Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 146: Eigenbeschuss -------------------------- Eigenbeschuss „Jede Moral verübt Grausamkeiten.“ (Otto Weiß) Desires aufgepeitschte Gedankenschwingung war so heftig zu Trust geschwappt, dass er sich gar nicht mehr auf etwas anderes hatte konzentrieren können. Sie war offenkundig sehr aufgelöst gewesen und er konnte sich denken, woran das lag. Die Sache mit Erik und Secret nahm sie auf andere Weise mit als ihn und die anderen. Nicht mehr, aber anders. Das konnte er mittlerweile an der Form ihrer Gedanken ablesen. Er fand sie in dem Gang zwischen ihren Zimmern. „Desire.“ „Du brauchst mich nicht tadeln.“, sprach sie schneidend. Trust schwieg. In diesem Ton sprach Desire nur, wenn sie sehr wütend war, und das war sie üblicherweise nur Erik und Destiny gegenüber. Aufgebracht funkelte Desire ihn an, ihre Stimme wurde ungestüm. „Du wärst sogar bereit gewesen, Secret in der Nebendimension zurückzulassen!“ Die Erregung in ihrer Stimme nahm noch zu, schwankte zwischen Wut und Unglaube. „Und jetzt willst du schon Ewigkeits Gedanken gegen ihren Willen lesen!“ Trust musste schlucken. Ihre Vorwürfe trafen ihn wie Messer. „Ich will das nicht!“ Es klang, als schrie Desire gegen ihre eigene Verzweiflung an. „Ich will nicht so sein!“ Dann verlor sich ihre Stimme. Leid zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Trust war von ihrem Ausbruch zunächst wie gelähmt. Sein Haupt senkte sich. Er wusste nicht, was er sagen sollte und so wählte sein Verstand was er glaubte, das von ihm erwartet wurde, noch bevor die Worte in seinem Herzen wirklich angekommen waren. „Tut mir leid.“ Desire wirbelte zu ihm herum. „Ich will nicht, dass es dir leid tut! Ich will, dass das aufhört!“ Ihre Stimme begann zu beben. „Es ist wie damals, als Secret vorgeschlagen hat, Serena im Schatthenreich zurückzulassen!“ Trust war von diesem Vergleich bestürzt. „Auch wenn das für euch das Richtige ist, ist es noch lange nicht richtig!“, rief sie inbrünstig. Trust schluckte. Der Blick in Desires Augen war fast noch schmerzhafter als ihre Worte. Er riss sich zusammen. Es brachte nichts, wenn er nun in Schweigen verfiel, denn offenbar hatte Desire Redebedarf. Auch wenn sie das auf sehr unschöne Weise zum Ausdruck brachte. Ein weiterer Atemzug und er stellte sich der Antwort, die er gerne verdrängt hätte, weil sie das Gefühl wieder in ihm wachrief. „Ich hatte Angst.“ „Und das rechtfertigt es?“, schrie Desire. Noch nie hatte sich ihre Wut so gegen ihn gerichtet. Trust unterdrückte den Impuls ebenfalls mit Wut und Vorwürfen zu reagieren und sprach mit beherrschter Stimme. „Ich wollte nicht, dass jemandem von euch etwas zustößt. Und es schien leichter zu sein, Secret zu opfern, als euch wohlbehalten durch dieses ganze Chaos zu bekommen.“ Desire sah ihn strafend an, als wolle sie keine Ausreden hören. Trust fiel es schwer, damit umzugehen. Desire war sonst immer auf seiner Seite gewesen. Oder zumindest nie gegen ihn. Sie plädierte immer für das moralisch Richtige, egal wie übermenschlich es war. Das hatte er immer an ihr geschätzt. Aber seit der Situation mit Secret war alles anders als zuvor. Er ballte die Hände zu Fäusten, rang mit sich und atmete tief aus. „Ich lag falsch.“   Trusts Eingeständnis besänftigte Desire augenblicklich und ließ Ruhe in den Sturm ihrer Gefühle einkehren. Erst jetzt konnte sie überdeutlich sehen, wie sehr die Situation Trust mitnahm. Er sprach weiter. „Ich hätte nie Eriks Leben unter das unsere stellen sollen. Aber…“ Sie erkannte, wie er mit sich kämpfte. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ Sie verlieh ihrer Stimme einen möglichst sachten, aber entschiedenen Klang. „Das brauchst du auch nicht. Es ist nicht deine Aufgabe, immer alles zu entscheiden. Ich weiß, dass Vivien mal behauptet hat, dass du der Anführer bist, aber das bist du nicht.“ Trust sah sie voller Zweifel an. „Du bist einer von uns und du kannst nicht für uns anderen entscheiden.“, sagte sie behutsam. „Du bist nicht unser großer Bruder.“ Trust wirkte getroffen und senkte den Blick. Sie trat zu ihm und legte ihm sachte die Hand auf die Schulter. „Du kannst niemanden beschützen, außer dir selbst.“ Trust horchte auf. „Das hast du mir gesagt.“, erinnerte sie ihn. Trust wandte den Blick ab. „Du weißt, dass das leichter gesagt ist als getan.“ „Das weiß ich.“, sagte sie und nahm die Hand von seiner Schulter. „Aber du vergisst, dass wir anderen auch dich beschützen wollen. Du hast gesehen, was dieser ständige Druck in Vivien ausgelöst hat. Was, denkst du, macht es mit dir?“ Trusts Augenbrauen zogen sich zusammen. „Es geht nicht um mich.“ „Für Vivien tut es das.“ Bestürzt sah er sie an. Mit sanftem Lächeln erklärte Desire. „Ich habe vielleicht vorher nicht verstanden, was Vivien für dich fühlt, aber… ich wusste immer, dass du für sie … dass du ihr am nächsten stehst. Wenn du nicht auf dich selbst aufpasst, dann leiden die Menschen, denen du wichtig bist.“   Trust schluckte und musste widerwillig zustimmen. Er wollte sich einreden, dass er stärker war, dass er das alles tragen konnte, aber was machte er sich da vor? Dieser ganze Druck hatte mehr als einmal dazu geführt, dass er Vivien böswillige Unterstellungen gemacht und seinen Frust an ihr ausgelassen hatte. Nur weil er sich im Recht gefühlt hatte. Weil er geglaubt hatte, er würde das moralisch Richtige tun – das, was die Gruppe schützte. „Wie macht man das?“, fragte er resigniert.   Desire stockte, wollte Trust gerade ernsthaft nahe legen, dass er nicht wusste, wie man auf sich selbst aufpasste? Diese Offenbarung traf sie. „Justin…“ Wieder schluckte Trust und wagte es nicht, sie anzusehen. Desire musste das erst verarbeiten. Sie hatte gewusst, wie schüchtern und verletzlich er war, wenn es um Vivien ging, und dass er in bestimmten Bereichen alles andere als ein großes Selbstbewusstsein besaß, aber dass er sich selbst so wenig wertschätzte, war einen Moment zu viel für sie. „Du… du versucht dich wie deinen besten Freund zu behandeln.“, versuchte sie es zu erklären. „Weil du wertvoll bist.“ Trust sah sie mit ernstem Gesichtsausdruck an, als müsse er angestrengt darüber nachdenken. „Aber ich bin doch nicht –“ „Das sagt man doch nur so. Du… du mutest dir zu viel zu.“ Immer noch wirkte Trust unverständig. Wie erklärte man jemandem, der noch nie auf sich selbst Rücksicht genommen hatte, wie das ging? „Du musst dich einfach wichtiger nehmen.“ Trusts Blick wurde noch ernster, als zweifle er diese Idee an. Er schüttelte den Kopf. „Du hast doch selbst eben noch angemerkt, dass ich meine Sicht der Dinge zu wichtig genommen habe.“ „Das ist doch etwas anderes. Darum geht es nicht. Wenn du aufhören würdest, ständig zu denken, was du tun musst, und darauf achten würdest, was du brauchst, würde es nicht so weit kommen.“ Trust schien diesen Einwand nicht verstehen zu können. „Du wirst hart, wenn du dir zu viel zumutest.“, versuchte Desire es ihm nochmals begreiflich zu machen. Wieder wirkte Trust nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. „Jemand muss –“ „Niemand muss.“, sagte Desire überzeugt. „Als wir mit den anderen dieses Gruppengespräch hatten, hat Vivien es mir klar gemacht. Ich dachte, ich wäre von euren Entscheidungen abhängig, aber das bin ich nicht. Es ist meine Entscheidung, ob ich das tue, was ihr für richtig haltet oder nicht.“ Trust schien anderer Meinung zu sein. „Man kann nicht immer tun, was man gerne möchte.“ „Hast du das überhaupt jemals?“ Desire wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, aber irgendwie … Trust hatte in letzter Zeit immer wieder so verbissen gewirkt, als würde er auf eine Weise agieren, die ihm antrainiert worden war. Auf gewisse Weise erinnerte sie das an Erik. Wenn sie zu sich ehrlich war, hatte sie wohl kein Recht, ihm das zum Vorwurf zu machen, schließlich war sie selbst immer streng zu sich, wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nicht genügte. Genau das hatte sie ja immer an Trust bewundert: diese felsenfeste moralische Integrität. Nichts schien seine Werte ins Wanken bringen zu können. Sie hätte nie geglaubt, dass genau das ihn einmal hart und unerbittlich machen würde. „Ich bin nicht egoistisch.“, sagte Trust. „Es ist nicht egoistisch, auf sich zu achten.“, beanstandete Desire. Trusts Blick wurde hart. „Und es ist nicht egoistisch, dass du davor davonläufst, den Schild undurchlässig zu machen?“ Desire stockte. Sein Ton hatte so vorwurfsvoll geklungen. Sie konnte darauf nichts entgegnen. Trust biss die Zähne zusammen. Desire rang sich zu einer Antwort durch. „Nicht egoistischer als anderen seinen Willen aufzuzwingen.“ Sie sah, dass Trust seine Hände zu Fäusten ballte und den Kopf einzog. „Es wäre nicht nötig gewesen, mich anzugreifen.“, sprach Desire weiter. Trust drehte das Gesicht weg. Sie hätte ihn gerne gefragt, warum er sich von ihren Aussagen so in die Enge getrieben gefühlt hatte, dass er sich schon wie Destiny benahm, wenn man ihr unliebsame Widerworte gab. Doch das erschien ihr gerade wenig zielführend. „Erik wartet.“, sagte sie, um das Gespräch zu beenden und klar zu machen, dass sie nie vorgehabt hatte, vor dieser Aufgabe davonzulaufen. Noch einmal sah sie zu Trust, um ihm die Chance zu geben, noch etwas zu sagen, aber er schien immer noch mit sich zu hadern. Normalerweise hätte sie ihm versichert, dass alles okay war, aber … irgendwie hatte sein Vorwurf sie härter getroffen als erwartet. Es hatte nicht an der Aussage an sich gelegen, sondern daran, dass ausgerechnet er sie ihr entgegengeschleudert hatte. Derjenige, dem sie noch immer das größte Feingefühl zuschrieb. Und sie wollte nicht glauben, dass sie sich so in ihm getäuscht hatte, dass er sich seiner Tat nicht bewusst gewesen wäre. Sie schritt an ihm vorbei zurück in den Trainingsraum.   Unite bemerkte als erste, wie Desire zurückkam. Sie war allein. Und so stolz wie sie schritt – erhobenen Hauptes, als müsse sie sich gegen etwas wappnen – musste etwas vorgefallen sein. Sorge breitete sich in Unite aus, denn das konnte nur eines bedeuten: Trust hatte wieder diese starre Härte gezeigt, von der er sich nicht abbringen ließ. Unite spürte ihr Herz sich zusammenziehen. Nein! Sie war noch nicht gefestigt genug, um ihm in solch einer Verfassung angemessen zu begegnen. Sie fürchtete, in Tränen auszubrechen und sich unnötig verletzt und abgewiesen zu fühlen, wenn sie ihn jetzt so erlebte. Was sollte sie tun? Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dass Trust wirklich Ewigkeits Gedanken gegen ihren Willen gelesen hätte, glaubte sie nicht. Dafür kannte sie ihn zu gut. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er bereit gewesen wäre, sich dazu zu zwingen, weil er glaubte, das sei das Notwendige. Sie wusste wirklich nicht, ob sie die Kraft hatte, sich ihm zu nähern, wenn er so war. Plötzlich stand Destiny vor ihr und berührte sie kurz am Arm. „Ich schaue nach ihm.“ Ein Blick in Destinys Gesicht machte Unite klar, dass sie bemerkt hatte, wie es um ihre Gefühlslage stand. Destiny schenkte ihr ein kurzes aufmunterndes Lächeln und verließ dann den Trainingsraum. Unite wurde von der Seite angestupst. Es war Change. Er sagte nichts, sondern hatte sie wohl nur durch diese kleine Berührung ablenken wollen. Kurz spürte Unite den Impuls vor Rührung zu weinen, weil ihre Freunde sich solche Mühe für sie gaben. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Desire, die zu Erik trat. Beide wirkten immer noch distanziert einander gegenüber. Erik sprach, ohne Desire anzusehen. „Die anderen haben mir erzählt, was mit Serena im Schatthenreich war.“ Verständlicherweise war Desire davon etwas irritiert. Sie sah fragend zu Unite. „Dass sie uns angegriffen hat.“, half Unite ihr aus. Desire nickte unmerklich. Erik sprach weiter. „Deshalb ist es umso wichtiger, den Schutzschild undurchlässig zu machen.“ Der Satz verärgerte Desire offensichtlich. Dass Desire es hasste, Befehle von Erik entgegenzunehmen, war kein Geheimnis. Glücklicherweise ergriff Change das Wort. Unite hielt es für möglich, dass er das nur tat, um die angespannte Stimmung aufzulockern. Sie wusste ja, dass er deutlich cleverer handelte als die anderen glaubten. „Desire könnte sich doch von Tiny zeigen lassen, wie man es macht. Tiny ist auf jeden Fall super darin, andere von sich fernzuhalten.“ Unite musste grinsen und entschied sich, ihn bei seinem Ablenkungsmanöver zu unterstützen. „Der Destiny Experte hat gesprochen!“, rief sie. „Ha-haaa!“, rief Change pathetisch. „Keiner kennt ihre Paralyse besser als ich!“ Erik zog die Augenbrauen zusammen. „Wie oft hat sie dich schon paralysiert?“ „Frag nicht.“, antwortete Desire stoisch. Einen Moment schwieg Erik. Dann drehte er sich wieder zu Change und fixierte ihn. „Du ziehst die falschen Schlüsse. Destiny kann paralysieren, aber das heißt nicht, dass sie andere von sich fernhalten kann.“ Change zuckte locker mit den Schultern: „Jo. Sie ist so empfindlich, dass für sie alles direkt zu nah ist. Darum kann sie in Seelenwelten eindringen. Und deshalb braucht sie ihre Paralyse, um sich zu schützen.“ Unite musste ein Auflachen unterdrücken. Die fassungslosen Blicke von Desire und Erik bei Changes unerwarteter Zurschaustellung seines Scharfsinns waren Gold wert! „Was?“, rief Change, als würde er Widerspruch erwarten. Unite klopfte ihm anerkennend auf den Rücken und strahlte ihn überfreudig an. Change war das offensichtlich unangenehm. Erik hakte nach: „Du meinst, eure Kräfte sind da, um eure Stärken hervorzuheben und eure Schwächen auszugleichen?“ „Klar.“, sagte Change. „Desire ist immer so kontrolliert, als müsste sie die ganze Zeit ein Schutzschild tragen. Und um die ganze Anspannungen wieder aufzulösen hat sie ihre Läuterung.“ Desire machte große Augen. „Das ergibt Sinn.“, sagte Erik auf eine Weise, die nahelegte, dass auch er nicht damit gerechnet hatte, dass eine solch wertvolle Erkenntnis von Change stammte. In einem Ton, der deutlich machte, dass sie mit Changes Interpretation überhaupt nicht einverstanden war, widersprach Desire: „Nach der Logik sollte ich doch gar kein Problem damit haben, den Schutzschild undurchlässig zu machen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Nee.“, antwortete Change. „Dein Schild ist innen.“ „Was?“, rief Desire. „Na, innen lässt du niemanden an dich ran. Aber nach außen bist du offen. Bei Tiny ist es umgekehrt. Ihr geht alles zu nah. Aber nach außen schlägt sie um sich.“ Wieder waren die Blicke aller auf ihn gerichtet. Erik studierte Changes Gesicht. „Hast du heute Morgen irgendwas anders gemacht als sonst?“ Er legte eine kurze Pause ein. „Das solltest du auf jeden Fall beibehalten.“ Dieses Mal konnte Unite das Lachen nicht länger zurückhalten. „Fresse!“, schimpfte Change. „Ich bin nicht blöd!“ „Das hast du uns grade bewiesen.“, meinte Erik gleichmütig. Change wurde davon noch verstimmter. Unite konnte nicht aufhören zu grinsen. Die Interaktion war einfach zu komisch! Und schon setzte Desire noch einen drauf, indem sie regelrecht beleidigt ausrief: „Ich bin nicht innerlich verschlossen!“   Erik drehte sich zu ihr und sein Gesicht schien zu fragen, ob sie das ernsthaft behaupten wollte. Desire schaute pikiert. Er gab ihr mit seiner Mimik zu verstehen, dass er das, was er ihr gerne geantwortet hätte, nicht vor den anderen laut aussprechen wollte. Sie begriff, dass ihr fehlendes Verständnis für ihre eigenen Gefühle, das sie ihm offenbart hatte, wohl als innere Verschlossenheit gedeutet werden konnte. Sie hielt das nicht für fair! Und wieso unterstellte ausgerechnet Change ihr so etwas?! Als habe er ihren Gedankengang durchschaut, ergriff Change nochmals das Wort. „Ey, ich hab ja nicht gesagt, dass du so verschlossen bist wie unser Muskelprotz.“, stellte er mit einem Daumenzeig auf Erik klar. Erik schaute nur gelangweilt. Unite nutzte die Gelegenheit, um einen albernen Witz zu reißen: „Geheim eben!“ Change quittierte das mit einem breiten Grinsen. Erik ging darüber hinweg. „Und wie, denkst du, kann Desire ihren Schild undurchlässig machen?“, fragte er Change. Change zuckte mit den Schultern. „Dafür brauchen wir Tiny.“     Im Gang zwischen ihren Zimmern fand Destiny Trust mit gesenktem Haupt stehend vor. Er wirkte geknickt. Ihre Schritte verlangsamten sich. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte! Ein zaghafter Schritt und noch einer. Sie blieb stehen, sagte nichts, wartete einfach.  In mühevoll wirkender Langsamkeit hob Trust den Blick. „Alles okay?“, fragte sie unsicher. Er nickte bloß, doch alles in ihr schrie, dass das nicht stimmte. Im Geiste ging sie hastig ihre Handlungsmöglichkeiten durch. Doch sie hatte keine Ahnung, was Trust brauchte. „Kann ich irgendwas für dich tun?“ Er sah sie nochmals an und zeigte ihr ein fast trauriges Lächeln. Er schüttelte den Kopf. Das verunsicherte sie zusätzlich. Vielleicht wollte er ja alleine sein und sie störte ihn oder ihre Anwesenheit ließ ihn sich noch schlechter fühlen! Würde er ihr das sagen? Oh, hätte sie doch bloß Unites Rat eingeholt! Aber Unite hatte selbst so zerbrechlich gewirkt. Nein, Destiny wollte ihre Freundin entlasten, denn das hatte Unite verdient. Gleichzeitig wollte sie ihr Bestes tun, um Trust eine Stütze zu sein. Schweigend blieb sie bei ihm stehen und warf ab und an einen Blick auf ihn. Sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, angestarrt zu werden. Sollte sie ihn etwas fragen? Aber was? Vielleicht war ihm das unangenehm. Wenn er reden wollte, würde er dann den Anfang machen? Sie wollte ihm doch nur irgendwie das Gefühl geben, dass er nicht allein war! Aber vielleicht wollte er ihre Nähe ja gar nicht… Andererseits sah er so traurig aus. Das machte sie auch traurig. Trust war so ein lieber und herzensguter Mensch! Sie wollte für ihn da sein, wie er schon so oft für sie da gewesen war, vielleicht ohne es zu merken, einfach indem er er war, mit seiner vertrauenerweckenden, sanftmütigen Art. Sie wollte ihn irgendwie aufmuntern, ihm sagen, dass … dass er wundervoll war. Dass sie an ihn glaubte. Aber das war ja doch bloß Geschwätz… Amanda hatte ihr einstmals vorgeworfen, immer nur schöne Worte von sich zu geben, während ihr Verhalten das Gegenteil ausdrücken würde. Destiny ließ den Kopf hängen. Worte brachten nichts. Schon gar nicht ihre. Trust war so erwachsen. Was hätte sie ihm schon sagen können, das ihm irgendetwas gab? Bestimmt würde er es kindisch finden. Außerdem wusste sie ohnehin nicht, welche Worte oder welches Verhalten er gebraucht hätte. Unite hätte ihn sicher einfach angestrahlt und umarmt. Change hätte einen blöden Witz gerissen und Trust mit seinem Grinsen und seiner offenen, lockeren Art abgelenkt. Und Erik hätte die richtigen Fragen gestellt und irgendwie verstanden, was in Trust vorging, so wie er es immer bei ihr tat. Sie dagegen hatte keine Ahnung, wie sie Trust helfen konnte. Sie war total nutzlos. Betrübt sah sie zu Boden. Was gab es, was sie tun konnte? Was keiner der anderen konnte? Da gab es nichts. Ihn zu paralysieren oder einschlafen zu lassen, war schließlich wenig hilfreich. Destiny seufzte. Trust blickte wieder auf. „Entschuldige.“ Oh nein, das hatte sie nicht gewollt! „Du brauchst dich nicht entschuldigen!“, sagte sie hastig. Mit ernstem Blick starrte Trust vor sich. Offenkundig nötigte ihn etwas dazu, sich in Gedanken zu rechtfertigen. Jedenfalls glaubte Destiny an seiner plötzlich wieder härter werdenden Miene erahnen zu können, dass er versuchte, den Zwiespalt in sich niederzuringen. Vielleicht hätte sie ihn fragen sollen, was ihn belastete, aber das getraute sie sich nicht. Sie schwieg. Trust machte den Ansatz, etwas zu sagen und Destiny horchte auf, um kein Wort zu verpassen. „Was…“ Sein Gesicht verzog sich. „wenn ich kein guter Mensch bin?“ Die Frage war so absurd, dass Destiny nicht sofort darauf reagierte. Einen Moment wartete sie darauf, dass Trust selbst bemerkte, was für einen Unsinn er da redete. Bestimmt war das nur die Einleitung zu irgendwelchen Gedanken gewesen. Doch Trust sprach nicht weiter. „Was?“, fragte Destiny in Ermangelung einer besseren Antwort. Etwas Leidendes trat in Trusts Gesicht. „Ich …“ Er schien mit den Worten zu hadern. „Ich verletze die Menschen, die mir wichtig sind, und treffe falsche Entscheidungen.“ Destiny fühlte sich auf unangenehme Weise an ihre eigenen Erfahrungen erinnert, als würde Trust ihr dadurch indirekt sagen, dass sie ein schlechter Mensch war. Sie sah, wie sein Gesicht sich noch mehr mit Leid und Reue füllte. In ihrem Wunsch, Trust irgendwie zu trösten, fiel ihr ein, was das einzige war, das sie beruhigte, wenn sie so sehr an sich zweifelte und unsinniges Zeug dachte. Sie nahm all ihren Mut zusammen, trat vor Trust und umarmte ihn eilig, bevor sie zögern und den Plan abbrechen konnte. Dadurch dass sie fast dieselbe Größe hatten, war es einfach, ihre Arme um seine Schultern zu legen, auch wenn diese sehr viel breiter waren als sie es bisher bemerkt hatte. Breiter als Vitalis. „Du bist gut.“, sagte sie verlegen. Sie klang entsetzlich unsicher. Sie versuchte es nochmals. „Ich weiß, dass du gut bist.“ Das klang überzeugter. „Zweifel nicht an dir.“ Sie wusste nicht, ob es ihm unangenehm war, einfach von einem Mädchen, das nicht Vivien war, umarmt zu werden. Nicht, dass sie ihm damit zu nahe trat! Aber was wenn er gerade eine Umarmung brauchte, die er nicht erwidern musste? Und einfach so die Umarmung wieder abzubrechen, kam ihr genauso seltsam vor. Zu ihrer Erleichterung spürte sie schließlich, wie die Spannung in seinen Schultern etwas nachließ und er sich in die Umarmung sinken ließ, ohne seinerseits die Arme um sie zu legen. War das nicht ein gutes Zeichen? Sie wusste es nicht! Ruhig bleiben und etwas Aufbauendes sagen. „Ich glaube an dich.“, stieß sie aus und schalt sich, dass sie ruhiger und sanfter sprechen sollte. Sie holte tief Luft und besann sich darauf, dass es hier nicht um sie und ihre Unsicherheiten ging, sondern um ihn. Er war ein wundervoller Mensch. Sie vertraute ihm. Jedenfalls hatte er ihr nie einen Grund gegeben, an ihm zu zweifeln. Deshalb brauchte sie doch keine Angst haben, etwas Falsches oder Albernes zu sagen. Oder? Nein! Sie war stark! „Auch wenn du mal gemein bist oder etwas falsch machst, bist du trotzdem der wundervolle Justin, den wir lieben.“ Bei dem Wort ‚lieben‘ hatte sie den Eindruck, dass Trust kurz zusammenzuckte. War das zu viel gewesen? Sie hätte besser ‚mögen‘ sagen sollen! Aber… es stimmte doch, dass alle ihn liebten. Davon war sie überzeugt. Sie löste sich von Trust und legte ihm bedeutungsvoll die Hände auf die Schultern, wie sie es in Filmen gesehen hatte. „Auch …“ Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Auch wenn du das nicht glaubst, wir…“ Kurz zögerte sie. „Wir haben dich alle lieb.“ Ihr waren ihre eigenen Worte peinlich. Trust starrte sie an, als habe sie ihm gerade verkündet, dass die Erde eine Scheibe war. „Du… Du darfst auch an dich glauben.“, verkündete sie, ohne die Hände von seinen Schultern zu nehmen. Sie bemühte sich den Gedanken, dass sie sich albern verhielt, nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Etwas wie Härte trat auf Trusts Züge, er senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Wieso sagt ihr das alle?“ Destiny horchte auf. Hatte jemand anderes ihm bereits etwas Ähnliches gesagt? „Weil es stimmt.“, antwortete sie überzeugt und nahm die Hände von seinen Schultern. „Warum bin ich dann so?“, fragte er fast vorwurfsvoll. Destiny wusste nicht, wovon er sprach. Sie sah, dass seine Augenbrauen sich wieder zusammenzogen, und rang sich zu einer Gegenfrage durch. „Wie bist du denn?“ „Gemein.“ Destiny glaubte, sich verhört zu haben. Er und gemein? Ja, auch er konnte verletzend sein, wenn er sich verletzt fühlte, aber … „Du sagst nur Dinge, die du nicht so meinst, wenn du unsicher bist.“ Argwöhnisch fragte er: „Wieso denkst du, dass ich sie nicht so meine?“ „Weil…“ Sie beschloss, auf ihr Herz zu hören. „Man sagt manchmal Dinge, von denen man in dem Moment glaubt, dass sie das sind, was man sagen möchte. Aber wenn man ehrlich zu sich selbst ist, merkt man, dass man eigentlich etwas ganz anderes sagen will, es aber nicht zulassen kann, weil man versucht, stark zu sein.“ Trust starrte sie an. Destiny sah ihm in die Augen. „Es geht nicht darum, was du in dem Moment denkst, sondern was du wirklich im Herzen fühlst und willst.“ „Wie meinst du das?“, fragte er zaghaft. „Weißt du noch bei dem Gruppengespräch, als du Vivien Vorwürfe gemacht hast? Eigentlich wolltest du, dass sie dich nicht ausschließt.“ Trusts Augen gaben seine Verwunderung wieder. „In dem Moment warst du wütend und verletzt, deshalb konntest du nicht das spüren, was darunter lag. Dass du Vivien liebst.“ Nun war Trusts Gesichtsausdruck aufgelöst. Destiny sprach weiter. „Aber die Wahrheit ist, dass du sie liebst. Und alles andere war nicht die Wahrheit, auch wenn es sich in dem Moment so angefühlt hat. Dein Herz weiß das.“ Leid trat auf seine Züge. „Ich weiß, wie schwer das ist.“ Sie spürte, wie sie emotional wurde. „Aber du musst nicht alles richtig machen, um gut zu sein.“ Trusts Gesicht verzerrte sich. Vor ihren Augen drohte er in Tränen auszubrechen. Sie machte den Ansatz, ihn zu berühren. Dann fasste sie Mut und umarmte ihn beherzt, hielt ihn fest, um ihm dadurch Trost zu spenden. Dieses Mal erwiderte er die Umarmung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)