Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 136: Aufbrechende Gefühle - das Geständnis -------------------------------------------------- Aufbrechende Gefühle – Das Geständnis   „Nichts ist so sichtbar wie das, was man verbergen will.“ (aus Japan)   Justin getraute sich nicht, in Viviens Richtung zu sehen. Stumm lief er neben ihr her. Im Gegensatz zu sonst hatte sie nicht den Ansatz gemacht, seine Hand zu halten, und er hatte den Eindruck, dass sie etwas bedrückte. Die Befürchtung, dass sie nun durchschaut hatte, was er wirklich für sie fühlte, drängte sich ihm auf. Nach dem, was er unter dem Einfluss der Plage getan hatte, war das wohl unumgänglich gewesen. Der bloße Gedanke daran machte ihn handlungsunfähig. In Kürze würden sie den Hauptweg des Kurparks erreichen und er hatte noch immer kein Wort herausgebracht, nur ab und zu zu ihr gelinst, als er plötzlich spürte, wie sie an seinem Ärmel zog und ihn zum Stehen brachte. Unsicher sah er sie an. Vivien hatte ihre Augen auf den Boden gerichtet. Kummer zeichnete sich auf ihrem rosigen Gesicht ab, dessen Sommersprossen jetzt im Winter verblasst waren. Angst packte ihn. Angst, dass jetzt der Moment gekommen war, in dem sie sein Herz brach. „Geduld und Selbstbeherrschung.“, flüsterte sie. Er stockte. Die Paralyse hatte ihn nicht daran gehindert zu hören, dass Vitali diese Qualitäten benutzt hatte, um die Plage zu erlösen. Wollte sie etwa darüber reden? Sie setzte fort. „Auf Dauer ist das … anstrengend.“ Sie zog den Kopf ein, als schäme sie sich, wobei ihr orangerotes knapp schulterlanges Haar etwas nach vorne fiel. „Sich dem anderen zuliebe zurückzuhalten.“ Die Angst kam zurück. Justins Atmung wurde schwer. Vivien sah mit ihren großen Kulleraugen zu ihm auf. „Woher…“, setzte sie an. „… weiß man, dass der andere dasselbe fühlt?“ Die Frage irritierte ihn. Ihre Stimme klang so ernst. Wollte sie ihn damit subtil darauf hinweisen, dass sie ihm nie Hoffnungen gemacht hatte? Er wich ihrem Blick aus. „Vielleicht von dem, wie der andere sich verhält.“ Ihre amethystfarbenen Augen umrahmt von ihren hellen Wimpern bekamen etwas Drängendes. „Und wie verhält der andere sich, wenn er einen auch mag?“ Die Frage und ihr Blick sorgten dafür, dass sein Magen sich zusammenzog. Er durfte nichts sagen, das ihn verriet. Er wandte sich ab. „Vielleicht macht er Andeutungen.“ „Was für Andeutungen?“ „Ich weiß nicht.“, antwortete er ausweichend. Ihre Stimme klang aufgewühlt. „Wie verhältst du dich, wenn du verliebt bist?“ Justin starrte sie an, Panik kam in ihm auf. Ihr wunderschönes Gesicht verzog sich geradezu leidend. „Würdest du es der Person zeigen?“ Wollte sie damit herausfinden, ob ihre Vermutung über die Art seiner Gefühle zutraf? Wusste sie es doch noch nicht mit Sicherheit? „Ja.“ Das war die einzige Antwort, die sie vielleicht davon abhalten konnte, ihm direkt zu sagen, dass sie anders fühlte. Dass sie nicht so für ihn empfand, wusste er doch! Hatte er die ganze Zeit schon gewusst! Er wollte es nicht auch noch aus ihrem Mund hören müssen! „Wie?“, rief sie aus. Er merkte, dass das eine Sackgasse war, und entschied sich, seine Taktik zu ändern. Vielleicht konnte er nicht verhindern, dass er aufgeflogen war, aber er konnte ihr klar machen, dass er sich keine Hoffnungen machte. „Ich glaube nicht, dass die Person es wollen würde.“ „Wieso nicht?“, forderte Vivien zu wissen. „Weil… sie etwas Besseres verdient hat.“ Vivien trat vor ihn. Obwohl sie so klein war, wirkte ihre Haltung entschlossen. „Es gibt niemand Besseren als dich!“ Wieso sagte sie das? „Aber...“ Sie schlug die Augen nieder. „Wenn du nicht an dich selbst glaubst, ist es egal, was … Du wirst es nicht glauben, nicht wahr?“ Er konnte ihr nicht folgen. „Deshalb gibt sie dir einfach Zeit und versucht, dich nicht mit ihren Gefühlen zu belästigen.“ Sie zog die Schultern an und sah mit einem Mal zerbrechlich aus.  Er wurde aus ihren Worten nicht schlau. „Was meinst du?“ „Dass … sie warten wird, bis du mehr an dich glaubst, weil sie an dich glaubt. Und sie es nicht ertragen könnte, wenn … wenn sie es dir explizit sagt und du ihr nicht vertraust.“ Noch immer sah sie zu Boden. Wer war ‚sie‘? Er durfte sich – nein – das… Vivien stöhnte und fasste sich an den Kopf. „Woher soll sie denn wissen, ob er wirklich nur unsicher ist und gar nichts versteht oder ob er einfach kein Interesse hat? Auch wenn sie es eigentlich wissen müsste…“ „Vivien, wovon reden wir?“ Sie schüttelte den Kopf. „Er würde es sowieso nicht verstehen.“ Selbst Justin konnte nicht entgehen, dass sie in Er-Form gesprochen hatte. „Vivien?“ „Könnte er ihr nicht deutlicher zeigen, was er fühlt?“ „Tut er das nicht?“ Er wusste selbst nicht, warum er das sagte. Er wollte doch nicht, dass sie über seine Gefühle Bescheid wusste. Ihre großen Augen tauchten für einen Moment in die seinen, dann wich sie ihm aus. „Tut mir leid.“, presste sie hervor. „Dass ich so unsicher bin.“ Sie und unsicher? „Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne.“ Ein tiefer Schmerz trat in ihren Blick. Ihre Stimme wurde schwach. „Warum hab ich dann solche Angst?“ Justin versuchte, das zu verstehen. „Wovor?“ Sie seufzte resigniert und ließ die Schultern hängen, wirkte dadurch noch kleiner. Er setzte zu weiteren Worten an. „Wenn dich irgendwas belastet…“ Sie antwortete nicht direkt. „Wenn du dich in jemanden verliebst,“ Sie sah ihn direkt an, ihre Stimme wurde zu einem Hauchen. „… lass es mich sein.“   Ihr Herz tat schrecklich weh bei den Worten. Eilig senkte sie den Blick und bereute ihren Vorstoß. Man konnte seinen Gefühlen doch nicht befehlen. Und man konnte niemandem für seine Gefühle Vorwürfe machen. Man fühlte einfach wie man fühlte, unabhängig von Logik. Und sie wusste doch, dass Justins Selbstzweifel ihn ihre Worte immer falsch verstehen ließen. Egal was sie sagte. Zögerlich sah sie auf, in Justins Gesicht. Er starrte sie an. Komplett fassungslos. Sie wollte sich einreden, dass er nur schockiert darüber war, dass sie die Andeutung machte, ihn auch zu mögen, und nicht weil er das nicht hören wollte, nicht so fühlte. Dabei hätte sie doch nach dem, was eben mit der Plage gewesen war, wissen müssen, dass er sie mochte! Wieso hatte sie trotzdem solche Angst? Sie wich einen Schritt zurück. Hektisch sprach sie weiter. „Entschuldige, das war übergriffig. – Vielleicht habe ich noch Nachwirkungen von dem Gefühl der Plage.“ Noch immer sagte Justin nichts. Sie hätte jetzt einen Scherz machen sollen, die Stimmung heben, irgendwas Leichtherziges sagen, damit er dachte, sie spaße nur. Es tat weh – sein Schweigen. „Vivien?“ Seine Stimme klang ungläubig. Sie hatte Angst davor, wie er sie jetzt anschauen würde. Wieder konnte sie seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob er mit sich rang, weil er ihr sagen musste, dass er sie nur als gute Freundin ansah, oder ob er sie … Er sah sie einfach nur an, als wisse er nicht, was er sagen sollte. Schließlich wich er ihrem Blick aus. Vivien fühlte Panik in sich aufsteigen, sie wollte heulen. Er ergriff das Wort. „Wäre dir das nicht unangenehm?“ Die Angst ebbte ab. Wieso misstraute sie seinen Gefühlen so sehr? Sie musste sich ein Herz fassen. „Ist es unangenehm, zurückgeliebt zu werden?“ Justin erstarrte. Hastig und kleinlaut fügte sie an: „Ich kann warten.“ Er schaute wieder so überfordert. „Und es ist ok, wenn es niemals –“ Sie konnte die Worte nicht aussprechen. Sie konnte es einfach nicht! Sie wollte ihn nicht anlügen. Seine Augen wanderten haltsuchend hin und her, als suche er nach Worten oder nach etwas, das Sinn ergab. Sie spürte den Impuls, ihm zu sagen, dass er vergessen sollte, was sie von sich gegeben hatte. Einfach weil sie die Situation nicht länger aushielt und befürchtete, das bisschen zu verlieren, das er ihr gab, und dass er sich nun völlig vor ihr zurückzog.   Vivien konnte doch nicht… Wieso sollte sie? Er suchte nach etwas, nach Worten, nach … er wusste nicht was. Seine Hand zuckte angesichts des Impulses, sie zu berühren, aber… Das konnte er nicht. Er durfte nicht! Was sollte Vivien denn an ihm mögen? Er war einfach langweilig und sie war so ausgefallen, ungewöhnlich und beeindruckend und der mutigste, einfallsreichste und aufgedrehteste Mensch, der ihm je begegnet war. Es ergab keinen Sinn, dass dieser Mensch irgendetwas in ihm sehen sollte, das sonst keiner sah, noch nie gesehen hatte. Wieso er? Vielleicht weil sie so viel Zeit miteinander verbrachten. Vielleicht war das eine Art Stockholm Syndrom. Und selbst wenn sie wirklich etwas für ihn fühlte, würde sie nicht bald merken, dass er ihr nicht gerecht werden konnte? Was hatte er ihr schon zu bieten? Sie würde doch früher oder später erkennen, wie langweilig und nichtssagend er war. Vielleicht würde sie das schon morgen bereuen und ihm sagen, dass das alles ein großes Missverständnis war und sie sich getäuscht hatte, ganz anders fühlte. Ja, vielleicht waren das gar nicht ihre Gefühle, sondern es war eine Nachwirkung von ihrem Kräfteeinsatz? Sie verwechselte vielleicht seine Gefühle mit ihren. Er biss die Zähne zusammen. „Das geht vorbei.“   Getroffen sah sie auf, starrte ihn an. „Das ist sicher eine Nachwirkung von der Plage und das ist … das sind nicht … Es geht bestimmt bald wieder weg.“ Vivien glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie griff sich an die Kehle, alles in ihr verkrampfte. Dann war die Gewalt ihrer Emotionen zu groß, übermannte sie. Nicht länger konnte sie das Schluchzen unterdrücken, erbrach jammervolle Laute des Leids. Es tat so weh. So schrecklich weh! Ihr Herz drohte zu zerspringen. Abrupt riss sie den Blick zu ihm hoch. Unbändige Wut und Verzweiflung übermannten sie. „Es geht immer nur um dich!“, kreischte sie schrill. „Es ist egal, was ich fühle!“ Sie war so hilflos, machtlos. „Ich kann nicht mehr.“, schluchzte sie. Sie hielt es einfach nicht mehr aus. Alles sollte aufhören! „Ich ertrage deinen Egoismus nicht mehr!“ Sie hatte so viel ausgeharrt, so viel ertragen. Aber … Er blieb einfach vor ihr stehen, als höre er ihre Worte nicht, schwieg sie an. Sie hatte nicht länger vor, ihm zuliebe zu schweigen und alles runterzuschlucken. Die Flut an unterdrückten Emotionen war zu gewaltig. „Es tut so weh. Jeden Tag...“, wimmerte sie. „Jeden Tag! Und ich dachte, ich muss nur Geduld haben und … irgendwann verstehst du es, aber das stimmt nicht.“ Sie wurde wieder laut. „Es ist dir völlig egal, was ich fühle! Es war dir die ganze Zeit egal! Ganz gleich was ich tue, du stößt mich immer weg. Wieder und wieder! Ich will das nicht mehr.“ Sie rang nach Atem. „Warum? Warum bin ich dir egal?!“ Ein erbärmliches Klagen tönte aus ihrem Inneren. Kein Laut der Welt konnte wiedergeben, was sie in diesem Moment erlitt.   Justin fühlte sich wie gelähmt, starrte sie verstört an. Endlich fand er seine Stimme wieder. „Du bist mir nicht egal.“ „Lügner!“, kreischte sie. Ihr Vorwurf macht ihn mundtot. Sie setzte ihre Hasstirade fort. „Ich bin seit dem ersten verdammten Tag, an dem ich dir begegnet bin, in dich verliebt und du … du ignorierst mich seit diesem Tag! Alles, was ich tue, ist nicht gut genug für dich! Nie bin ich gut genug für dich!“, spie sie bitter aus. Justin spürte, wie sich in seinen Augen Tränen bildeten. „Warum bin ich dir nicht gut genug?“, schluchzte sie. Justin atmete schwer. „Weil ich nicht gut genug bin.“ Vivien stoppte. Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. „Ich verstehe nicht, was du sagst. Ich … war die ganze Zeit … und ich hatte Angst, dass du es merkst… Ich dachte, dass du mich dann nie wiedersehen willst.“ Seine Sicht wurde durch Tränen getrübt. „Ich hab doch die ganze Zeit versucht, dir die Angst zu nehmen!“, antwortete Vivien lautstark. Seine aufgepeitschten Gefühle zogen ihn in ihren Bann. „An mir ist doch nichts, was du lieben könntest.“ Die Tränen rannen über seine Wangen. Gepeinigt krümmte er sich, wollte alles ausschließen, nichts mehr an sich ranlassen. Der Schmerz war dazu einfach zu groß. Alles zu viel. Ihre Stimme brach in sein Leid ein. „Ich liebe dich!“ Doch das konnte den Eindruck ihrer verzweifelten Tränen und ihrer verletzenden Worte nicht aus seinem Bewusstsein drängen. Er bekam nur am Rande mit, wie sie sich in seine Arme zu werfen versuchte. Es war ihm unerträglich. Er wollte das nicht! Dann waren Hände an seinem Gesicht. „Du bist der wundervollste Mann, den ich mir vorstellen kann.“ Ihr Gesicht war ihm so nah. Zu nah! Ein unkontrolliertes Zittern nahm seinen Körper ein. Er drohte zusammenzubrechen. „Justin, Justin, sieh mich an. Sieh mich an. Beruhige dich. Ich bin da. Atme.“ Nein… „Du musst richtig atmen.“ Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er sank zu Boden, Vivien nahm er kaum noch wahr. „Du atmest zu flach.“, hörte er erneut ihre Stimme wie etwas Übergriffiges. Er spürte, wie seine Arme anfingen zu kribbeln. Er fühlte sich so schwach. Seine Zähne klapperten. „Justin, du hast eine Panikattacke. Du musst dich beruhigen.“ Er konnte nicht mehr. Sie sollte weg gehen. Alles sollte … „Justin!“ Dass Vivien an ihm rüttelte, war nichts als ein Echo aus der Ferne. Sie schrie auf ihn ein. Ihre Stimme brach ab.   Gehetzt sah sich Vivien um, aber diese Stelle des Parks war leer, niemand war da. Sollte sie Vitali rufen? Aber was sollte er machen? Sie musste Justin irgendwie aus dieser Starre lösen. Irgendwie musste sie diesen Kreislauf durchbrechen! Mit irgendwas, das ihn ablenkte! Etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Aber was? Sie stockte und begriff. „Tut mir leid.“   Ihre Worte gingen in seinem Wahn unter. Er bekam kaum noch mit, wie sie sich ihm erneut näherte. Doch ihre nächste Berührung war zu intensiv, um sie auszublenden. Er spürte Viviens warme, weiche Lippen wie eine tröstende Wahnvorstellung. Vielleicht fantasierte er. Es fühlte sich schön an. Die Traum-Vivien konnte ihm nicht wehtun. Sie würde ihm nicht das Herz brechen. Wieder spürte er ihre Lippen auf seinem Mund, wie sie sein Gesicht festhielt. Sie war so sanft und fordernd. Er setzte ihr nichts entgegen. Dann endete die Berührung, aber er spürte die Wärme ihres Atems. Sie musste direkt vor ihm sein. Aber er fühlte sich zu schwach, um die Augen zu öffnen.   Vivien merkte, dass er nicht mehr atmete. Da er zuvor hyperventiliert hatte, war das nicht schlecht. Aber – wieso fand sie es trotz dieser Situation so schön, ihn zu küssen, trotz seiner eiskalten Lippen? War sie einfach egoistisch? Oder pervers? Sie sollte Hilfe holen statt über ihn herzufallen! Sie wusste nicht, was sie machen sollte, um ihn zu beruhigen. Also blieb sie mit dem Gesicht bei ihm und atmete mit ihm, wie um ihm damit dazu zu animieren, ebenfalls zu atmen. Es tat ihr in der Seele weh, ihn so zu sehen. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie schämte sich, nicht sofort auf die Idee gekommen zu sein. Sie konzentrierte sich darauf, sich selbst zu beruhigen und ließ das bisschen Ruhe, das sie noch in sich hatte, über ihre Hände in ihn fließen. Als wäre jegliche Spannung aus ihm gewichen, kippte Justin jäh auf sie. Sie versuchte ihn zu halten, aber er war zu schwer. Sie bemühte sich, seinem Körpergewicht Herr zu werden und bettete seinen Kopf behelfsmäßig auf ihren Schoß. Der Boden war eiskalt, aber Hauptsache, Justin atmete. Sie strich ihm über das Haar, in der Hoffnung, ihn dadurch zu beruhigen. Einige Momente lag er so da. Sie traute sich nicht, ihn anzusprechen, schließlich hatten ihre Worte bewirkt, dass er eine Art Panikattacke bekommen hatte. Sie fühlte sich schuldig. Sie hatte ihn überfordert.   Er bekam am Rande mit, wie er in eine andere Position gebracht wurde. Sein Kopf lag irgendwo. Er wusste nicht wo. Es war egal. Sein Körper spürte Kälte und Härte. Etwas strich über seinen Kopf. Er glaubte, Viviens Geruch wahrzunehmen. Ihren Geruch, er mochte ihn. So sehr. Die Luft tat gut. Wo war denn vorher die Luft gewesen? Es war egal. Er blieb liegen, dachte nicht weiter nach. Wie lange er so da gelegen hatte, konnte er nicht sagen, als er wieder zur Besinnung kam. Ihm wurde klar, dass er auf dem Boden lag. Aber sein Kopf? Er versuchte, sich aufzurichten, um zu verstehen, wo er sich befand. Die Person hinter ihm griff nach ihm und stützte ihn. Er erkannte, dass es sich um Vivien handelte. „Wir sollten Vitali rufen. Er kann uns heimteleportieren.“ Die Erkenntnis, was gerade geschehen war, traf ihn. Beschämt wich er Viviens besorgtem Blick aus und schüttelte den Kopf. Er wollte diese ganze Situation verdrängen! Das war nie geschehen. Wie konnte er vor ihr zusammenbrechen? Er wollte nicht, dass jemand anderes davon erfuhr. Auf keinen Fall. Auch noch nach allem, was heute geschehen war. „Justin.“ Was hatte er nur getan? Viviens Stimme erklang in ungekannter Hast. „Es tut mir leid. Es war gemein, dich zu küssen.“ Was? „Ich… Tut mir leid. Ich wusste nicht, wie ich dich sonst… Das war nicht in Ordnung. Ich werde es nie wieder machen. Nicht ohne Erlaubnis. Versprochen!“ Wovon redete sie da? Halluzinierte er immer noch? „Ich verstehe, wenn du böse bist. Ich hab es ausgenutzt, dass du dich nicht wehren konntest. Es tut mir so leid! Ich mach das nie wieder. Wirklich!“ Nochmals musste er sich klar machen, ob er wirklich bei Bewusstsein war. „Du hast mich… geküsst?“   Vivien riss die Augen auf. Hatte… hatte er das gar nicht mitbekommen? Hieß das, sie hatte ihm einfach den ersten Kuss geraubt und er erinnerte sich nicht einmal daran? Sie wusste zwar nicht mit Sicherheit, ob es sein erster Kuss gewesen war, aber sie ging einfach davon aus. Ihr selbst war nicht so wichtig, wo und wann und ob es der erste war, Hauptsache, der Kuss kam von Justin. Aber er war jemand, dem das etwas bedeutete. Bestimmt hätte er sich etwas Romantisches gewünscht. Und sie war einfach über ihn hergefallen! Und jetzt konnte er sich nicht einmal daran erinnern! „Es tut mir leid!“, rief sie außer sich. Justin sah zu Boden, auf dem sie immer noch saßen. „Das war einfach eine unglückliche Mund-zu-Mund-Beatmung. Unser nächster Kuss wird einfach der erste!“ Schockiert bedeckte Justin den Mund mit seiner Hand. Oh Gott, was hatte sie ihm angetan? Geradezu verstört starrte er auf den Boden und begann zu sprechen. „Die Allpträume. Als ihr den Schlafzauber anhalten solltet.“ Vivien verstand den plötzlichen Themenwechsel nicht. „Einer hat sich in dich verwandelt.“, presste er hervor. „Er … Er hat mich – geküsst.“ Vivien war wie erstarrt. Ein Allptraum. Aber… Aber hieß das nicht…? Justin sah sie schmerzlich an. „Es war das Schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte!“ Die Worte drohten ihr Herz zu zerquetschen. „Es tut mir leid!“, stieß Justin aus. „Es tut mir so leid!“ Sie ertrug es nicht, das zu hören, doch Justin sprach weiter. „Es tut mir leid, dass mein erster Kuss… Ich wollte, dass du es bist!“ Vivien horchte auf. „Ich wollte nicht. Ich wollte nicht, dass der Allptraum. Ich konnte mich nicht bewegen.“ Endlich begriff sie. Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie atmete die Luft aus, die sie angehalten hatte, und legte ihre Hand auf Justins. Er sah sie reumütig an, als hätte er sie betrogen. Sachte sagte sie: „Das war kein Kuss.“ Und lächelte beruhigend. Er schien nicht zu verstehen. „Wenn ein Hund einen abschleckt, ist es doch auch kein Kuss. Es war kein Mensch, also ist es kein Kuss.“, führte sie aus. Noch immer wirkte Justin verunsichert. Er senkte beschämt den Blick. Offenbar glaubte er, dass der Übergriff des Allptraums in ihrer Gestalt etwas Schamhaftes war. „Justin, es ist vorbei.“, versuchte sie ihn zu beruhigen, doch es schien nicht zu helfen, stattdessen verzog sich sein Gesicht noch mehr. „War es so schlimm?“, hakte sie nach. Justin sah sie an, als würde ihn die Antwort innerlich zerfressen. „Ich… für einen Moment.“ Er kniff die Augen zu, als könne er es nicht aussprechen. Sie versuchte, daraus schlau zu werden und ging alle Möglichkeiten durch, kam aber zu keinem Ergebnis. „Was?“ Justin schien sich in Grund und Boden zu schämen. Vivien versuchte, ihre Stimme so sachte wie möglich klingen zu lassen. „Gefiel es dir?“ Justin zuckte zusammen und schüttelte vehement den Kopf. „Ich … wollte, dass du es bist.“ Gequält presste er hervor: „Es tut mir leid.“ „Wieso entschuldigst du dich dafür?“, fragte sie vorsichtig. „Ich wusste, dass es der Allptraum ist. Trotzdem, für deinen Moment…“ „Justin. Du hast nichts falsch gemacht.“, versicherte sie ihm. Zaghaft blickte er sie an. Sie sprach weiter. „Ich habe dich geküsst, als du dich nicht wehren konntest. Das war nicht in Ordnung.“ Betreten senkte sie den Blick. „Und jetzt erinnerst du dich nicht mal.“ Eine Pause entstand.   Justin wurde seltsam zumute. Er erinnerte sich an das Gefühl ihrer Lippen und sein Herzschlag schien kurz auszusetzen. „Ich… Ich dachte, ich hab es mir nur eingebildet. Eben.“ Plötzlich kam wieder mehr Elan in Viviens Stimme, fast hoffnungsvoll rief sie aus: „Also erinnerst du dich?“ Justin spürte die wohlbekannte Hitze sein Gesicht einnehmen und wendete sich verlegen ab. Das war also wirklich geschehen? Vivien… Vivien hatte ihn wirklich…? Ihn? Dann kam die jähe Ernüchterung. „Tut mir leid, ich bin sicher kein guter Küsser.“ Vivien wurde laut: „Du warst halb ohnmächtig! Ich hätte das gar nicht tun dürfen! Aber…“, fügte sie in sanfterem Ton hinzu, „…ich war glücklich, dich zu küssen.“ Sie senkte ihr Haupt. „Tut mir leid. Ich muss nicht mal von einer Plage besessen sein, um dir was anzutun.“ Hatte sie gerade wirklich gesagt, sie war glücklich, ihn zu küssen? Er war sprachlos. Sie wurde wieder laut und sah ihm dabei direkt in die Augen. „Ich wollte das einfach schon so lange!“ Er fühlte sich so extrem geschmeichelt, dass er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Vivien hatte ihn küssen wollen? „Das versteh ich noch nicht so ganz.“, gestand er. „Wenn ich dürfte, würde ich dich den ganzen Tag küssen!“, rief sie. Sie klang so überzeugt, dass sein ganzer Körper von Hitze heimgesucht wurde. „War das zu viel?“, fragte sie unsicher. „Ein bisschen.“, flüsterte er beschämt. „Ich will dich nicht in Verlegenheit bringen.“, versicherte sie ihm. „Oder dass du dich schämst. Oder dich unwohl fühlst. Oder keine Ahnung.“ Justin schluckte. Er musste aufhören, sich wie ein kleines Kind zu benehmen. „Du kannst nichts dafür. Das ist meine Schuld.“, erwiderte er. „Ich stelle mich doof an.“ „Tust du nicht.“, widersprach sie. „Ich will deine Gefühle respektieren und immer auf dich Rücksicht nehmen.“, verkündete sie. Er fühlte den Impuls zu lächeln, aber durfte er das wirklich annehmen? Durfte er das wirklich glauben? Viviens Stimme erklang erneut. „Entschuldige, ich hab das so gesagt, als könnten wir zusammen sein. Aber ich … ich werde ... ich versuche dir Zeit und Raum zu lassen und dich nicht zu bedrängen! Versprochen! Egal, wie schwer es mir fällt!“ Justin spürte dieses leise Glücksgefühl in sich, das er sich seit Monaten immer wieder ausgeredet hatte, das er so unterdrückt hatte, weil es unmöglich erschien. Es war undenkbar gewesen, dass sich Vivien in ihn verliebte. Wirklich verliebte. „Du willst mit mir zusammen sein?“ Das war wohl eine blöde Frage, nach allem, was sie gerade gesagt hatte. Er wusste nur nicht, was er…, wie er … Sein Verstand schien nicht richtig zu arbeiten. „Natürlich!“, rief sie mit Nachdruck. „Ich will immer mit dir zusammen sein. Ich meine, ähm, ich freue mich über alles, was ich von dir aus darf. Wenn du Abstand brauchst...“ Sie brach ab und sah ihn ängstlich an. Das Gefühl in seiner Brust wurde immer stärker. „Du willst wirklich mit mir zusammen sein?“, „Ja!“ Ihre Hand legte sich auf die seine und ihr Blick war so aufrichtig und ehrlich. „Ich liebe dich.“ Wie konnte er dieser wundervollen Frau gerecht werden? „Ich bin bestimmt kein guter Freund. Ich hab keine Ahnung, wie … Ich mache dich sicher unglücklich.“ Vivien zog einen Schmollmund. Dann tat sie einen langen Atemzug. „Wenn du willst, können wir noch warten.“ Irgendwie klang es nicht so, als würde sie warten wollen. „Aber… Du bist der, den ich will. Mit allem, wie du bist. Ich will gar nicht, dass du anders bist. Verstehst du?“ Justin bemerkte wieder, wo sie sich eigentlich befanden. „Wir sollten nicht auf dem kalten Boden sitzen.“ Er stand auf und versuchte, sich zu sammeln. Vivien seufzte resignierend und tat es ihm gleich. „Vivien?“ Sie sah zu ihm und wirkte enttäuscht. Ihre vorige Reaktion kam ihm wieder in den Sinn. Wie sie gesagt hatte, dass sie ihn die ganze Zeit geliebt hatte. All das Leid nur wegen ihm?  „Es tut mir leid, dass ich … ich bin.“ „Sag so was nicht!“ Ihr Gesicht sah bei den Worten aus, als täte ihr das weh. Doch Justin ließ sich nicht beirren. „Du hast gesagt, dass ich egoistisch bin und nicht auf deine Gefühle eingehe. Und … ich hab das nicht verstanden, aber …“ Er stockte: „Du hast mich einen Lügner genannt.“ „Das –“ Justin gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie ihn ausreden lassen sollte. „Wieso willst du mit so jemandem zusammen sein? Der feige ist und immer nur an sich denkt.“ „Weil ich glaube, dass du nicht so bist!“, rief sie. „Es tut mir weh, wenn du bei allem, was ich tue, denkst, dass ich nur Scherze mache. Ich weiß manchmal nicht, warum du so über mich denkst.“  Sie sah zu ihm auf. „Ich will, dass du mich so siehst, wie ich wirklich bin. Es war so schwer, dir nicht einfach um den Hals zu fallen und dich zu küssen! Aber… ich wusste, dass du das nicht willst.“ Ihr Blick war durchdringend. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit du meine Gefühle ernst nimmst. Damit du mir vertraust!“ Justin begriff mit einem Mal, dass ihr ganzer Streit über ihre Vorgehensweise bezüglich Secret schon genau dieses Thema angeschnitten hatte. Sie hatte gewollt, dass er ihr vertraute. „Ich zweifle nicht an dir, ich zweifle an mir.“ „Das tut mir genauso weh!“, erklärte sie. Justin tat einen langen Atemzug, um Mut zu fassen. Entschlossen trat er auf Vivien zu. „Darf ich wirklich glauben, dass du mich willst?“ „Ja!“, rief Vivien, als wisse sie nicht, wie oft sie es noch wiederholen musste. Mit der Linken ergriff er sachte ihre Rechte. Er sah ihr fest in die Augen. „Ich will mit dir zusammen sein.“ Vivien grinste. Kurz war er unsicher, ob sie sein Verhalten lächerlich fand. Er schüttelte das Gefühl ab. Er hatte schon genug Zeit mit Unsicherheit verschwendet. „Darf ich?“   Sie nickte leicht belustigt. Dass er das nochmals fragen musste! Sie hatte doch jetzt oft genug gesagt, dass sie mit ihm zusammen sein wollte! Dennoch fand sie es süß und eigentlich hätte sie sich wohl denken können, dass er sie das noch mehrfach fragen würde. Erst im nächsten Moment begriff sie, welche Erlaubnis er in Wirklichkeit eingeholt hatte.  Er beugte sich zu ihr und … Seine Lippen trafen ihre. Sie waren nicht mehr kalt wie zuvor. Vivien konnte nicht anders, sie entriss ihm ihre Hand und schlang ihre Arme um seinen Hals. hielt ihn in dem Kuss gefangen. Gott! Endlich! Sie öffnete ihre Lippen. Justin zuckte zurück, was sie aufgrund des Größenunterschieds nicht unterbinden konnte. Mit völlig fassungslos scheuem Gesichtsausdruck starrte er sie an. Sie konnte nicht umhin spitzbübisch zu grinsen, was ihn noch verschämter werden ließ. Aber man konnte ihr doch nicht verdenken, dass sie sich nach all der Zeit nicht mehr hatte zurückhalten können! „Unangenehm?“, hakte sie nach. Justin zog ein komisches Gesicht, als wisse er nicht, was er darauf antworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Krieg ich jetzt jeden Tag einen?“, freute sie sich. Justin schien darauf nicht antworten zu können, noch immer wirkte er von der Situation überfordert. Daher sprach Vivien in sanfterem, möglichst beruhigendem Ton weiter. „Wir machen einfach, was uns beiden gefällt.“ Auf diese Worte hin schaute er jedoch noch beschämter und errötete erneut. Sie konnte nicht unterdrücken, einen kurzen belustigten Ton von sich zu geben. Die absurde Idee, er könne dabei an mehr gedacht haben, freute sie einfach unverhältnismäßig stark, schließlich war er immer so furchtbar kontrolliert, wenn es um körperliche Nähe ging. Aus einem Impuls heraus, warf sie sich in seine Arme und schmiegte sich an ihn, auch wenn das wegen ihrer Winterjacken nicht ganz befriedigend war. Er erwiderte die Umarmung nicht sofort, aber das war okay. Endlich spürte sie, wie er seine Arme um sie legte. „Ich liebe dich auch.“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ihr das noch nicht gesagt hatte. Sie versuchte, sich noch mehr an ihn zu kuscheln und ihre Freude entlud sich in einem Kichern. „Ich bin so glücklich!“ Sie entfernte sich ein wenig von ihm, um sein Gesicht sehen zu können. Er lächelte ein sanftes, stilles Lächeln. Und für sie drückte das noch viel mehr aus, als es Worte getan hätten. Sie ergriff seine Hand. „Wollen wir nach Hause?“ Er nickte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)