassen! Nichts anmerken lassen! Er schluckte, biss die Zähne zusammen und ging hinüber zu Erik und Justin. Deutliche Sorge trat auf Justins Gesicht. „Ist alles in Ordnung?“ Vitali antwortete nicht sofort. „Willst du dich setzen?“, erkundigte sich Erik. „Alles bestens!“, schrie Vitali in viel zu hoher Tonlage. Erik sah ihn ernst an und legte ihm die Hand schwer auf die Schulter. „Du wirkst total verstört.“ Auf die Worte hin hätte Vitali am liebsten losgeheult. Er schluckte und unterdrückte den Impuls mit aller Macht. „Du solltest an die frische Luft.“, entschied Erik. „Nein!“, rief Vitali. Strenge trat in Eriks Züge. „Vitali, du siehst aus, als wärst du einem Nervenzusammenbruch nahe.“ Vitali konnte nicht verhindern, dass etwas verzweifelt Flehentliches in seinen Blick trat. Erik lenkte ein. „Es ist okay.“ Er holte Atem. „Wenn du nicht rauswillst, bleiben wir hier.“ Herr Koch kam zu ihnen. „Geht’s dir nicht gut?“ „Doch.“, sagte Vitali kleinlaut und sah nicht auf. Er wollte auf keinen Fall, dass noch jemand seinen Zustand bemerkte. Erik schob sich zwischen ihn und den Lehrer, wie um zu verhindern, dass dieser sein Gesicht sehen konnte. „Wir passen auf ihn auf.“, verkündete er in einem so überzeugten Ton, dass der Sportlehrer dem offenbar Glauben schenkte, denn er ließ sie wieder in Ruhe. Vitali rang nach Atem. „Vitali…“, hörte er Justin so behutsam sagen, als würde dieser davon ausgehen, dass er wirklich gleich los weinte. Er konnte ihm nicht antworten. Erik gab ein Seufzen von sich. Dann wurde Vitali ein Basketball gegen die Brust gedrückt. „Ablenkung?“, fragte Erik. Vitali nickte.   Auf dem Weg zum Bus sah Vitali sich ängstlich nach Serena um. Erik legte ihm die Hand auf den Rücken. „He, alles gut.“ Offenbar hatte er wieder sehr erbärmlich geschaut, anders konnte er sich Eriks extreme Fürsorglichkeit und körperliche Zuwendung nicht erklären. Normalerweise warteten sie auf die Mädchen, bevor sie einstiegen, aber dieses Mal bestand Erik darauf, dass Vitali sich setzte. Justin folgte ihnen. „Kann ich was für dich tun?“, fragte Justin vorsichtig. „Mir geht’s gut!“, schimpfte Vitali und sah keinen der beiden an. Er bekam nicht mit, wie Erik Justin ein Zeichen gab, dass dieser ihm erst mal seine Ruhe lassen sollte. Als alle Schüler in den Bus gestiegen waren, der sie zurück zur Schule bringen sollte, schaute Vitali zu Serena hinüber. Zu seiner Überraschung sah sie nicht in seine Richtung. Gerade so, als wäre überhaupt nichts passiert. War das so eine Dr. Jekyll und Mr. Hyde Sache? Ihr Verhalten hatte ihm Angst gemacht… „Ist was mit Serena?“, fragte Erik sachte. Sein Blick war ihm wohl nicht entgangen. „Nein!“, schrie Vitali viel zu heftig. Erik hob fragend eine Augenbraue. Vitali wendete den Blick ab. „Okay.“, sagte Erik in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er nicht nochmals nachfragen würde, solange Vitali nicht darüber sprechen wollte. Vitali seufzte. „Sie ist komisch.“ „Inwiefern?“, hakte Erik nach. „Einfach falsch.“, sagte Vitali verletzt. Erik verstand das nicht, aber er hatte nicht vor, Vitali mit weiteren Fragen zu belasten.     Zu Hause hatte Vitali sich erfolgreich abgelenkt. Doch als er sich abends ausgebreitet auf sein Bett fallen ließ, kam das Gefühl der Überforderung zurück. Was war das bloß gewesen? Das war doch nicht Serena! Er verzog betrübt das Gesicht. So hatte sie sich noch nie benommen. Ohne Vorwarnung erschien Ewigkeit über ihm. Sofort sprang er auf. „Du sollst zu Schicksal kommen.“, verkündete sie. War etwas passiert? Hatte sie sich deshalb heute so komisch verhalten? Vielleicht war sie ja manipuliert worden oder so! Vitali zögerte nicht. Er teleportierte.   Sogleich fand er sich in Serenas Zimmer wieder und erkannte, dass sie auf ihrem Bett saß. Er hielt sich nicht lange damit auf. „Was ist los?“, rief er hektisch. „Ich hole die anderen.“ „Das brauchst du nicht.“, antwortete sie seelenruhig. Er schaute sie ungläubig an. Ihm fiel jetzt erst auf, dass Ewigkeit nicht da war. „Ich wollte dich sehen.“ Ihre Stimme klang sacht. „Hä?“, entschlüpfte es ihm. Im gleichen Moment verzog sich sein Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass sie ganz alleine in ihrem Zimmer waren. „Wolltest du mich nicht sehen?“, wisperte Serena verletzlich. Vitali wich automatisch vor ihr zurück. „… Wieso denn?“ Er konnte sie nicht ansehen. Er hörte, wie sie sich von ihrem Bett erhob. „Brauchst du einen Grund, um mich sehen zu wollen?“ Sie kam auf ihn zu. Hektisch wich Vitali noch weiter vor ihr zurück. So ähnliche Worte hatte sie doch verwendet, bevor ... Sie blieb stehen und lächelte ihn mitfühlend an. „Fürchtest du dich?“ Etwas an seinem Gesichtsausdruck schien seine Gefühle zu verraten. denn sie sah ihn gerührt an und machte einen behutsamen Schritt nach vorne, wie um ihn nicht zu verängstigen.   Argwöhnisch beobachtete er ihre Bewegungen. Sie streckte die Rechte nach ihm aus. Er zuckte zusammen. Doch sie berührte bloß seine linke Hand – zärtlich. Ihr gefühlvoller Blick war auf die Verbindung ihrer Hände gerichtet. „Du bist damals zu mir gerannt, als die Schatthen das erste Mal aufgetaucht sind.“ Ihre Stimme klang so liebevoll. „Ich war verängstigt, ich dachte, ich wäre ganz allein.“ Ihr wechselnder Tonfall verlieh den Worten eine ungeahnte Tiefe. „Aber du bist zu mir gekommen. Ohne an dich zu denken. Du hast mich beschützt. Die ganze Zeit über. Immer und immer wieder.“ Sie verschränkte seine Finger und ihre ineinander – das fühlte sich viel intensiver an als er es für möglich gehalten hatte. „Seit damals…“ Sie sah ihm in die Augen. „… wollte ich das.“ Vitali wurde heiß, er konnte nicht reagieren. Ihr Gesichtsausdruck. Ihre Augen waren geradezu flehentlich. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Hilflos stand er da, fühlte sein Herz klopfen. Serena senkte den Blick und ließ von seiner Hand ab. Die jähe Angst, sie durch seine fehlende Reaktion verletzt zu haben, kam in ihm auf. Er wusste doch bloß nicht, was er tun sollte! Dann stand sie direkt vor ihm, sah ihm sehnsüchtig in die Augen und näherte ihr Gesicht dem seinen. Er teleportierte.   Fuuuuuuuck!!! Was ging hier vor!!! Vitali hielt sich den Kopf und rannte wie ein Irrer durch sein Zimmer. Sein kleiner Bruder, dessen Bereich nur behelfsmäßig durch die Anordnung der Möbel von Vitalis abgetrennt war, beobachtete ihn verwirrt. Vitali ließ sich neben seinem Bett auf den Boden fallen. Er packte sein Kissen und benutzte es, um seinen Kopf darunter zu vergraben, das Gesicht auf die Matratze gepresst. Das war nicht Serena! Das war auf gar keinen Fall Serena!!! Er umklammerte das Kissen noch fester. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)