Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Prolog: -------- Mit dem Glockenspiel starb die Hoffnung. Der geschiedenen Seelen Schmerz tränkte die Welt in Finsternis; Doch das Ende wob einen neuen Anfang.     [[USERFILE=875726]]     Kapitel 1: - 1. Band Gleichgewichts-Beschützer - Vorspiel --------------------------------------------------------- Finster war es. Diese Welt, die gesamte Atmosphäre, in allem und aus allem sprach es, atmete es, spiegelte es… finster. An den Anblick war Grauen-Eminenz längst gewöhnt. Natürlich hätte er sein Schatthenreich etwas besucherfreundlicher gestalten können: etwas freundlichere Farben hier und dort, etwas mehr Licht. Er hatte echt andere Probleme! Angespannt wartete er in seinem Sessel im Kontrollraum auf die Ankunft seines Probeexemplars. Verdammte Ungeduld! Er fasste sich an die Brust, um sich zu beruhigen – half nichts. Vielleicht war er dem Ziel schon ganz nahe! – Vielleicht auch nicht. Das war es ja, was ihn verrückt machte! Kein überstürztes Handeln. Das war schon einmal schief gegangen. Er seufzte tief und stierte wieder auf das Blickfenster, das er vor sich erschaffen hatte, um den Raum zu observieren, in dem sein Versuchskaninchen auftauchen sollte. Dann spürte er es. Aus der dichten Schwärze des Raumes erhob sich mit einem Mal etwas Neues. Die pechschwarze Kugel, gleich einer lebendigen, wabernden Materie, verschmolz trotz ihrer Farbe nicht mit der Umgebung, viel mehr zog sie deren Aufmerksamkeit auf sich. In ihrem Inneren schien sich etwas zu regen, gar zu wehren. Dieses Innere war geheim. Die Kugel zersprang in tausend Einzelteile, die von der Dunkelheit verschlungen wurden und wieder mit ihr zu einem Ganzen verschmolzen. Ein Fremdkörper schlug auf dem Boden auf und die Düsternis wurde von einem frischen Gefühl durchtränkt – Schmerz. Schock und Entsetzen gesellten sich hinzu und die Schwärze schlürfte sie gierig auf. Ein Schemen, der sich auf seltsame Weise von der Finsternis abhob, begann sich zu bewegen. Finger glitten suchend über den kalten, steinernen Boden und tasteten nach der unbekannten Leere. Als sie endlich etwas fanden, war nicht zu sagen, ob dieses Etwas schon zuvor da gewesen war oder sich soeben erst dazu entschlossen hatte zu existieren. Eine Wand. Im Moment der Berührung loderten an beiden Seiten Fackeln auf. Sie waren jedoch nicht an den mauerähnlichen Wänden aus grauem Gestein befestigt, sondern schwebten frei wie Irrlichter. Die bedrohlich blauen Flammen flackerten und ihr Schein durchwirkte das Rauminnere, als habe das Feuer die Luft in Brand gesetzt. Tausend unsichtbare Augen fixierten den Neuankömmling. Winzige Messinstrumente erhoben biometrische Daten. Spezies: Mensch. Genotyp: XY. Geschätztes Alter: 17. Körpergröße: 1,80 m. Gewicht: 78 kg. Phänotypische Merkmale: Haarfarbe Schwarz. Augenfarbe Blaugrün. Erhöhte Aktivität des Sympathicus. Beschleunigter Puls. Vermehrte Menge an Adrenalin im Blut. Geistes-Scan noch nicht möglich. Der Junge sprang auf die Beine. Aus seinem Gesicht sprachen Panik und Ekel. Wie ein gehetztes Tier sah er sich um. Hinter ihm war eine Sackgasse. Der Weg vor ihm lag im Dunkeln. Er rang nach Atem. Dann packte ihn ein qualvoller Hustenreiz, dass er sich entsetzt die Kehle hielt. Etwas stimmte nicht mit der Luft. Unschlüssig tat er einen Schritt nach vorne. Weitere blaue Flammen loderten auf und beleuchteten den Weg vor ihm. Er ballte die Hände zu Fäusten und rannte los, doch kam er nicht weit. Etwas traf ihn am linken Oberarm. Schreiend ging er zu Boden. Aus der kleinen Schnittwunde an seinem Oberarm quoll Blut hervor und tropfte auf den steinernen Boden. Grauen nahm seine Sinne ein. Es bahnte sich einen Weg von der Wunde aus in seinen gesamten Körper, in jede einzelne Faser. Verzweifelt kämpfte er sich wieder auf die Beine, seine Augen füllten sich unwillkürlich mit Tränen. In seinem Kopf war kein Platz mehr für einen vernünftigen Gedanken. Die Realität, sein eigener Körper rückten in immer weitere Ferne. Eine Dunkelheit, deren Ursprung in ihm selbst zu liegen schien, verfinsterte seine Wahrnehmung, sein ganzes Sein. Er fand sich bäuchlings auf dem Boden wieder, ohne dass er dem noch Beachtung geschenkt hätte. Es erfasste immer mehr Teile seines Wesens, auf der Suche nach etwas, das mehr war als Innereien und Körperzellen, etwas, das keine noch so akribische Sezierung ans Tageslicht bringen und kein Mikroskop der Welt ausfindig machen konnte – ein wohlgehütetes Geheimnis. Mit hilflosem Entsetzen spürte er noch, wie die letzte, unsichtbare Schutzbarriere seines Geistes überwunden zu werden drohte. Ein allerletztes gequältes Wimmern hallte durch seine Gedanken – die einzige Gegenwehr, zu der er noch fähig war. Dann riss alles ab. Geistes-Scan bereit. Das kalte Licht der Anzeige flackerte über Grauen-Eminenz‘ verhärtete Züge. Er bemerkte erst jetzt, dass er den Atem angehalten hatte. Geräuschvoll stieß er die Luft aus. Seine Auserwählten konnten kommen. Kapitel 2: [Der Anfang vom Ende] Glockenspiel --------------------------------------------- [[USERFILE=875731]]   Glockenspiel   „Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge.“ (Leo Tolstoi, russ. Schriftsteller)   Am strahlend blauen Himmel über Entschaithal geschah es, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Flauschige Schäfchenwolken zierten das Firmament über dem idyllischen Kurort. Die drückende Hitze der letzten Wochen war verflogen. Eine zarte Brise hatte sie hinweggeweht und sorgte nun für angenehme Abkühlung. Doch nur die Wenigsten schenkten dem viel Beachtung, zu sehr waren die Menschen mit den großen und kleinen Problemen des Lebens beschäftigt. Und so kam es, dass ihnen auch der jähe Wandel direkt über ihren Köpfen nicht auffiel. Es handelte sich dabei nicht um ein sich ausweitendes Ozonloch oder um eine sonstwie von Menschen verursachte Naturkatastrophe. Was da vor sich ging, war sehr viel kleiner und unscheinbarer. Hätte jemand auf die Stelle gesehen, hätte er wohl nur ein Luftflirren wahrgenommen, vielleicht aber auch gar nichts. Die Atmosphäre begann sich an dieser einen Stelle des Firmaments zu komprimieren, zog sich zusammen, immer enger. In dem unsichtbaren Wirbel aus kleinsten Teilchen und Energiequanten funkelte ein goldener Schimmer auf. Ein Medaillon mit einer Schmetterlings-Gravur wurde sichtbar. Von dem Schmuckstück angezogen, ordneten sich die Elementarteilchen zu einer Struktur an. Dann durchzuckte ein Licht kurz den Himmel und enthüllte anschließend eine in der Luft schwebende Gestalt in einer seifenblasenähnlichen Schutzhülle. Der Körper glich dem eines Menschenkindes im Miniaturformat. Wie aus einem langen Schlaf erwacht, öffnete das zusammengekauerte Kleine langsam seine Augen und seine Schutzhülle löste sich in funkelnden Schimmer auf. Zwei hauchzarte Flügelchen entfalteten sich auf dem Rücken des Geschöpfs. Wie bei einem soeben geschlüpften Schmetterling dehnten sie sich nach und nach weiter aus, blühten zu ihrer wahren Pracht auf, bis sie ihre eigentliche Spannweite erreicht hatten und sich erhärteten. Auch in ihrer Form ähnelten sie denen eines Tagfalters, waren jedoch durchscheinend und sonderten sternenstaubartigen Glanz aus. Wie benommen hob das Geschöpf seinen weißblonden Lockenkopf und richtete sich langsam auf. „Die Auserwählten geleitet Ewigkeit.“, säuselte es vor sich hin. Alsdann glitt die Erscheinung geschmeidig hinab in das Zentrum des Kurorts. Augenscheinlich dienten die Flügel ihr dabei eher als Zier, denn mehr als sie flog, schwebte sie, den Naturgesetzen mit leichtfüßiger Eleganz entgehend. Bei jeder ihrer Bewegungen ertönte ein heller, glockenspielartiger Klang, nicht mit dem Gehör, allein mit dem Herzen wahrnehmbar. In der Stadtmitte angelangt, wäre die kleine Gestalt fast über den Haufen gerannt worden. Immer wieder musste sie Personen ausweichen, die keinerlei Notiz von ihr nahmen. Gehetzt und ängstlich flatterten ihre Flügel nun aufgeregt wie die einer Motte. Eilig rettete sie sich zur nächsten Abzweigung, die sie in einen nicht minder betriebsamen Stadtteil führte, eine Geschäftspassage. An beiden Seiten lockten hübsch dekorierte Schaufenster. Im Ausweichflug blickte das Schmetterlingsmädchen sich rasch nach allen Seiten um, als suche es etwas Bestimmtes, ohne genau zu wissen was. Doch die fremden Eindrücke, die auf es einprasselten, waren zu viel. Verstört zog sich die Kleine aus der Menschenmenge zurück und schnappte nach Luft. Wie sollte sie in diesem Wirrwarr das Gesuchte finden? Ratlos stand sie in der Luft. Ihre Hand suchte den goldenen Anhänger auf ihrer Brust und drückte ihn ganz fest, klammerte sich an das letzte Stück Geborgenheit in einer Welt aus vergessenen Erinnerungen. Sie atmete ein und aus. Das Gefühl der Luft in ihren Lungen war noch fremd. Doch ihr blieb der Anhänger. Von einem hoffnungsvollen Drang getrieben, gewann sie anschließend wieder an Höhe und schwebte weiter in den Süden der Stadt. Vorbei an noch mehr Menschen, die allesamt nichts von ihrer Gegenwart wahrnahmen, oder sie auch nur ignorierten, sie vielleicht als Hirngespinst abtaten. Einzig ein paar Tiere blickten der kleinen Seele irritiert hinterher. Zum unzähligsten Mal überflogen ihre grünbraunen Augen die zuletzt verfassten Zeilen, doch es half nichts. Die Hand mit dem Bleistift blieb regungslos, genauso regungslos wie ihre kreativen Gedanken. Die Ränder der Seite, die sie aufgeschlagen hatte, waren bereits vollgekritzelt mit kleinen Bildchen und Schnörkeln, wie immer, wenn sie mit ihrer Geschichte nicht vorankam. Unzufrieden strich sie sich eine der braunen Haarsträhnen ihres Ponys aus dem Gesicht, legte Bleistift und Radiergummi beiseite und schlug den Collegeblock auf ihrem Schoß zu. Auf dem Deckblatt stand in Handschrift ihr Name geschrieben. Serena Funke. Wieder aufblickend, kam sie nicht umhin, dem mit Animebildern beklebten Kalender an der gegenüberliegenden Wand ungewollte Beachtung zu schenken. Freitag, 31. August. Nur noch zwei Tage … Ehe Serena sich einmal mehr in unliebsamen Gedanken an den Schulbeginn ergehen konnte, wurde ihre Zimmertür von einer schwarzgesichtigen Bestie aufgestoßen, die jäh auf sie zustürmte. „Schmuse!“ Freudig begrüßte Serena ihre belgische Schäferhündin und streichelte ihr herbstfarbenes Fell. Eigentlich hieß sie Leila, aber in Serenas Familie sprach man den Hund mit jedweder Bezeichnung an, die einem gerade in den Sinn kam. Hinter der Hündin trat Serenas Schwester Anita ein, eine brünette junge Frau, die vier Jahre älter als Serena war. „Essen ist fertig.“ „Mhm.“, machte Serena. Sie hatte den Ruf ihrer Mutter schon zuvor gehört. „Bitte sag nicht, dass du immer noch an der gleichen Szene arbeitest.“, sagte Anita, wohl weil sie den Block auf Serenas Schoß erkannt hatte. Serena warf Anita einen tödlichen Blick zu. „Du solltest mal Tolkien oder Forsyth lesen. Da könntest du dir ne Scheibe abschneiden.“ Mit diesen Worten verließ Anita das Zimmer, gefolgt von Leila. Serena stieß ein tiefes Grollen aus. Sie hasste es, kritisiert zu werden, besonders von Anita. Und da wurde ihr auch noch vorgeworfen, dass sie ständig schlecht gelaunt sei. Pah. Im Esszimmer hatte sich schon ihre ganze Familie eingefunden. Ihre Eltern, ihre Schwester, ihr jüngerer Bruder Dominik und natürlich Leila. Durch den offenen Durchgang, der Ess- und Wohnzimmer miteinander verband, erhaschte sie einen Blick auf ihre fünf Wellensittiche, die dort auf einem aus Ästen zusammengebastelten Vogelbaum saßen, sangen und sich ihrer Gefiederpflege widmeten. Sie setzte sich, nahm ihren bereits gefüllten Teller entgegen und versuchte, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. „War die Post schon da?“ „Du mit deinen ständigen Interneteinkäufen.“, meckerte ihr Vater. Ihre Mutter fuhr ihn an. „Sie kann ja wohl machen was sie will!“ Ihr Bruder Dominik mischte sich hämisch ein. „Hauptsache, sie muss dazu nicht rausgehen.“ „Halts Maul.“, zischte Serena. Ihr Vater schimpfte. „Und wie soll das werden? Will sie jetzt gar nicht mehr in die Schule?“ Jähe Übelkeit stieg in ihr auf. Ihre Mutter brauste auf. „Du mit deinem oberschlauen Geschwätz! Dein Kind war krank! Aber dir ist das ja sowieso egal!“ „Mama.“, sagte Anita gedehnt. „Wir wissen doch alle, warum sie krank war. Wenn sie im Wirtschaftsgymnasium wieder solche Probleme hat, sollten wir über ein Fernstudium nachdenken.“ Serena erhob sich. „Was ist?“, fragte ihre Mutter, als sähe sie keinen Grund für Serenas plötzliches Aufstehen. „Ich hab keinen Hunger.“, stieß Serena aus. „Serena.“, tadelte ihre Mutter. „Lass sie.“, entgegnete Anita noch immer ruhig. „Du weißt doch, wie sie ist.“ Serenas Gesicht schnellte in die Richtung ihrer Schwester. „Geht dich gar nichts an!“ Wäre das eine melodramatische Filmszene gewesen, hätte sie ihrer Schwester eine Ohrfeige verpasst. Aber das hier war die Realität. Daher eilte Serena einfach nur aus dem Raum, die Rufe ihrer Mutter ignorierend, durch die Küche, in die Diele, wollte gerade die Treppe hinauf in ihr Zimmer flüchten, als sie plötzlich in der Bewegung stoppte. Aber… Aus einem ihr unerklärlichen Impuls heraus, verspürte sie mit einem Mal das brennende Verlangen, hinauszugehen. Das war völlig widersinnig, wo sie sich doch die letzten Monate über vehement geweigert hatte, das Haus zu verlassen! Serena sah zurück zur Tür. Keiner machte sich die Mühe, ihr nachzugehen und sie war froh drum. Dann wandte sie sich erneut der Haustür zu. Vorsichtig schloss sie auf, hoffte, dass es keiner drinnen hören konnte, und hastete mit dem Schlüssel in der Hand nach draußen. Die Tür zog sie sachte zu, sodass sie kein Geräusch erzeugte. Wie sie ihre überängstliche Mutter kannte, hätte diese sofort Panik bekommen, dass sie weglaufen wollte. Vor der Haustür verharrte sie und atmete schwer. Wahrscheinlich war ihr Gesicht jetzt noch blasser als sonst. Nur nicht an den Schulanfang denken. Luft! Luft! Sie brauchte - Ihr Gedankenstrang riss. Eine unaussprechliche Empfindung durchschoss von einer Sekunde auf die andere ihr ganzes Wesen, entflammte die tiefsten, ihr unbekannten Winkel ihrer Seele. Mit feurigen Schwingen erhob sich etwas aus der erkalteten Asche in ihrem Inneren: Schicksal. Nach einer Sekunde, vielleicht aber auch einer Ewigkeit, verglomm das Gefühl und versetzte Serena zurück in die Wirklichkeit. Hektisch suchte sie die Gegend ab, den gepflasterten Weg von ihrem Haus bis zu dem weißgestrichenen Zaun. Doch sie fand nichts. Nichts, das auch nur annähernd den Eindruck machte, eine solche Sinnestäuschung auslösen zu können. Auf der anderen Straßenseite war nur ein schlaksiger, hellbrünetter Junge in ihrem Alter, der samt einigen Einkaufstüten gerade in eine andere Straße einbog. Grimmig betrachtete der Junge die Einkaufstüten. Warum musste ausgerechnet er den Großeinkauf erledigen?! Eine Stunde zuvor war er noch dabei gewesen, in seinem Lieblingsspiel die Bestzeit zu unterbieten, die blauen Augen auf den Bildschirm fixiert. Der Umstand, dass das ganze Haus der Familie Luft von seinen Siegesschreien und – falls es gerade mal nicht so gut lief – auch mal von anstößigen Ausrufen erfüllt worden war, war in Anbetracht dessen doch absolut verständlich gewesen! Trotzdem war seine Mutter ziemlich gereizt ins Zimmer gestürmt gekommen. „Vitali! Hör auf, hier wie ein Irrer rumzuschreien!“ Sie hatte viel lauter gebrüllt als er. Da war er sich sicher. „Ja, ja.“ Natürlich hatte er den Blick nicht vom Fernsehbildschirm gelöst. Aber er hätte sich wohl doch zusammenreißen sollen, anstatt gleich wieder laut zu grölen. Im nächsten Moment war der Bildschirm schwarz geworden. „Aaaaaaaaah!!!!!“ Neben dem Fernseher hatte seine Mutter mit einem der Stecker seiner Spielkonsole in der Hand gestanden. „Maaaaaaam… Weißt du eigentlich, was du da gerade getan hast?!!“ Seine Mutter hatte finster geantwortet: „Dich davon abgehalten, noch weiter herumzukrakeelen.“ „Du hast gerade das Spiel meines Lebens ruiniert!! Ich habe monatelang Blut und Wasser geschwitzt, um so weit zu kommen! Liest du denn keine Familienmagazine?! Dadurch könnte meine gesamte Entwicklung gestört werden! Das ist wie bei einem Schlafwandler, den man aufweckt! Der bekommt auch bleibende Schäden! Das solltest du dir vielleicht vorher überlegen!! Vielleicht brauche ich jetzt psychiatrische Behandlung!!!“ „Du solltest zum Fernsehen gehen. Die können mit solchen Quatschköpfen wie dir noch Geld verdienen. Ich hatte dich gewarnt! Du solltest mir lieber helfen, als durch das ganze Haus zu brüllen!“ „Kann das nicht Vicki machen?“ „Dein Bruder Viktor hilft mir bereits, ich wünschte, du wärst auch so ein guter Sohn. Aber nein! Du bist unzuverlässig und ein Faulpelz! Womit hab ich das verdient!“ Seine Mutter hatte eine total bescheuerte, theatralische Geste gemacht. Und er hatte echt keine Ahnung, wovon sie da geredet hatte. „Ich bin der beste Sohn, den man sich vorstellen kann.“, hatte er richtigerweise widersprochen. „Ich bin intelligent, gutaussehend, freundlich, ... ach eigentlich kann man mich gar nicht in Worte fassen!“ Breites Grinsen. „Ja, da fehlen einem die Worte.“ Wieso hatte seine Mutter dabei bloß zynisch geklungen? Naja, um sie wieder gnädig zu stimmen, hatte er sich gezwungen gefühlt, es auf die Schmeichlertour zu versuchen. „Ich würde doch alles für dich tun.“ Schleim, schleim. Im nächsten Moment hatte er einen Zettel mit allerlei Gekritzel vor sich gehabt. „Gut, dann kannst du ja für mich einkaufen gehen.“ Vitali stöhnte bei der Erinnerung. Dann blickte er wieder auf die Tüten. Musste sie ihn denn auch noch diesen Weiberkram einkaufen lassen?! Als Mann Make-up, Strumpfhosen und Enthaarungscreme zu kaufen! Das ging einfach gar nicht! Wenn er sich an die Blicke der anderen Leute erinnerte. Seine Mutter war sadistisch!!! Wieder stöhnte er. Wenigstens musste er jetzt nur noch in einen Gemüse- Sein Herzschlag setzte aus. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich seiner. Für einen Augenblick verschmolz er mit der aufkommenden Brise, war ein Teil des Windes, wurde eins mit allem, ständig die Form wechselnd, nicht der Veränderung unterworfen, sondern das Verändern selbst verkörpernd. Dann war es vorbei. Er schnappte nach Atem und drehte den Kopf in alle Richtungen. Nichts. Sein Gesicht verzog sich zu einer ungläubigen Grimasse. Vielleicht war Videospielen ja doch schädlich …? Neeee!! Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort und betrat kurz darauf einen kleinen Lebensmittelladen. Ein Mann mittleren Alters begrüßte ihn freundlich. „Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Ich soll die Bestellung für Luft abholen.“ „Warten Sie bitte einen Augenblick.“ Der Mann verschwand im hinteren Teil des Ladens. Es gefiel Vitali, hier mit Respekt behandelt zu werden. Er war immer noch beleidigt wegen der Sache mit dem Make-up. So wie er die Leute hier kannte, würde man sich sicher noch Wochen über ihn das Maul zerreißen! Und die Verkäuferin, die ihm den „korallenroten“ Lippenstift aufschwatzen wollte, da diese Farbe ja sooo gut zu seinem Teint passe, regte ihn besonders auf!!! Herr Boden – Vitali hatte ihm den Namen des Ladenbesitzers von einem Schild zugeordnet – kam mit einer Kiste voll Obst und Gemüse zurück, stellte sie auf die Ladentheke und packte alles in mehrere große Tüten. Vitali starrte auf den Berg Lebensmittel. Wie sollte er das denn bloß alles tragen?! Seine Bestürzung war ihm wohl deutlich anzusehen, denn Herr Boden wandte nochmals das Wort an ihn. „Das ist eine ziemliche Ladung. Vielleicht könnte mein Sohn etwas zur Hand gehen, er ist hinten im Lager.“ „Nee, nee. Geht schon.“ Jetzt noch Hilfe vom Sohn eines Fremden annehmen zu müssen, das hätte sein Ego nicht verkraftet. Also zahlte er und ergriff dann mühselig die vier Tüten, die das Gewicht der übrigen weit übertrafen. Er verabschiedete sich und verließ dann, von den Tüten nach unten gedrückt, den Laden. Nur bis zur Bushaltestelle! Nur bis zur Bushaltestelle! Angesichts des seltsamen Anblicks des völlig überladenen Jungen schüttelte Herr Boden mitleidig den Kopf und ging nochmals in den Lagerraum. In Jeans und dunkelgrünem Hemd kniete sein Sohn vor einem der Regale und räumte die letzten Artikel ein. Der Junge atmete erleichtert aus, baute sich wieder zu voller Größe auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die durch ein kleines Fenster fallenden Sonnenstrahlen verliehen seinem kastanienbraunen Haar einen rötlichen Glanz. „Schon fertig, Justin?“, fragte Herr Boden überrascht. „Alles picobello, Paps.“, versicherte Justin lächelnd. Sein Vater nickte anerkennend. „Wenn du nicht umsonst arbeiten würdest, müsste ich dich einstellen.“ Justin musste schmunzeln. „Das sollte mir zu denken geben.“ Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter. „Schon als kleines Kind hast du mitgeholfen und hattest nicht einmal Zeit für Freunde.“ „Du übertreibst.“, meinte Justin peinlich berührt und wandte sich zum Gehen. „Sag deiner Mutter einen lieben Gruß von mir.“ „Mach ich!“ Durch den Hinterausgang ging Justin nach draußen und schlenderte den Weg entlang. Noch vor kurzem hatte er mit seiner Familie in der kleinen Wohnung über dem Laden gewohnt. Erst als eine Doppelhaushälfte ein paar Straßen weiter zum Verkauf gestanden hatte, hatten seine Eltern sich endlich dazu entschlossen, dem permanenten Platzmangel ein Ende zu setzen. Seit Jahren hatten sie darauf gespart. Und nun war es bereits einen Monat her, dass sie umgezogen waren. Er wollte gerade eine Straße überqueren, als er plötzlich versteinerte. Fest und unverrückbar wie ein Fels, egal wie sehr der Sturm auch toben mochte, spürte er Vertrauen. Wie eine Erinnerung aus längst vergessenen Träumen, als wäre es sein wahres Wesen. Viel zu kurz hielt der Moment an. Dann entrann ihm das Gefühl und die Realität kam zurück. Justin blinzelte verwirrt. In Gedanken versunken setzte er seinen Weg fort, lief die letzten paar Schritte zur Kreuzung und bog in die Blumenallee ein. „Justiiin!“, rief eine überschwängliche Mädchenstimme von der gegenüberliegenden Straßenseite. Er stoppte und blickte zu dem Haus direkt gegenüber dem seinen. Dort stand die Nachbarstochter. Sie hatte wohl nur kurz den Müll hinausgetragen, denn sie trug weite bequeme Hauskleidung. Obwohl sie kaum ein Jahr jünger war, war sie einen ganzen Kopf kleiner als er. Leuchtend orangefarbenes, knapp schulterlanges Haar umrahmte ihr rundes, sommersprossiges Gesicht. Große, indigofarbene Augen strahlten ihn fröhlich an. Justin verschlug es die Sprache. Ihm wurde flau im Magen. Wie angewurzelt stand er da und konnte nichts anderes tun, als sie stumm anzustarren. Das Mädchen lächelte noch breiter und deutete mit dem Zeigefinger auf sich selbst. „Vivien!“ Wahrscheinlich meinte sie, er habe ihren Namen vergessen und sei deshalb so verunsichert. „Ich weiß!“, stieß Justin mit viel zu hektischer Stimme aus. Er zog seinen Kopf ein und schlug beschämt die Augen nieder. Nur zaghaft wagte er es, wieder aufzublicken, und musste irritiert feststellen, dass Vivien zur Salzsäule erstarrt war. Geistesabwesend stierte sie Löcher in die Luft. „Alles okay …?“, fragte Justin vorsichtig. Beim Klang seiner Stimme schien sie aus einer Trance hochzuschrecken und blinzelte ihn kurz an. „Ich hatte ein seltsames Gefühl …“ Justins Augen wurden groß. Plötzlich kicherte sie hell. Ein warmer, heiterer Klang, der sich in Justins Ohren schöner anhörte als jede noch so virtuose Musikkomposition. „Das liegt sicher an deiner Ausstrahlung! Da werd ich ganz schwach!“ Justins Gesichtsausdruck entgleiste. Hitze stieg in ihm auf, brachte sein ganzes Gesicht zum Glühen. Und er konnte nichts dagegen tun! Während er hilflos dastand, lächelte Vivien ihn einfach nur schweigend an. Dann ergriff sie wieder das Wort. „Ich muss dann wieder rein. Meine Geschwister warten.“ Sie deutete mit dem Daumen hinter sich, rührte sich aber nicht, als warte sie auf etwas. Allerdings wusste Justin nicht auf was. Vielleicht hätte er jetzt irgendetwas sagen sollen. War das nicht eine gute Gelegenheit? Aber was sollte er sagen? Sicher würde er sich dann nur wieder blamieren. Ihre lebhafte Stimme ertönte erneut. „Du musst unbedingt mal zu uns rüberkommen und mir dabei helfen, die beiden in Schach zu halten!“, forderte sie eifrig. „Mit etwas Glück könnten wir sogar beide überleben!“ Wieder ihr warmes, heiteres Lachen. „Abgemacht?“ Ihre Augen strahlten. Justin nickte hektisch und kam sich dabei wie ein hirnloser Wackeldackel vor. Noch einmal lächelte Vivien ihm zu. „Ich freu mich drauf!“ Anschließend verschwand sie im Hauseingang. Justin schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Verdammt! Warum musste er sich in ihrer Nähe bloß ständig so dämlich aufführen? Mit einem langen resignierenden Seufzer ging er zu seiner Haustür hinüber, kramte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und wollte gerade aufschließen, als die Tür bereits eigenständig aufschwang. Sein älterer Bruder Gary, ein junger Mann mit hochgegeltem Haar und einem verschlagenen Blick, stand grinsend vor ihm – keinerlei Familienähnlichkeit mit dem arglos wirkenden Justin mit seinen rehbraunen Augen. „Justin ist verliiiiieebt!!“ Schnellstens drückte Justin ihm beide Hände auf den Mund und schob ihn ins Haus. Er schlug die Tür zu. „Ist es dir etwa peinlich?“, fragte Gary, weiterhin hämisch grinsend. „Ach halt die Klappe!“ „Nanana, unser Musterknabe sollte nicht so mit seinem großen Bruder reden!“ „Ich bin mittlerweile größer als du.“, entgegnete Justin. Das störte seinen Bruder herzlich wenig. „Ich bin ja froh, dass du überhaupt mal Interesse an einem Mädchen zeigst – auch wenn sie mir zu kindisch wäre. Ich dachte ja schon, du wärst schwul!“ Während Justins Blick sich zusehends verfinsterte, legte Gary ihm seinen Arm um die Schultern. „Sechzehn Jahre und noch keinerlei Erfahrung. Das glaubt einem ja keiner!“ In diesem Moment kam ihre Mutter in die Diele getreten. „Worüber unterhaltet ihr euch?“ „Nichts!“, antwortete Justin hastig. „Papa lässt dich grüßen!“ „Justin steht auf das Mädchen von den Nachbarn!“, schoss es aus Garys Mund. „Ach, die kleine Vivien!“, rief seine Mutter. „Sie ist wirklich sehr nett.“, meinte sie lächelnd. „Ein wenig eigen … Aber sehr nett.“ „Könnten wir bitte das Thema wechseln!“, bat Justin. „Aber natürlich.“, sagte seine Mutter in ihrer gewohnt ruhigen Art. „Also, als ich euren Vater kennengelernt habe…“ Reaktionsschnell rief Gary ein lautes „Ich geh in mein Zimmer!“ und düste in rasantem Tempo die Treppe hinauf. Justin starrte ihm hinterher, sah zurück zu seiner Mutter und lächelte verlegen. Ihre Mutter liebte es, in Erinnerungen zu schwelgen, daher kannten Gary und er ihre Geschichten schon bis zum Abwinken. „Ähm, ich…“, gab er stockend von sich. „würde mich dann ausruhen.“ „O natürlich.“ Seine Mutter nickte verständnisvoll. Er lächelte seine Mutter nochmals verlegen an und ging dann vorsichtig die Treppe hinauf, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass er vor ihr flüchten wollte. Er betrat sein Zimmer. Soweit man das heillose Chaos wirklich als solches bezeichnen konnte. Im ganzen Raum waren aller mögliche Krimskrams und unzählige verschiedene Bücher aufeinander gestapelt. Bücher über die Natur, über Naturwissenschaften, über Automobile und Eisenbahnen bis zu Lexika, Märchenbüchern und gewöhnlichen Romanen. Bei dem Umzug waren sämtliche Bücher in seinem Zimmer gelandet und bisher hatte sich keiner die Mühe gemacht, diesen Umstand zu beheben. Justin war darüber nicht sauer, denn zumindest hatte er jetzt ein eigenes Zimmer! Sich mit Gary einen Raum zu teilen, war eine ziemliche Qual gewesen. Vor allem, da Privatsphäre für Gary ein Fremdwort war. Justin setzte sich auf das Bett neben dem Fenster – das einzige nicht vollgestellte Möbelstück hier drin. Ohne darüber nachzudenken, schweifte sein Blick nach draußen und fiel direkt in ein Zimmer des gegenüberliegenden Hauses. Ein Kinderzimmer mit einem Etagenbett und einem einzeln stehenden, in das in diesem Moment Vivien mit ihren beiden kleinen Geschwistern gestürmt kam. Wie eine Wildkatze jagte Vivien ihren Geschwistern hinterher. Die beiden Kleinen, Kai, ein brünetter Junge von etwa zehn, und Ellen, ein blondes Mädchen von fünf Jahren, gingen prompt zum Gegenangriff über und stürzten sich gemeinsam auf ihre große Schwester. Lachend landete die ganze Meute auf dem weichen Teppich zwischen den Betten. Plötzlich stockte Ellen: „Vivien, da beobachtet uns einer!“, flüsterte sie ängstlich. Vivien schaute erst zweiflerisch, dann wurde ihr Blick mit einem Mal todernst. Sie sprach mit eindringlicher, gedämpfter Stimme. „Ja, das ist einer von der Kripo! Die hab ich angerufen und erzählt, ihr wärt kleinwüchsige Kriminelle, die mich und meine Eltern gefangen halten. Jetzt haben sie gesehen, wie ihr mich quält und gleich kommt ein Spezialeinsatzkommando, um mich zu retten!“ Sie funkelte ihre Geschwister düster an. „Das ist meine Rache dafür, dass ihr mir beim letzten Mal den ganzen Kuchen weggegessen habt!“ Mit einem Mal brach sie in boshaftes Gelächter aus, das sich beim Anblick der schockierten Gesichter ihrer beiden Geschwister alsbald in schadenfrohes Gekicher umwandelte. „Ich wusste die ganze Zeit, dass du lügst.“, sagte Kai mit vor der Brust verschränkten Armen. „Du bist ganz gemein! Da ist wirklich jemand!“, protestierte dagegen Ellen. Vivien stützte sich auf und schaute in halber Seitenlage aus dem Fenster. Schmunzelnd erkannte sie, dass es sich bei dem Späher doch tatsächlich um Justin handelte! Fröhlich winkte sie ihm zu, woraufhin der Junge sich mit hochrotem Kopf abwendete. Ellen kroch derweil zu ihr und stupste sie an. „Wer ist das?“ „Das ist einer der Leute, die mir helfen, die Welt zu retten!“, erklärte Vivien überzeugt. „Lügnerin!“, schrie Kai und startete mit Ellen sogleich einen lautstarken Kitzelangriff auf seine große Schwester. Das einzige, das Vivien rettete, war die Stimme ihrer Mutter, die zum Essen rief. Und weil es Freitag war, es also selbstgebackenen Kuchen gab, waren die beiden Schleckermäuler Kai und Ellen schneller nach unten gestürmt, als Vivien gucken konnte. Auf dem Rücken liegend, kicherte sie in sich hinein. Nochmals schaute sie zu Justins Zimmer hinüber und ein zärtliches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Dann erinnerte sie sich an das Gefühl von zuvor. Als sei etwas in ihr aufgeblüht, erweckt durch einen flüchtigen Klang. Wirklich seltsam… Vivien schüttelte den Gedanken ab. Wenn sie noch ein paar Kuchenkrümel abbekommen wollte, musste sie sich beeilen. Sie stand auf und blickte nochmals aus dem Fenster, doch Justin war nicht mehr zu entdecken und auf der Straße war nur ein silberner Audi mit Hannoveraner Autonummer zu sehen. Der Audi fuhr in den Osten Entschaithals, bis er im Mozartweg zum Stehen kam. Sogleich sprang die rechte Hintertür auf. Ein Mädchen in einem sportlichen weißen Kleid mit orangefarbenen Streifen an der Seitennaht schwang sich aus dem Autoinneren. „Endlich!“ Genüsslich streckte sie sich und sog eifrig die frische, angenehm kühlende Luft ein. Im Sonnenlicht schimmerte ihre taillenlange Haarpracht wie ein feiner Goldregen. Mit Vorfreude in den Augen drehte sie sich um. Ihr Vater war gerade aus der Fahrertür gestiegen und gönnte sich ebenfalls ein paar Streckübungen. „Tja Ariane, es dauert eben ein Weilchen von Hannover bis hierher.“ „Es wäre schneller gegangen, wenn du dich in Entschaithal nicht noch verfahren hättest.“, neckte ihn seine Frau von der anderen Wagenseite. „Wer von uns beiden kommt denn von hier?“, hielt Herr Bach entgegen. „Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, da vergisst man einiges.“, rechtfertigte sich Arianes Mutter. „Außerdem bist du doch schon letzte Woche hierher gefahren, um alles zu organisieren.“ Sie grinste ihn herausfordernd an. Ariane musste über die Neckereien ihrer Eltern schmunzeln. „Hauptsache, wir sind jetzt hier.“ Ihre Mutter trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. „Genau! Endlich wieder zu Hause!“ Arianes Vater öffnete den Kofferraum. „Hannover ist Arianes Zuhause!“, widersprach er. Ihre Mutter ließ von ihr ab und näherte sich ihrem Vater. „Sie ist in Entschaithal geboren.“ „Als wir umgezogen sind, war sie gerade mal ein Jahr alt!“, meinte Herr Bach, während er das Gepäck herausholte. „Na und?“ Ihre Mutter nahm ihm eine der Reisetaschen ab. „Daran kann sie sich gar nicht mehr erinnern!“, sagte er. „Das weißt du aber genau!“ Belustigt schüttelte Ariane den Kopf. „Ich frage mich, wie ihr beide zusammengekommen seid.“ Ihre Eltern sahen einander kurz an und antworteten dann in einem Anflug trockenen Humors. „Er hatte Geld.“ „Sie sah gut aus.“ Daraufhin musste Ariane lachen. „Und ich hatte schon befürchtet, ihr hättet aus oberflächlichen Gründen geheiratet!“ Ihre Eltern zogen unbedarfte Gesichter. „Wir doch nicht!“ Schließlich brach die ganze Familie Bach in ein Lachen aus. Ariane betrachtete das cremefarbene Haus mit den orangenen Dachziegeln. Keck lächelnd, wandte sie sich an ihren Vater. „Wo ist das Schloss?!“ Ihr Vater lachte. „So viel mehr verdiene ich hier auch wieder nicht.“ Ihre Mutter scherzte. „Da musst du dir wohl doch einen reichen Ehemann suchen.“ „Hey, hey!“, warf Herr Bach ein. „Meine Prinzessin braucht keinen reichen Schnösel, sie hat Köpfchen! Das schafft sie ganz allein.“ Er zwinkerte seiner Tochter zu. Ariane grinste über beide Ohren. „All die Schönheit verschwendet an jemanden, der sie nicht richtig einzusetzen weiß.“, lamentierte ihre Mutter. Ariane sparte sich einen Kommentar darauf. Während ihre Eltern bereits mit ihren Koffern zum Hauseingang liefen, blieb Ariane noch einen Moment stehen und sah sich um. Die hübschen Einfamilienhäuser entlang der Straße, die gepflegten Vorgärten voller Blumen und Gewächse, der Gehweg, mit Bäumen und Grünflächen verschönert. Ihre Mutter hatte mit ihren begeisterten Beschreibungen also doch nicht übertrieben. Dann hörte sie eine etwas lautere Gruppe Jungen in die Straße einbiegen. Sie schenkte ihnen keine Beachtung und machte sich daran, eine Tasche aus dem Kofferraum zu holen. Ein Pfiff drang an ihr Ohr. Sie sah auf und bemerkte, dass die Jungen auf der anderen Straßenseite stehen geblieben waren und sie unverhohlen anstarrten. Zu voller Größe aufgerichtet, warf sie ihnen einen kalten Blick zu. Doch statt die Jungen zum Weitergehen zu bewegen, hatte ihre Aufmerksamkeit nur den Effekt, dass die Jungen anfingen, ihr Anmachsprüche zuzurufen. „Hey Süße!!“ „Wie wär’s mit uns?“ „Hast du Lust auf ein bisschen Spaß?“ Zunächst bemüht, ihre Würde zu wahren, wandte sie sich wieder dem Kofferraum zu, aber als auch das nichts half, hielt sie es nicht länger aus: „Glaubt ihr wirklich, dass ein Mädchen darauf steht, wenn man ihr blöde Kommentare zuruft und ihr nachpfeift? Zur Info: Nein! Wir mögen das nicht!“ Die Jugendlichen starrten Ariane im ersten Moment perplex an, dann erschien eine Mischung aus Unglaube und Abscheu auf ihren Gesichtern. „Die hat sie doch nicht alle.“, sagte einer zu den anderen. „Voll die Gestörte.“, stimmte ein zweiter zu. Kopfschüttelnd liefen sie weiter und warfen ihr Blicke zu, als wäre sie gemeingefährlich. Ariane seufzte. Wieso kam sie sich jetzt so vor, als hätte sie sich falsch verhalten? Sie holte eine Tasche aus dem Kofferraum und lief auf die Haustür zu. Und sie hatte geglaubt, dass hier alles anders - Etwas durchfuhr sie, schlug Wellen in ihrem Inneren und brachte sie an einen Punkt, an dem sie glaubte, dass Wünsche tatsächlich wahr werden konnten. Was? Ariane wirbelte herum, suchte hektisch die Gegend ab. In ihren Ohren klang noch das Geräusch nach, ein Zusammenspiel klarer, hauchzarter Töne, ähnlich einem Glockenspiel. Dort! Für einen kurzen Moment glaubte sie, vor sich auf der Straße etwas Kleines, Leuchtendes zu erkennen. Sie blinzelte. Und verlor das Bild. Ihre Augen mussten ihr einen Streich gespielt haben. Auf der Straße war nichts. Die lange Autofahrt war vielleicht zu viel gewesen.   Kapitel 3: Der Angriff ---------------------- „Was unbegreiflich ist, ist darum nicht weniger wirklich.“ (Blaise Pascal, franz. Naturwissenschaftler) Mitten in der Nacht erwachte Justin. Ein merkwürdiges Geräusch hatte ihn aus den Träumen gerissen. Verschlafen blinzelte er und stützte sich auf seinen Ellenbogen. Sein Zimmer bestand aus dem gleichen Durcheinander wie eh und je. Seine Augen wanderten zum Fenster. Justin fuhr auf. Er schloss die Augen, versuchte, das Hirngespinst zu vertreiben, doch als er wieder aufsah, hatte sich an dem Anblick nichts geändert. In dem Zimmer des Nachbarhauses stand Vivien vor dem Etagenbett ihrer Geschwister, in den Händen eine Stehlampe, die sie schützend vor sich hielt. Dieser nicht unbedingt alltägliche, aber auch nicht sonderlich sensationelle Umstand stellte natürlich nicht die Ursache für Justins Schrecken dar. Es war das, was am anderen Ende des Raumes lauerte. Es waren zwei. Ihre faulig-grauen Körper glichen vermoderten Kadavern. Die Konturen gingen in lohende Schwaden über, als würde ein Teil von ihnen stetig verdampfen. Ihre Gesichter ähnelten auf groteske, entstellte Weise denen von Menschen. Fast wie Totenköpfe, über die graues, verdorbenes Fleisch gezogen worden war. Nasenknochen waren nicht vorhanden, ebenso wenig wie jedwede Behaarung. Ihre Zähne und Klauen erinnerten an Raubtiere. Justin riss sich von dem Anblick los, stürzte zu seiner Zimmertür, riss sie auf – erstarrte. Im Flur erwartete ihn bereits ein Trupp der gleichen Kreaturen. Vivien fiel das Atmen schwer. Der Übelkeit erregende Gestank der Angreifer hatte den gesamten Raum verpestet. Verzweifelt versuchte sie, die Monster durch das Hin- und Herschwenken ihrer ‘Waffe‘ auf Distanz zu halten. Doch es genügte ein einziger Hieb einer der Kreaturen, um ihr die Lampe aus den Händen zu schlagen. Vivien wich zurück. Mit letztem Mut breitete sie die Arme aus, um den Monstern den Weg zu ihren Geschwistern zu versperren – als hätte sie ihnen irgendetwas entgegenzusetzen gehabt. Einer der Angreifer grinste, soweit man die Verzerrung seiner Fratze so nennen konnte. „Brauchen wir nicht.“, grunzte die Kreatur. Die Erkenntnis, dass diese Wesen sprechen konnten, war für Vivien für einen Moment schockierender als der Inhalt des Gesagten. Dieselbe Kreatur gab einen wütenden Kampfschrei von sich, der Vivien zusammenzucken ließ. Im gleichen Moment sprang das Monstrum auf sie zu. Ehe Vivien überhaupt begriff, was vorging, hatte es sie mit seinen krallenbesetzten Armen gepackt und sein stinkendes Maul vor ihrem Gesicht weit aufgerissen. Es war jedoch kein Brüllen, das aus seinem Rachen kroch, sondern ein schwarzer Rauch, der sich wie etwas Lebendiges um ihr Gesicht legte. Vivien packte das pure Grauen. Doch schon beim nächsten Atemzug verlor sie das Bewusstsein. Justin hatte die Zimmertür zugeknallt und geistesgegenwärtig das Regal neben der Tür umgeworfen, um den Bestien den Weg zu versperren. Doch das würde sie nicht lange aufhalten. Er hastete in den hinteren Teil seines Zimmers, hin zum Fenster, sein Blick fiel erneut in das Zimmer von Vivien und ihren Geschwistern. Der Anblick von Viviens leblos am Boden liegenden Körper verbot ihm jeglichen weiteren Gedanken. Justin riss das Fenster auf, sah nochmals zurück zu seiner Zimmertür. Er erkannte, dass das Regal von den Stößen gegen die nicht abgeschlossene Tür immer weiter weg geschoben wurde. Es würde nicht mehr lange dauern. Vorsichtig kletterte er aus dem Fenster und hoffte, dass das Rankgerüst an der Hauswand sein Gewicht tragen konnte. Zum ersten Mal war er dankbar dafür, dass seine Mutter so versessen auf dieses Gerüst gewesen war, obwohl sie überhaupt keine Kletterpflanzen besaßen. Auch dass er es hatte anbringen müssen, schien jetzt von Vorteil zu sein. Hätte Gary die Arbeit übernommen, wäre es sofort unter ihm zusammengebrochen. So schnell er konnte, kletterte er nach unten, hörte nicht auf das unglückverheißende Knacken. Sein Herz raste. Dann spürte er, wie das Gerüst sich von der Hauswand löste. Er stürzte nach hinten. Langsam klärte sich Viviens Blick wieder, auch ihre übrigen Sinne nahmen erneut ihren Dienst auf. Aggressive Laute drangen an ihr Ohr. Ein Zischen, Knurren und Drohen, in das sich vereinzelt derbe Schimpfwörter mischten. Es lag eine Brutalität darin, die sie ängstigte. „Meister gesagt! Immun!“ Die Antwort kam in Form eines mordlüsternen Brüllens. Vivien sah in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Die beiden Kreaturen hatten sich in Kampfstellung begeben und zeigten einander Drohgebärden. Im nächsten Augenblick gingen sie aufeinander los. Vivien zögerte, rappelte sich auf – kurz wurde ihr schwarz vor Augen - dann rannte sie. Justin kämpfte mit dem stechenden Schmerz in seinem Rücken. Mit einem gequälten Gesichtsausdruck kroch er unter dem Gerüst hervor und humpelte auf das Nachbarhaus zu. Die automatische Beleuchtung sprang an. Die Haustür wurde aufgerissen. Jemand sprang ihm entgegen. Vivien fackelte nicht lange. Sie fragte nicht, wo Justin herkam oder was geschehen war. „Weg hier!“ Sie ließ ihm nicht die Zeit zu reagieren. Entschlossen packte sie ihn am Arm und zog ihn mit sich. Verfolgt vom Brüllen der Dämonen rannten die beiden in die Nacht hinaus. Der blasse Schein des Vollmondes fiel durch die offene Balkontür und tauchte Serenas Gestalt in fahles Licht. Unbemerkt schlüpfte ein Schatten wie ein lebendiges Wesen unter dem Türschlitz hindurch ins Zimmer. Ein weiterer folgte. Sie wuchsen zu dreidimensionalen Gestalten heran, ehe die dunkelgrauen Ungetüme ihr wahres Äußeres vollends wiederhergestellt hatten. Augenblicklich breitete sich der Gestank von Vermodertem aus. Gleichzeitig wurde Serena immer unruhiger. Ein piepsendes, schrilles Geräusch pochte in ihren Ohren und zerrte sie aus dem Schlaf, als wolle es sie warnen. Serena riss die Augen auf. Im gleichen Moment hätte sie sich gewünscht, es nicht getan zu haben. Der Anblick einer über sie gebeugten Bestie brannte sich in ihre Netzhaut. Sie wollte schreien – ihre Stimme versagte. Die Antwort des Dämonen war ein ohrenbetäubendes Brüllen, das sich anfühlte, als wolle es ihren Brustkorb zermalmen. Verfaulter Atem, wie zum Leben erweckte Friedhoftsluft, stob ihr ins Gesicht. Für einen Atemzug wollte Serena in eine Ohnmacht flüchten, doch ihr Körper ließ das nicht zu. Sie versuchte, sich aufzurichten, um dem Wesen irgendwie zu entkommen, doch hinter ihm entdeckte sie eine weitere, die direkt vor ihrer Zimmertür stand. Der Dämon gab ein Geräusch von sich wie ein schnaubendes Lachen. Dann schnappte es nach ihr. Sie kreischte auf und wich wimmernd in die Ecke ihres Bettes zurück. Hämisch grinsend, wandte sich das Scheusal an seinen Kumpanen: „Die Schwächste!” Dann kehrte es sich wieder seinem Opfer zu. Diese Augen! Schlangenhafte, tückische Augen, die von violetten Adern durchzogen waren und mordlüstern funkelten. Seine Kralle schnellte zu ihr. Entsetzt riss Serena ihre Arme vors Gesicht und kreischte. Eine Sekunde verging. Zwei. Nichts geschah. Hektisch nach Luft schnappend, öffnete Serena wieder die Augen, glaubte fast, einer Wahnvorstellung erlegen zu sein, dann schreckte sie abermals zusammen. Das abscheuliche Monstrum stand noch immer direkt vor ihr. Aus unerfindlichen Gründen hatte es mitten in der Bewegung gestoppt, war zur Salzsäule erstarrt. Mit Grausen erkannte Serena, dass seine Augen jedoch weiterhin umherkreisten, ehe sie ihre Beute wiedergefunden hatten. Unerbittlich hefteten sie sich auf sie, raubten ihr erneut den Atem. Jenseits ihrer Panik versuchte Serena wieder zu sich zu kommen. Zwischen dem Dämon und dem Bett war ein kleiner Platz frei. Sie schob sich an dem Monster vorbei aus ihrem Bett, stolperte, sah ängstlich zurück. Eine zweite Bestie stand hinter der ersten, war aber ebenso paralysiert. Serena stürzte weiter, hinaus auf den Balkon, nach links. Sie kletterte ungeschickt über das Geländer, stand nun auf dem Dach der Garage, sah nach unten. Viel zu hoch für sie. Hektisch sah sie sich in der Dunkelheit um. Die Bäume des Nachbargartens. Sie musste klettern. Sie spürte die Äste unter ihren Füßen, fürchtete sich abzustürzen. Die Höhenangst ihrer Kindheit kam in ihr hoch. Wieder schluchzte sie. Sie wollte das alles nicht. Sie klammerte sich an den Baum, suchte verzweifelt nach Halt. Dann kletterte sie einfach. Ein markerschütterndes Brüllen drang aus ihrem Zimmer. Vor Schreck ließ sie los und stürzte ab. Es war nicht hoch gewesen, aber sie wäre am liebsten liegen geblieben. Wimmernd kam sie auf die Beine und rannte los. Vitali schrie. Vergeblich versuchte er, sich gegen die Angreifer zur Wehr zu setzen, doch er hatte nicht nur durch die Überzahl der Feinde keinerlei Chance. Er wurde gegen eine Wand gedrückt. Weiße Punkte tanzten vor seinen Augen. Hilflos rang er nach Atem. „Lebend!”, unterbrach die zweite Kreatur, worauf der Angreifer in der Bewegung stoppte und Vitali achtlos zur Seite schleuderte. Er anwortete seinem Artgenossen mit einem hasserfüllten Brüllen. Die zweite Bestie lachte hämisch, es klang wie ein hysterischer Raucherhusten. „Meister dich abschlachten!” Die erste Kreatur bleckte zornig die Zähne. Vitali bäumte sich wieder auf. Alles tat ihm weh. Er fühlte sich wie eine Videospielfigur, die sich im blinkenden „Noch ein Schlag und ich bin tot“-Status befand. Und in diesem Zustand konnte man nur eins tun: Davonlaufen. Doch die Monster versperrten den Weg zur Treppe, dem einzigen Fluchtweg. Neben sich erkannte Vitali die Tür zum Bad, auf der anderen Seite die zur Abstellkammer. Er biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. „So leicht bin ich nicht zu besiegen!”, rief er. Doch seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren heiser und fast tonlos. Die Bestien wandten sich fauchend um. Vitali stürmte geradeaus und stieß die Tür zur Abstellkammer auf. Pfeilschnell folgten die Angreifer ihm. Gleich darauf fanden sie sich in einem stockfinsteren Raum mit allerlei Gerümpel wieder, doch von Vitali war keine Spur. Vitali hielt die Luft an, er hatte sich hinter der Tür versteckt und wartete auf den richtigen Moment. Auf die gleiche Weise hatte er als Kind seine Mutter ausgetrickst, als sie ihn zur Taufe seines Vetters in einen Anzug hatte stecken wollen. Die Monster taten einen weiteren Schritt in den Raum. Jetzt! So schnell er konnte, spurtete Vitali hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Augenblicklich konnte er das Gebrüll der Bestien vernehmen. Hektisch drehte er den Schlüssel um, eilte zur Treppe und rutschte auf ihrem Geländer hinab ins Erdgeschoss. Gut, dass seine Mutter das nicht hatte sehen können. Nicht mal die Erklärung, dass er von Monstern gejagt wurde, hätte sie gelten lassen. Mit einem Sprung kam Vitali unten an. Er hastete auf die Haustür zu und wollte hinausrennen. Abgeschlossen. Verdammt! Hätten diese Mistviecher nicht die Tür aufbrechen können! Vitali stürzte mit flatterndem Herzen zurück zur Garderobe, an der alle Schlüssel hingen. Vor Aufregung fiel ihm der Schlüssel von der Halterung auf den Boden. In Vitali verkrampfte sich alles. Er hörte ein heftiges Krachen im Obergeschoss. Diese Monster mussten die Tür zerschmettert haben. Wie lange würden sie noch bis zu ihm brauchen? Wo war nur dieser verfluchte Schlüssel! In der Dunkelheit konnte er ihn mit bloßen Augen nicht sehen. Halb den Verstand verlierend, tastete er den Boden ab, wollte vor Ärger schreien und vor Verzweiflung wimmern. Dann endlich spürte er das kalte Metall unter seinen Fingern. Durch einen weiteren Adrenalinschub noch an Kraft gewinnend, jagte er zur Tür zurück. Doch noch immer spielte sein Körper gegen ihn. Das Zittern seiner Hände dauerte an und war durch die Ausschüttung des Stresshormons noch verstärkt worden. Mit fahrigen Bewegungen versuchte er immer wieder, den Schlüssel in das Schloss zu stecken, vergeblich. In seine derben Flüche mischte sich das Geräusch eines Aufpralls hinter ihm. War einer seiner Verfolger von der Treppe gesprungen? Vitali zwang sich, sich nicht umzudrehen, während seine Angst ins Unermessliche wuchs. Er glaubte schon, den Atem des Ungeheuers im Nacken zu spüren und wandte mit dem Mut der Verzweiflung noch einmal sein letztes Quentchen Konzentration auf. Als die Bestien die Tür erreichten, war Vitali bereits entkommen. Ariane joggte weiter. Das fahle Licht der Straßenlaternen zog an ihr vorbei, wurde alle paar Meter von der Finsternis verschlungen. Sie hatte sich einen winzigen Vorsprung erarbeitet. Jedenfalls hoffte sie das. Hinter ihr waren keine Monster zu sehen, was durch die Dunkelheit allerdings nicht weiter verwunderte. Vielleicht hatten sie sie schon längst eingeholt und lauerten irgendwo in der dichten Schwärze, um sie im nächsten Moment anzugreifen. Nach Hilfe zu rufen, würde die Bestien sie nur noch schneller entdecken lassen. Kälte kroch an ihren bloßen, wunden Füßen hoch. Aber das war gerade ihr kleinstes Problem. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich gerade befand. Die Häuser und Straßen waren ihr fremd. So war sie einfach geradeaus gerannt, immer weiter, ungewiss, was sie am Ende des Weges erwarten würde. Kein öffentliches Gebäude, in dessen Eingang sie flüchten konnte, war in Sicht. Nirgends auch nur das geringste Lebenszeichen. Sie hatte schon an mehreren Haustüren sturmgeklingelt, doch niemand hatte reagiert. Vielleicht war es ohnehin aussichtslos, mitten in der Nacht als Fremde im Schlafanzug mit der Begründung, sie werde verfolgt, Einlass in ein Haus zu erhalten. Vor sich erkannte Ariane eine Baustelle und erinnerte sich vage daran, dass ihr Vater von einem Baugelände gesprochen hatte, direkt im Stadtzentrum neben seinem neuen Arbeitsplatz. Ihre Kräfte ließen langsam nach. Vielleicht gelang es ihr, hier ein Versteck zu finden. Sie erreichte das Gelände und sah sich um. Der Bau musste gerade erst begonnen haben. Überall standen Gerätschaften wie Bagger und Kräne. Vorsichtig ging sie ein Stück und versteckte sich hinter einem auf der Südseite platzierten Bagger. Sie bemühte sich, ihre Atemstöße unter Kontrolle zu bringen, um verdächtige Geräusche ausmachen zu können. Dann hörte sie es, hinter sich… Sie wirbelte herum und hätte dem Angreifer fast die Nase mit ihren Handteller zertrümmert, wäre ihr nicht im letzten Moment eingefallen, dass die Monster keine Nasenknorpel besaßen. Sie stoppte gerade noch in der Bewegung und sah sich einem hochgewachsenen, dünnen Jungen in ihrem Alter gegenüber. Ihre Hand war nur Zentimeter vor seinem Gesicht zum Stehen gekommen. „Was zum!“, stieß er aus und schreckte von ihr weg. Sie zog ihre Hand rasch zurück. „Was machst du hier?“, fragte sie. „Ich hänge gerne an einsamen Orten ab.“, sagte er mit entnervter Stimme. Ariane sah ihn irritiert an. „Natürlich nicht!“ Ein Geräusch aus Richtung Westen ließ beide aufhorchen. Sie sahen zwei Personen auf die Baustelle zu gerannt kommen. Ariane und Vitali warfen einander einen fragenden Blick zu. Dem Gesichtsausdruck des jeweils anderen nach zu urteilen, kannte keiner von ihnen die beiden Neuankömmlinge. „Hey!“, rief Vivien fröhlich, als sie und Justin den Baugrund erreicht hatte. „Öfter hier?“ Ariane und Vitali waren zu perplex, um darauf zu antworten. Justin wollte gerade eine Frage stellen, als Vivien in Richtung Süden zeigte. „Die Ich-will-gerettet-werden-Schlange wird ja immer länger.“, kommentierte Vitali. Das Mädchen stolperte mehr als es lief. Sein Wimmern war selbst aus der Entfernung zu hören. Schließlich verlor es endgültig das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Vitali fackelte nicht lang. Er rannte der Fremden entgegen. „Warte!“, rief Justin ihm noch hinterher, doch Vitali war nicht mehr aufzuhalten. „Versteckt euch.“, sagte er zu Vivien und Ariane. Die beiden schienen jedoch keine Befehle von ihm entgegen zu nehmen. Dann begriff er, dass die beiden etwas anderes fixierten. In der Ferne standen sie. Ihre schaurigen Konturen hoben sich auf groteske Weise vom Horizont ab, wie etwas, das so verkehrt war, dass selbst die Dunkelheit es nicht als Teil von sich akzeptierte. Animalische Angriffsschreie durchdrangen die Finsternis. Die Rotte jagte los. Ihrem menschenähnlichen Körperbau zum Trotz stürmten die Bestien auf allen Vieren auf ihre Beute zu. Serena hatte sich derweil wieder aufgerappelt und bewegte sich nun humpelnd und schluchzend fort. Ihr Blick war durch die Dunkelheit und ihre Tränen getrübt, sodass sie die fremde Gestalt, die auf sie zu gerannt kam, erst registrierte, als sie sie erreicht hatte. Einen Schreckenslaut ausstoßend, wollte sie flüchten. „Schnell!“ Vitali griff ohne große Reden nach ihrem Arm. Bevor sie reagieren konnte, hatte er ihren Arm um seine Schultern gelegt und rannte mit ihr los. Erneut erklang das Kampfgeschrei der Dämonen. Weiterlaufen! Mit Serena kam Vitali jedoch nicht schnell genug voran. Das funktionierte nicht. Er stoppte. „Wir müssen kämpfen.“ Serena starrte ihn fassungslos an. Im Licht der Straßenlaternen wurde ersichtlich, dass er weder die Statur noch eine geeignete Waffe hatte, um sich gegen diese Monster zu wehren. In diesem Moment erreichte Ariane sie. Ihr folgten Vivien und Justin. Serena wunderte sich, wo sie auf einmal alle herkamen. „Wir sind umzingelt.“, teilte Justin mit. Zum Verstecken war es längst zu spät. Aus allen vier Himmelsrichtungen strömten die Kreaturen. Je näher sie kamen, desto behutsamer wurden ihre Bewegungen. Langsam und vorsichtig pirschten sie sich an ihre Beute heran wie Raubtiere, die zum entscheidenden Sprung ansetzten. Die fünf drängten sich dichter aneinander, sahen zu, wie die übermächtige Horde sie immer enger einkreiste. Nur noch wenige Schritte. Die Bestien begannen Kreise um sie zu ziehen, als wollten sie einen grotesken Reigen um die fünf tanzen. Schließlich gingen ein paar von ihnen, die auf der zur Baustelle gelegenen Seite standen, beiseite und bildeten einen schmalen Gang. „Wir sollen da lang gehen.“, interpretierte Vivien. „Nicht mit mir!“, rief Vitali bestimmt und trat in einem Anflug von Heldenmut einen Schritt nach vorn. Er bereute es sofort. Eines der Wesen schnellte nach vorne und hätte ihn fast mit seinen Fangzähnen erwischt. Entsetzt sprang Vitali gerade noch rechtzeitig zurück und hätte dabei fast die anderen zu Boden gerissen. Keiner von ihnen leistete mehr Gegenwehr. Eng aneinander gedrängt gingen sie langsam durch die Reihe Dämonen. Sorge, dass sich die Bestien auf sie stürzen und sie bei lebendigem Leib verschlingen würden, machte ihre Bewegungen steif und abgehackt. Wie hypnotisiert stierten sie auf die Scheusale, im steten Wahn, jede Regung sei die letzte, die todbringende. Wieder verzog eine der Kreaturen ihre Fratze und spuckte stinkenden Geifer auf sie. Einen Schreckensschrei ausstoßend, blieb die fünfköpfige Gruppe reflexartig stehen. Ein weiteres Ohren zerfetzendes Brüllen durchfuhr jede einzelne Faser ihres Körpers, als wolle es ihre Knochen zum Bersten bringen. – Der Befehl weiterzugehen. Verstört torkelte das Menschenknäuel weiter. Der Weg führte sie direkt zurück auf die Baustelle. Als sie den Grund betreten hatten, immer noch eng aneinander gedrückt, nahmen die Kreaturen plötzlich einen größeren Abstand ein. Was… Jäh brach eine schwarze Masse aus dem Boden hervor. Die Substanz schoss wie eine Fontäne in die Höhe, traf sich über ihren Köpfen und formte dort eine feste schwarze Kuppel. Sie schrien, konnten nicht flüchten. Das Gebilde schrumpfte und die Wände und Decke kamen immer näher. Unversehens hob sich der Boden unter ihren Füßen. Des Gleichgewichts beraubt, stürzten sie um, prallten gegen die schwarzen Wände der inzwischen gebildeten Kugel. Kälte strömte auf sie ein. Sie wurden immer mehr aufeinander gepresst, fürchteten, zerquetscht zu werden. Endlich kam es zum Stillstand. Dann ein Ruck. Und die Kugel samt ihrer Gefangenen setzte sich in Bewegung. Kapitel 4: [Im Schatthenreich] Gefangen --------------------------------------- [[USERFILE=875728]]     Gefangen   „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.“   (Friedrich Schiller: „Wilhelm Tell“)     In der Kugel waren sie aufs Engste zusammengepfercht. Serena war bäuchlings gegen Vitali gedrückt, der mit dem Rücken gegen die Kugelwand stieß. Es war ihr nicht möglich, sich von ihm wegzustemmen, denn Vivien lag auf ihren Beinen und machte ein Zurückweichen unmöglich. Vitali konnte an dem Umstand genauso wenig ändern. Seine angezogenen langen Beine waren bewegungsunfähig, denn auf seinem linken Fuß lag Vivien, und hätte er versucht, sein rechtes Bein in eine andere Position zu bringen, hätte er einen der anderen getreten. Wen konnte er nicht genau sagen: Vivien oder Justin. Justin war auf der Vitali gegenüberliegenden Kugelseite rücklings gegen Ariane gedrückt. Sein Gewicht lastete bestimmt schwer auf ihr, doch er konnte nicht weiter nach vorne. Ariane ertrug dies in halb kniender Haltung, aus der sie sich ebenso wenig befreien konnte wie die anderen. Ein unheimlicher Dunst verlieh dem Innenraum einen leichenblassen Schein, doch die pechschwarzen Kugelwände verwehrten jegliche Sicht nach draußen. Arianes Stimme durchbrach die Stille. „Was machen die mit uns?“ Keiner der anderen antwortete. Schließlich rang Vitali sich zu Worten durch: „Die haben gesagt, dass sie mich nicht töten dürfen.“ „Schön.“, zischte Serena sarkastisch. „Für dich!“ „Er hat Recht.“, sagte Justin, „Wenn sie das gewollt hätten, hätten sie es eben schon tun können.“ „Aber was haben sie dann mit uns vor?“, wollte Ariane wissen. „Als wüssten wir das!“, schimpfte Serena. Vivien äußerte ihre Vermutung. „Sie bringen uns irgendwo hin.“ „Woher –“, setzte Serena an. Vivien unterbrach sie. „Die Kugel bewegt sich.“ Die anderen hielten inne und spürten nun auch die leichte vibrationsähnliche Regung des Innenraumes. Das Material der Kugelinnenfläche fühlte sich unter Arianes Händen fremd an, geradezu wie etwas Lebendiges. „Was ist das für ein Ding?“ „Ein extravagantes Fortbewegungsmittel.“, scherzte Vivien. „Findest du das etwa witzig!“, schrie Serena, wobei sie von ihrer Position aus, eher die Kugelwand als Vivien anschrie. Justin sprach in ruhigem Ton. „Das bringt uns nicht weiter.“ „Wir müssen hier raus!“, rief Vitali entschieden. „Wie denn?“, fuhr Serena ihn an. „Irgendwie halt!“, brüllte Vitali zurück Justin sah sich im Rauminneren um. Die Oberfläche war völlig gleichmäßig und glatt, kein Hinweis auf irgendeine Schwachstelle. „Wir könnten versuchen, gemeinsam gegen die Wände zu schlagen.“, sagte Ariane. Serena blieb pessimistisch. „Was soll das bringen?“ „Vielleicht kommen wir so hier raus.“, antwortete Ariane. „Wenn es so einfach wäre, dann –“ Vitali unterbrach Serena: „Halt einfach mal die Luft an und mach es einfach!“ Serena funkelte ihn wütend an. Justin stimmte zu. „Jeder schlägt dorthin, wo er hinkommt.“ Ariane zog ihre Arme, die ihr Gesicht bisher davor schützten, gegen die Kugelwand zu stoßen, zurück. Dadurch dass ihr Oberkörper gegen die Kugelwand gedrückt war, konnte sie allerdings nicht sehr weit ausholen. Vivien kam mit ihren Armen an die Kugelwand über ihrem Kopf, Justin an die links neben ihm. Vitali erreichte mit seinen Armen die seitlichen Kugelwände und mit seinen Ellenbogen die Wand hinter ihm. Serena stand es frei, den Bereich um Vitalis Kopf mit ihren Fäusten zu bearbeiten. „Auf drei.“, rief Vivien. „Eins… zwei… Drei!“ Aufgrund ihrer Körperlage trat Vivien mit ihren Füßen gegen die Wand statt mit den Armen zu schlagen. „Au!“, rief Serena, die das zu spüren bekam. „Tschuldigung.“, sagte Vivien, ohne mit dem Treten aufzuhören. „Schlagen!“, schrie Vitali Serena an. Sie blitzte ihn zornig an und ließ ihre Laune anschließend an der Kugelwand aus, wohlwissend, dass Vitali das zwangsläufig auch zu spüren bekam, da sie direkt neben seinem Kopf auf die Wand einprügelte. Auch die anderen bemühten sich nach Kräften. Sie schlugen und traten gegen die Kugel. Doch das Material schien viel zu hart zu sein, als dass sie irgendetwas hätten ausrichten können. Immer weiter hämmerten sie auf die Wände ein, bis sie kaum noch Kraft hatten. Plötzlich erklang ein fremdartiges Geräusch. Die fünf stoppten in der Bewegung. Ihr Atem war das einzige, das zu hören war. Dann geschah es. Mit einem Mal wurde die gesamte Wandoberfläche von Wellen überzogen, als habe die oberste Schicht sich verflüssigt. Die fünf wollten von der Wand zurückweichen, um nicht darin zu versinken, aber dazu fehlte ihnen die Bewegungsfreiheit. Schreckenslaute erfüllten den Raum. Hierauf ging die Oberfläche wieder in ihren ursprünglichen Zustand über. Sekunden verstrichen. Nichts geschah. „Was war das?“, fragte schließlich Ariane. Als Antwort diente ihr Justins erstickter Schrei. Ein Teil der schwarzen Masse war aus der Kugelwand auf ihn zugeschossen und hatte sich um seine Kehle gelegt. Panisch versuchte er, sie zu entfernen, doch sie dehnte sich bloß noch weiter aus und ging auf seine Hände über. Er bekam keine Luft mehr. „Justin!“, schrie Vivien. Ariane wollte ihm helfen, doch aufgrund ihrer Position konnte sie nichts ausrichten. „Was ist los?“, kreischte Serena, die nicht sehen konnte, was hinter ihr geschah, aber Vitali fluchte bloß. Er war zu weit von Justin entfernt. Serena schrie kurz auf. Mit einem entschiedenen Ruck hatte Vivien sich nach vorne gehievt und dabei ihr gesamtes Gewicht auf Serenas Beine verlagert. Sie hatte keine Zeit sich zu entschuldigen. Sie verrenkte sich, um Justin helfen zu können. Ariane löste sich aus ihrer bisherigen Position, jetzt da Vivien nicht mehr den Platz neben ihr einnahm. Sie drehte sich so, dass sie Justin in Augenschein nehmen konnte und erschrak. Die schwarze Substanz hatte sich von Justins Kehle über sein Kinn bis zu seinem Mund und seine Nase vorgearbeitet. Seine Hände waren ebenfalls davon bedeckt und bewegten sich nicht mehr. Schiere Angst sprach aus seinen braunen Augen. Unermüdlich versuchte Vivien das Zeug abzubekommen, aber es ging nicht! Die Panik in Justins Gesicht wuchs. Serena drehte sich umständlich zur Seite, um Vitali Platz zu machen. Die beiden sahen gerade noch, wie Justins Augen sich verdrehten. Ariane, Serena und Vitali stürzten vor. Ihre Arme ausgestreckt, um Justin zu befreien. Ihre und Viviens Hände fanden zusammen, ihre Herzen schlugen im Gleichtakt, waren eins. Daraufhin ging alles Schlag auf Schlag. Unter ihren Händen begann die todbringende Substanz zu strahlen. Ein grausig kreischendes Geräusch von sich gebend, verdampfte sie zu grauem Dunst, der umgehend verschwand. Noch ehe sie begriffen hatten, was geschehen war, ertönte ein Knacken um sie herum. Die gesamte Oberfläche der Kugel wurde in Sekundenbruchteilen von Rissen überzogen. Dann zerbarst die Kugel auch schon in tausend Einzelteile.   Kapitel 5: Unendliche Ebenen ---------------------------- Unendliche Ebenen „In der Not erst magst Du zeigen, wer Du bist und was Du kannst.“ (Emanuel Geibel, dt. Lyriker) Der vermeintliche Sturz ins Nichts endete so abrupt wie er begonnen hatte. Sie kamen auf einem fremden Boden auf und purzelten auseinander. Vivien zögerte nicht lange. Sie sprang sofort wieder auf, um sich um Justin zu kümmern. Die schwarze Masse war restlos verschwunden, aber Justin war noch immer nicht bei Bewusstsein. Sie berührte ihn an der Schulter. „Justin.“ Auch die anderen hatten sich wieder erhoben und sahen besorgt auf den Bewusstlosen. Vitali drängte sich vor. „Lasst mich mal.“ Ariane machte ihm Platz, in der Hoffnung, dass er sich mit Wiederbelebung auskannte. Vitali kniete sich neben Justin, beugte sich dicht über sein Gesicht und füllte seine Lungen mit Luft: „AUFWACHEEEEEN!!!!!!“ Ariane war zu perplex, um darauf zu reagieren. Serena dagegen explodierte: „Du Vollidiot! Du sollst ihn beatmen! Nicht anschreien!“ „Mach du das doch!“, gab Vitali patzig zurück. Serena wollte ihm gerade an die Gurgel gehen, als ein würgender Laut aus Justins Mund drang. Vivien half ihm, sich auf die Seite zu drehen. Er hustete lautstark. Einige Momente rang er nach Atem. Benommen sah er schließlich auf, als begreife er nicht, was passiert war. Ariane klärte ihn auf. „Die Kugel ist zerbrochen und wir sind hier gelandet.“ Seine Stimme klang schwach. „Wo genau ist hier?“ Für die Beantwortung dieser Frage hatten sie bisher noch keine Zeit gefunden. Wie auf Befehl ließen sie nun ihre Blicke um sich schweifen. Sie befanden sich in einem breiten Gang. Die Wände bestanden wie der Boden aus einem harten kunststoffähnlichen Material. Ein taghelles, künstliches Licht, das von der Luft selbst transportiert zu werden schien, verlieh der gesamten Umgebung eine kränkliche Blässe. Jegliche Abwechslung in Form oder Farbe existierte hier nicht. Nicht einmal Schatten durchbrachen den monotonen Anblick. Weder die Wände noch die fünf selbst warfen welche. Die Atmosphäre war steril und erinnerte an ein Krankenhaus oder einen Sezierraum. Doch die erschreckendste Erkenntnis war, wohin der Weg führte – ins Endlose. Geradeaus und nach hinten verlief er in eine undefinierbare Weite und wurde dabei alle paar Meter von anderen Wegen gekreuzt. „Es gibt gar kein Ende.“, sagte Ariane fassungslos. Vitali sprang auf und rannte zum Ende des Ganges. „Du Idiot!“, schrie Serena. „Wenn dich jemand sieht!“ Ariane verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass das Geschrei von Serena und Vitali ohnehin längst jeden im Umkreis von hundert Metern auf sie aufmerksam gemacht haben musste. Vitali reagierte nicht. „Hey!“, versuchte Serena seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ariane wandte sich vorsichtig an sie. „Du könntest etwas leiser sein.“ Serena funkelte sie zornig an. Vivien verließ Justins Seite und gesellte sich zu Vitali. Das gesamte Gebiet war eine ewige Wiederholung an Wegen, von denen jeder ins Unendliche lief. Unzählige Gänge, die genauso aussahen wie der, in dem sie sich wiedergefunden hatten, folgten in alle Richtungen aufeinander. Sie drehte sich zu den anderen. „Das ist eine unendliche Ebene.“ Daraufhin trat auch Ariane zu ihnen, um die Umgebung in Augenschein zu nehmen. „Was zum Henker soll das?“, rief Vitali. „Was ist das hier?“ Ariane sprach in mitfühlendem Ton. „Vielleicht gelten hier andere Regeln als in unserer Welt.“ „Das waren doch keine Außerirdischen!“, schimpfte Vitali. Vivien klang ungewöhnlich heiter. „Also ich bin auch der Ansicht, dass das eindeutig mutierte Kellerasseln waren!“ Vitali warf ihr einen irritierten Blick zu. Justin meldete sich zu Wort: „Was auch immer das für Wesen sind, wir sollten ihnen kein zweites Mal begegnen.“ „Großartige Idee!“, rief Serena sarkastisch. „Und wie sollen wir das machen? Wir haben keine Ahnung, wo wir hier sind!“ „Das Wichtigste ist, dass wir zusammenbleiben.“, sagte Justin. „Klar, dann steigt unsere Überlebenschance von null auf ein Prozent!“, höhnte Serena. Vitali fuhr sie an. „Deine schlauen Kommentare helfen da auch nicht!“ „Tut mir leid, Mister Ich-kann-es-allein-mit-einer-Horde-Monster-aufnehmen!“, giftete Serena zurück. „Hört doch bitte auf zu streiten.“, unterbrach Ariane die beiden. „Wir müssen jetzt an einem Strang ziehen, sonst haben wir keine Chance.“ „Die haben wir doch so oder so nicht.“, zischte Serena. Vitali wurde wieder laut. „Dann kannst du ja hier hocken bleiben und darauf warten, dass dich wieder jemand rettet!“ Plötzlich begann Vivien, auf und ab zu springen und wild mit den Armen zu wedeln, als müsse sie in einer Menschenmenge auf sich aufmerksam machen. „Monsteeer! Hallooo! Wir sind hiiiier!“, rief sie. „Bist du irre?“, schrie Serena. Vivien stoppte und sah unschuldig zu Serena und Vitali. „War das nicht euer Plan?“ Serena und Vitali verstanden nicht. „Na, die Monster mit dem Geschrei herzulocken.“, erklärte sie lächelnd und erreichte damit, dass die beiden endlich Ruhe gaben. Ariane wusste nicht, ob sie davon beeindruckt oder verstört sein sollte. Justin ergriff das Wort. „Wir werden jetzt gemeinsam loslaufen.“ Wie um seine Worte zu untermauern, stand er auf – schwer darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie viel Kraft ihn das kostete. „Einverstanden?“ Keine Widerworte. Ariane sprach leise. „Nur wohin? Es sieht überall gleich aus.“ Vivien lächelte. „Dann ist es ja egal, wo wir lang gehen.“ Justin nickte. „Macht euch nicht so viele Gedanken. Das ist sicher nur ein optischer Trick. Wir laufen einfach solange in eine Richtung, bis wir ein Ende gefunden haben.“ Er atmete tief ein. Die Luft war abgestanden und trocken. Sie besaß einen eigentümlichen Geruch nach … Trostlosigkeit. Anders konnte man es nicht beschreiben. Als sei dieses Gefühl der Grundbestandteil dieses Ortes. Vivien tat ein paar Schritte auf Justin zu und streckte dann den anderen ihre Linke entgegen. Keiner reagierte. „Es ist besser, wir nehmen uns an den Händen.“ Sie griff mit der Rechten nach Justins Hand. „Dann habt ihr weniger Angst.“ Serena verkniff sich einen bissigen Kommentar. Als würde davon die Angst weg gehen. Bei Justin dagegen bewirkte Viviens Geste tatsächlich eine kurze Ablenkung. Er hoffte inständig, sie würde nicht bemerken, dass seine Hand angesichts ihrer Berührung anfing zu schwitzen. Ariane rang sich ein Lächeln ab. Dann begriff sie, dass sie zwischen Vitali und Serena stand – zwei Personen, die sie lieber so weit wie möglich voneinander entfernt platziert hätte. Aber diesen Gedanken laut zu äußern, barg die Gefahr, eine weitere Diskussion auszulösen. „He.“, sagte Vivien und Ariane erkannte, dass sie sie dabei ansah. „Könntest du auf Justins andere Seite gehen?“ Ariane stockte. Wenn sie nun den Platz zwischen Serena und Vitali verließ, würde sicher wieder ein Streit ausbrechen. Vivien wandte sich an Serena und Vitali. „Ihr seid doch ein gutes Team. Deshalb solltet ihr zusammen laufen.“ Serena und Vitali zogen ungläubige Grimassen. Ariane war fassungslos. Es war doch offensichtlich, dass genau das Gegenteil der Fall war! Viviens Blick traf sie. „Denkst du nicht auch?“ Oh nein, wieso wurde sie nun mit hineingezogen?. Sie wusste beim besten Willen nicht, worauf das hinauslaufen sollte. Und wieso spürte sie nun Serenas und Vitalis Blicke auf sich? Wenn sie widersprach, dann bestätigte sie auch noch, dass diese beiden sich nicht verstanden. Wenn sie zustimmte, konnte das aber auch dazu führen, dass die beiden sich lautstark zu Wort meldeten. Anstatt etwas zu antworten, verließ Ariane ihren Platz und trat an Justins Seite. Zumindest war sie hier davor sicher, von weiteren Blicken traktiert zu werden. Serena und Vitali schauten einander finster an. Dann wandten sie sich gleichzeitig ab und stöhnten entnervt. Ohne weitere Diskussion nahmen sie sich schließlich bei der Hand. Vivien kicherte. Weiter und weiter liefen die fünf. Sie wussten nicht, wie lange sie schon gingen, doch es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor. Als wären sie in einer Zeitschleife gefangen, in der das sich doch nicht ändern wollende Bild dieses Ortes an ihnen vorüberzog, ohne dass sie sich je vom Fleck gerührt hätten. Je länger sie liefen, desto aussichtsloser wurde ihre Suche, desto sinnloser fühlte sich jeder Schritt an. Und die Tatsache, dass der Angriff sie um ihren Schlaf betrogen hatte, machte sich allmählich bemerkbar. „Vielleicht… ist das ja nur eine Wahnvorstellung.“, brachte Ariane vor. „Eine ziemlich realistische, wie?“, zischte Serena. Ariane versuchte, ihre Idee zu erklären. „Vielleicht haben wir Halluzinogene eingeatmet. Diese Monster hatten diesen strengen Geruch. Vielleicht war das in Wirklichkeit eine Art Gas.“ „Klar doch.“, höhnte Serena. „Als würden Leute, die über so etwas verfügen, fünf unbedeutende Jugendliche entführen.“ „Wir fünf haben uns auf der Baustelle getroffen. Vielleicht sind noch mehr Leute angegriffen worden.“, gab Ariane zu bedenken. Serenas Stimme triefte vor Spott. „Und diesen unendlichen Raum bilden wir uns auch nur ein.“ Justin verteidigte Ariane. „Ich finde die Idee nicht so abwegig. „Nicht abwegiger als ein unendlicher Raum.“, ergänzte Ariane. „Alle mal herhören!“, unterbrach Vivien und blieb stehen. „Wer große schwarzgraue Monster gesehen hat, die wie verfaulende Leichen aussehen und riechen, der hebe bitte die rechte Hand!“ Sofort streckte sie ihren Arm in die Höhe. Die übrigen verstanden nicht, was sie damit bezweckte, aber Vivien sah sie so auffordernd an, dass sie schließlich ihrer Bitte nachkamen. Fünf Hände ragten in die Höhe. Vivien nickte überzeugt. „Wenn das nur Einbildung wäre, hätte sich wahrscheinlich jeder was anderes vorgestellt.“ „Nicht wenn diese Entführer Kostüme anhatten, die wir nur wegen der Halluzinogene für echt hielten.“, wandte Ariane ein. „Wozu das alles?“, wollte Vitali wissen. Justin rief zur Ruhe auf. „Wir sollten uns jetzt auf andere Dinge konzentrieren. Wer und warum ändert nichts an unserer Situation.“ „Aber wenn wir wüssten, warum wir angegriffen wurden, könnten wir vielleicht herausfinden, was die mit uns vorhaben und könnten –“ Ariane unterbrach sich. Ja, was könnten sie dann? Mit den Geiselnehmern verhandeln? Sie wandte sich an die anderen. „Sind eure Eltern reich oder sonstwie einflussreich?“ Die anderen schüttelten nur ihre Köpfe. Ariane seufzte. „Lasst uns einfach weitergehen.“, schlug Justin vor. Serena verkniff es sich zu sagen, dass das auch nichts brachte. „Verdammt, ich hab keinen Bock mehr.“, schimpfte Vitali. „Es muss doch ein Ende geben!“ Er ließ von Serenas Hand ab und rannte los. Geduld war ganz und gar nicht seine Stärke, erst recht nicht in dieser Situation. Er musste so schnell wie möglich ein Ende finden, zumindest eine Wand, um ein Ziel zu haben. Diese Monotonie, die ständige Wiederholung an diesem Ort, machte ihn wahnsinnig. Die anderen beschleunigten ebenfalls, mit Ausnahme von Serena. Diese stieß einen Fluch aus. Wie sie Sport hasste! Dann rannte sie hinterher. Doch nach wenigen Metern ging ihr bereits die Puste aus. „Hey!“, rief sie den anderen nach. Justin und die Mädchen begriffen, dass Serena hinter ihnen zurückgeblieben war und hielten an. Nur Vitali war von seinem Ziel nicht mehr abzubringen. Er überhörte einfach die Rufe der übrigen und spurtete weiter. In seinem Kopf ratterte es. Sie waren jetzt sicher schon mehrere Kilometer gelaufen, immer in die eine Richtung, ohne vom Kurs abzuweichen. Wie wahrscheinlich war es, dass sie sich in einem so überdimensional großen Gebäude befanden? War es überhaupt ein Gebäude? Er konnte keinerlei Luftzug spüren. Damit schied die Möglichkeit aus, dass es sich um ein offenes Gelände handelte. „Schaut!“, hörte er Viviens Stimme rufen. Daraufhin stoppte er und drehte sich um. Der Rotschopf zeigte nach oben. Verwundert folgten er und die anderen Viviens Blick und entdeckten – nichts. In der weiten Höhe war keine Zimmerdecke vorzufinden, genauso wenig ein freier Himmel. Absolute Schwärze, durchzogen von feinen Fäden, dehnte sich über ihnen aus. Diese feinen Fäden, so dünn wie Spinnweben, waren der obere Abschluss von hellen Abgrenzungen, die das Areal in unzählige Abschnitte teilten. Zum Boden hin wurden die Abgrenzungen durchsichtig, so dass die fünf sie bisher nicht gesehen hatten. Folgte man ihrem Verlauf, erkannte man, dass sie jeweils eine Wand der Gänge einschlossen. Wenn man es genau besah, dann wirkte es, als sei das Ganze nur ein geschickter Spiegeltrick. Als seien um eine Wand vier Spiegel aufgestellt, wodurch eine unendliche Reihe an Wänden entstand, die sich zu Gängen und Wegen zusammenfand. Nur dass diese Spiegelungen Realität waren. „Was soll das?“, fragte Vitali, der wieder zu ihnen zurückgejoggt kam. „Das ist eine Spiegelung.“, sagte Vivien. „Hä?“, machte Vitali. Vivien erklärte. „Der ganze Raum besteht aus diesem kleinen Abschnitt, der immer wieder kopiert wird.“ „Das macht doch gar keinen Sinn!“, rief Vitali. Ariane fasste sich an die Stirn. Sie ging in die Gasse rechts von ihnen und ließ sich zu Boden sinken. „Das heißt, wir können hier ewig weiterlaufen.“, „Das kann nicht sein!“, rief Vitali. „Lasst uns eine Pause machen.“, sagte Justin. Vitali wollte sich nicht beruhigen. „Was soll das heißen? Spiegelungen sind nicht echt!“ „Wenn du es noch oft genug sagst, richtet sich der Raum vielleicht danach!“, sagte Serena. Die Bissigkeit in ihrer Stimme war Erschöpfung gewichen. Vitali fluchte, während die anderen sich zu Ariane gesellten. Nicht einmal Justin hatte noch die Kraft und den Mut, den anderen gut zuzureden. Die Lage schien aussichtslos und er konnte nichts daran ändern. Apathisch starrte er zu Boden. Plötzlich erschien Viviens grinsendes Gesicht in seinem Blickfeld. Sie war in die Hocke gegangen und strahlte ihn nun von unten fröhlich an. Mit einem Lächeln auf den Lippen setzte sie sich dann zu Ariane auf den Boden und forderte die anderen dazu auf, es ihr gleich zu tun. Etwas unwillig trat Vitali ebenfalls in den Gang und setzte sich. „Lasst uns ein Spiel spielen!“, rief Vivien gutgelaunt. Wortlos und ungläubig starrten die anderen sie an, als spräche sie eine andere Sprache. „Was haltet ihr von Em-pom-pi?“ Sie machte einen kurzen Rundumblick. „Ist ein etwas ungeschickter Ort für Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Serena platzte der Kragen. „Falls du’s noch nicht gemerkt hast: Wir sind gefangen! Und werden verdammt noch mal hier drin verrecken!“ Davon unbeeindruckt, lehnte sich Vivien gegen die Wand hinter sich und streckte sich genüsslich. „Verlieren tut nur der, der aufgibt. Ich weiß noch nicht, wie genau wir es machen, aber wir werden auf jeden Fall hier rauskommen.“ Sie lächelte zuversichtlich. „Wir haben es doch auch aus der Kugel geschafft.“ Ihr Grinsen ging Serena gehörig auf die Nerven. „Was, wenn wir genau hier landen sollten?“, brachte Ariane vor. „Die Kugel ist vielleicht gewollt genau in dem Moment zersprungen.“ Vivien ließ sich nicht beirren. „Selbst wenn. Wir haben es irgendwie geschafft, Justin von diesem schwarzen Zeugs zu befreien. Es wird einen Grund geben, warum gerade wir fünf entführt wurden. Bestimmt hat das was damit zu tun.“ Ariane machte ein verwirrtes Gesicht. „Wie meinst du das?“ „Wir haben Kräfte!“, sagte Vivien. Vitali rief: „Wie Superman?!“ „Wie Sailor Moon.“, meinte Vivien scherzhaft. Allerdings waren die anderen alles andere als zum Spaßen aufgelegt. Niedergeschlagenheit und Resignation hatten die Übermacht über ihre Gedanken erlangt. Die Unendlichen Ebenen verrichteten ihre Arbeit zuverlässig. Justin sah abwechselnd zu Vivien und den anderen und blickte dann wieder zu Boden. Der Gedanke an das Gefühl, von dem er am Mittag heimgesucht worden war, war ihm plötzlich wieder in den Sinn gekommen. Er holte tief Luft und ergriff schließlich das Wort: „Möglicherweise hat sie Recht.“ „Echt jetzt?“, rief Vitali. Vivien sprach weiter. „Die Monster haben unsere Familien betäubt, aber bei uns ging es nicht.“ „Wie kommst du darauf?“, fragte Ariane. „Sie haben was davon gesagt, dass jemand immun ist, ich denke, sie meinten -“ Abrupt brach Vivien ab. Ein widerlicher Geruch war ihr in die Nase gestiegen. Serena forderte sie auf weiterzureden: „Was?“ Vivien legte den Zeigefinger an ihre Lippen. Vorsichtig stand sie auf und drückte sich dicht gegen die Wand hinter sich. Mit einer drängenden Handbewegung forderte sie die anderen auch dazu auf. „Wenn das eines ihrer bescheuerten Spiele sein soll, dann werd ich diesen Monstern die Arbeit abnehmen.“, knurrte Serena. Die vier folgten Viviens Aufforderung so lautlos wie möglich. Gebannt horchten sie dann auf etwas, das die seltsame Reaktion Viviens rechtfertigen konnte. Im gleichen Atemzug schnürte Angst ihnen die Brust zusammen. Rechts hinter ihnen erklangen schwere Schritte. Schnell kamen sie näher und zogen ein angsteinflößendes Hallen nach sich. Ein Grunzen und Keuchen verwandelte sich in bösartiges Knurren. Ihre Herzen randalierten wie im Wahn. In Kürze würde die Bestie sie entdeckt haben. Immer näher kamen das Geräusch und der Gestank. Mit aller Macht versuchten sie, keinen Laut von sich zu geben, doch ihre mit jeder Sekunde wachsende Angst arbeitete gegen sie. Angst, die sie lähmte, jeglichen Verstand ausschaltete und danach lechzte, in einem panischen Schrei aus ihnen herauszubrechen. Plötzlich verstummten die Geräusche. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Dann hörten sie, wie sich die Schritte in die entgegengesetzte Richtung entfernten… Sie waren gerade im Begriff aufzuatmen, da fuhr ihnen ein mehrstimmiges Brüllen durch Mark und Bein. Es ging zu schnell, als dass sie sich der Situation hätten bewusst werden können. Von den Wänden um die fünf herum stürzte sich eine ganze Horde der Bestien. Weitere jagten von beiden Seiten her auf sie zu. Keine Chance auf Entkommen. Ihre Schreie hallten durch die Unendlichen Ebenen. Dann war es vorbei. In der Dunkelheit regte sich etwas. Langsam baute sich die Gestalt wieder zu voller Größe auf. Zeitgleich loderten aus der Schwärze blaue Flammen empor und warfen einen schauerlichen Schein auf das Antlitz des schwarzhaarigen Jungen. Seine grünblauen Augen starrten ausdruckslos in die Leere. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben schlenderte er etwas unbeholfen an der Mauer aus altem Gestein entlang. Ein dichter finsterer Schleier überzog seine Aura und wurde in pulsierendem Rhythmus von etwas Unbekanntem durchzuckt, als wolle dieses Etwas aus ihm hervorbrechen. Kapitel 6: Die Verwandlung -------------------------- Die Verwandlung „Was hinter uns liegt und was vor uns liegt, ist unbedeutend im Vergleich zu dem, was in uns liegt.“ (Ralph Waldo Emerson, US-amerik. Philosoph) Licht, Wärme, Geborgenheit, Ein Gefühl von Vollkommenheit und Verstehen Durchflutete Körper und Seele der Auserwählten Für den Hauch eines Nichts, Und gleichzeitig eine Ewigkeit. Die Augen nun offen: Was war geschehen? Ein Glitzern und Schimmern, Ein Zauber, ein Glanz War sichtbar, umgab sie und verschwand. Ihre Sinneseindrücke verschmolzen zu einer neuen und doch vertrauten Sinfonie. Der Glanz, der sie eingehüllt hatte, verflüchtigte sich sachte wie ein Schleier und gab den Blick auf den Gang frei, in dem sie zuvor gestanden hatten. Es war, als wären die Bestien dem zauberhaften Schein gewichen, ersetzt von fünf seltsamen Lichtern vor ihnen. Dasselbe Gefühl. Es war dasselbe Gefühl, das sie am vergangenen Mittag verspürt hatten, nur noch intensiver. Als ob diese farbigen Lichter etwas in ihnen riefen. Etwas, das tief in ihrem Inneren verborgen lag und sich danach sehnte, ans Tageslicht zu treten, um sich frei zu entfalten. Sie verspürten das innige Verlangen, die Erscheinungen zu berühren. Dieser Drang lenkte ihre Bewegungen, und so streckten sie instinktiv ihre Hände nach dem ihrigen Licht aus. Sekundenbruchteile vor der Berührung materialisierten sich die leuchtenden Objekte: Fünf Kugeln. Mit funkelnden Edelsteinen besetzt, mit fremdartigen, prächtigen weiß- und gelbgoldenen Verzierungen geschmückt, erstrahlten in unterschiedlichen Farben. Wie einem Ruf ihrer Seele folgend, fanden ihre Finger ihre Kugel. Das gesamte Areal wurde von einem sanften Licht durchflutet. Aus den mysteriösen Schmuckstücken strömte, schneller als ein Mensch ihm hätte folgen können, eine Woge an Elementarteilchen und Energie, die sich um die Körper der fünf legte und dort ein Netz aus Verbindungen bildete. Die Struktur verdichtete sich bis sie sich zu einer sonderbaren Tracht gewandelt hatte. Ein Duft und doch keiner. Ein zarter Klang und doch nichts. Ein lebendiger Hauch um sie herum. Sanftes, wärmendes Licht. Sie atmeten tief ein. Es floss in ihr Inneres durch ihre Adern, durchdrang jede einzelne Faser ihres Körpers. Dann fühlten sie etwas tief in sich. So eindeutig, so klar, dass ihnen fast die Tränen kamen, weil sie es nie zuvor sahen, obwohl es immer da. Als die fünf wieder ihre Augen öffneten, fühlten sie sich, als würden sie aus einem langen Traum erwachen. Noch nicht ganz in die Realität zurückgekehrt, die Sinne noch benebelt. Dann hatten sich ihre Körper auf den ungeahnten Energieschub eingestellt. In jenem feierlichen Moment kam kein Wort über ihre Lippen. Zu überwältigt waren sie von den Eindrücken. Aller Schmerz war verschwunden, ihre Blessuren waren von einem Moment auf den anderen geheilt. Wie bezaubert betrachteten sie die wundersame Kleidung. Sie war angenehm auf der Haut, und machte jede Bewegung bereitwillig mit. Die Oberfläche wirkte dagegen sehr strapazierfähig, fest und fast hart, obgleich sie sich nicht so anfühlte. Ein eigentümlicher Glanz ging von ihr aus, der jedoch augenblicklich verschwand. Im gleichen Moment nahm die Kleidung von jedem von ihnen eine andere Farbe an. Sie atmeten tief ein und aus, noch überwältigt von ihren Gefühlen. „Weg hier!“, schrie Justin plötzlich aus voller Kehle. Vor lauter Staunen war es keinem von ihnen es aufgefallen – der Boden hatte begonnen, sich zu verflüssigen. Unter ihren Füßen war die gesamte Fläche in einen schleimartigen Zustand übergegangen und sie sanken bereits darin ein. „Hier lang!“, befahl Justin, um nicht zu riskieren, dass sich die Gruppe versehentlich entzweite. Allerdings erkannte auch er nicht, wo der Boden überhaupt noch fest war. Panisch wateten sie schnellstmöglich dem Ende der Gasse entgegen. Doch bei jedem Schritt sanken sie noch tiefer in die schleimige Masse. „Nehmt euch an den Händen!“, rief Vivien. Die Mädchen bildeten eine Kette und schlossen sich den Jungs an. Das Gehen fiel ihnen bei jedem Schritt schwerer. Die zähflüssige Masse glich Treibsand und würde sie in kürzester Zeit verschluckt haben. Vivien, die Kleinste von ihnen, war bereits bis zur Hüfte eingesunken und konnte sich kaum noch voran bewegen. „Wartet! Sie schafft das nicht!“, schrie unerwarteter Weise Serena. Sofort legte Ariane Viviens Arm um ihre Schultern und versuchte, sie herauszuziehen. Der Versuch blieb jedoch ohne Erfolg. Und wieder verloren sie kostbare Zentimeter. „Bleibt stehen!“, rief Justin plötzlich. Er verfluchte sich selbst. Warum war ihm nicht vorher eingefallen, dass man sich in Treibsand nicht bewegen sollte? Sie befanden sich nun auf einer der Kreuzungen. „Und jetzt?“, wollte Vitali wissen. Ariane sah sich hilfesuchend um: „Hier gibt es nichts, an dem wir uns heraushangeln könnten.“ Sie spürte, wie die breiartige Masse sie weiter nach unten sog. „Retten wird uns auch keiner.“, sagte Vitali. Vivien war mittlerweile bereits bis zur Taille eingesunken. Das Stehenbleiben verlangsamte den Vorgang bloß, hielt ihn aber nicht auf. „Das bringt nichts!“, rief Vivien. „Wir müssen da vor!“ Sie zeigte auf das Ende der vor ihnen liegenden Gasse, wo sie festen Grund zu erkennen glaubte. „Das schaffst du nicht!“, protestierte Justin „Bevor wir dort sind, bist du versunken!“ Ohne auf seinen Kommentar einzugehen, ließ Vivien von Ariane ab und spurtete los, beziehungsweise versuchte es. Tatsächlich war es ein harter Kampf überhaupt voranzukommen, und bereits nach dem vierten Schritt war sie bis zur Brust in die Masse eingetaucht. Dennoch versuchte sie, nun eher schwimmend, voranzukommen. Die anderen folgten ihr. Vitali, der Größte von ihnen, watete neben sie. „Halt dich an mir fest.“, schlug er Vivien vor. Sie nickte und schlang ihre Arme um seine Taille. Justin machte Vitali und Vivien Platz, die tapfer an ihm vorbei wateten. Für einen flüchtigen Augenblick bedauerte er, dass nicht er auf Vitalis Idee gekommen war. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Wichtig war, dass sie aus diesem Treibsand herauskamen. Vitali schimpfte innerlich. Vivien war zwar klein, aber nicht die Leichteste. Sie mochte zwar ihr Bestes geben, um ihn zu unterstützen, aber der Kampf gegen den Sog dieser Substanz war mit ihr doppelt so schwer. Dennoch würde er nicht aufgeben. Ariane wandte sich kurz zu Serena um, die das Schlusslicht der Gruppe bildete. Bisher hielt sie einigermaßen Schritt. Den Blick zurück nach vorne gerichtet, erkannte Ariane, dass Vitali und Vivien sich vor gekämpft hatten und nicht mehr weit vom Ziel entfernt waren. Dies war auch bitter nötig, denn die Bodenmasse stand Vivien bereits bis zum Kinn, Ariane blinzelte. Hatte sie gerade einen Schatten über den rettenden Boden huschen sehen? „Was ist?“, erkundigte sich Serena, die Arianes Langsamerwerden vor sich registriert hatte. „Nichts. Ich dachte nur,...“ Ariane brach mitten im Satz ab. Der Angriff. Die Schatten. Aus Leibeskräften schrie sie. „Vorsicht!“ Es war zu spät. Der Schatten wuchs zu seiner wahren Gestalt heran. Das Monstrum ließ einen Kampfschrei los, der die Schreie der fünf übertönte. Vitali wich instinktiv zurück. Dadurch wurde Vivien jedoch noch tiefer in die zähe Flüssigkeit getunkt. Die Bestie sprang. Gerade noch rechtzeitig warf sich Vitali nach links. Der Angreifer verfehlte seine Beute und landete tief in der treibsandähnlichen Masse. Vitali hustete und röchelte. Er hatte bei seinem Manöver etwas von der Masse in den Mund bekommen und Vivien klammerte sich verzweifelt an ihn, um die Nase oberhalb der Masse zu behalten. Die Bestie gab ein wütendes Brüllen von sich und zappelte wild herum, wie um die breiartige Masse abzuschütteln. Das Ergebnis war, dass sie dadurch noch tiefer einsank. Das Monstrum schnaufte heftig, ehe es sich wutentbrannt den Verursachern seiner Misere zuwandte. Vitali versuchte hektisch, außer Reichweite des Angreifers zu gelangen, Nur um Haaresbreite konnten er und Vivien der Attacke des Monstrums entgehen. Doch je tiefer sie einsanken, desto schwieriger wurde es voranzukommen. Vivien sog panisch Luft in ihre Lungen, solange sie noch konnte. Und der rettende Grund schien allzu weit entfernt. Für einen Moment verließen Vitali die Kräfte. „Hey! Komm hierher!“ schrie Justin, als müsse er auf einem Wochenmarkt seine Ware feilbieten. „Drei statt Zwei! Ein viel besseres Angebot!“ Er fuchtelte wild mit den Armen, um die Aufmerksamkeit des Feindes zu erregen. Vielleicht konnte er mit diesem Ablenkungsmanöver den beiden anderen die Möglichkeit verschaffen, das Ziel zu erreichen. Serena und Ariane waren erst perplex, dann wurde ihnen klar, was Justin bezweckte. Sogleich unterstützte Ariane ihn mit hektischen Armbewegungen. Zunächst war das Ungetüm unentschlossen, doch offenbar hatte es noch nie etwas von dem Sprichwort „Besser einen Spatz in der Hand, als eine Taube auf dem Dach“ gehört. In dem Moment als der Dämon sich den anderen drei zuwenden wollte, fand Vitali die Kraft, sich und Vivien weiterzuschleppen. Von der plötzlichen Bewegung provoziert, machte das Ungetüm kehrt und griff nach Vivien. Es packte sie am Haar und riss sie nach hinten. Die Schreie der anderen kamen nicht mehr bei ihr an. Der Treibsand holte sie zu sich. Von ihrem Verschwinden irritiert stockte das Ungetüm und ließ das Haarbüschel los. Fassungslos starrte Vitali auf die leere Stelle an der zuvor Vivien gewesen war. Er tastete hektisch nach ihr, aber griff ins Leere. Eine ungeheure Wut packte ihn. Ohne darüber nachzudenken, stieß er sich mit den Füßen von der Wand ab und warf sich mit aller Kraft auf den Feind. Überrascht, gab dieser im ersten Moment nach und sank einige Zentimeter tiefer. Dann fand er jedoch seine ursprüngliche Stärke wieder und schleuderte Vitali von sich. Mit einem dumpfen Laut prallte Vitali gegen die Wand und stürzte in die treibsandähnliche Substanz, die ihn augenblicklich verschlang. Die drei Übriggebliebenen hatten das Spektakel sprachlos mitangesehen. Das Monstrum indes kam mit weiten, paddelnden Bewegungen näher. Justin blickte ihm ausdruckslos entgegen. Immer aufgeregter wurde das Ungeheuer, sein Blick irr, seine Bewegungen hektisch. Die Beute konnte ihm nicht mehr entkommen. Ariane drängte sich automatisch an Serena. Justin blieb wie versteinert. In seinem Kopf ging er alle Möglichkeiten durch, wie sie der Bestie entkommen und die anderen retten konnten. Das letztere schien ausweglos und auch für die Flucht vor dem Monster musste sich jemand von ihnen opfern. Etwas anderes fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Serena streckte ihre Rechte aus. Sie wusste nicht, ob es klappen würde, war sich nicht einmal sicher, ob sie den Paralysezustand der Monster, von denen sie zu Hause angegriffen worden war, hervorgerufen hatte. Aber was verschwendete sie Zeit mit Überlegungen? Es zu versuchen, war das Einzige, was jetzt noch übrig blieb. „Bleib stehen… Bleib stehen…“, flehte Serena in Gedanken, immer und immer wieder. Die Worte verwandelten sich in einen gehaltlosen Sprechgesang in ihrem Kopf. Doch der Schatthen kam zwar langsam, aber unaufhörlich näher. Schließlich sackte Serenas Arm nach unten. Sie hatten keine Chance. Justin watete zu den beiden Mädchen, deren vor Angst flackernde Augen ihn eher beiläufig wahrnahmen, zu sehr war ihr Verstand mit dem Niederkämpfen der Panik beschäftigt. Ohne groß nachzudenken, breitete Justin seine Arme aus und drückte sie für einen Moment stumm an sich, oder drückte viel eher sich an sie. Wie ein von Angst gepeinigtes Kind sich an seine Mutter drückt, um vielleicht dadurch Mut zu gewinnen. Und Mut war es, was er brauchte, um die Lähmung zu überwinden, die ihn von seinem Vorhaben abzubringen versuchte. Serena und Ariane konnten nicht wissen, dass er ihnen auf diese Weise Lebewohl sagte. Justin löste sich von ihnen und bewegte sich, so schnell es ihm möglich war, auf den Schatthen zu. „Was tust du?“, schrie Ariane. Justin würde sich auf das Monstrum stürzen und es in die Masse drücken, damit es die beiden anderen nicht mehr erreichen konnte. So war es geplant. Zwar sträubte sich Justins Körper, seine Bewegungen wurden immer ungelenker, doch sein Entschluss stand fest. Er näherte sich dem Ungeheuer. Der grausame Blick des Scheusals bohrte sich in ihn wie tausend Speere. Nur noch wenige Meter. ♪ Hier unten... Raum.. Eine Stimme schoss Justin plötzlich durch den Kopf. Mitten in der Bewegung stoppte er. War das nicht Viviens Stimme gewesen? Vielleicht eine Hilfe aus dem Jenseits? Sofort verdrängte Justin den Gedanken wieder. Noch einen Moment zögerte er. Tief in sich beschwor ihn etwas. Verstand und Gefühl spielten gegeneinander. Schließlich wandte Justin sich zu Serena und Ariane um: „Runter! Ihr müsst tauchen! Vertraut mir!“ Ungläubig sahen die zwei ihn an. Selbst noch unsicher, ob er nicht nur einer Sinnestäuschung erlegen war, setzte er fort: „Die anderen sind dort unten!“ Wie makaber dieser Satz jedoch für die zwei wirkte, war ihm nicht klar. „Ich weiß auch, dass sie da unten sind!“, kreischte Serena mit brechender Stimme. Hatte er den Verstand verloren? „Nein, du verstehst nicht -“, bevor Justin den Satz beenden konnte, hatte der Dämon ihn erreicht. Obwohl es bereits zu einem großen Teil versunken war, waren die Kräfte des Ungeheuers genauso übermenschlich und erschreckend wie zuvor. Unter Arianes Schreien packte das Scheusal Justin und drückte ihn in die Masse hinein. Im nächsten Moment riss es ihn wieder nach oben und tauchte ihn erneut unter. Ein zweites und ein drittes Mal. Justin, halb blind und taub vor Schmerz und Panik, gab der Kreatur mit letzter Kraft einen Tritt. Doch auch das half nichts. Der Griff des Monsters lockerte sich nicht. Stattdessen schleuderte ihn das Scheusal mit ungeheurer Wucht erneut in die Masse und hielt ihn dieses Mal eine Weile in diese gedrückt. Aber die Bestie hatte nicht mit dem Sog gerechnet, der Justin daraufhin ein für alle Mal zu sich holte. Im nächsten Atemzug stand sie mit leeren Krallen da. Nun waren nur noch Ariane und Serena übrig, die mittlerweile bis zur Kehle eingesunken waren. Serena war wie erstarrt. Vor ihr verschwamm alles, wurde unwirklich. Jetzt war es nur noch die Frage, welche Art zu sterben weniger schmerzhaft war. Sich einfach selbst in die Masse zu tauchen oder auf das Ungeheuer zu warten? Hektisch wandte sich Ariane an sie. „Justin hat was von unten gesagt!“ „Da ist er ja jetzt.“, flüsterte Serena in einem gespenstisch gleichgültigen Tonfall. „Vielleicht ist dort unten etwas!“, begehrte Ariane auf. „Dort unten ist der Tod, verdammt!!!“ Serenas Stimme überschlug sich, dann starrte sie Ariane wortlos an. Weitere kostbare Sekunden verstrichen. Ariane hatte eine Entschlossenheit im Blick, die ihr nicht einleuchten wollte. „Auf drei.“, sagte Ariane. „Eins.“ Die Angst ließ in Serenas Ohren alles fremd klingen. Das Monster kam immer näher. „Zwei.“ Serena spürte, wie sich Ariane noch fester an sie drückte und sie war froh drum. Nur wenige Schritte trennten sie noch von dem Monstrum. Gleich würde es sie packen. Noch einen Moment schien Ariane selbst zu zögern, den letzten Befehl zu geben. In Gedanken bat Serena inständig darum, dass Justin nicht einfach dem Wahnsinn erlegen war. „Drei!“ Die beiden Mädchen holten tief Luft, einander fest umschlungen, und tauchten ihre Köpfe in die dickflüssige Substanz, die Augen zu gepresst, um sie vor dem Eindringen der Flüssigkeit zu bewahren. Ariane spürte, wie Serena ihrem Griff entrissen wurde. Pures Entsetzen packte sie und wie um nach ihr zu schreien, öffnete sie kurz den Mund. Die widerwärtige Masse bahnte sich sogleich ihren Weg in ihren Körper. Ein unbeschreibliches Grauen erfasste sie, ehe ihr Bewusstsein allmählich schwand. Wenigstens verließ sie gleichzeitig auch diese abscheuliche Qual. Kapitel 7: Geheime Bekanntschaft -------------------------------- Geheime Bekanntschaft „Weiche dem Unheil nicht, sondern mutiger geh ihm entgegen.“ (Vergil, röm. Dichter) Grauen. Pures Grauen. Merkwürdige Stimmen. Warum ließen die Stimmen sie nicht in Ruhe? Aufhören! Ariane bäumte sich auf, der Brechreiz übermannte sie. Die Masse tropfte auf einen Boden, den sie erst im nächsten Augenblick wahrnahm. Sie zitterte. Ein weiterer Würgereiz ermächtigte sich ihres Körpers. Dann kippte sie zur Seite, doch wurde sie im letzten Moment von jemandem aufgefangen. „Sie ist ganz kalt!“ Die Person nahm sie fest in die Arme. Es tat gut. So schön warm. Wieder fielen Arianes Augen zu. „Wir müssen weiter.“ „Hey. Ich trag niemanden mehr!“ Zwei Jungenstimmen. Sie öffnete die Augen. Zuerst sah sie nur verschwommen, dann erkannte sie das blasse Mädchen mit den langen dunklen Haaren vor sich. Sie lag in den Armen des Mädchens mit dem schulterlangen orangefarbenen Haar. Blaue Flammen züngelten in der Luft neben einer steinernen Mauer und tauchten die Umgebung in ein gespenstisches Licht. Nicht weit entfernt standen die beiden Jungen, einer lang und schmal, der andere etwas kleiner, mit breiteren Schultern. Mühsam setzte sie sich auf und versuchte, auf die Beine zu kommen. Vivien stützte sie und gab Serena zu verstehen, dass sie dasselbe von der anderen Seite tun sollte. „Wo ist –“, setzte Ariane an. „Über uns.“, sagte Vivien. „Es wird gleich hier sein.“ Justin hatte derweil etwas am Boden entdeckt. „Blutspuren.“, stellte er fest. „Vielleicht Menschenblut.“ „Wir müssen schnell weg von hier!“, forderte Serena gereizt und sah hinauf zur Decke. „Die Blutspur geht den Weg entlang.“, informierte Justin die anderen. Sofort drehten sie die Köpfe in die entgegengesetzte Richtung, doch dort ging es nicht weiter. „Soll das heißen, wir müssen einem menschenfressenden Ungetüm entgegenrennen, das gerade seine letzte Mahlzeit mit sich rumgeschleift hat?“, stieß Serena aus. „Vielleicht ist das Monster dann fürs erste satt.“, meinte Vivien. Justin versuchte zu beschwichtigen. „Vielleicht ist es auch gar kein Toter gewesen.“ Er hielt inne. „So viel Blut ist es ja nicht...“ Plötzlich rannte Vitali los. „Warte!“, schrie Justin, ohne jeglichen Erfolg, und rannte schließlich hinterher. Wie egoistisch dieser Junge doch war! Justin beschleunigte nochmals, packte Vitali am Arm und zwang ihn stehen zu bleiben. „Was soll das?“, fuhr er ihn an. „Mann! Wenn da wirklich ein Monster ist, dann lenk ich es ab, damit ihr vorbei könnt.“, gab Vitali zurück. Justin stockte. Das war nicht egoistisch. Bescheuert, ja! Aber nicht egoistisch. Wahrscheinlich genauso bescheuert wie seine eigene Aktion im Treibsand. „Wenn du allein vorgehst, bist du leichte Beute.“, widersprach er Vitalis Plan. „Zusammen können wir das Monster wenigstens durcheinander bringen.“ Unter Anstrengung erreichten die Mädchen sie. „Wie wär’s, wenn ihr sie stützen würdet, wenn es euch nicht schnell genug geht!“, keifte Serena, ließ von Ariane ab und schnappte dann gierig nach Luft. Im gleichen Atemzug fing sie an, heftig zu husten. „Mit der Luft stimmt etwas nicht.“, vermutete Ariane, denn auch sie spürte einen Reiz in der Kehle. Ein ohrenbetäubendes Brüllen kam von oberhalb, das etwas erstickt klang. „Schnell!“, befahl Justin und löste Serena als Stütze von Ariane ab. Ein Blick von ihm genügte, schon übernahm Vitali Viviens Aufgabe auf der anderen Seite. Ihre Schritte hallten von den steinernen Mauern wider. Das Echo dröhnte so laut, dass das Monster es unmöglich überhören konnte. Um mehrere Ecken ohne Abzweigung rannten sie, immer dem Weg folgend. Zumindest war der Weg dieses Mal nicht unendlich. Allerdings brachte sein Ende nicht das Gewünschte. Eine Sackgasse. „Das kann nicht sein.“, sagte Justin atemlos. „Die Blutspuren enden genau vor dieser Wand.“ Wieder war das grausige Gebrüll ihres Verfolgers hörbar. Vivien sprach hastig. „Das ist nur ein Psychotrick, damit wir aufgeben.“ „Bei mir funktioniert es ganz gut.“, sagte Serena. Ariane löste sich von den beiden Jungen. „Vielleicht ist hier eine Geheimtür.“ Sie wollte die Wand abtasten, doch bereits beim ersten Kontakt zuckte sie zusammen. Die Berührung mit den Fingerspitzen hatte auf der Oberfläche winzige Wellen ausgelöst, daraufhin wurde für den Bruchteil einer Sekunde hinter der Illusion der steinernen Wand ein anderer Raum sichtbar. „Es ist nur ein Trugbild!“, verkündete sie. „Nichts wie durch!“, rief Vitali. Justin schrie: „Es kommt! Ariane war bereits hindurchgesprungen, Vivien zog Serena mit sich. Im gleichen Moment glitt der langgezogene Schatten des Ungeheuers um die Ecke. Justin stieß Vitali unsanft durch die Öffnung und warf sich hinterher. Nur Sekunden später wären sie in die Fänge des zähnefletschend um die Ecke jagenden Scheusals geraten, das nun, verwirrt und wutschnaubend, nur noch den Geruch der Beute in der vermeintlichen Sackgasse vorfand. Justin und Vitali landeten bäuchlings auf sandigem Boden. „Erinnre mich, die Mädchen nie wieder zuerst gehen zu lassen.“, gab Vitali von sich, während er sich aufrappelte und versuchte, sein Kinn wieder einzurenken. Umgeben waren die fünf von zwei schmalen glatten Mauern. Das gesamte Territorium war von meterhohen Wällen eingegrenzt. Einige Meter vor ihnen erstreckte sich ein durch dotterfarben gestrichene Wände abgetrennter Bereich, dessen Eingang nur wenig davon offenbarte, was sich in seiner Mitte befand. „Hier ist es heller.“, meinte Vivien, als gäbe das Grund zur Freude. Eine finstere Stimme ertönte. „Wer seid ihr?“ Ein schwarzhaariger Junge war hinter der linken Mauer hervorgetreten. Seine grünblauen Augen waren kalt und abweisend. Auf eine merkwürdige Weise wirkten sie entseelt. Doch seine Kleidung war das erste in dieser Welt, das die fünf ein wenig an zu Hause erinnerte: eine dunkelgraue Jeans und Markenschuhe. Zum Zweck eines notdürftigen Verbands hatte der Fremde sein Oberteil offenbar zerrissen, denn er trug nur noch ein weißes Unterhemd und sein linker Oberarm war mit einem dunkelgrauen Stofffetzen abgebunden. Dass der Junge durchtrainiert war, war dadurch deutlich zu erkennen. Vitali war davon genervt. „Angeber.“, grummelte er. Vivien wandte sich lächelnd an Justin. „Du hattest Recht. Es war Menschenblut!“ „Nun was ist?“, forderte der Unbekannte nachdrücklich zu wissen. Vitali setzte zu einer Antwort an: „Mann, wonach sieht’s denn aus? Wir machen hier Ferien! Abenteuerurlaub ist derzeit total in und auch noch gut für die Figur! Schließlich wollen wir doch alle solche Muckis wie du!“ „Können wir diese Unterhaltung auf später verschieben?“, bat Ariane. „Wenn wir nicht mehr in Todesgefahr schweben!“, ergänzte Serena: „Probleme mit Schatthen?“, fragte der Schwarzhaarige kühl. „Nee, mit dem Ding, das uns verfolgt.“, entgegnete Vitali. „Ein Vieh, das wie eine vergammelnde Leiche aussieht und auch so riecht?“ Vivien klatschte in die Hände. „Genau!“ Die abgeklärte Antwort lautete: „Das ist ein Schatthen." Die Augen des Jungen wanderten hinter die fünf. „Er kommt.“ Seine Stimme war weiterhin ruhig und fest. „Versteckt euch hier hinten.“, forderte er sie auf. Serena wandte sich an die anderen: „Seid ihr sicher, dass man dem trauen kann?“ „Willst du warten, bis du den Schatthen nach seiner Meinung fragen kannst!“, warf Vitali ein. „Beeilt euch.“, drängte der Unbekannte in unaufgeregtem Tonfall. Eilig versteckten sich die fünf hinter der Betonmauer. Das Knurren des Schatthens erklang nur Sekunden später. Sie hielten den Atem an. Das Versteck würde ihnen nicht lange Schutz bieten. Der Junge neben ihnen griff nach einem am Boden liegenden Stein, von denen es an diesem Ort genug gab, holte weit aus und schleuderte ihn in den Bereich jenseits der dotterfarbenen Mauern. Aus dem Inneren drang sogleich ein blecherner Knall. Der Schatthen, von dem Geräusch aufgeschreckt, rannte augenblicklich zu dem Eingang und hinein. Seine Schritte hallten bis zu ihnen. Weitere Atemzüge fürchteten sie, die Bestie könne den Trick durchschauen und wieder herausgestürmt kommen. Dann ertönte ein nervenzerfetzender Schmerzensschrei. Anschließend herrschte Stille. „Was war das?“, fragte Ariane besorgt. „Sagen wir so: Euer Problem ist gelöst.“, eröffnete ihnen der Fremde ungerührt. „Die Schatthen sollten eure geringste Sorge sein. Sie sind dumm.“ „Wer braucht Intelligenz, wenn er solche Muskeln hat!“, bemerkte Vitali mit einem vielsagenden Blick auf den Fremden. Serena beäugte den Schwarzhaarigen misstrauisch. „Woher weißt du so viel über diese Monster?“ Vitali schürzte die Lippen. „Was heißt so viel? Er wusste doch bloß, dass sie Schatten heißen!“ „Schatthen.“, verbesserte der Junge. „Das ist mehr als wir wussten!“, schimpfte Serena. Justin ergriff das Wort. „War es dein Blut, das wir in dem anderen Raum gefunden haben?“ Der Fremde wandte seinen Blick ab. Offenbar wollte er nicht darauf antworten. „Was ist passiert?“, wollte Ariane wissen. „Ich weiß nicht.“, sagte er. „Woran erinnerst du dich?“, fragte sie. Er gab ein tiefes Stöhnen von sich. „Ich bin dort aufgewacht.“ „Netter Ort für ein Schläfchen!“, spottete Vitali. Ariane wandte sich dem Fremden zu. „Was meinst du mit, du bist dort aufgewacht?“ Der Junge sah sie einen Moment unergründlich an, dann wich er erneut ihren Blicken aus. „Ich weiß es nicht.“ „Was weißt du eigentlich?“, schimpfte Serena. Als der Unbekannte sich dieses Mal zu ihnen drehte, wirkte sein Gesichtsausdruck bedrohlich. „Hört zu. Ich habe keine Ahnung, wo ich vorher war, und keine Erinnerung daran, was passiert ist, bevor ich in diesem Raum aufgewacht bin, oder wer ich eigentlich bin.“ Sein düsterer Tonfall ließ die seltsame Erklärung geradezu glaubhaft wirken. „Gedächtnisverlust.“, vermutete Justin. „Achja? Und woher kennt er dann den Namen der Monster?“, warf Serena argwöhnisch ein. „Keine Ahnung.“, entgegnete der Namenlose. „Als ich aufgewacht bin, wusste ich Dinge über die Schatthen und diesen Ort.“ Vitali klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Ach was! Das ist doch total normal! Ich wach manchmal auch in einem finsteren Kerker auf und erinnre mich nicht, wer ich bin, weiß aber, wie die Monster dort heißen!“ Ariane wandte sich hoffnungsvoll an den Fremden. „Wenn du über diesen Ort Bescheid weißt, dann kannst du uns vielleicht helfen, hier herauszufinden!“ Die Augen des Jungen wanderten zu dem Bereich, in den er den Schatthen gelockt hatte. „Der einzige Weg hier raus führt durch das Labyrinth und genau da liegt das Problem. Wenn ihr da rein geht, seid ihr so gut wie tot. Es wird als Trainingsplatz für die Schatthen benutzt. Dort sind so viele Fallen, dass ihr es gleich vergessen könnt.“ Die Zuversicht wich aus Arianes Zügen. „Gibt es keine andere Möglichkeit?“ „Dann wäre ich nicht mehr hier.“, entgegnete der Junge kaltschnäuzig. „Schaffen es manche Schatthen hindurchzukommen?“, wollte Justin wissen. Der Fremde drehte sich zu ihm um. „Ich denke schon.“ Vivien schlussfolgerte fröhlich: „Du hast gesagt, sie sind dumm, dann wird es für uns doch nicht so schwer sein, auf die andere Seite zu gelangen!“ „Sie mögen dumm sein, aber ihre Kräfte sind immens und dieses Labyrinth ist dazu ausgelegt, ihre Kräfte an die Grenzen zu bringen. Was dich umbringt, würde einen Schatthen gerade mal kitzeln. Ihr würdet keine Minute darin überleben.“ „Mit jemandem an unserer Seite, der den Weg kennt, würden unsere Chancen steigen.“, sagte Ariane. Der Junge blockte ab. „Ich kenne nicht alle Einzelheiten. Ich will nicht für euren Tod verantwortlich sein.“ Serena sah ihn finster an: „Wir sterben wohl so oder so.“ Der Unbekannte wandte seinen Blick gen Labyrinth. „Ihr habt keine Ahnung, worauf ihr euch da einlasst.“ „Dann erklär's uns!“, forderte Vivien ihn auf. Der abweisende Ausdruck erschien erneut auf dem erstaunlich makellosen Gesicht des Namenlosen. „Erst mal will ich wissen, wer ihr seid.“ Die Lichter der Blickfenster vor ihm spielten über die missgestimmten Gesichtszüge Grauen-Eminenz‘. Eines davon zeigte das dotterfarbene Labyrinth. Doch der Blick des Schatthenmeisters war auf das Bild der sechs Jugendlichen fixiert. Diese lehnten sich erschöpft an eine Mauer und hielten offenbar eine Lagebesprechung ab. Der Gesichtsausdruck von Grauen-Eminenz verfinsterte sich zusehends. Zu dumm, um fünf Kinder zu kidnappen! Was dachten sich diese vergammelten Nichtsnutze denn? Dass er alle paar Wochen mal eine komplette Stadt lahmlegen konnte? Gar nichts dachten sie! Und von wegen Kadavergehorsam! Hatte er nicht die klare Anweisung gegeben, sie sollten sie einzeln herbringen? Einzeln! Aber nein! Wieso sie nicht einfach in ein und dieselbe Transportkugel stecken?!!! Ein Knall ertönte und Grauen-Eminenz musste feststellen, dass seine Wut mal wieder versehentlich einen Teil der Zimmereinrichtung in die Luft gesprengt hatte. Äußerst lästig diese Eigenschaft. Er seufzte. Der kerkerähnliche Gehirnwäscheraum hatte keinerlei Wirkung auf seine Auserwählten gehabt. Der verdammte Schatthen hätte sie ja auch nicht jagen brauchen! So waren sie dem Einfluss der Kammer nicht lange genug ausgesetzt gewesen. Aber daran allein lag es nicht. Warum zum Beispiel waren die Giftpfeile nicht aktiviert worden? Denkfalten erschienen auf Grauen-Eminenz‘ Stirn. Die seltsame Verwandlung seiner Auserwählten war ein unvorhergesehener Störfaktor, den er nicht einkalkuliert hatte. So sinnlos er den Kleidungswechsel auch einschätzte, das Energiepotential war zugegebenermaßen nicht alltäglich gewesen. Eine solche Form der Energiebeschwörung war ihm bisher nicht untergekommen und ließ ihn kurz überlegen, ob er die Sache nicht zu locker angegangen war. Auch dass die Problemkinder nun ausgerechnet auf sein Testexemplar gestoßen waren, gefiel ihm nicht. Angesichts seiner Entscheidung, sie kurzerhand in denselben Manipulationstrakt wie den Schwarzhaarigen zu befördern, war das natürlich unumgänglich gewesen. Aber die Unendliche Ebene, in der die Ausreißer gelandet waren, ließ sich nun einmal am leichtesten mit diesem Gehirnwäscheraum verknüpfen. Die Verlinkung der einzelnen Räume konnte er zwar willentlich steuern, aber der Schwierigkeitsgrad davon war unterschiedlich hoch. Der Schatthenmeister schnaubte. Er wusste nicht einmal, warum sein Versuchskaninchen schon erwacht war. Unwichtig! Jetzt galt es zunächst zu testen, welche Kräfte die Gefangenen an den Tag legen würden. Und das Labyrinth war dafür der perfekte Schauplatz. Hm. Ein paar Änderungen waren vielleicht angebracht. Schließlich handelte es sich hierbei um ein einmaliges Ereignis! Mal etwas anderes als diesen unterbelichteten Schatthen zuzusehen. Für seine Auserwählten war etwas Delikateres angebracht, etwas, bei dem man auch mal seine Gehirnzellen arbeiten lassen musste. Vitali gab ein genervtes Stöhnen von sich. Warum mussten sie ihre kostbare Zeit damit verplempern, diesem Typen ihre ganzen Erlebnisse auf die Nase zu binden? Ungeduldig wippte er mit seinem rechten Bein. Die Schatthen konnten schließlich jederzeit wieder auftauchen. Ariane hatte dem Jungen mittlerweile erzählt, wie sie hier hergekommen waren und gemeint, bei ihm habe es sich wohl ähnlich zugetragen. Als Vivien von der Verwandlung hatte erzählen wollen, war sie von den anderen unterbrochen worden und Justin hatte fortgesetzt. Merkwürdigerweise fragte der Junge nicht einmal nach ihrer seltsamen Kleidung. Aber wer eine ungewisse Zeitspanne in dieser Welt verbracht hatte, den wunderte wohl nichts mehr. „Wir haben uns noch nicht vorgestellt!“, rief Vivien. „Willst du wissen, was du auf den Grabstein schreiben sollst?“, stichelte Serena. Justin unterstützte den Vorschlag. „Es wäre hilfreich, wenn wir uns beim Namen nennen könnten.“ Sie nickte. „Also ich bin Vivien!“ Nun mussten alle der Reihe nach ihren Namen nennen, bis nur noch der Fremde übrig war. „Und du erinnerst dich nicht an deinen Namen.“, sagte Ariane halb fragend. Er antwortete trocken: „Mein Name ist geheim. So geheim, dass ich ihn selbst nicht kenne.“ Freudig strahlte Vivien ihn an. „Das ist es doch! Dein Name ist Geheim! So nennen wir dich ab jetzt! Geheim!“, schlug sie überzeugt vor. Vitali mischte sich ein: „Wenn, dann auf Englisch! Also Secret.“, forderte er. „Toll, du kannst die Grundbegriffe.“, spottete Serena. „Wie ihr meint.“, entgegnete der Schwarzhaarige kurz. „Wir könnten ihn auch Muskelprotz nennen.“, überlegte Vitali laut weiter. Secret ging nicht auf seinen Kommentar ein. „Wir sollten uns wichtigeren Dingen zuwenden. Oder wollt ihr einfach auf gut Glück in das Labyrinth laufen und hoffen, dass ihr überlebt?“ Vivien lachte. „Bisher hat das ganz gut geklappt.“ Die anderen warfen ihr weniger überzeugte Blicke zu. Justin wandte sich an Secret. „Was erwartet uns?“ „Wie gesagt, ich erinnere mich nur an Bruchstücke des Plans. Von Falltüren über aus der Wand schießende Spieße bis zu Steinkugeln, die einen bis zur nächsten Sackgasse verfolgen und zerquetschen, wird wohl alles dabei sein.“, informierte Secret sie. „Ey, der Bau-Futzi hat sich wohl zu viele alte Filme reingezogen.“, spottete Vitali. „Dass es nur einen Weg nach draußen gibt, wird die Sache nicht gerade erleichtern.“, war Justins Meinung. „Und du bist sicher, dass das der einzige Weg nach draußen ist?“, erkundigte sich Ariane nochmals. „Sagen wir so: Es ist der einzige, der von diesem Platz wegführt. Ob er nach draußen führt, was auch immer du darunter verstehst, ist nicht gesagt.“, antwortete Secret abgestumpft. Serena wurde laut. „Kurz gesagt, setzen wir unser Leben aufs Spiel, um danach vielleicht sofort wieder den Schatthen in die Arme zu laufen?“ „Was haben wir denn für eine andere Wahl?“, hielt Ariane entgegen. „Wir können nicht für immer hier sitzen bleiben.“ Serena biss die Zähne zusammen. Sie wusste, dass Ariane Recht hatte, aber das machte die Sache nicht leichter. „Es ist unsere einzige Chance.“, bekräftigte Justin. „Und wenn wir sterben?“, rief Serena aufgebracht. Vivien lächelte sie heiter an. „Das werden wir nicht.“ „Bist du total bescheuert? Es hätte eben schon nicht viel gefehlt! Wir laufen dem sicheren Tod entgegen! Du bist doch nicht mehr ganz richtig im Kopf!“, schrie Serena. „Hör auf, sie zu beleidigen!“, ermahnte Justin sie. „Sie ist sich der Gefahren genauso bewusst wie du.“ Serenas eben noch zorniger Gesichtsausdruck wandelte sich jäh zu Verzweiflung. „Ich will nicht.“ Sie schluckte und kauerte sich zusammen. „Ich will einfach nur nach Hause.“ Tränen schimmerten in ihren Augen. „Ich will nicht sterben.“ „Du blöde Kuh!“, schrie Vitali plötzlich lautstark und sprang auf die Beine, das Gesicht abgewandt. Ariane sah von einem zum anderen und wusste für einen Moment nicht, wie sie reagieren sollte. „He, ihr beiden –“ „Klappe!“, rief Vitali. „Sie führt sich immer auf, als wäre sie die einzige, die hier drin gefangen ist!“ Serenas Stimme wurde laut und schließlich schrill. „Entschuldige, dass ich nicht so toll und perfekt den Helden spielen kann wie du! Tut mir leid, dass ich sage, was ich fühle! Ich bitte um Verzeihung, dass du mich nicht ausstehen kannst!“ Vitali wirbelte zu ihr herum. „Halt die Luft an!“ Zorn schlug ihm aus ihrem Gesicht entgegen. Plötzlich hielt Vitali ihr mit einem geradezu trotzigen Gesichtsausdruck die Hand hin. „Wir sind alle hier drin gefangen. Wir kommen alle hier raus!“ Serena starrte ihn an. Und reagierte nicht. Vitali stand weiter da, ihr die Hand entgegenstreckend. Er spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen. Doch langsam wurde es peinlich. Serena machte nicht die geringsten Anstalten, nach seiner Hand zu greifen oder irgendetwas zu entgegnen. Diese …! Auf einmal gesellte sich eine Hand zu seiner, allerdings nicht die von Serena. Strahlend war Vivien aufgesprungen und hatte ihre Hand auf die seine gelegt. „Alle für einen!“, rief sie euphorisch und lud mit ihren Blicken die anderen dazu ein, es ihr gleichzutun. Ariane und Justin folgten ihrem Beispiel. Aus einem ihm unerfindlichen Grund ließ sogar Secret sich darauf ein. Nur noch Serenas Hand fehlte. Sie stieß die Luft aus, als würde sie eine schwere Last loslassen, stand schließlich ebenfalls auf und legte ihre Hand auf die der anderen. „Und einer für alle.“, beendete sie den berühmten Spruch. Vivien verkündete feierlich: „Wir sind jetzt für immer die allerbesten besten Freunde und das heißt, dass uns gar nichts mehr passieren kann!“ „Du schließt ziemlich schnell Freundschaften.“, merkte Secret nüchtern an. Serena spürte auf Viviens Worte hin ein kurzes Zusammenziehen in ihrer Brust, als wolle sich ihr Herz davor schützen. Aber dahinter war etwas anderes. Etwas, das sie nicht geglaubt hatte, wieder zulassen zu können. „Los geht’s!“, grölte Vivien, als würden sie sich auf den Weg zu einem Fußballspiel machen, anstatt in ihr Verderben zu rennen. Sie zogen ihre Hände zurück und machten sich mit langsamen Schritten auf zum Labyrinth. Plötzlich wurde Secret schwarz vor Augen. Fast wäre er in sich zusammengeklappt. Schwer atmend ging er auf die Knie und schloss die Augen. Was hatte das zu bedeuten? Instinktiv fasste er sich an die Verletzung an seinem Oberarm. Aber so viel Blut hatte er doch gar nicht verloren. Arianes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Tut es sehr weh?“, fragte sie. Sie war neben ihm auf die Knie gegangen. Als sie sachte seinen Oberarm berührte, um die Wunde zu betrachten, zuckte Secret wie unter Hieben zusammen und riss seinen Arm schnell weg. „Es ist nichts!“, rief er und fügte in ruhigerer Stimmlage hinzu „Lasst uns gehen.“ Dann stand er wieder auf und lief weiter. Ariane stockte kurz. Sie baute sich wieder zu voller Größe auf und ging Secret hinterher. „Warte!“ Genervt blieb Secret stehen und drehte sich zu ihr um. „Was ist?“, fragte er abweisend. Statt eine Antwort zu geben, riss sie ihm kurzerhand die notdürftige Binde vom Arm. „Hast du sie noch alle?!!“ Ariane reagierte nicht auf seinen tobsüchtigen Schrei, zu sehr war sie auf Secrets Wunde fixiert. Auch den übrigen blieb die Sicht darauf nicht erspart. Die Verletzung an sich bestand nur aus zwei roten Kratzern, die nicht sehr tief waren. Jedoch sah der Bereich rundum so aus, als würde das Fleisch langsam faulen, was ihm eine fahle aschgraue Farbe verlieh. Unzählige pechschwarze Adern, die ihren Anfang ebenfalls bei den beiden Schnitten nahmen und die beängstigenderweise pulsierten, überwucherten seinen Oberarm und vervollständigten den erschreckenden Anblick. „Was ist das!“, rief Vitali angeekelt. „Es breitet sich immer weiter aus.“, äußerte Justin seine Befürchtung. „Das ist nur eine Wunde.“, sagte Secret und entriss sich Arianes Griff. Ariane ließ sich allerdings nicht so schnell abschütteln. „Nur eine Wunde?“ „Das geht euch nichts an.“ „Tut es sehr wohl!“, widersprach Ariane. „Was willst du tun?“, fragte Secret herausfordernd. Ariane atmete aus. Es gab hier keinen Arzt. Sie hatten kein Verbandszeug. Was also konnten sie tun? Sie schüttelte den Kopf. „Wenn wir hier raus sind, wirst du verarztet.“ Ob mit Wunde oder ohne, wenn sie sich jetzt nicht voll auf die ihnen bevorstehende Aufgabe konzentrierten, waren sie dem Untergang geweiht. Kapitel 8: Minenspiel --------------------- Minenspiel „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“ (Ernesto „Che“ Guevara, Guerillaführer) Aus einem geeigneten Sicherheitsabstand blickten die sechs in das Labyrinth vor sich. Von hier aus wirkte es nicht annähernd so erschreckend wie Secret es beschrieben hatte. Ein zwei Meter breiter Gang führte in das Innere. Meterhohe dottergelbe Mauern ragten auf beiden Seiten aus dem Boden, der nach einem Meter in einen mit eisblauen Platten gekachelten Weg überging. „Diese Flächen.“, Secret wies auf die anfangs in Zehner Reihen eingeteilten zwanzig mal zwanzig Zentimeter großen Platten hin. „Wenn ihr auf die Falschen tretet, wird eine Falle aktiviert. Solange es sich nicht gleich um eine Tretmine handelt.“ „Wie beruhigend!“, stieß Serena aus. „Und woher wissen wir, auf welche wir treten dürfen?“, fragte Ariane. „Genau da liegt das Problem. Das weiß man eben nicht.“ Justin dachte einen Moment nach. „Wenn wir von hier aus versuchen, die Fallen mit Steinen auszulösen, wird uns vielleicht der Weg versperrt.“ Secret nickte. „Aber wie schaffen es die Schatthen da durchzukommen?“, wollte Ariane wissen. „Sie setzen ihre Fähigkeiten ein, um den Fallen zu entgehen.“, erklärte Secret. „Sie sind sehr schnell und können sehr hoch springen. Wahrscheinlich zerschlagen sie mitunter auch einfach die Wände. Und die Schlaueren unter ihnen werden vielleicht als Schatten hindurchschleichen, so dass die Fallen nicht ausgelöst werden.“ „Schatten als Schatten? Hä?!“, Vitali verstand nur Bahnhof. Secret klärte ihn auf. „Sie können sich in Schatten, also schwarze Flecken auf dem Boden, verwandeln.“ Vitali blickte sich hektisch um. „Waaas? Dann könnten sie die ganze Zeit um uns herum sein?“ „Sie meiden diese Gestalt für gewöhnlich.“, sagte Secret. „Wenn möglich setzen sie bei jeder Gelegenheit ihre körperliche Stärke ein.“ Vitali machte keinen sonderlich beruhigten Eindruck. „Mit ihren Fähigkeiten können wir leider nicht mithalten.“, musste Justin eingestehen. „Aber vielleicht haben wir ja auch irgendwelche Fähigkeiten!“, rief Vivien. Vitali zog ein ungläubiges Gesicht. „Hä?“ „Na diese Verwandlung zum Beispiel.“, meinte Vivien und präsentierte ihre Kleidung. . Secret musterte sie noch skeptischer als zuvor. Vivien setzte fort. „Als wir uns verwandelt haben, sind die Schatthen verschwunden!“ Ariane sagte vorsichtig: „Um genau zu sein, sind sie schon vorher verschwunden.“ „Ja, aber das hatte bestimmt was mit unserer Verwandlung zu tun!“, beharrte Vivien. „Hast du das Gefühl, du hast jetzt Kräfte?“, fragte Ariane. Vivien streckte einen Arm aus und konzentrierte sich. Es tat sich nichts. Sie zuckte mit den Schultern. „Was sollte das jetzt?“, schimpfte Vitali. Nachdenklich legte Justin die Stirn in Falten. Sein Blick wanderte kurz über den Boden. Schließlich begann er zögerlich zu sprechen. „Vorhin, in diesem Treibsand, als wir dachten, ihr wärt tot… Ich – Irgendwie war da Viviens Stimme. Sie sagte, dass hier unten ein Raum ist.“, eröffnete er den anderen. „Du kannst Gedanken lesen!“, jubelte Vivien. Justin machte keinen überzeugten Eindruck. „Ich weiß nicht.“ Secret sagte ausdruckslos: „Oder sie kann Gedanken übertragen.“ Vitali mutmaßte, dass Secret mit dem Verlust seines Gedächtnisses auch jegliche Mimik verlernt hatte. Serena ballte die Hände zu Fäusten und hielt den Blick auf den Boden fixiert. Sie schluckte und überwand sich, die Worte auszusprechen. „Bei mir zu Hause. Die Schatthen. Sie waren von einem Moment auf den anderen wie paralysiert.“ Ariane machte große Augen. „Heißt das, du hast sie paralysiert?“ „Was?“ Vitali wurde laut. „Warum hast du das vorhin nicht gemacht?!“ „Weil es nicht ging!“, schrie Serena zurück. Vitali schnaubte. „Was soll das bringen, wenn es nicht funktioniert?“ „Dann entwickle du doch Kräfte!“, schimpfte Serena. Vitali verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber nur wenn die zuverlässiger sind.“ Serena war kurz davor zu explodieren. „Du könntest uns ja hier rausteleportieren!“ Vivien klatschte in die Hände. „Das ist eine großartige Idee!“ Ariane meldete sich zu Wort. „Entschuldigt, aber sollten wir uns nicht wieder dem Problem mit dem Labyrinth widmen? Wie gehen wir jetzt vor? Irgendwann müssen wir wohl oder übel den ersten Schritt wagen.“ „Jeder von euch sollte auf dieselben Kacheln treten, damit nicht unnötig Fallen ausgelöst werden.“, schlug Secret vor. Ungeduldig trommelte Grauen-Eminenz auf die Lehne seines Sessels. Da hatte er sich auf ein einmaliges Ereignis gefreut und was war? – Nichts! Diese Teenager waren noch langweiliger als die hundertste Wiederholung einer Dauerwerbesendung! Wie konnte man nur so ewig brauchen, um sich zu überlegen, ob man da jetzt reinging oder nicht? Und zu allem Überfluss hatte er hier nirgends Popcorn auftreiben können. Grund genug, dass ihm der Geduldsfaden riss. Die Schatthen machten nie solche Anstalten. Wenn die nicht spurten, dann bestrafte man sie oder trieb sie in die Enge! – Gute Idee! Secret schreckte auf. Verwirrt blickte er sich um. Keine Besonderheiten. Weder ein sich seltsam bewegender Schatten, noch sonst was. „Verdammt! Dieses blöde Rumstehen und Warten macht mich wahnsinnig!“, rief Vitali angespannt. „Na dann geh doch voraus!“, forderte Serena lautstark. „Habt ihr das auch gespürt?“, fragte Justin plötzlich. „Als hätte sich die Erde bewegt.“ „Ich dachte auch, da wäre etwas gewesen.“, stimmte Secret Justin zu. Im nächsten Moment konnten es auch die anderen wahrnehmen. Bei der Stärke des Bebens wäre alles andere auch mehr als verwunderlich gewesen. Der Grund unter ihren Füßen begann zu erzittern. Winzig kleine Risse breiteten sich auf dem Untergrund aus, wurden immer größer. Genau zwischen Arianes Füßen hindurch fraß sich einer der Risse, sodass sie zur Seite sprang. Im gleichen Moment weiteten sich die Risse zu Spalten und zu Kratern aus, als würden sich der Erdboden auftun, um sie zu verschlingen. Ariane sah hilfesuchend zu den anderen. „Wäre schlimmer, wenn der Boden ganz einstürzen würde.“, meinte Vitali. Kaum hatte er den Mund zugemacht, brach am anderen Ende – dort, wo sich die Geheimtür befand – der Boden ins Nichts. „Wehe, du machst noch mal dein Maul auf!“, schrie Serena aufgebracht. Sie rannten auf den Eingang des Labyrinths zu, während immer mehr Teile des Grunds im Schlund des entstandenen Kraters verschwanden. Vitali blickte während dem Rennen nochmals hinter sich. Die Sekunde, die er dadurch verschwendete, ließ den Boden nur noch Schritte vom Labyrinth entfernt unter seinen Füßen wegbrechen. Im letzten Moment warf sich Vitali nach vorne und schlug mit seinem Oberkörper auf dem Boden des Labyrinths auf. Mit seinen Armen versuchte er, sich auf die Plattform hochzuhieven, aber sein Körpergewicht zog ihn nach unten. Ariane und Justin ergriffen sofort seine Arme und zogen ihn ins Labyrinth. Vitali schnappte nach Luft. „Danke, Leute.“, keuchte er und stand auf. Als er abermals zurückblickte, sah er gerade noch das letzte Stück Boden in die Tiefe stürzen. Jäh neigte sich das ganze Labyrinth nach rechts. Panische Angst, dass die gesamte Fläche in die Tiefe stürzen würde, schoss durch ihre Adern. Wie waren sie auch auf die blödsinnige Idee gekommen, dass das Labyrinth vom Einsturz verschont bleiben würde? Ariane und Vitali knallten gegen die rechte Wand, Serena verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Boden. Vivien und Justin hatten sich geistesgegenwärtig hingekniet, um die Balance zu halten. Allein Secret gelang es, aufrecht stehen zu bleiben. „Was ist das jetzt wieder?“, rief Vitali. Auf Secrets Gesicht zeigte sich ein Hauch von Unsicherheit. „Keine Ahnung.“ Serena stand wieder auf und funkelte ihn wütend an. „Ich dachte, du kennst dich hier aus!“ Secret antwortete nicht darauf. Schlagartig schwenkte das Gebilde nach vorne, so dass die sechs beinahe auf die todbringenden Platten stürzten. Serena fand sich erneut auf allen Vieren wieder. „Alter, ich fühl mich wie ne Kugel in so nem Geschicklichkeitsspiel!“, gab Vitali von sich.. Das Labyrinth begab sich wieder in eine waagrechte Lage und Ariane und Vitali änderten ihre Position. „Irgendwas stimmt nicht.“, sagte Secret ernst. „Ach wirklich?“, stieß Serena sarkastisch aus. Secret blickte nach vorne: „Das ist nicht mehr das gleiche Labyrinth.“ Fragend wandte Justin sich an ihn: „Was meinst du damit?“ Secret starrte in das Labyrinth und sagte nichts. „Vielleicht gehört er ja zu diesen Monstern und soll uns bloß in eine Falle locken.“, mutmaßte Serena garstig und machte sich dieses Mal nicht die Mühe, wieder aufzustehen. „Woher weiß er sonst so viel über diesen Ort? Die Sache mit der Amnesie kauft ihm doch keiner ab!“ Ariane trat zu Serena und Secret. „Hör auf. Er kann nichts dafür.“ „Ach ja?“, giftete Serena. Justin ermahnte sie: „Wir müssen zusammenarbeiten, sonst hat keiner von uns eine Chance. Wir sitzen alle im selben Boot.“ Vivien wies auf den zusammengebrochenen Boden hinter ihnen hin. „Zurück können wir sowieso nicht mehr.“ Abermals kippte das Labyrinth nach vorne. Ariane prallte gegen Secret, der ihr den Rücken zugewandt und damit nicht gerechnet hatte. Dieses Mal konnte er das Gleichgewicht nicht halten und stürzte nach vorn – genau auf eine der Kacheln. Im gleichen Moment kam das Labyrinth wieder in eine waagrechte Lage. Ariane, die durch die Pufferung von Secret auf den Beinen stehen geblieben war, blickte entsetzt und reuevoll auf ihn hinab. Secret biss die Zähne zusammen und starrte wie alle anderen auf die Platte, auf der seine rechte Hand gelandet war. Schlagartig färbte sich nicht nur diese Kachel, sondern auch neunundvierzig weitere in ein helles Gelb. Auf einigen waren nun Einsen und Zweien zu erkennen. „Was ist das jetzt?“, rief Vitali. Justin begutachtete die Zahlen und das Bild vor sich eingehend, es kam ihm irgendwie bekannt vor. „Es sieht aus, wie ein MineSweeper Spielfeld!“, gab Vivien von sich. Jetzt erkannte es auch Justin. „Ein was?“, entfuhr es Serena. „Du kannst wieder aufstehen.“, verkündete Vivien dem immer noch regungslos kauernden Secret. „Es ist keine Mine.“ Ariane, die sich neben Secret gekniet hatte, drehte sich unsicher zu Vivien. „Bist du dir da auch ganz sicher?“ „Ja, ansonsten wären die anderen Felder nicht aufgedeckt worden.“, sagte sie überzeugt. „Kann mir mal jemand erklären, wovon ihr redet?“, verlangte Serena angespannt. Justin setzte zu einer Erklärung an. „MineSweeper ist ein altes Spiel.“ Währenddessen wollte Ariane Secret wieder aufhelfen. „Es tut mir wirklich leid.“, beteuerte sie zum wiederholten Male. Secret ignorierte ihr Hilfsangebot und kam alleine wieder auf die Beine. Er bedachte sie mit einem kalten Blick. „Sich entschuldigen, ist ein Zeichen von Schwäche.“ Ariane stockte. „Diese Zahlen“, begann Justin und deutete auf die gelben Platten. „zeigen an, wie viele Minen beziehungsweise Fallen sich in den angrenzenden acht Feldern befinden. Wenn keine Zahl drin steht, ist auch keine Mine drum herum.“ Vivien versuchte, es ihnen zu verdeutlichen. „Also, ihr müsst euch das so vorstellen: Ihr betrachtet immer einen Komplex aus neun Feldern. Drei Zeilen und drei Spalten. Und die Zahl im mittleren Feld sagt euch was über die angrenzenden Felder, also die anderen acht.“ Ariane nahm einen geeigneten Sicherheitsabstand zu Secret und den anderen ein. Vitali zog eine Grimasse. „Ich kapier jetzt schon nix mehr. Justin wollte daraufhin zu einer weiteren Erklärung ansetzen, aber Vitali winkte ab. „Hauptsache, ihr checkt das.“ Justin nickte. „Zumindest gibt es jetzt eine Möglichkeit, vorauszuahnen, wo die Fallen liegen. Außerdem sind es bisher nur kleine Zahlen, das heißt, der Schwierigkeitsgrad ist nicht so hoch eingestellt.“ Vivien fügte heiter hinzu: „Zudem brauchen wir nicht alle ungefährlichen Felder aufdecken, sondern nur so viele, wie wir zum Weiterlaufen brauchen!“ Die anderen verstanden zwar nicht genau, wovon die beiden da sprachen, aber es klang positiv. . „Welches Level bist du?“, fragte Vivien Justin. „Profi schaffe ich nicht immer, und du?“ „Wow!“, stieß Vivien aus. „Ich bin nur Anfänger. Aber viele Köpfe sind besser als einer!“ Wieder begann das Labyrinth zu wanken. „Versucht das Gleichgewicht zu halten.“, sagte Secret, woraufhin Ariane vor Scham ein Stück kleiner wurde. Vitali neben ihr versuchte sie aufzumuntern. „Ey, der Muskelprotz hätte das locker aushalten müssen. Tja! Aufgeblasene Muskeln sind eben doch nicht das Wahre!“ Er grinste Ariane an. „Nächstes Mal musst du eben auf mich fallen.“ Er zeigte ihr den erhobenen Daumen. Ariane lächelte. „Vermutlich ist es ihr lieber auf Secrets Muskeln zu fallen als bei dir auf Haut und Knochen.“, sagte Serena bissig und kam wieder auf die Beine. Dass Vitali anscheinend mit Ariane flirtete, ging ihr gewaltig auf die Nerven! „Alter, was –“ Vitali brodelte. Vivien kicherte. „Serena will wohl von dir aufgefangen werden.“ „Was!“, schrie Serena. Vivien zuckte nur mit den Schultern und betrat die gelben Kacheln, dabei die Arme wie ein Seiltänzer von sich gestreckt. „Das ist nicht wahr!“, kreischte Serena. Ariane lächelte Serena beschwichtigend an und folgte Vivien nach. „Das ist nicht wahr.“, grummelte Serena. Justin und Vivien bahnten ihnen in Absprache miteinander einen Weg nach vorne. Der Schwierigkeitsgrad war glücklicherweise tatsächlich nicht besonders hoch gewählt worden, so dass sie bis auf ein paar weitere Schwankungen des Labyrinths einigermaßen einfach vorankamen. Nach einigen Metern bog der Weg nach rechts ab, dann wieder grade aus und nach links Plötzlich ließ Vitali einen Schrei los. Die anderen folgten seinem Blick und erkannten dass aus der Wand der nächsten Abzweigung der Oberkörper eines Schatthens hervorsprang. Die Kreatur war vollkommen überzogen von der Bausubstanz des Labyrinths, so dass es wirkte, als würde die Wand gerade die Skulptur eines Schatthen gebären. „Meintest du das mit dem gelösten Problem?“, wollte Ariane von Secret wissen. Secret blieb ungerührt: „Einer Falle konnte er eben nicht entkommen.“ Serena gelang es nicht, ihren Blick von dem Schatthen zu wenden. „Du meinst, das könnte uns als nächstes passieren?“ „Der Weg war bisher ein Spaziergang.“, meinte Secret. „Ich bezweifle, dass das so bleibt. Vielleicht will man uns zunächst in Sicherheit wiegen.“ „Wir sollten ruhig bleiben und einen kühlen Kopf bewahren.“, sagte Justin. Er wollte nicht riskieren, dass die anderen sich wieder zu viele Sorgen machten. Daher konzentrierte er sich wieder darauf, auf welches Feld er als nächstes treten konnte. Schnell hatte er eine passende Kachel gefunden. Unglücklicherweise färbte sich nur eine Platte. Erst bei seinem nächsten Schritt wurden mehrere Felder aufgedeckt, doch dieses Mal gab es ein anderes Problem. Die Fallenanzahl war gestiegen, nun lagen einige Dreier und Vierer nebeneinander, aus deren Konstellation nicht abzulesen war, welche Felder sicher waren. Auch den anderen fiel das längere Zögern von Justin auf. Selbst Vivien, die das Bild nun ebenfalls in Augenschein nahm, konnte nicht sofort aushelfen. „Was ist?“, wollte Ariane wissen. Justin wandte sich zu den anderen. „Das wovon Secret gesprochen hat. Es ist nicht mehr so leicht wie vorher.“ „Und was soll das heißen?“, wollte Serena wissen. Erneut wurden sie von ihrer Umgebung durchgeschüttelt. „Dass wir uns jetzt auf unser Glück verlassen müssen.“, antwortete Vivien an Justins Stelle und machte alsdann einen Schritt auf eine zugedeckte Fläche. Langsam blickte sie auf die Platte, die sie betreten hatte und atmete auf. Die Kachel war gelb geworden und zeigte eine Eins. Die anderen sahen sie fragend an. „Woher wusstest du...“, staunte Justin. Vivien streckte kurz die Zunge heraus. „Ich hab geraten!“ „Du hast was?!“, schrie Serena. „Hast du sie noch alle?! Du spielst hier mit unseren Leben!“ „Ey, was hätte sie denn sonst tun sollen, wenn wir mit Logik nicht weiterkommen?“, verteidigte Vitali den Rotschopf. „Oh ja! Ohne Logik! Vielleicht solltest du jetzt die Führung übernehmen, damit kennst du dich doch sicher aus!“, keifte Serena. „Halt mal die Luft an! Ohne unsere Hilfe wärst du schon längst tot!“, gab Vitali zurück. „Stopp!“, rief Ariane. „Vivien und Justin machen hier gerade die ganze Arbeit. Ich finde, sie haben unser Vertrauen verdient.“ Serena funkelte sie an. „Oder willst du etwa übernehmen?“, fragte Ariane Serena. Serena schwieg. Justin atmete aus und konzentrierte sich wieder darauf, die nächste ungefährliche Platte zu finden. Vivien machte ihm dafür Platz. Der Weg war jetzt nur noch sehr schmal, sodass sie hintereinander gehen mussten. Doch nur wenige Schritte weiter stockte Justin abermals. „Tut mir leid, aber hier kommt man wirklich nur noch durch Ausprobieren weiter.“ Vivien sah Serena fragend an, als benötige sie eine Genehmigung von ihr. „Was siehst du mich an?“, fragte Serena. Hatte Vivien etwa Angst vor ihr? Ariane schlug vor: „Wir könnten abstimmen, welches Feld wir nehmen sollen.“ Unerwartet ergriff Serena nochmals das Wort. „Das kostet uns zu viel Zeit und vermutlich können wir uns eh nicht einigen. Lass sie machen.“ Vivien lächelte. Sie wartete nochmals ab, ob sonst jemand Einwände hatte. Aber keiner sagte etwas. Schließlich sah sie auf den Boden. Von ihrer Entscheidung hing jetzt alles ab. Sie traf ihre Wahl und trat mit ihrem Fuß auf eine der Flächen. Ihre Augen weiteten sich. Rot. „Vorsicht! Das ist eine –“ Das Labyrinth gab ihr nicht die Zeit ihren Satz zu vollenden. Kapitel 9: Über Fallen ---------------------- Über Fallen „Die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Ziele kommt.“ (Johann Wolfgang von Goethe, dt. Dichter und Denker) Ehe Secret sich der Situation überhaupt bewusst werden konnte, spürte er nur wenige Zentimeter neben sich einen brennend heißen Luftzug und erkannte, mehr unwillkürlich das riesige Einschlagloch mit dem noch qualmenden Geschoss in dem Boden neben ihm. Die sechs rannten los. Blindlings jagten sie durch den Meteoritenschauer, verschwendeten keinen Gedanken daran, dass sie dadurch noch mehr Fallen auslösten, und wurden von einer erneuten Salve flammender Gesteinsbrocken bombardiert. In ihren Ohren dröhnte das alles übertönende Pfeifen, das üblicherweise den Abwurf von Bomben untermalt. Die Luft war verpestet von Schwefelgestank. Sie hasteten, stolperten, rannten weiter. Vor Justins Füßen tat sich eine Falltür auf, durch die er in ein Dutzend metallener Spieße gestürzt wäre, hätte er nicht im letzten Moment einen Sprung nach links gemacht. Genau in diesem Moment schwenkte das Labyrinth nach rechts. Justin schaffte es nicht, das Gleichgewicht zu halten. Sein Oberkörper schwebte über dem Loch, dann verlor er endgültig den Halt. Für eine Millisekunde bohrte sich der Anblick der tödlichen Stacheln in sein Gedächtnis, schließlich wurde er mit einem schmerzhaften Ruck endgültig zurück in die Senkrechte gebracht und stand neben Vitali. „Justin am Spieß steht nicht auf der Speisekarte.“, wollte Vitali sagen, aber für coole Sprüche war keine Zeit, genauso wenig wie für lange Dankesbezeugungen. Sie hetzten weiter. Secret richtete seinen Blick kurz auf den Boden, um zu sehen, wie viele Fallen erneut ausgelöst wurden, dabei fielen ihm die großen, runden Schatten auf. Im letzten Moment konnte er dem brennenden Gestein ausweichen, das direkt auf ihn zugerast war. So laut er konnte schrie er den anderen seine Erkenntnis zu, dass der Aufschlagpunkt an den Schatten abgelesen werden konnte. Daraufhin schien eine regelrechte Massenpanik auszubrechen. Brutal stießen die sechs einander aus dem Weg, schupsten, zogen und zerrten diejenigen, die sich knapp vor oder neben ihnen befanden. Was nach panischer Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht aussah, war in Wirklichkeit das Bemühen der sechs, einander aus der Schussbahn zu befördern. Seitenstechen rammte Serena imaginäre Dolche in den Leib, oder war es die Panik? Sie verspürte den drängenden Wunsch, einfach stehen zu bleiben. Immer langsamer wurde sie und konnte nicht mehr zu den anderen aufschließen. Ihre Lungen schmerzten und die Verzweiflung, in diesem Labyrinth zu sterben, nahm ihre Gedanken ein. Jäh spie die Wand rechts von ihr eine beißend stinkende Flüssigkeit aus, die beim Kontakt mit dem Boden gefährlich zischte und ihn wegätzte. Reflexartig bedeckte Serena ihren Mund mit beiden Händen, um ihre Atemwege vor den säureartigen Dämpfen zu schützen, und rannte in großem Bogen an dem immer größer werdenden Loch vorbei. Doch in diesem Moment spuckte die Wand erneut und etwas traf Serena am rechten Oberarm. Geschockt schrie sie auf. Sie glaubte zu spüren, wie ihr Arm langsam zerfressen wurde. Plötzlich wurde sie an ihrem anderen Arm gepackt und weitergezerrt. In ihrem Schock war sie stehen geblieben, ohne es überhaupt zu bemerken. Noch während des Rennens starrte Serena auf ihren Arm, und machte sich auf den schlimmsten Anblick ihres Lebens gefasst. Dieser Anblick blieb aus. Ihr Arm war noch da. Unversehrt. Sie hatte keine Zeit über diesen Umstand nachzudenken und darüber, welche Rolle ihre seltsame Kleidung dabei spielte. Erst jetzt erkannte sie, dass Ariane sie mit sich zog. Arianes Augen waren fest nach vorne gerichtet. Bloß nicht anhalten! Doch die vordersten von ihnen hatten genau das getan. Direkt vor der Biegung nach rechts hatten sie gestoppt. Ein schrecklicher Verdacht machte sich in Ariane breit. Was, wenn sie sich in einer Sackgasse befanden? Eine unerwartete Druckwelle warf Serena und Ariane im nächsten Atemzug vornüber. Hinter ihnen erstreckte sich mit einem Mal ein riesiger Krater. In dessen Mitte steckte ein Felsbrocken, der die gesamte Breite des Gangs eingenommen hatte. Der Weg zurück war nun endgültig versperrt. Ariane sprang wieder auf und zerrte Serena auf die Beine, weiter zu den anderen. Tatsächlich fanden sie dort eine Art Mauer vor, aber diese war eindeutig auf eine der Fallen zurückzuführen und nicht auf eine Sackgasse. Die Mauer war aus mehr als zwei Dutzend aufeinander gestapelten Quadern aufgebaut. Die anderen stemmten sich bereits mit voller Wucht dagegen, um das Hindernis zum Einsturz zu bringen. Ohne lange nachzudenken, tat Ariane es ihnen gleich. Mit vereinten Kräften und von Panik getriebener Gewalt gelang es ihnen. Polternd stürzte die Konstruktion in sich zusammen und die sechs sprangen zurück, um nicht darunter begraben zu werden. Eilig kletterten sie über die Trümmer hinweg. Es herrschte jähe Stille. Das pfeifende Geräusch der herabschießenden Feuerkugeln, der schwefelartige, verbrannte Geruch und das Prasseln der Feuersbrunst waren verschwunden. Auch Erschütterungen durch weitere Einschläge blieben aus. Gierig füllten die sechs ihre Lungen mit Luft und blieben für einen Moment stehen. Der Meteoritenhagel war offenbar auf einen bestimmten Teil des Labyrinths beschränkt gewesen, der hier sein Ende fand. Was vor ihnen lag, hatte auch nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Bereich des Labyrinths, den sie erkundet hatten. Sie sahen sich einer Art Wald aus unzähligen aus den Wänden sprießenden tiefgrünen, dicken Ranken gegenüber. „Nette Einrichtung.“, wollte Vivien kommentieren, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, unterließ es dann aber. „Dort.“, presste Justin hervor und deutete auf den Boden unter den Schlingpflanzen. An diesen Stellen schienen die Platten deaktiviert worden zu sein. Sie hatten eine merkwürdig fahle Farbe angenommen, als sei ihnen der Saft ausgegangen. „Vielleicht lösen wir so nicht noch mehr Fallen aus.“ „Ob es gut ist, diesen Dingern so nah zu kommen?“, wandte Ariane ein. „Besser als mehr Fallen auslösen.“, meinte Vitali. Secret sah nach hinten zu dem Bereich, aus dem sie gekommen waren „Es sind noch genug aktiv.“ Unversehens hörten sie nun ein Donnern, dessen Ursprung sie nicht sofort ausmachen konnten. Ängstlich horchten sie. Das unheilvolle Grollen kam aus einem hinteren Teil des Labyrinths. „Eine Felskugel.“, sagte Secret. „Sie rollt auf uns zu.“ Vitali beäugte ihn kleingläubig. „Woher willst du das denn wissen?“ Secret sah ihn nicht an und antwortete nicht. Serena hatte noch nicht den Atem dazu, dies entsprechend zu kommentieren. Auf einmal war ihr, als sacke der Boden unter ihrem linken Fuß ab. Sie konnte ihn gerade noch wegziehen, ehe die Kachel auf der sie gestanden hatte, wie ein Würfel in die sich aufgetane Tiefe fiel. „Bricht der Boden schon wieder ein?“, fragte Ariane. „Denen fällt auch nichts Neues ein.“, beschwerte sich Vitali. Demonstrativ trat Vivien erst kräftig auf die eine, dann auf die andere Kachel, auf der sie stand. „Nicht alle Platten sind unsicher.“, verkündete sie. Keine, auf der sie stand, hatte sich bewegt. Im nächsten Moment musste auch Justin seinen Standplatz ändern, um nicht in die Tiefe gerissen zu werden. „Die Flächen mit den Fallen scheinen in diesem Stück einfach ins abzustürzen, wenn man sie betritt.“, schlussfolgerte er. Vivien sah das positiv. „Dann lösen wir nicht noch mehr Fallen aus!“ „Aber die Zahlen sind auch verschwunden. Wir müssen gut aufpassen.“, erwiderte Justin. „Vor allen Dingen müssen wir uns beeilen.“, fügte Secret hinzu. „Bevor die Kugel uns erreicht.“ Vitali warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Vorsichtig setzten sie ihren Weg fort. Erneut stürzten Teile des Bodens ab. Bald hatten sie kaum noch Platz um den Löchern auszuweichen. „Der Weg löst sich noch vollständig auf!“, schimpfte Serena. „Schneller.“, drängte Secret. Sein Pseudo-Anführergehabe reizte Vitali zusehends. „Ich renne voraus! Dann seht ihr den sicheren Weg!“, verkündete Vitali, dabei darum bemüht, besonders heldenhaft zu klingen, und rannte auch schon los, ehe die anderen noch Zeit hatten zu protestieren. „Warte!“, schrie Justin und hetzte Vitali hinterher. Derweil sahen die anderen mit Entsetzen zu, wie immer größere Flächen hinter Vitali ins Nichts stürzten. Vitali schnaufte. Er rannte so schnell er konnte, aber es schien ihm, als bräche der Boden in einer zunehmenden Geschwindigkeit unter ihm weg. Wieder spürte er das Absinken einer der Platten unter seinen Füßen. Im letzten Moment hüpfte er auf die nächste Fläche – und brach endgültig ein. Gerade noch bekam er die Flächen vor sich zu fassen und klammerte sich an diese. „Halt dich fest!“, rief Justin Vitali zu und versuchte sich schnellstmöglich einen halbwegs sicheren Weg zu ihm zu bahnen. „Und ich dachte schon, ich soll loslassen!“, dachte Vitali, war aber zu sehr damit beschäftigt, sich festzuhalten, um es laut auszusprechen. Er spürte wie seine Arme von der Last zu schmerzen begannen und er weiter nach unten rutschte. „Beeil dich!“, brüllte er. Endlich kniete Justin vor ihm und packte ihn. Justin musste alle Kraft aufwenden, um Vitali auf die sichere Fläche zu ziehen. Glücklicherweise stellte das ständige Kistenhieven im Laden seiner Eltern ein kostenloses Muskeltraining dar. Mit einem letzten Ruck, gelang es ihm, seinen Kumpan aus der größten Gefahrenzone zu schaffen. Erschöpft setzte Justin sich zurück auf seine Unterschenkel. Vitali, der keuchend neben ihm lag, gab ein erschöpftes „Danke, Mann.“ von sich. „Kannst du aufhören, immer vorauszurennen?“, bat Justin. Vitali lächelte bloß schwach. Justin wandte sich wieder den anderen zu: „Geht nicht so weit nach außen!“, befahl er. Das war leichter gesagt als getan. Der Weg war mittlerweile löchriger als ein Schweizerkäse. Um den Löchern auszuweichen, war es geradezu unumgänglich, sich dem Rand zu nähern. Dazu kamen noch die unvorhersehbaren Bewegungen des Labyrinths. Als es nach rechts schwenkte, konnte Ariane nicht verhindern, den Ranken gefährlich nahe zu kommen. Und dieser eine Moment genügte. Die angeblichen Ranken erwachten zum Leben. Wild peitschten sie hin und her und ergriffen jeden, der sich in ihrer Reichweite befand. Ariane wurde zur Wand gezerrt. Unbarmherzig umfassten die Auswüchse ihr Opfer und ketteten sie an die Wand. Panisch versuchte Ariane sich aus dem Griff der Ranken zu winden, doch davon schienen die Tentakel nur noch brutaler zu werden. Immer mehr davon kamen und schlossen sich um ihren Körper, ihre Beine, Taille und Arme, weitere schlängelten sich über ihr Gesicht. Ariane unternahm einen weiteren Versuch, sich der Übermacht zu entziehen. Mit letzter Kraft entriss sie die Linke dem Würgegriff und streckte sie verzweifelt und zitternd nach etwas oder jemandem aus, der sie erretten möge. „Hilfeeee!“, schrie Serena aus voller Kehle und bekam gerade noch Arianes Handgelenk zu fassen. Aber wie lange konnte sie sie halten? Die Gegenkräfte waren gewaltig und mit der einen Hand musste Serena sich auch noch gegen die Übergriffe der übrigen Fangarme wehren. Zumindest stand sie auf festem Boden. Vivien und Secret spurteten zurück zu den beiden Mädchen, Justin und Vitali ihnen hinterher. So einfach war das allerdings nicht. Ein unbesonnener Schritt und sie stürzten in die Tiefe oder fielen den Angreifern ebenfalls zum Opfer. Von weitem erkannte Vitali, wie von oben eine der Ranken auf Serena zu schnellte. „Serena!“ Sie riss den Kopf zu ihm herum. Im gleichen Moment stand Secret direkt neben ihr. Er hatte den Schlag abgefangen, von dem Serena nicht einmal etwas ahnte. Mit beiden Händen hielt er den Riesententakel fest und drückte hernach mit voller Kraft zu. Einen Moment wehrte sich die Kreatur noch, dann krümmte sie sich unter Schmerzen und zog sich endlich zurück. Gleichzeitig half Vivien Serena dabei, Ariane von ihren lebendigen Fesseln zu befreien, derweil Justin, der sie nun auch erreicht hatte, samt Secret weitere Angriffe der Tentakel abwehrte. „Achte du auf die Kugel!“, schrie Justin Vitali zu, der sich gerade auch ins Getümmel stürzen wollte. Darüber, dass es nicht zu seinen besten Einfällen zählte, ausgerechnet dem ungeduldigen Vitali diese Aufgabe zu übertragen, konnte Justin jetzt wirklich nicht nachsinnen. „Welche verdammte Kugel!“, fluchte Vitali. Den anderen keinen Beistand zu leisten und zusehen zu müssen, wie sie sich allein gegen die Ungetüme zur Wehr setzten, wollte ihm nicht einleuchten. Egal, ob er Justin nun etwas schuldig war oder nicht. Schlagartig wurde das Donnern von zuvor noch lauter. Geschockt drehte Vitali sich um. Mit einem Höllenlärm rollte um die etwa dreißig Meter entfernte Ecke eine riesige Felskugel. Als sie gegen die Wand schmetterte, erbebte die gesamte Umgebung, sodass die sechs fast von den Füßen gerissen wurden. Für einen Sekundenbruchteil glaubte Vitali, die Kugel bliebe nun in der Wand stecken, doch selbst wenn es so gewesen wäre, die Schwenkbewegungen des Labyrinths machten diese Hoffnung zunichte. Das Labyrinth beugte sich und brachte die Kugel erneut in Fahrt. In bedrohlichem Tempo donnerte sie den sechsen entgegen. Die Bahn des Geschosses war nicht abzuschätzen, da sie ständig durch das lautstarke Schrammen an den Wänden abgeändert wurde. Vitali musste mit Schrecken erkennen, dass der Muskelprotz wirklich Recht gehabt hatte. Ariane war von oben bis unten von unzähligen Tentakeln umschlungen, auch ihr Gesicht verschwand hinter dem wuchernden Giftgrün. Konnte sie überhaupt noch atmen? Zumindest schien sie noch immer Gegenwehr zu leisten, auch wenn die Tentakel sie nahezu bewegungsunfähig gemacht hatten. Mit aller Kraft zerrten Vivien und Serena an den Ranken. Aber diese bewegten sich einfach nicht! Automatisch schrie Vivien Justins Namen. Sofort stürmte der Junge ihr zur Seite und überließ solange Secret die Abwehr. Justin packte einen dicken Tentakel um Arianes Taille. Im ersten Moment schien es, als würde dieser angesichts des stärkeren Griffs tatsächlich nachgeben. Daraufhin biss Justin die Zähne zusammen und zog noch einmal so fest er konnte. Urplötzlich riss das Ungetüm ihn jedoch mit einer unheimlichen Stärke brutal zur Wand hin. Justin, darauf nicht vorbereitet, verlor den Halt und war nunmehr nichts weiter als ein Spielball. Mit voller Wucht wurde er nach hinten geschleudert. Kurz segelte er durch die Luft und schlug dann mit einem stechenden Schmerz auf dem Boden auf. Augenblicklich brachen die Platten unter ihm weg. Justin versuchte, noch rechtzeitig hochzufahren, doch auf halbem Weg nach oben musste er einsehen, dass die Gewichtskraft und der durch den Sturz hervorgerufene Schwindel stärker waren als seine Bemühungen. Er kippte zurück nach hinten. Gerade als er glaubte, in das Schwarz zu fallen, umklammerte ihn jemand. Vivien hatte sich zu ihm geworfen und seinen Brustkorb umschlungen. Mit ihrem gesamten Gewicht stemmte sie sich nach hinten und landete auf dem Rücken, Justin genau über ihr. Er stützte sich auf seine Unterarme und sah Vivien an. „Keine Zeit!“, rief Vivien. Mit hochrotem Kopf rappelte Justin sich schnellstmöglich auf. Das Labyrinth war währenddessen in die andere Richtung gewippt und hatte die Fahrt der Kugel kurzzeitig umgekehrt. Das schenkte den sechsen kostbare Augenblicke. Secret schlug sich tapfer gegen die Übermacht an Tentakeln, die von allen Seiten auf ihre Opfer niedersausten. Wieder wand sich eines der Dinger um seinen rechten Arm. Secret griff mit der Linken danach, um es von sich zu lösen, als bereits ein weiterer Angreifer auf ihn zu sauste. Seine Linke wurde erfasst. Mit seinem ganzen Gewicht stemmte Secret sich gegen den Griff. Weitere Fangarme, die sich der neuen Beute sicher waren, kamen heran. Einer davon schoss wie ein Speer auf Secrets linken Oberarm zu, als ob die Geschöpfe seine Schwachstelle kannten – oder diese sie rief. Er versuchte auszuweichen, doch die Ranken um seine Arme schränkten seine Bewegungsfreiheit gehörig ein und machten ein Entkommen unmöglich. Seine Wunde wurde getroffen. Schmerz überflutete Secrets Sinne. Seinen gepeinigten Aufschrei nahm er gar nicht mehr wahr. Ihm wurde schwarz vor Augen, er brach in sich zusammen. Jemand oder etwas packte ihn und riss ihn nach hinten. So dünn Vitali auch war, schwach war er nicht. Er hatte Secret gerade noch aus den Fängen der Tentakel befreien können. „Wir müssen hier weg!“, brüllte er aus voller Kehle. Die Kugel donnerte weiter auf sie zu. Mit aller Kraft biss Ariane in den Tentakel vor ihrem Gesicht, doch er war der einzige, der von ihr abließ. „Arianeee!“, kreischte Serena schrill. Eine unbändige Auflehnung dagegen, so behandelt zu werden, raste durch Arianes Adern, Auflehnung gegen diese gottverdammten Ranken! Ihr innerer Widerstand entlud sich. Schneller als ihm die Augen folgen konnten, entsprang Arianes Körper eine unsichtbare Barriere, die sich um den Bereich, an dem die sechs standen, legte. Zeitgleich prallte die Felskugel mit voller Wucht auf das plötzlich entstandene Hindernis, so dass gelb-orangene Lichtblitze über die Oberfläche des Schutzschildes flackerten. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte die Kugel in tausend Einzelteile, derweil die Schlingpflanzen sich unter schrillen Schreckenslauten zurückzogen. Ariane stürzte in Serenas Arme, die sich in Panik an sie gedrückt hatte. Im gleichen Atemzug war der Schutzschild verschwunden. Serena sank mit Ariane zu Boden. Secret lag rücklings halb auf dem Boden und halb auf Vitalis Schoß. Er atmete schwer. Der Schmerz in seinem Arm ließ nur langsam nach. Vitali schaute sich um. Alle unsicheren Platten waren von dem Druck abgestürzt. Unzählige Bruchstücke der Felskugel lagen herum. „Was ist passiert?“, fragte er. „Sie hat einen Schutzschild ausgelöst.“, sagte Secret atemlos. Vitali blickte ihn argwöhnisch an. „Ist alles ok?“, erkundigte sich Justin nach dem Befinden der anderen. Ariane schnappte nach Luft, sie befand sich immer noch in Serenas Armen und realisierte erst nach und nach, dass sie tatsächlich noch lebte. Es war zu unglaublich, als das es echt sein konnte. Aber sie fühlte ihren Körper, fühlte Serenas wild klopfendes Herz. Und gleichzeitig erinnerte sie sich an das Gefühl von eben. Als ob ein dünner Film um ihren Körper sich schlagartig ausgeweitet hätte. Als ob ihr Überlebenswille aus ihr ausgebrochen war. Wie gelähmt saßen die sechs da. Sie fühlten eine gespenstische Ruhe, als wäre das alles gar nicht wirklich passiert. Sekunden lang übertönte ihr lebenshungriges Japsen und Keuchen und das Pochen des Blutes in ihren Ohren jedes andere Geräusch. Schließlich presste Vivien erste Worte hervor. „Es ... ist nicht normal, dass Wände näher kommen, wenn man sich nicht bewegt... Stimmt’s?“ Serena funkelte sie grimmig an. „Wenn das wieder einer deiner blöden Scherze sein soll.“ Vivien schüttelte langsam ihren Kopf und starrte auf den Boden. Kleine Risse waren in den Platten aufgetaucht, die direkt an die Wände stießen. Unter leisem Knacken vermehrten sich die Sprünge. Der Druck, der von den Wänden her auf sie einwirkte, wurde immer stärker. Sie betrachteten weggetreten die gegenüberliegende Wand. Das gleiche Bild. Die Wände bewegten sich aufeinander zu. Eine gespenstische Ruhe füllte das Innere der sechs aus. Für einen Moment waren sie sich sicher, dass das alles nur ein Aprilscherz war. Ein Aprilscherz Ende August. Und wenn sie einfach stehenblieben, dann würde jemand im letzten Moment die Wände anhalten und ihnen zurufen: „Haha, reingefallen!“ Und dann wäre alles gut und sie könnten wieder nach Hause gehen, in ihre Betten liegen und weiterschlafen, als wäre nie etwas gewesen. Genau so würde es sein. Doch Secrets Stimme zerfetzte diese Wunschvorstellung. „Weg hier!“ Noch eine Millisekunde brauchte es, um sich von der ihre Sinne betäubenden Trägheit loszureißen, von dem Gedanken, einfach aufzugeben. Noch immer weigerte sich ihr Verstand, diese eindeutige Überreizung des Spannungsbogens hinzunehmen. Vielleicht hatten die zahlreichen Filme, die auf ein großes Finale und ein anschließendes Happy End hinausliefen, ihre Weltvorstellungen verzerrt. Vielleicht war aber auch nur der Intendant dieses grausamen Schauspiels ein unfähiger Stümper, der nichts vom dramatischen Aufbau verstand und stattdessen bloß eine sinnlose Todesaktion die nächste jagen ließ. Justin sah zu Serena und Ariane. „Ich kümmere mich hierum.“, sagte Vivien zu ihm. „Schau du nach den Fallen.“ Er nickte und joggte voraus. Vitali wollte mitziehen, wurde aber von Justin aufgehalten: „Hilf ihm!“ Vitali begriff, dass Secret nicht von alleine aufgestanden war. Vivien half derweil Ariane auf die Beine. Serena unterstützte auf der anderen Seite. „Es geht schon.“, versicherte Ariane. Sie wandte sich an Serena. „Geh du vor. Ich hol dich wieder ein.“ Vivien pflichtete ihr bei. „Wir sollten Justin nicht ganz allein lassen.“ Serena nickte und machte sich auf den Weg – was angesichts der umherliegenden Bruchstücke der Felskugel und dem durchlöcherten Weg schon schwer genug war. „Du solltest sie begleiten.“, sagte Ariane. „Nur für den Fall.“ Die Schwenkbewegungen des Labyrinths waren aufgrund der Löcher nun gefährlicher denn je. „Und du?“ „Ich hefte mich an Vitali und Secret.“ Vivien sah zu den beiden Jungs. „Schneller!“, forderte Secret. „Alter, du kannst doch nicht richtig laufen!“, schimpfte Vitali. Vivien nahm Arianes Hand und rannte mit ihr zu den Jungs vor. Anschließend löste sie sich von der Gruppe und überholte, um Serena Beistand zu leisten. Hinter der nächsten Ecke, um die auch die Felskugel gekommen war, fand Justin endlich wieder festen Boden vor. Aber wenn er gehofft hatte, dass die Wände sich hier nicht bewegten, dann wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Ehe sie die nächste Abzweigung erreichen würden, hätten die Wände sie schon längst zermalmt. Justin starrte auf den Boden. In seiner Aufregung war das das einzige, das ihm noch einfiel: Den sicheren Weg finden. Laut knallend zersprangen die ersten Platten, die den Wänden im Weg gewesen waren. „Ich kann übernehmen.“, bot Ariane Vitali an, der noch immer Secret stützte. „Der ist zu schwer für dich.“, sagte Vitali. „Ich kann alleine laufen.“, verkündete Secret, aber er sah dabei sehr blass aus. „Wenn er alleine laufen kann, wird er ja nicht so schwer sein.“, behauptete Ariane. Vitali stieß ein entnervtes Geräusch aus und ließ von Secret ab. „Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Ariane nickte, während Vitali nun an Geschwindigkeit zulegte. Sie legte Secrets rechten Arm um ihre Schulter. Im gleichen Moment erschauderte sie. Das ekelhafte Gefühl, das die Ranken in ihr ausgelöst hatten, überkam sie. Secret entzog ihr seinen Arm. „Lauf.“ Ihm war nicht entgangen, wie sie auf den Körperkontakt mit ihm reagiert hatte. Ariane holte Luft. „Du läufst vor. Und zwar schnell.“ Er nickte und joggte los. Da Vivien sich Serenas Tempo angepasst hatte, kam Vitali noch vor ihnen bei Justin an. „Was machst du da!“, rief er. „Die Wände!“ Justin war grade mal ein paar Schritte weitergekommen. „Wir können nicht noch mehr Fallen auslösen.“, sagte er. „Wir werden zerquetscht!“, beharrte Vitali. Dennoch blieb er dieses Mal bei Justin stehen, statt vor zu preschen. Schweißperlen standen auf Justins Stirn, er versuchte, sich zu beeilen. Ein dumpfes Geräusch erklang und zehn Zentimeter dicke Stangen kamen aus den Wänden geschossen. Der Durchweg war versperrt. Vitali stieß das derbste Schimpfwort aus, das ihm einfiel, während Justin entsetzt und wortlos auf sein Werk starrte. Er hatte sie alle zum Tode verurteilt. Jemand packte ihn entschieden am Arm und Justin erwartete, dass ihn nun jemand ohrfeigen oder ihm eine reinschlagen würde. Stattdessen sah er sich Vivien gegenüber, die ihn anstrahlte. „Super!“ Justin war schlecht und er wusste nicht, ob es an ihm lag, aber die Ironie war aus Viviens Stimme ganz und gar nicht herauszuhören. „Jetzt können wir hochklettern und auf den Wänden weitergehen, ohne noch weitere Fallen auszulösen!“, hörte er sie glückselig sagen. „Was?“ Erst im nächsten Atemzug hatte er ihre Worte verarbeitet. Unterdessen waren auch Serena, Secret und Ariane eingetroffen. Sie hatten Viviens Einfall gehört. Vivien warf einen Blick auf die anderen. Von Secrets Haltung her konnte sie erahnen, dass es seinem linken Arm nicht gut ging und Serenas Gesichtsausdruck machte überdeutlich, dass die Vorstellung, dort hoch zu klettern, für sie einen Albtraum darstellte. „Justin, kannst du mit Secret klettern? Und Vitali, du mit Ariane? Ich gehe mit Serena vor.“ Auf die Worte hin wurde Serenas Mimik leicht panisch. Sie schüttelte den Kopf. „Wir anderen können vorgehen.“, schlug Justin vor. Vivien nickte. Das schien Serena etwas zu beruhigen. Justin wollte Secret fragen, ob es mit dem Arm ging, aber Secret war schon an ihm vorbeigelaufen und begann mit dem Klettern. Er tat es ihm gleich. Vitali und Ariane folgten. Serena beobachtete, wie tapfer die anderen, ohne zu murren, den Aufstieg begannen, als wäre es selbstverständlich. Sie kam sich schäbig vor. Wieso konnte sie nicht so sein? Unwillkürlich schossen ihr die Worte des Schatthens durch den Kopf: „Die Schwächste!“ Vivien wandte sich an sie. „Bereit?“ Serena trat zaghaft an die Stangen heran, während Vivien sich bereits hinaufschwang. „Du musst mit dem Fuß auf die erste Stange treten und dich dann an einer höheren hochziehen auf die nächste. Wie bei einer Leiter.“, erklärte Vivien. „Ich weiß.“, zischte Serena, obwohl sie es nicht wusste. Umständlich stieg sie auf das Klettergerüst und folgte Vivien mit unbeholfenen Bewegungen. Anfangs konnten die sechs noch zu zweit nebeneinander klettern, doch nach kurzer Zeit grenzten die Wände sie so weit ein, dass dies nicht länger möglich war. Die Wände waren nur noch etwas mehr als einen Meter voneinander entfernt. Noch einmal nahmen sie alle Kraft zusammen, um schneller voranzukommen. Justin erreichte als erster den Abschluss der Mauern, zog sich hinauf und reichte Secret die Hand. Ariane und Vitali waren die nächsten. Mit Besorgnis erkannte Justin, dass Serena und Vivien weit zurückgefallen waren. Der Platz zwischen den zwei Wänden war zusammengeschrumpft. Und das Labyrinth neigte sich kurz nach hinten. Panische Angst, sie könne abstürzen, machte sich in Serena breit. Sie klammerte sich an die Stangen. Zudem war sie etwas weit nach links geraten. Die eine Wand hatte sie dadurch schon fast erreicht. Ihre Muskeln taten weh. Sie würde das niemals schaffen! Und die Wände kamen immer näher und näher. Vor Verzweiflung wollte sie schreien. Viviens Stimme erklang neben ihr. „Es ist nur noch ein Stück.“ Serena wusste, dass das nicht stimmte. In dieser Geschwindigkeit konnte sie das niemals schaffen. „Entspann dich ein wenig. Du machst das toll!“ Ihre Atmung wurde immer flacher. Sie konnte das nicht. Plötzlich schrie Vitalis Stimme von oben. „Geh vor!“ Serena getraute sich nicht, nach oben zu sehen. Plötzlich wurde sie unsanft am Arm gepackt. Sie schrie auf. Die Angst, nach hinten zu kippen war übermächtig. „Ich falle!“, kreischte sie hysterisch. Ihre Gelenke waren nun vollkommen steif geworden. „Ich kann nicht mehr!“, jammerte sie den Tränen nahe. „Du musst aber!“, brüllte Vitali aufgebracht und zerrte an ihr. Sie hatte keine Ahnung, wo er auf einmal herkam. „Halt dich an mir fest und versuch mit den Füßen Halt zu bekommen, klar?!“ Sie sah ihn ängstlich an. Ihr ganzer Körper war verkrampft. „Mach schon!“ Sie konnte sich nicht rühren. „Verdammt!“ Er stieg eine weitere Stange zu ihr hinunter. „Halt dich an mir fest!“, forderte er sie nochmals auf. Dieses Mal griff sie nach seinem Arm und suchte mit ihren Füßen Halt, um näher zu ihm zu kommen. Schließlich schlang sie ihre entkräfteten Arme um seine Taille. „Gut!“, rief Vitali und begann zu klettern. Vivien war derweil oben angekommen und wurde von Justin nach oben gezogen. Sie sah zurück auf Serena und Vitali. „Ihr schafft es!“, schrie sie ihnen entgegen und begann die beiden wie bei einem Wettbewerb anzufeuern, nicht so, als ob es um ihr Leben ginge. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Zumindest schien es auf Vitali eine deutlich positivere Wirkung zu haben als auf Serena. Durch Serenas krampfhaften Griff war Vitali zwar behindert und sie kamen deutlich langsamer voran, als er es sich erhofft hatte, die Wände kamen auch immer näher, aber Viviens Stimme, die begonnen hatte, seinen Namen zu skandieren „Vi.Ta.Li!“, ließ ihn sich auf das Wichtige konzentrieren: Weiterklettern! Er spürte bald den Druck der Wände auf seinen Ellenbogen. Nur noch ein Stück! Hilfesuchend streckte er Justin, Ariane und Secret, die schon bereit standen, die Hand entgegen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die beiden hochzuziehen. Nebeneinander kauerten Serena und Vitali auf der gleichen Wand wie Vivien und Justin. Von der körperlichen und psychischen Anstrengung gezeichnet, schnappten sie nach Luft, während die Wände ungerührt weiter aufeinander zu gingen. „Toll gemacht!“, lobte Vivien die beiden, als hätten sie gerade bei einem Kindergeburtstagsspiel gewonnen. Mit einem Mal kamen alle Gefühle in Serena hoch. Es gelang ihr nicht, sich länger zurückzuhalten. Bitterliches Weinen und Schluchzen quoll aus ihrer Kehle. „Es tut mir leid... Es tut mir so leid.“ Wieso musste sie nur so ungeschickt sein? Wieso brachte sie andere in Gefahr? Wieso konnte sie nicht einfach mal etwas richtig machen? Nett sein, nützlich sein? Sie war so ein Nichtsnutz! Kein Wunder, dass sie keiner leiden konnte. Bevor die anderen reagieren konnten, hatte Vitali das Wort ergriffen. „Was tut dir leid?“, schnauzte er sie in grobem Tonfall an. Serena brachte kein Wort mehr hervor, nur noch Schluchzen. Daraufhin schrie Vitali. „Was tut dir leid?!“ Er selbst war kaum noch mehr als ein nervliches Wrack. „Dass ich so dumm bin…“, wimmerte Serena. „Aber… du bist doch nicht dumm.“, versuchte Ariane sie von der anderen Wand aus zu beruhigen. Ohne Erfolg. Vivien kniete sich zu ihr. „Hey, es ist alles gut. Wir sind doch Freunde.“ Statt Serena zu beruhigen, bewirkten die Worte einen weiteren Ausbruch an Schluchzern. Vivien nahm Serena in den Arm, aber sie spürte, dass sich Serena daraufhin nur noch mehr zusammenkauerte, und ließ sie schweren Herzens wieder los. Serena schluckte die restlichen Tränen hinunter. Sie schämte sich schrecklich. „Ist schon gut. Schon gut.“, gab sie halb erstickt von sich. „Was ist gut?“, schrie Vitali. „Wieso bist du dumm?“ Seine Stimme bebte. „Sind wir alle dumm, weil uns das passiert?“ Er starrte Serena an. In seinen Augen glitzerten Tränen. „Ist es deine Schuld, dass wir hier gefangen sind? Ist es deine Schuld, dass wir hier drauf gehen könnten?“ Seine Worte bewirkten, dass auch die anderen einen Kloß im Hals spürten. „Wir werden nicht sterben!“, kreischte Vivien. In diesem Moment schlugen die beiden Wände aufeinander. Kurz wurden die sechs durchgeschüttelt, dann waren sie alle wieder auf einer Fläche vereint. „Wir sind ein Team!“, plädierte Vivien und ergriff die Hände von Serena und Ariane. „Das heißt, ihr sollt euch an den Händen nehmen!“, forderte Vivien lautstark. Ariane und Justin ergriffen Secrets Hände. Gleichzeitig fasste Justin nach Vitali. Dabei bemerkte er, dass Vitali zitterte und sich vermutlich deshalb zur Seite gedreht hatte, damit die anderen seine Tränen nicht sehen konnten. Aus diesem Grund wollte er ihn nicht dazu auffordern, die Kette fortzusetzen. „Wir schaffen das! Wir alle zusammen! Wir werden gemeinsam hier rauskommen!“, rief Vivien. „Ist das klar?“ Die anderen schwiegen. „Ist das klar?“, wiederholte Vivien noch lauter. Ariane und Justin antworteten mit Ja. „Keiner wird zurückgelassen!“, verkündete sie. Sie drückte Serenas Hand. „Wir schaffen das, alle zusammen.“ Serena schluchzte erneut. „Es wäre doch besser, wenn ihr mich zurücklassen würdet.“ Vitali brüllte: „Hast du sie noch alle!“ „Ich bin doch bloß ein Klotz am Bein.“, winselte Serena. Vitali packte Serena an der Schulter. „Alter, wenn du das noch mal sagst, hau ich dir eine rein!“ Ariane versuchte, den aggressiven Ton von Vitali abzumildern. „Ich glaube, was er sagen will, ist, dass du keine Schuldgefühle haben brauchst.“ „Nein, ich will, dass sie Danke sagt.“, meinte Vitali. „Danke, Vitali!“, rief Vivien an Serenas Stelle. „Das hast du toll gemacht!“ „Wir alle haben das toll gemacht.“, sagte Justin und ließ seinen Blick über die anderen schweifen. „Jeder von uns. Auch du, Serena.“ Serena schniefte. „Und jetzt hör auf zu heulen.“, forderte Vitali und klang dabei selbst wieder den Tränen nahe. „Ich will jetzt aber auch weinen.“, sagte Vivien. „Ich hab ein Recht drauf.“ Vitali starrte sie an. „Das ist alles so verdammt schwer!“ In Viviens Augen bildeten sich tatsächlich Tränen. „Das könnte doch etwas einfacher sein.“ Ariane wollte sie gerade trösten, als Vivien erneut das Wort ergriff. „Ich finde, jeder sollte jetzt heulen dürfen, wenn er will!“ Vitali schnaubte. „Du bist voll bescheuert.“, sagte er in einer Mischung aus Belustigung und Empörung. „Du auch.“, gab Vivien zurück. Die beiden lachten auf einmal. Selbst Serena konnte nicht umhin, daraufhin ein halb ersticktes belustigtes Geräusch auszustoßen. „Hast du gerade gelacht?“, fragte Vitali Serena. „Nein.“, presste sie hervor. „Gut, dass ist nämlich gar nicht zum Lachen, dass wir bescheuert sind.“, antwortete er in gespieltem Ernst. Wieder brachen er und Vivien in Gelächter aus. Die anderen konnten dem Verhalten der beiden zwar nicht folgen, aber irgendwie tat es gut, ihr Lachen zu hören. „Ihr seid doch … bescheuert.“, flüsterte Serena und konnte nicht umhin zu lächeln. Kapitel 10: Im Mittelpunkt des Labyrinths ----------------------------------------- Im Mittelpunkt des Labyrinths „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ (aus dem Lied: „Deine Schuld“ von Die Ärzte) Sie waren dem Weg der Wände immer weiter gefolgt, darauf bedacht, durch die Schwenkbewegungen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Je weiter sie gelaufen waren, desto schwächer waren diese geworden. Vermutlich ähnelte der Mechanismus dem einer Schaukel und nun näherten sie sich dem Dreh- und Mittelpunkt. Schließlich hatten sie das Ende der Wand erreicht und somit das Ende ihres sicheren Weges. Dies stellte sich kurioserweise nicht als ihr größtes Problem heraus. Serena starrte fassungslos auf den Bereich, auf den sie von ihrem Standpunkt aus blicken konnte. „Sagt mir bitte, dass ihr was seht, das ich nicht sehe.“ In der Mitte des Labyrinths erstreckte sich ein riesiges Loch. Vivien kommentierte: „Da hat wohl jemand am Baumaterial gespart.“ „Tja, die Finanzen der Bösewichte scheinen auch nicht mehr rosig zu sein.“, scherzte Vitali. „Ich finde das nicht witzig!“, sagte Serena. „Was tun wir jetzt?“ Justin überlegte laut. „Es könnte die Folge einer der Fallen sein. Vielleicht können wir es irgendwie umgehen.“ Ariane blickte auf den fehlenden Boden. „Was, wenn das der Ausgang ist?“ Die anderen drehten sich irritiert zu ihr. „Sieht für mich nicht danach aus.“, meinte Vitali. „Erwartest du ein großes Schild Ausgang?“, erwiderte Serena. Vitali blieb gelassen. „Wäre doch ganz praktisch.“ „Die Idee sollten wir bei der nächsten Aktionärsversammlung dem Vorstand nahelegen.“, spaßte Vivien. Vitali zeigte mit seinem Zeigefinger auf Vivien. „Genau!“ Serena verdrehte die Augen und lächelte flüchtig. Justin wandte sich an Ariane. „Wieso sollte der Ausgang mitten im Labyrinth sein?“ „Klassische Labyrinthe führen immer in ihre Mitte.“, erklärte Ariane. „Sie haben auch keine Sackgassen.“ Vitali zog ein perplexes Gesicht. „Alter, woher weiß man so was?“ Ariane wurde verlegen. „Ich interessiere mich für historische Themen.“ Vitali nickte fasziniert und verständnislos.. „Außerdem erinnert mich das Labyrinth an ein Geschicklichkeitsspiel, das meine Oma mir mal geschenkt hat.“, setzte Ariane fort. „Man konnte es in verschiedene Richtungen kippen und musste dadurch eine Kugel in die Mitte bekommen. Wenn die Bodenplatten einem alten Spiel nachempfunden sind, könnte das doch auch für das gesamte Labyrinth zutreffen.“ „Musste man die Kugel nicht an den Löchern vorbei manövrieren?“, fragte Justin. Ariane antwortete: „Das gibt es auch. Es sind verschiedene Spiele.“ Vitali war verwirrt. „Also Loch gut oder schlecht?“ „Ich denke, es ist gut.“, sagte Ariane. „Was meinst du?“ Sie wandte sich an Secret, der bisher geschwiegen und in die Luft gestiert hatte. Er reagierte nicht. „Secret?“ Sein Gesichtsausdruck wurde sehr ernst. „Wir werden beobachtet.“ „Was meinst du?“, wollte Justin wissen. „Wer beobachtet uns?“ „Leute!“, rief Vitali, der am nächsten am Ende der Mauer stand. Aus dem Loch vor ihnen stieg etwas empor. Kreisförmig weitete sich eine schwarze Barriere aus, dabei immer höher wachsend. Sie hatten nicht die Zeit zurückzuweichen. Das war auch nicht nötig. Direkt vor dem Ende der Wände, auf denen sie standen, verharrte das Hindernis und versperrte ihnen den Weg. „Echt jetzt?“, rief Vitali empört und schlug gegen das Hindernis. „Nicht!“, schrie Secret. Eine gewaltige Energie schoss aus der Barriere durch Vitalis Körper. Die geschockten Schreie der anderen und ihre Versuche, ihn von dem Schild wegzuzerren, nahm er erst gar nicht mehr wahr. Das gesamte Gebiet erzitterte und die Mauer unter ihren Füßen brach zusammen. Justin hatte einen schmerzhaften Aufprall erwartet, doch dieser blieb aus. Als er die Augen öffnete, begriff er, dass er in der Luft schwebte und sich langsam nach unten bewegte. Verwirrt blickte er sich um. Wenige Meter über ihm stand Vitali, die Arme gebieterisch von sich gestreckt. Es wirkte, als befände er sich auf einer unsichtbaren Plattform, die sich langsam nach unten bewegte, oder in einem völlig durchsichtigen Fahrstuhl. Ein grauer Nebel nahm Justin für Augenblicke die Sicht. Er spürte jedoch, wie er sich in Zeitlupe weiter nach unten bewegte und wurde mit einem Mal von grellen Neonlichtern begrüßt. Er wusste nicht, wie das angehen konnte, doch sie befanden sich jäh in einem Raum aus unzähligen quadratischen Kacheln. Grelle Neonfarben sprangen von einer Platte zur nächsten, wechselten sich miteinander ab und verwandelten den Raum in ein paradoxes Farbspektakel. Von Decke, Boden und Wänden gingen zahlreiche Schächte ab. Überall hingen und standen in unterschiedlichen Abständen merkwürdige weiße Quader, die der Erdanziehungskraft zu trotzen schienen. Justin sah, wie Serena und Secret auf dem fremden Boden landeten. Er, Vivien und Ariane waren die nächsten. Als letztes setzte Vitali auf und brach ohnmächtig in sich zusammen. Justin wollte aufspringen und es Secret gleichtun, der bereits an Vitalis Seite war, doch in diesem Moment drehte sich alles. Der gesamte Raum bewegte sich im Uhrzeigersinn. Justin und die anderen wurden von den Füßen gerissen, prallten gegen die Wand rechts von ihnen und fanden sich im nächsten Moment auf dem Boden wieder. Langsam erwachte Vitali aus seiner Besinnungslosigkeit. Benommen bemerkte er, dass er sich auf einer unangenehmen Unterlage befand. Verwirrt betastete er das merkwürdige Etwas. Er hörte eine gedämpfte Männerstimme. „Geh von mir runter.“, Vitali stieß einen Schreckensschrei aus und stieß sich von Secret weg. Vivien brach in Gelächter aus. Serena trat an Vitalis Seite und ging neben ihm in die Hocke. Sie wollte etwas möglichst wenig Unfreundliches sagen, war sich aber unsicher, ob das eine gute Idee war. „Hey…“, machte sie halblaut und zögerte nochmals. „Reiß dich zusammen.“ „Liebenswürdig wie eh und je.“, kommentierte Vitali und setzte sich auf oder versuchte es zumindest. Serena fing ihn gerade noch auf, bevor er zur Seite kippte. „Hey!“, schimpfte sie. Sein Kopf war auf ihrer Schulter gelandet. Sie fühlte seinen schwachen Atem und spürte sein Gewicht auf ihr lasten, dass sich mit einem mal noch zu verstärken schien. „Was ist mit ihm?“, fragte Ariane besorgt. Serena schüttelte ihn an der Schulter, doch Vitali rührte sich nicht. „Vitali. Was ist? Vitali!“ „Lass ihn.“, sagte Secret. „Es ist ein Wunder, dass er den Schlag des Schilds so gut weg gesteckt hat.“ Serena warf Secret einen unzufriedenen Blick zu und unterdrückte den Impuls, Vitali von sich zu stoßen. Vivien grinste. „Auf jeden Fall gefällt es ihm in deinen Armen besser als in Secrets!“ Hätte Serena nur etwas gehabt, um nach ihr zu werfen! „Ich bin mir nicht sicher, ob das hier der richtige Ort zum Ausruhen ist.“, unterbrach Justin die Idylle. Wie um seine Worte zu untermauern, begann sich der Raum erneut im Uhrzeigersinn zu drehen. „Stützt euch gegen die Wand.“, ordnete Secret an und griff nach Vitali, um ihn mit Serenas Hilfe nach vorne zu schleifen und dort gegen die Wand zu lehnen. Sogleich fanden sie sich auch schon auf allen Vieren wieder. „Wie kann sich bloß der gesamte Raum drehen?“, wunderte sich Ariane und richtete sich auf. „An diesem Ort nach dem Wie und Warum zu fragen ist reine Zeitverschwendung.“, entgegnete Secret. Vitali lag bäuchlings auf dem Boden und atmete schwer. Er durfte jetzt nicht schlapp machen. Aber seine Glieder glichen Wackelpudding und noch immer drehte sich alles. Langsam, und heftig nach Luft schnappend, stützte er sich zunächst auf Arme und Beine. Dann suchte er an Secrets und Serenas Armen Halt. „Bleib noch etwas sitzen.“, riet Secret ihm. Daraufhin ließ Vitali sich gegen die Wand hinter ihm fallen, die eben noch der Boden gewesen war. Er war schweißgebadet und tiefe Augenringe zeichneten sein Gesicht. „Es hat dich zu viel Energie gekostet.“, sagte Secret. Vitali sah den Schwarzhaarigen verwirrt an, ehe er zum ersten Mal bewusst die Gegend betrachtete. „Hab ich irgendwas verpasst?“ Serena teilte ihm die Geschehnisse mit: „Dank dir ist das gesamte Areal zusammengebrochen und wir sind in die Tiefe gestürzt.“ Schwach zeichnete sich auf Vitalis Zügen ein Lächeln ab. „Oh...“ Das war alles, was er dazu sagte. „Wie kommt’s dass wir noch leben?“, fragte er mit unbedarfter Miene. „Tja, das liegt daran, dass in Wirklichkeit du der größte Freak von uns bist.“, sagte Serena ohne ihn anzusehen. „Hä?“ Vivien dolmetschte. „Sie versucht gerade, dir dafür zu danken, dass du uns das Leben gerettet hast.“ „Ah... ja.“, sagte Vitali langsam. „Ich habe euch fast umgebracht und dann gerettet. Das ist wirklich ... logisch! Ja, absolut.“ „Du bist geflogen!“, schoss es aus Arianes Mund. „Und irgendwie hast du uns alle schweben lassen, bis wir hier gelandet sind.“, erzählte sie wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal mit einem Kettenkarussell gefahren ist, was Vitali augenscheinlich als nicht besonders überzeugend empfand. „Du hast mit einer Kraft die Gewichtskraft nahezu ausgeglichen.“, erklärte Secret. Vitali starrte die Meute um ihn herum skeptisch an. Dann wandte er sich resigniert an Justin: „Hey Mann, was ist passiert?“ „Was die anderen gerade gesagt haben.“, antwortete Justin, als wäre das das Natürlichste auf der Welt. Vitali stöhnte und schloss die Augen. Egal, was geschehen war, dabei mussten alle ihren Verstand verloren haben. „Unwichtig, ob du’s glauben willst oder nicht. Wir müssen jetzt weiter.“, meinte Secret. „Und wo genau willst du lang?“, wollte Serena wissen und wies auf ihren Standort hin. „Durch einen der Schächte.“, beantwortete Secret Serenas Frage. Der quadratische Raum maß in Höhe, Breite und Länge jeweils nur um die sieben Meter. Und dieser Platz wurde durch die vielen Blöcke, deren strahlendes Weiß an Waschmittelwerbung erinnerte, noch zusätzlich eingeschränkt. Türen gab es nicht, nur die großen Schächte. Ariane hatte Einwände. „Hier dreht sich alles. Das heißt, sobald die Wand zur Decke wird, fallen wir aus dem Schacht wieder hierher.“ „Wir könnten reinspringen, wenn der Schacht im Boden ist, dann rutschen wir hier raus.“, schlug Vivien vor. „Wir wissen doch gar nicht, wo diese Schächte hinführen.“, gab Ariane zu bedenken. Justin hatte sich derweil nochmals die Umgebung genauer angesehen. Die vielen Quader machten ihn stutzig. Schließlich wandte er sich wieder den anderen zu. „Vielleicht müssen wir gar nicht durch die Schächte hier raus.“ „Willst du dich hier häuslich einrichten?“, scherzte Vitali, der sich langsam erholte. „Der Boden im Labyrinth war ein MineSweeper Spielfeld. Die Mitte war wie bei einem Geschicklichkeitsspiel. Vielleicht ist das auch so etwas.“, erklärte Justin. „Früher, wenn wir Kisten verschieben mussten, hat mein Vater mir gesagt, wir würden Sokoban spielen. Dabei muss man Kisten an die für sie vorgesehene Stelle schieben.“ „Du meinst die Quader?“ Ariane betrachtete die weißen Blöcke, die sich trotz der Drehung des Raums nicht von ihrem Platz bewegt hatten. Ein paar hingen an der Decke, andere klebten an den Wänden, als würden sie von Magneten festgehalten. Vitali sah sich um. „Und wo sollen wir die hinschieben?“ „Die Schächte!“, kam es Ariane. „Die Schächte sind wie passende Löcher für die Quader.“ „Soll das heißen, wir sollen jetzt jeden einzelnen Klotz in einen der Schächte schieben?“ Vitali schien nicht sehr begeistert. Secret sah Justin ernst an: „Wenn du mit deiner Vermutung falsch liegst, sind uns die Wege versperrt.“ „Es klingt auf jeden Fall plausibel.“, meinte Ariane. Vivien näherte sich einem der Blöcke. „Vielleicht gibt es eine bestimmte Zuordnung.“ Sorgfältig begutachtete sie das Gebilde, konnte jedoch keine Besonderheit feststellen. Als sie es betasten wollte, leuchtete die Konstruktion auf. Fünf Buchstaben flammten in schwarzer Farbe an allen Seiten des Quaders auf. Serenas Stirn legte sich in Falten. „LIEBE? Was soll denn das heißen?“ „Welches Wort würde die Atmosphäre hier wohl besser treffen?“, witzelte Vivien. „Horror.“, antwortete Serena. Abermals spürten sie, wie alles begann, sich zu bewegen. Serena und Secret schleiften Vitali zu der Wand vor ihnen und drückten sich gegen sie. Anschließend fanden sie sich auf dem neuen Boden wieder und standen auf. Vivien wandte sich dem nächsten Quader zu. Nach einer Berührung sendete auch dieser ein Licht aus. HOFFNUNG. Die anderen halfen mit, jeden der Quader zu aktivieren, während der Raum sich immer wieder drehte. FREUDE. GÜTE. GEBORGENHEIT. FRIEDE. VERTRAUEN. WAHRHAFTIGKEIT. FREIHEIT. und ZUFRIEDENHEIT. „Irgendwie müssen diese Worte mit den Schächten zusammenpassen.“, vermutete Justin. Vivien nahm dies als Aufruf. Umgehend lief sie zu einem der Löcher und streckte ihren Arm hinein. Tatsächlich schoss im nächsten Moment ein düsterer Lichtstrahl aus der Tiefe hervor, in dem das Wort HASS flimmerte. „Dualismus.“, sagte Ariane. Vitali sah sie fragend an. „Sieht für mich nach Gegensätzen aus.“ „Genau das heißt es ja auch.“, entgegnete Serena. „Also müssen wir die zwei Pole zusammenführen.“, schlussfolgerte Ariane. Wieder mussten sie nun jede der vier Seiten des Raums abklappern, um alle Schächte zu aktivieren. VERRAT. VERZWEIFLUNG. HABGIER. NEID. KRIEG. BETRUG. EINSAMKEIT. ZWANG. und LEID. „Langsam wird mir schwindelig.“, sagte Vitali, der sich in allen Richtungen von Worten umzingelt sah. „Schwer ist die Zuordnung zumindest nicht.“, meinte Ariane und drehte ihren Kopf zur Seite, um das Wort an der derzeit linken Wand zu lesen. Die sechs entschieden sich für einen Quader, der zu dem Schacht auf derselben Fläche passte. Justin, Secret und Ariane schoben den Klotz schnellstens an seinen Platz, bevor der Raum sich wieder drehen würde. Der Quader passte exakt und schloss mit dem Boden genau ab. Nicht länger war zu erkennen, dass sich dort zuvor ein Loch befunden hatte. Plötzlich strahlten dunkle Lichtfetzen von unten durch die Ränder des Quaders nach oben. Ein unheimliches Geräusch ertönte, als verschlinge das Loch den Fremdkörper, dann verschwand es mitsamt dem Licht. Serena atmete geräuschvoll aus: „Falls das jetzt ein gutes Zeichen gewesen sein soll, will ich nicht wissen, was ein schlechtes ist.“ „Wie machen wir das eigentlich bei den Dingern, wo das Loch auf ner anderen Seite liegt?“, fragte Vitali. „Man kann sie nicht nur schieben, sondern auch ziehen.“, sagte Justin. Vitali sah ihn verständnislos an. „Bei Sokoban ging das nicht.“, erklärte Justin. „Wenn wir die Klötze an die Wand schieben, können wir in auf dem neuen Boden weiterbewegen, sobald der Raum sich gedreht hat.“ So wurde es auch gemacht. Nachdem sie mehrere Blöcke versenkt hatten, ergriff Ariane auf einmal das Wort. „Irgendwie hab ich gar kein gutes Gefühl.“ „Hä?“, machte Vitali. Ariane zögerte. „Jedes Mal wenn wir einen der Quader in ein Loch fallen lassen, dann ist es, als …“ „Als würden die schlechten Gefühle die guten verschlucken.“, vollendete Secret. Arianes Augenbrauen hoben sich. „Du auch?“ Secret nickte, ohne sie anzusehen. „Wollt ihr mir jetzt erzählen, wir sollen die ganze Aktion abbrechen, weil ihr ein schlechtes Gefühl habt?!“, fragte Vitali ungläubig. „Davon war nicht die Rede.“, entgegnete Secret kalt. „Aber was, wenn jedes Mal eines unserer Gefühle verschwindet?“, wandte Ariane ein. „Wenn der Hass die Liebe verschlingt, die Verzweiflung die Hoffnung.“ Serena unterbrach sie mit abgestumpfter, düsterer Stimme. „In was für einer Welt lebst du denn? Diese Worte“, sie deutete auf die Quader, „sind nichts als eine Illusion, die an der harten Realität zerschellt. Menschen sind schlecht. Deshalb ist es vollkommen egal, ob wir diese blöden Klötze versenken oder nicht.“ Für einen Moment herrschte Schweigen. Erst das neuerliche Drehen der Umgebung löste die Gruppe aus ihrer Starre. Auf der nächsten Fläche angelangt, deutete Vivien mit dem Finger nach vorne auf eine Stelle, an der zuvor ein Schacht gewesen war. „Seht ihr, die Löcher sind verschwunden.“ Die anderen waren nicht sicher, ob sie mit diesem sinnlosen Kommentar bloß die Stille brechen wollte. „Und weiter?“, wollte Vitali wissen. „Die Quader haben die Löcher gestopft!“, rief Vivien fröhlich aus. „Jetzt kann keiner mehr reinfallen!“ Die anderen warfen ihr irritierte Blicke zu. Vivien lächelte. „Das heißt, die guten Gefühle sind nicht von den schlechten gefressen worden, sondern sie haben das Loch gestopft.“ Sie reckte das Kinn. „Ganz egal, wie viel Schlechtes es gibt, wichtig ist bloß, dass es genug Gutes gibt, damit es ausgeglichen werden kann. Und je schlechter die Situation ist, desto zuversichtlicher und tatkräftiger muss man sein. So einfach ist das!“, sagte sie. Voller Elan und Begeisterung riss sie dann ihren rechten Arm in die Höhe. „Also: Lasst uns Löcher stopfen!“ Grauen-Eminenz kam fast das Abendessen hoch. Das war ja widerlich! Dieser schreckliche Rotschopf! Wie konnte man nur eine so scheußlich positive Einstellung haben? Die Göre musste total bescheuert sein! Er richtete seinen Blick auf Serena. Zumindest dieses Mädchen hatte Potential. Ungeduldig beobachtete er, wie seine Auserwählten die übrigen Quader an ihren Platz brachten. Zu guter Letzt war nur noch ein Quader übrig. Wieder zeigte sich das gleiche Schauspiel wie die Male zuvor. Doch nun ergoss sich das leuchtende Weiß des Quaders über den gesamten Boden, als habe er sich in eine Bildschirmfläche verwandelt. Ein großes Hexagramm in einem Kreis erschien und nahm die Mitte des Raumes ein. Die Spitzen seiner sechs Zacken wurden von runden Feldern bedeckt, die jeweils in einer anderen Farbe blinkten, als handle es sich um Startpositionen bei einem Brettspiel. Die sechs warfen einander einen kurzen Blick zu. Sie wählten jeweils ein Startfelder und positionierten sich. Die Felder hörten auf zu blinken. „Und jetzt?“, fragte Vitali. Vivien zuckte mit den Schultern. Endlich tat sich etwas an den Feldern, auf denen standen. Sie verfolgten gebannt, wie ein goldener Lichtfunkte die Umrandung nachzeichnete. Etwas schoss hervor und schloss jeden von ihnen ringsum ein. Sie fanden sich in durchsichtigen Zylindern wider. Bevor sie reagieren konnten, verschwand das Feld unter ihren Füßen und sie rutschten ins Ungewisse. Kapitel 11: Seelenscherben -------------------------- Seelenscherben „Leiden machen den Menschen stark. Oder sie zerbrechen ihn.“ (Carl Hilty, schweiz. Philosoph u. Staatsrechtler) Vitali erwachte und hielt sich den Kopf. Ungläubig sah er sich um. Er befand sich in einem Spiegelsaal, wenn von Saal die Rede sein konnte. Es handelte sich um einen kleinen Raum, der ganz aus Spiegeln aufgebaut war. Er richtete sich auf. Bis auf seine zahlreichen Spiegelbilder war er allein. Von den anderen keine Spur. Und einen Ausgang konnte er auch nirgends entdecken. Irritiert betrachtete er den Jungen in dem eigenwilligen Kostüm, der ihm aus allen Richtungen entgegen sah. Ein ziemlich dünner, hochgewachsener Jugendlicher mit hellbraunen Haaren und blauen Augen, der äußerst mitgenommen wirkte. Nicht gerade der strahlende Held, den er gerne gesehen hätte. Mehr schmächtig als mächtig. Vitali wollte sich abwenden, als sich das Spiegelbild schlagartig veränderte. Sein Abbild verschwand und die Spiegel wurden zu einer Leinwand umfunktioniert. „Vitali!“, schrie jemand. Dann kam eine dunkelhaarige Frau ins Blickfeld. Es dauerte eine Sekunde, ehe Vitali sie als seine Mutter identifizierte. Sie war um einiges jünger, schlanker und ihr schwarzes Haar war nicht gefärbt, doch ihre Stimme war genauso energisch und durchdringend wie er es von ihr gewöhnt war. „Was machst du hier für einen Höllenlärm? Das Baby will schlafen!“, schimpfte sie. „Das ist mir egal!“, rief eine kleine Jungenstimme in trotzigem Zorn. „Ihr kümmert euch bloß noch um die Kröte!“ „Vitali!“, brauste seine Mutter auf. „Du hast jetzt ein kleines Brüderchen und damit musst du dich abfinden, verstanden?! Und du wirst dich um ihn kümmern.“ „Ertränken werd’ ich’s!“ Eine schallende Ohrfeige traf den Sprecher im gleichen Moment so hart, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Tränen vor Schmerz und Wut. „Ich hasse dich!!!“, brüllte der Junge aus Leibeskräften, als wolle er mit dem Schrei seine ganze Entrüstung auf seine Mutter schleudern. Im nächsten Augenblick hatte er sich umgedreht und rannte weg. Hinter ihm war noch die Stimme seiner Mutter zu vernehmen, die lautstark seinen Namen rief. Es war, als habe der Spiegel Vitalis Erinnerung aus den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses gezerrt. Alle Gefühle und Gedanken, die er damals gehabt hatte, waren augenblicklich wieder wachgerufen, gerade so, als sei er wieder der fünfjährige kleine Junge. Vitali konnte sich nicht dagegen wehren, er wurde hineingerissen in einen Strudel aus Empfindungen. Alte Wunden wurden mit wieder aufgerissen. Eine weitere Begebenheit wurde aus seinem Gedächtnis abgezapft. Wieder sah er seine Mutter. Sie hielt den vielleicht vier Jahre alten Vicki im Arm. „Sieh dir das an, Vitali! Was hast du wieder gemacht?!“ „Wir haben bloß gespielt.“, verteidigte sich Vitali. „Gespielt?! Oh ich sehe, wie du mit ihm gespielt hast!“, seine Mutter wurde noch lauter. „Dein Bruder hat lauter Schürfwunden! Kannst du nicht auf ihn aufpassen?! Was hast du zu sagen?!!“ Keine Antwort. Wieso musste immer er auf ihn aufpassen?! Das war doch nicht seine Aufgabe! Ohne darüber nachzudenken biss Vitali zornig die Zähne zusammen, genau wie er es damals getan hatte. Ein bitterer Geschmack stieg in ihm auf und seine Muskeln verkrampften sich. Mit aller Macht zwang er sich, keinen Ton von sich zu geben. „Los, sag was!“, forderte seine Mutter nachdrücklich. Stille. Die Stimme seiner Mutter dröhnte in seinen Ohren. „Wirst du gefälligst den Mund aufmachen!!“ Niemals!, schoss es ihm durch den Kopf. Als nächstes rief seine Mutter nach seinem Vater. Widerwillig folgte dieser grummelnd dem Aufruf. „Was ist denn?“ „Dein Sohn führt sich mal wieder unmöglich auf! Er macht einfach nicht mehr den Mund auf!“ Gelangweilt sah Vitalis Vater seine Frau an. „Sei doch froh! Sonst nervt er einen doch ständig mit seinem Gequassel.“ Erneuter Umschwung. Vitali saß vor seiner Spielkonsole. Die Szene war vielleicht ein, höchstens zwei Jahre alt. Sein Vater trat neben ihn. „Ständig sitzt du vor dem Kasten, du Faulpelz. Mach endlich mal richtigen Sport, anstatt diesem Quatsch!“ „Mach’s doch selber. Dein Bierbauch hat’s nötiger als ich.“, gab Vitali harsch zurück, ohne auch nur den Blick zu heben. Er brauchte das Gesicht seines Vaters nicht zu sehen, um zu wissen, dass es sich in diesem Moment zu einer Maske des Zorns verzogen hatte. „Du unverschämter Bengel! Geh sofort auf dein Zimmer!!“, schallte seine wutschnaubende Stimme. Vitali reagierte nicht. Ungerührt starrte er auf den Fernsehbildschirm, als könne er die Rufe seines Vaters nicht wahrnehmen. „VITALI!!“ Vitali musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht von dem Bildschirm abzuwenden. Im nächsten Moment wurde ihm der Controller aus den Händen gerissen und auf den Boden geschleudert. Gleichzeitig packte sein Vater ihn am Arm und zog ihn gewaltsam auf die Beine und schleifte ihn aus dem Zimmer. Kümmert euch doch um euren Dreck!, schoss es Vitali durch den Kopf. Spiel mit deinem Bruder. Mach dies, mach das. Du bist ein Faulpelz. Ein Großmaul!‘ Er konnte es nicht mehr hören!!! Die Tränen unterdrückend, ließ er sich von seinem Vater in sein Zimmer zerren. Ihr könnt mich mal!! Die nächste Szene begann mit seiner Großmutter. Sie musste etwa in dem Jahr als Vitali elf geworden war, stattgefunden haben. „Aua! Du tust mir weh!“, klagte Vitalis Kinderstimme. Die alte Frau mit den kurzen weißgrauen Haaren zog ihn am Arm aus dem Lokal. Es war der Tag der Einschulung seines Bruders. „Das verdienst du auch nicht besser! Kannst du dich nicht einmal benehmen, du verzogener Rotzlöffel?!“, fauchte sie. Vitali riss sich los. „Du blöde alte Schachtel!“ Die Alte funkelte ihn feindselig an. „Hätte ich mir ja denken können, dass dir dieses Russenweib keine Manieren beibringt. Dir gehört doch eine gehörige Trachtprügel!“ „Red nicht so über meine Mama!“, schrie Vitali aufmüpfig. Ein verächtlicher Ausdruck erschien auf dem faltigen Gesicht der Alten. Sie spuckte die Worte aus wie bittere Galle. „Du bist genauso ein missratenes Stück wie das Rindvieh von Mutter, das du hast.“ Vitali packte der pure Zorn. In blinder Wut trat er dem alten Drachen mit voller Wucht gegen das Schienbein. Schreiend ging seine Großmutter zu Boden. Bang blickte Vitali auf die zusammengebrochene Frau, dann biss er die Zähne zusammen. „Verreck doch, du alte Hexe!!“ Zeitsprung. Gleicher Tag, anderer Ort. Er war wieder zu Hause. Sein Vater stand drohend vor ihm wie ein Rachegott. Dahinter saß die Giftspritze. Nun mit Verband. Vitali erkannte ein verstohlenes freudiges Glühen in ihren hellen Augen, sie genoss seine Standpauke. Die donnernde Stimme seines Vaters, die eine Beleidigung brüllte, zerfetzte ihm fast das Trommelfell. „Eine alte Frau zu treten! Schämst du dich eigentlich nicht!“ „Am Einschulungstag deines Bruders!“, fügte Vitalis Mutter vorwurfsvoll hinzu. „Musst du denn immer im Mittelpunkt stehen?“ Vitali starrte seine Eltern mit einer Mischung aus Angst und Verzweiflung an. Er hatte doch bloß seine Mutter verteidigt! Das war doch seine Pflicht. Empörung kam in ihm hoch. „Sie hat Mama beleidigt!“, schrie er. „So ein Unsinn!“, fuhr ihm die alte Furie sofort über den Mund und wandte sich an ihren Sohn und dessen Frau. „Das ist doch nur eine seiner Ausreden. Er erzählt doch ständig irgendwelche Lügengeschichten. Ein Münchhausen wie er im Buche steht!“ Sie holte Atem und setzte dann in ruhigem, heuchlerisch freundlichem Ton fort. „Ich bin nicht sauer. Er ist schließlich mein Enkel. Ich möchte nur eine Entschuldigung hören. Aber dass er jetzt auch noch solche Lügengeschichten erzählt! Das verletzt mich wirklich.“ „Los! Entschuldige dich gefälligst!“, forderte sein Vater mit gewaltbereitem Gesichtsausdruck. Das konnte doch nicht wahr sein! Wieso glaubte ihm denn niemand?!! Vitali ballte die Fäuste. „Niemals!!!“, schrie er so laut er nur konnte. Anschließend spürte er erneut jeden einzelnen Schlag auf den Hintern, den sein Vater ihm damals verpasst hatte. Wahrscheinlich waren es nicht die Schläge gewesen, die ihm solche Schmerzen bereitet hatten, sondern die Tatsache, dass er zu Unrecht verurteilt worden war. Dass keiner da gewesen war, der für ihn eingestanden wäre. Dass er für alle nur ein kleiner lügender Aufschneider war! Dass ihn keiner liebte… Ich hasse euch! Ich hasse euch alle! „Lass mich in Ruhe, Justin! Ich hab keinen Bock, mit dir zu spielen.“, schimpfte sein Bruder. „Such dir Freunde in deinem Alter. Und jetzt verpiss dich!“ Szenenwechsel. Der achtjährige Justin stand im Laden seiner Eltern. Draußen sah er ein paar Kinder Fußball spielen. „Hopp, geh raus und mach mit.“, forderte ihn sein Vater lächelnd auf. Freudig stürmte Justin hinaus und näherte sich mit unsicheren Schritten der Gruppe. Die Kinder ignorierten ihn jedoch vollkommen. Einige Augenblicke stand er stumm da und traute sich nicht näher heran. Nach einer Weile bemerkte ihn einer der Jungen. „Hey, schaut mal den da an!“ „Will der bei uns mitmachen?!“, fragte ein anderer spöttisch. „Wie sieht der denn aus?“, mischte sich ein weiterer in schriller Stimmlage ein. Justin sah an sich herab. Er trug noch das alte schlabberige Karohemd seines Vaters und die verdreckten Gummistiefel, mit denen er zuvor auf dem Acker gearbeitet hatte. „Das ist sicher ‘n Verrückter!“, lachte eines der Kinder. „Hey du, bist du aus der Klapse?“ Die Kinder lachten gehässig. Justin wich zurück. Er wusste nicht, was er sagen sollte, fühlte sich klein und hilflos. Wortlos ging er zurück in das Gemüsegeschäft. Die boshaften Rufe der Kinder und ihr hämisches Gelächter bohrten sich in seinen Rücken. Anschließend saß er auf einmal in der kleinen, alten Küche seines alten Zuhauses. Das Telefon klingelte. Seine um Jahre jünger gewordene Mutter nahm ab. „Hier Boden. - Gary? Wo bist du? Wieso bist du da? Ich hab dir doch gesagt, du sollst gleich nach Hause kommen wegen der Ernte.“ Justin ärgerte sich. Gary wollte sich immer vor der Arbeit drücken, und er musste dann auch noch seinen Teil übernehmen. Er wandte sich wieder dem Blatt Papier auf dem Tisch vor sich zu. „Soll ich dich holen? Warte. Ich brauche was zu schreiben.“, erklang es im Hintergrund. Justin setzte einen letzten Strich und sprang freudig auf. Stolz hob er das Bild, das er soeben gemalt hatte, hoch. „Mama, Mama, schau mal!“ Liebevoll lächelnd nahm seine Mutter sein Kunstwerk entgegen. „Das ist wirklich sehr schön.“, lobte sie ihn. Dann griff sie nach einem Kuli und schrieb kurzerhand auf die Rückseite von Justins Bild die Adresse, bei der sie seinen Bruder abholen sollte. Justin hatte nie wieder etwas gemalt… Wieder im Laden. „Wo sind bloß die Bananen?“, rief Justins Vater aufgebracht, was für ihn untypisch war. „Justin, hast du nicht gestern die Bananen ausgeladen? Wo hast du sie denn hin?“ Der fleißige kleine Justin, der gerade damit beschäftigt gewesen war, seinem Vater zu helfen, sah von seiner Arbeit auf. „Zu den Äpfeln.“ „Du hast sie in den Kühlraum? Bist du des Wahnsinns!“, schrie sein Vater und rannte zur Treppe. Gary, der neben Justin stand, bückte sich zu ihm. „Hast du wieder Mist gebaut. Irgendwann schmeißen dich Mama und Papa noch aus dem Haus. Sie lieben dich nämlich gar nicht. Du bist nur ihre kleine Arbeitsmaschine.“, sagte er mit boshaftem Grinsen. „Das stimmt nicht!“, rief Justin sauer. „Du wirst schon sehen.“ Mit diesen Worten ging Gary samt einer Kiste Gemüse aus dem Lager. Im nächsten Moment kam Justins Vater mit einer Kiste voll brauner Stangen zurück, die zuvor Bananen gewesen waren. „So kann ich das doch nicht mehr verkaufen! Hab ich dir nicht beigebracht, dass Bananen es nicht kalt mögen?!“, der sonst ruhige Herr Boden war stinksauer, sein Gesicht knallrot. Justin zuckte ängstlich zusammen. „Entschuldigung.“, sagte er kleinlaut. „Nix Entschuldigung!“, grollte sein Vater. Unwillkürlich schossen Justin Tränen in die Augen. So hatte er seinen Vater noch nie erlebt. „Das kostet doch alles Geld! Denk das nächste Mal gefälligst daran.“, schimpfte Herr Boden, dann ließ er seinen Sohn einfach stehen. Justin fühlte, wie ihm die Tränen über das Gesicht kullerten. Er wusste, dass sein Vater einen schlechten Tag hatte, weil ein Lieferant abgesprungen war und er nun einen Ersatz suchen musste. Er hatte es nicht so gemeint! Dennoch versiegten seine Tränen nicht. Garys Worte hallten in seinem Kopf. Sie lieben dich nämlich gar nicht. Vivien sah einen Hausgang, den sie entlang rannte. Sie erinnerte sich, dass es sich dabei um den Gang des Gebäudes handelte, in dem sie früher Pfadfinder-Gruppenstunde gehabt hatte. Kurz vor der Tür blieb sie stehen, um nach Luft zu schnappen. Vor Vorfreude strahlte sie über das ganze Gesicht. Dann kamen ihr von der halb geöffneten Tür die Stimmen der anderen Pfadfinderinnen entgegen. „Vivien?!“, rief eine Mädchenstimme entsetzt. „Ich soll mit Vivien in ein Zelt liegen?! Kommt gar nicht in Frage! Die hat sie doch nicht mehr alle! Schaut euch die doch mal an! Die hat bei der Geburt doch nicht genug Sauerstoff gekriegt oder sie hat Down-Syndrom oder sonst was! Mit vierzehn benimmt sie sich immer noch wie ein Baby! Wie sie immer so blöde lacht und dumme Witze macht! Das ist doch nicht zum Aushalten! Nein, das mache ich nicht das ganze Mai-Lager über mit!“ Viviens Lächeln war abrupt erstorben. Sie hörte eine zweite Mädchenstimme sich einmischen. „So schlimm ist sie nun auch wieder nicht, Nicole.“ „Jetzt tu doch nicht so!“, schimpfte Nicole. „Dir geht sie doch genauso auf die Nerven! Die ganze Gruppe kann sie nicht leiden und sie checkt es einfach nicht!“ Vivien fühlte ein unangenehmes Drücken in der Brust, als wolle etwas ihren Brustkorb zermalmen. Für einen Moment konnte sie sich nicht bewegen. „Sei nicht so laut. Wenn sie kommt, hört sie dich noch.“, hörte sie währenddessen eine dritte Person sagen. „Auf einmal will es keiner mehr sein! Vor ihr spielt ihr immer die Lieben, Netten. Ihr seid echt feige.“, beschwerte sich Nicole. Vivien schluckte das Gefühl, das aus ihrem Magen hervorkriechen wollte, nach unten. Mit größter Mühe zwang sie sich ihr fröhlichstes Lächeln auf, als habe die Veränderung ihrer Mimik einen positiven Effekt auf ihre Gefühlsregung. Es war alles gut. Was andere von ihr dachten, war vollkommen egal. Alles war gut. Gut… Wenn sie sich das nur lange genug einredete, dann … Vivien ballte die Fäuste und ging die letzten Schritte zum Zimmer. Im nächsten Moment trat sie ein überschwängliches Hallo rufend ein. Andere Szene. „Wartet!“, rief Viviens Kinderstimme laut und fröhlich. Ihr vierjähriges Selbst holte die Gruppe Kinder ein, die alle zwei, drei Jahre älter als sie selbst waren. Sie befand sich in der Fußgängerzone im Entschaithaler Stadtzentrum. Die ganze Zeit schon war sie der fünfköpfigen Clique hinterhergerannt. „Ich will mitspielen!“ „Verschwinde, du Zwerg!“, schimpfte einer der Jungs. „Bitte!“, rief Vivien eindringlich. „Such dir Leute in deinem Alter.“ Ein Mädchen setzte sich jedoch für sie ein. „Lasst sie doch. Sie stört doch niemanden.“ „Die ist ne Nervensäge!“, antwortete der erste Junge. Der Anführer grinste. „Wir lassen sie mitspielen.“, entschied er. „Ich weiß sogar schon was. Setz dich da hin.“ Er deutete auf die Parkbank links von ihnen, direkt in der Einkaufspassage. Freudig folgte Vivien der Aufforderung, während der Junge sich zu seinen Gefolgsleuten umdrehte. „ Wir krönen die Kleine jetzt zur Müllkönigin!“ Mit diesen Worten griff er in den Müllkorb direkt neben der Bank und holte eine alte Zeitung hervor. „Das ist dein Umhang.“, verkündete er und legte das Papier um Viviens Schultern. Die anderen Kinder taten es ihrem Anführer gleich und fischten ebenfalls Überreste aus dem Abfallbehälter. Der Junge, der sie von Anfang an nicht dabei haben wollte, gab ihr einen halb gegessenen Apfel in die Hand, ein Mädchen stülpte ihr eine leere Chipstüte als Handschuh über. Sie kicherten. Das Mädchen, das sich für sie eingesetzt hatte, wollte nicht mitmachen, der letzte Junge angelte den Pappteller einer Currywurst aus dem Müll, an dem noch Reste vom Senf hingen, und klatschte ihn auf Viviens orangehaariges Haupt. „Eure Krone, Majestät!“ Gelächter. „Und gefällt dir das?“, fragte der Anführer sie grinsend. Vivien strahlte über das ganze Gesicht. Sie war so froh, endlich Teil der Gruppe zu sein. Als sie eifrig nickte, fiel ihr die Currywurstschale vom Kopf und die Kinder um sie lachten so laut und ausgiebig, dass sie sich gar nicht mehr einkriegen wollten. Sie deuteten mit ihren Fingern auf sie und hielten sich die Bäuche. „Das gefällt ihr!“, schrie der erste Junge schrill. Vivien lachte mit und versuchte die unangenehme Ahnung in ihrem Körper zu überhören, dass etwas an dem Gelächter der anderen völlig falsch war, wie ein misstönender Klang, der ihr in den Ohren wehtat. Doch Vivien lachte, lachte so sehr, dass sie Tränen in den Augenwinkeln spürte. Und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie ähnlich Lachen und Schluchzen klangen. Der Schauplatz änderte sich erneut. „Vivien, was hast du jetzt wieder angestellt?“, schimpfte ihre Mutter hustend. Die gesamte Küche glich einem Schlachtfeld. „Ich wollte dir frische Brötchen backen!“, antwortete das siebenjährige Mädchen stolz. „Du spinnst wohl! Schau dir die Sauerei an!“ Eilig öffnete ihre Mutter das Fenster, um den Qualm rauszulassen. Und holte die verkokelten Brötchen aus dem Ofen. Vivien sah ihre Mutter mit großen Augen an. „Aber ich wollte doch -“ „Und ich kann die ganze Sauerei jetzt wieder weg machen!“, unterbrach ihre Mutter aufgebracht. „Ich helfe dir!“, rief Vivien freudig. „Dann kommt bloß noch ein größeres Chaos bei raus! Los ab mit dir! Geh spielen.“ „Aber…“ Ihre Mutter sah sie strafend an. „Du hast gehört, was ich gesagt habe! Los!“ Vivien biss sich auf die Unterlippe und verließ den Raum. Langsamen Schrittes ging sie auf die Treppe zu und fühlte ein unangenehmes Kribbeln in der Nase, das ihr das Atmen erschwerte. Seit ihre Mutter schwanger war, war sie so schrecklich gereizt. Vivien verstand einfach nicht, was mit ihr los war. Hatte sie sie nicht mehr lieb? Anderes Bild. Vivien saß alleine zu Hause und wartete. Ihre Eltern hätten doch schon lange da sein müssen. Sie hatte extra einen Salat für alle gemacht, aber der war mittlerweile zusammengematscht. Eine Bekannte ihrer Eltern hatte sie von der Schule geholt, weil ihre Mutter zum Arzt gegangen war. Aber das konnte doch nicht so lange dauern! Und wo blieb ihr Papa? Plötzlich klingelte es. Freudestrahlend rannte sie zur Tür. Doch zu ihrer Enttäuschung war es nur die Nachbarin. Diese teilte ihr mit, ihre Mutter liege in den Wehen. Ihr Vater sei gleich ins Krankenhaus gefahren und daher solle sie auf Vivien aufpassen. Vivien begann zu weinen. Wieso hatte ihr Vater sie nicht mitgenommen? Ihre Eltern hatten sie einfach vergessen! Sie war ja bloß das alte, verbrauchte Kind. Keiner hatte sie lieb… Secret sah sich eingeschlossen von flimmernden Spiegeln, als wäre die Antenne bei einem Fernseher gekappt. Was hatte das zu bedeuten? Secret legte die Hände zu einer Faust zusammen und holte aus. Mit aller Kraft schlug er gegen die Spiegel. Schlagartig zeigte sich ein Bild, wie durch einen Nebel hindurch. Der Blick durch die Augen einer kleinen Person tat sich auf. Der Beobachter lugte hinter einer Tür hervor in ein luxuriös eingerichtetes Zimmer. Zwei Erwachsene befanden sich darin. Ein Mann mit dunklem Haar und einem harten Blick saß an einem Mahagoniholzschreibtisch. Vor ihm stand eine schlanke schwarzhaarige Frau, die dem Zuschauer den Rücken zugewandt hatte. Ihre Stimme klang kühl. „Heute haben Erik wieder diese Jungen aufgelauert.“ „Ich habe viel zu tun, kannst du mir davon nicht später erzählen?“, unterbrach der Mann, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen. „Thomas, dein Sohn ist grün und blau geschlagen.“, sagte die Frau in nüchternem Ton. „Du musst mit ihm reden.“ Weiterhin sah der Mann nicht auf. „Er soll nicht immer jammern. Er ist ein Donner. Die lassen sich nicht einfach unterkriegen.“ „Das ist es ja. Er ist ein Donner. Sie sagen, er sei der verwöhnten Sohn reicher Eltern.“ Der Mann blickte mit einem mörderischen Blick auf. „Dann soll er sich gefälligst dagegen wehren und nicht heulend zu seiner Mami rennen.“ Sein Blick wurde wieder distanziert. „Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe Wichtigeres zu tun.“ Der kleine Beobachter wandte sich ab. Sein Blick trübte sich durch hochkommende Tränen. Graues Geflimmere folgte. Secret verstand nicht recht, was das zu bedeuten hatte und was er da gerade gesehen hatte. Nur eines war ihm klar: Er musste so schnell es ging hier raus. Die zwölfjährige Ariane war mit ihren Eltern auf einer Betriebsfeier. Der Vorgesetzte ihres Vaters hatte sie freundlich begrüßt. „Und kleine Lady? Was möchtest du mal werden? Schauspielerin? Model?“ „Ich will Archäologin werden.“ Der Mann lachte kehlig und legte seine große Hand auf ihren Kopf. „Du solltest dein hübsches Köpfchen nicht überanstrengen!“ Szenenwechsel. Die neue streng drein blickende Geschichtslehrerin hatte sich vor der Tafel aufgebaut. Nachdem der alte Geschichtslehrer in Rente gegangen war, sollte sie Arianes Klasse übernehmen. „Ich habe mir die Noten von letztem Jahr durchgeschaut. Besonders beliebt ist Geschichte bei euch offensichtlich nicht. Bis auf ein paar Ausnahmen zumindest. Wer von euch ist Ariane?“ Ariane meldete sich. Als der Blick der neuen Lehrerin auf sie fiel, trat mit einem Mal Skepsis auf ihre Züge. Sie wandte den Blick ab. „Dass eins klar ist, bei mir wird nicht nach Sympathie benotet, sondern nach Leistung!“ Ariane spürte einen Kloß der Empörung im Hals. Im nächsten Moment betrat sie wieder ihr Klassenzimmer. Die Erinnerung war nicht viel mehr als ein halbes Jahr alt. „Morgen!“ An der Fensterseite hatte sich eine ganze Gruppe zusammengefunden, die ausgelassen lachte. Interessiert näherte Ariane sich ihren Klassenkameraden. Sie erkannte, dass diese sich um das Smartphone eines Mitschülers aufgestellt hatten. I’m a Barbie girl in a Barbie wooorld!, dröhnte es aus den Lautsprechern. Die Musik mischte sich mit dem schallenden Gelächter ihrer Klassenkameraden. „Das passt so gut!“, lachte ein Mädchen. Ariane schaute über ihre Schultern, um das YouTube Video selbst in Augenschein zu nehmen. Sie stockte. „Hast du echt toll gemacht, Phillip!“, lobte einer der anderen Jungs. Ariane spürte einen Kloß im Hals. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Schließlich brach es aus ihr heraus. „Was soll das!“, kreischte sie schrill. Nun waren die Blicke aller auf sie gerichtet. „Was ist denn mit dir los?“, fragte eine brünette Mitschülerin voller Unverständnis. „Was ist das?“, schrie Ariane und zeigte auf das Smartphone. „Ein Video vom Landschulheim.“, wurde ihr nüchtern erklärt. „Das ist ein Video über mich! Im Internet!“ Ariane schaffte es nicht, ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen. „Nun hab dich doch nicht so.“, meinte ein langhaariges Mädchen. „Wir helfen nur deiner Modelkarriere. Vielleicht wirst du entdeckt!“ Die innere Zerrissenheit, ob sie schreien oder weinen sollte, machte Ariane für einen Moment reaktionsunfähig. „Reg dich doch nicht künstlich auf.“, tadelte die Brünette von zuvor. „Seit wann bist du denn so empfindlich?“, lachte ein Junge. Schließlich war es zu viel. „Nee, oder? Du wirst doch jetzt nicht deswegen anfangen zu heulen!“ Ariane stürzte aus dem Zimmer. Die nächste Szene fand ein paar Tage nach der vorigen statt. Sie saß der Schulpsychologin gegenüber, einer freundlich lächelnden Frau. „Deine Klassenkameraden haben das Video wieder gelöscht. Und sie meinten das sicher nicht böse. Dass sie ein Video über dich gemacht haben, zeigt doch, wie beliebt du bist.“ Ihre Worte verunsicherten Ariane. Hatte sie ihren Klassenkameraden ungerechterweise unterstellt, dass sie sie demütigen wollten? Hatte sie selbst sich falsch verhalten? „Du bist eben ein hübsches Mädchen und Phillip ist offensichtlich in dich verliebt. Er wusste wohl einfach nicht, wie er dir seine Gefühle zeigen sollte. Für Jungs in diesem Alter ist das schwer.“ Arianes Atmung wurde unregelmäßig. Wieso hatte sie das Gefühl, dass das hier in eine völlig falsche Richtung lief? War es ok, so behandelt zu werden, solange Phillip sie hübsch fand? „Deine Klassenkameraden haben mir erzählt, dass du oft arrogant auf sie gewirkt hast. Aber durch die Sache mit dem Video finden sie dich jetzt viel menschlicher. Das kannst du als Chance nutzen, um dich besser in die Klasse zu integrieren.“ Ariane erhob sich unwillkürlich. Das hier war falsch! Diese Angelegenheit kränkte sie. Ja. Es tat ihr weh, Aber sie hatte nie aufgehört, sich als Teil dieser Klasse zu fühlen! Sie hatte sich nie in ihrem Leben als Außenseiterin empfunden! Und ganz sicher hatte sie niemandem jemals das Gefühl geben wollen, sie würde sich für etwas Besseres halten! Der Blick der Psychologin wurde streng. „Wenn du bei diesem falschen Stolz bleibst und dir nicht helfen lassen willst, wirst du es sehr schwer im Leben haben.“ Ariane rang mit sich. Sollte sie sich wieder hinsetzen und so tun, als hätte diese Frau Recht und sie habe sich alles selbst zuzuschreiben und wäre tatsächlich arrogant? Ariane reckte das Kinn, wandte sich ab und verließ den Raum. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie hielt den Griff noch in der Hand und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. „Wie blöd bist du eigentlich?!! Wie kann man nur so verdammt dumm sein?!!“ Die Schreie ihres Vaters zerfetzten Serena fast das Trommelfell. Ihr wurde schwindlig. „Hör endlich auf, sie anzuschreien!“, verlangte ihre Mutter lautstark und nahm ihre verstörte Tochter schützend beiseite. Es war tiefe Nacht. Die Familie Funke war gerade vom Urlaub zurückgekehrt und war dabei gewesen, das Gepäck auszuladen. Serena war noch einmal nach draußen gerannt, um zu helfen, dabei hatte sie jedoch vergessen, dass der Schlüssel innen steckte. Mit einem lauten Knall war die Tür zugefallen und hatte sie alle ausgesperrt. Serena war mittlerweile in ein unkontrolliertes Schluchzen ausgebrochen. Die Versuche ihrer Schwester und ihrer Mutter, sie zu trösten, waren vergeblich. Immer wieder konnte Serena die donnernden Flüche ihres Vaters hören, der mit ihrem Bruder vergeblich versuchte, die Tür wieder zu öffnen. Serena bekam kaum noch Luft vor lauter Weinen. „Er hasst mich. Er hasst mich.“, presste sie zwischen ihren halb erstickten Atemzügen hervor. Sie hatte sich noch nie von ihrem Vater geliebt gefühlt. Sie hatte schon immer gewusst, dass er sie hasste! Von ganzem Herzen hasste. Plötzlich fand sie sich in ihrem Zimmer wieder, in eine Ecke gekauert. Ich bin so dumm. So dumm. Ich mache immer nur Ärger. Niemand braucht mich. Wäre ich doch bloß tot!! Die Szene wechselte. „Ich gehe! Ich gehe! Ich halt das nicht mehr aus!“, schrie ihre in Tränen aufgelöste Mutter. Es war nach einem heftigen Streit zwischen ihren Eltern gewesen. Serena spürte, wie sich erneut alles in ihr zusammenzog, wie damals. „Mama“, schluchzte Serena. Hilflosigkeit und Angst erfassten sie. „Entweder kommst du mit oder du bleibst bei ihm!“, brüllte ihre Mutter. Die Worte bohrten sich in Serenas Inneres. Tränen. „Mama.“ Anschließend erkannte Serena die Seiten ihres Tagebuchs. Warum hassen mich alle so?! Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Es ist mir egal. Ihr seid mir alle egal. Ich hasse euch! Ich hasse euch alle! Ich hasse diese ganze verdammte Welt!!! Verzweifelt blickte Serena auf den lateinischen Text vor sich. Sie konnte ihn einfach nicht übersetzen. „Wird’s bald?“, forderte der Lehrer sie erzürnt auf. Apathisch starrte Serena auf den Text und wünschte sich, einfach zu verschwinden. Sie gab keinen Ton von sich. Der Lehrer fuhr sie wutentbrannt an. „Das ist doch nicht so schwer! Wie viel Geld haben deine Eltern denn zahlen müssen, damit du die Gymnasiumsempfehlung bekommen hast?“ In Serena mischten sich Hilflosigkeit und Scham mit Zorn. Für den Bruchteil einer Sekunde entbrannte in ihr der Wunsch, dem Lehrer die Kehle durchzuschneiden, damit er für immer seinen Mund halten würde! Aber da sie das nicht konnte, kauerte sie sich gedemütigt zusammen, als könne sie sich dadurch den erniedrigenden Sprüchen des Lehrers entziehen. Die Zähne zusammengebissen unterdrückte sie unter größter Anstrengung die Tränen, die sich an die Oberfläche kämpfen wollten. Klein und dumm… Neue Szene. Serena saß wieder auf ihrem Platz im Klassenzimmer. Sie hatte jetzt Religionslehre. Sie hörte die Stimmen ihrer Mitschüler ihr Beleidigungen zuzischen. „Häßlich!“ „Du stinkst.“ Sie ignorierte es. Der Unterricht begann. Während der Stunde standen die Jungs einzeln auf, gingen zum Waschbecken oder zum Mülleimer und danach an ihr vorbei. Nacheinander wurde sie von ihnen angespuckt. Sie zwang sich, es zu ignorieren. Nach der Stunde kam die Religionslehrerin, die das Schauspiel die ganze Zeit wortlos mitangesehen hatte, zu ihr und riet ihr, die Klasse zu wechseln. Serena lächelte sie schwach an. „Ist schon gut. Ich habe eine beste Freundin in der Klasse.“ Während diese Worte noch nachhallten, tauchte in den Spiegeln vor ihr der verächtliche Blick einer Person auf. Beste Freundin… Serenas Augen weiteten sich. In ihren Pupillen spiegelte sich das Bild eines Mädchens mit bronzeblondem langem Haar wider. Ein hohes, geziertes Lachen ertönte. Und die Erinnerung, wie sie dieses Mädchen überschwänglich umarmte, schoss durch ihren Kopf. Freudige Momente wurden in ihr Gegenteil verkehrt. Wortfetzen stürmten in ihrem Geist hin und her, ehe das Echo an einem Satz hängen blieb. „Wir können keine Freunde mehr sein.“ Immer noch das Bild des Mädchens vor Serenas Augen. Der Blick nun voller Zorn. „Wenn du noch einmal dein Maul aufmachst, kriegst du eine auf die Fresse!“ Ein Orkan an Empfindungen tobte in Serenas Innerem und riss an ihrem blutenden Herzen. Zu dem Mädchen gesellten sich von einem Moment auf den anderen weitere. Eine Gruppe Mädchen hatte sie eingekeilt und redete von allen Seiten auf sie ein. „Hast du dich eigentlich schon mal im Spiegel angesehen?“ „Hässlich!“ „Wasch dir mal die Haare.“ Hämisches Gelächter füllte Serenas Gedanken aus. Serena wurde schwindelig. Sie ging auf die Knie und hielt sich verzweifelt die Ohren zu, versuchte die Stimmen abzuschalten, doch sie ließen einfach nicht von ihr ab. „Hört auf.“, flüsterte Serena unter größter Seelenqual. Von ihrer Stimme war nicht mehr übrig als ein Winseln. Ihr Schädel dröhnte und fühlte sich an, als wolle er zerplatzen. „Du stinkst.“ „Dumm!“ „Ungeschickt.“ „Trampel.“ „Unerzogen.“ „Vorlaut.“ „Unverschämt.“ „Schreihals!“ „Führ dich nicht so auf!“ „Teufel!“ Die verschiedenen Stimmen wirbelten hin und her, kreisten sie ein. Die Stimmen von Schulkameraden, von Lehrern, ihrem Vater und ihrem Bruder, die Stimmen ihrer Tante, Oma… So viele Stimmen! „Weibstück!“, hörte sie ihre Mutter schimpfen. Serena hielt es nicht mehr aus. Sie konnte es nicht ertragen. Es sollte aufhören! Aufhören!! Bitteee!!! Doch die Spiegel waren noch lange nicht am Ende angelangt. Einer der Spiegel wurde zertrümmert. Im gleichen Moment brach der Bann. Justin schreckte mit einem Mal auf. Fassungslos und schwer atmend starrte er in die Spiegel, doch aus diesen blickte ihm bloß noch seine eigene Reflexion entgegen. Alles schien auf einmal so fremd, als hätte er sich in einer Trance befunden, in einer anderen Welt. Er spürte etwas Feuchtes auf seinen Wangen und wischte sich Tränen aus den Augen. Anschließend nahm er Secret wahr, der zu ihm gespurtet kam. „Alles in Ordnung?“, fragte der Schwarzhaarige. Für einen Augenblick starrte Justin ihn bloß abwesend an. Secret kam ihm so schrecklich unpassend vor, wie eine Sinnestäuschung, die es zu verscheuchen galt. „Justin!“, hörte er ihn, nun bestimmter. Daraufhin nickte er langsam. Die Realität kam nur schleppend zu ihm zurück. „Alles okay.“ Benommen sah er sich um. In den Spiegeln waren er und Secret zu sehen. Nichts weiter. Justin schüttelte den Kopf, wie um einen Albtraum abzuschütteln. „Wo sind die anderen?“, kam es stockend aus seinem Mund. „Sie werden auch in solchen Spiegelräumen stecken.“, antwortete Secret. Jetzt war Justin wieder voll da. „Dann lass uns keine Zeit verlieren!“ „Wir müssen einfach die Spiegel zerschlagen.“, erklärte Secret. Im gleichen Augenblick erstarrte er und war für einen Moment wie weggetreten. „Eine gewaltige Energie…“ Justin verstand nicht. Doch bevor er Secret nach der Bedeutung seiner Worte fragen konnte, spürte er diese am eigenen Leib. Mit einem lauten Knall flogen den beiden Jungen die Spiegel um die Ohren, begleitet von einem verzerrten, gequälten Schrei. Der Sektor war in unterschiedlich große Räume aufgeteilt. Jeder Raum bestehend aus riesigen Spiegelwänden. Doch in diesem Moment fegte eine solch gewaltige Energiewelle über sie hinweg, dass die Spiegel knallend explodierten. Klirrend regneten die unzähligen Scherben auf den Boden und von den Sälen blieb nichts als ein riesiger Trümmerhaufen übrig. Die Abgrenzungen zwischen den Räumen waren zerstört. Das kalte graue Licht, zuständig für die karge Beleuchtung, erlosch zeitgleich und tauchte die Umgebung in Dunkelheit. Nach einigen Sekunden nahm Justin seine Arme, mit denen er seinen Kopf geschützt hatte, wieder herunter. Secret hatte ihn im letzten Augenblick zu Boden gerissen. Verwundert erkannte Justin, dass seine Hände mit dem Stoff seiner Kleidung überzogen waren, zuvor war dies nicht der Fall gewesen. Außerdem hatte sein Anzug ihn vor jedweder Verletzung durch die Scherben bewahrt. Aber er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Die Spiegelüberreste am Boden vor ihm schimmerten gespenstisch. Sie fungierten als einzige Lichtquelle in der aufgetretenen Finsternis. Justin stützte sich auf seine Hände und hievte seinen Oberkörper etwas nach oben. Als er das Chaos um sich herum erkannte, zogen sich seine Innereien zusammen. Ihm wurde bewusst, dass er genauso gut von einem der Splitter hätte durchbohrt werden können. Sofort wandte er sich besorgt zu dem anderen Jungen. „Secret!“ Secret gab ein Stöhnen von sich und bewegte sich dann allmählich. Er war nicht so glimpflich davon gekommen wie Justin. Seine Arme waren von winzigen Schnittwunden gezeichnet. Justin ging davon aus, dass die Kratzer äußerst schmerzhaft waren, aber Secret ließ sich davon nichts anmerken. Sofort war er wieder auf den Beinen, nur sein leicht verbissener Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass ihn das einige Selbstbeherrschung kostete. Justin tat es Secret gleich und richtete sich wieder auf. So laut er konnte rief er nach den anderen. Secret wies ihn auf eine Gestalt hin, die sich von vorne links näherte. „Hey!!!“ Vitali erreichte sie. „Ich hab jetzt echt die Schnauze voll von diesem Scheiß!“, fluchte er. „Wir müssen die anderen finden.“, meinte Justin und stieg über die Trümmer vor ihm. Erneut rief er nach den fehlenden Gruppenmitgliedern und ging weitere Schritte. Die beiden anderen folgten ihm. In der Dunkelheit war es schwierig, etwas zu erkennen. Und was, wenn die anderen unter den Trümmern begraben lagen? Oder Schlimmeres! „Hierher!“, schrie Ariane von weiter weg. Viviens Bewusstsein kehrte langsam wieder zurück. Mit ihm kam der Schmerz. Sie spürte etwas Schweres auf ihrem Körper lasten. Langsam öffnete sie die Augen. Es war dunkel. Auf dem Boden, auf dem sie bäuchlings lag, waren überall Scherben verteilt. Sie hörte Rufe. Vivien wollte auf sich aufmerksam machen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Schritte. „Hierher!“, hörte sie Ariane plötzlich rufen. Jemand stemmte den riesigen Spiegelüberrest von ihrem Körper. Sie wurde von Ariane geborgen. „Ist alles ok?“ Vivien rang sich ein schwaches Lächeln ab und ließ sich von Ariane helfen. „Was ist?!“, schrie Vitali und kam mit den anderen zu ihnen gespurtet. Sobald Justin ihren Zustand erkannte, stürzte er vor und warf sich regelrecht auf den Boden zu ihr. „Vivien!“ Besorgt beugte er sich über sie. „Wie geht es dir?“ „Wenn man von meinem bisherigen Leben absieht, ging es mir nie besser.“ Sie grinste. Seine Fürsorge freute sie. Vitali musste unwillkürlich grinsen. „Du lässt dir auch von gar nichts die Laune vermiesen, was?“ Vivien kicherte. „In Begleitung von lieben Freunden ist alles nur halb so schlimm.“ Anschließend setzte sie sich wieder auf. „Wo ist Serena?“ „Was ist überhaupt passiert?“, fügte Ariane an. Secrets Blick wurde düster. „Ich fürchte, eure Fragen können auf einen Schlag beantwortet werden.“ Er wandte sich nach rechts. Die anderen verstanden seine Worte nicht. Fragend folgten sie Secrets Blick. Sie sahen, dass weiter hinten einige der Spiegelsplitter ein schwarzrotes unregelmäßiges Flackern reflektierten. Der Ursprung der Erscheinung musste hinter weiteren Trümmern liegen, die die Sicht behinderten. Der schwache dunkle Schein flammte auf und fiel wieder in sich zusammen, als pulsiere er einem Herzschlag entsprechend. Es war ein Unheil verheißender Anblick. Mit einem Mal wurde der Rhythmus schneller und schneller, als mache sich etwas zum Ausbruch bereit. Angst stieg automatisch in ihnen auf. Eine instinktive Angst vor etwas, das sie nicht benennen konnten. Doch ein Teil von ihnen erahnte bereits die unsichtbare Gefahr. Geradezu körperlich spürten sie die Vorzeichen einer Katastrophe. Ein schriller gepeinigter Mädchenschrei hallte durch das Areal und packte ihr Herz mit eisigen Krallen. „SERENA!!!“ Vitali stürmte los, doch eine Hand riss ihn sogleich zurück. „Warte!“, befahl Secret und hielt Vitalis Schulter mit eisernem Griff fest. „Lass mich los!“, brüllte Vitali wutentbrannt. „Sie bringen sie um!!!“ Er machte sich los, doch kam er nicht weit. Augenblicklich fegte eine gewaltige Druckwelle über die fünf hinweg. Scherben flogen wie Geschosse durch die Luft. Weitere Spiegelwände zerschellten und gaben die Sicht auf eine in feuergleichem Lodern stehende Figur frei. Serena. Kapitel 12: Verluste -------------------- Verluste „Es ist hart zu leben, aber härter ist es noch zu sterben.“ (aus Albanien) Der Anblick schien nicht allein ihre Körper, sondern auch die Zeit selbst erstarren zu lassen. Als fessle die gespenstische Erscheinung den Ablauf der Wirklichkeit. Zu krank, zu falsch wirkte das Bild. Dort stand sie, inmitten von flirrender Luft, wie in einem unsichtbaren Inferno. Es trennten sie bloß mehrere Meter und dennoch wirkte Serena unendlich weit entfernt, unerreichbar – für immer. Dunkle Schwaden, die ebenso gut optische Täuschungen hätten sein können, umwaberten ihre Gestalt wie Ausdünstungen von etwas, das sie nicht länger in ihrem Inneren halten konnte. Die schattenhaften Nebel hielten sie gefangen, und doch wirkten sie auf fürchterliche Weise nicht wie etwas, von dem sie besetzt worden wäre. Sie selbst war Teil dieser Schatten und die Schatten Teil von ihr, als seien sie eine tödliche Symbiose eingegangen. Ihr Blick war starr, ihre Haltung angespannt. Dann begriffen die fünf, woran diese Haltung sie erinnerte – an die Angriffsstellung der Schatthen. Doch noch etwas anderes strahlte ihre Gestalt aus, etwas, das fast noch beklemmender war. absolute Verzweiflung. Es dauerte Sekunden, ehe Arianes staubtrockener Mund mühsam erste Worte hervorpressen konnte. „Was ist mit ihr?“ Die anderen schwiegen und konnten ihre Blicke nicht von Serena abwenden. Oder dem, was einst Serena gewesen war. Allein Secret setzte in gedämpftem Ton zu einer Antwort an. „Ihr tätet besser daran, ihr nicht zu nahe zu kommen. Die Spiegel sind ihretwegen zersprungen und euch könnte dasselbe blühen.“ Er wich zurück, um in Deckung zu gehen. Immer noch unter Schock gafften die anderen ihn an, verstanden kein Wort, wollten vielleicht nicht verstehen. Secret versuchte es erneut. „Das ist nicht mehr Serena.“ „Was soll das heißen?“, forderte Ariane zu wissen. „Was auch immer diese Spiegel euch gezeigt haben, in Serena haben sie etwas so Gewaltiges ausgelöst, dass ihr Geist dem nicht mehr standhalten konnte. Sie wird jeden töten, der sich ihr in den Weg stellt. Auch euch.“ In Secrets Gesicht stand nicht der geringste Zweifel. Noch immer weigerte sich der Verstand der anderen, seinen Erläuterungen zu folgen. „Was redest du für ’nen Scheiß?!“, fuhr Vitali ihn an. „Das ist Serena! Was soll sie machen? Dich zu Tode zicken?!“ Es blieb keine Zeit für eine Antwort. Mit Serenas kaum noch menschlichem Schrei schoss die Energiewoge um ihren Körper von ihr weg. Dieses Mal nicht durch eine Spiegelwand abgeschwächt. Wie der Schlag einer eisernen Faust traf die Welle die fünf, raubte ihnen den Atem und schleuderte sie durch die Luft. Der Aufschlag auf dem Boden ließ ihnen vor Schmerz Tränen in die Augen schießen und die Situation noch unwirklicher erscheinen. Die nächsten schweren Atemzüge lang blieben sie liegen, von Entsetzen betäubt. Das musste alles ein kranker Scherz sein. Secret rappelte sich wieder auf, seine Oberarme blutverschmiert. „In Deckung!“, befahl er eindringlich. Dieses Mal widersprachen die anderen nicht. Zitternd krochen sie nach rechts, wo noch einige Fragmente der Spiegelwände standen. Hinter einem größeren Spiegelüberbleibsel fanden sie kurzzeitigen Schutz. „Verdammt! Was sind das für Druckwellen!“, begehrte Vitali auf. „Wie oft noch?“ Secret klang noch immer sachlich. „Sie löst sie aus. Durch ihre Wut.“ „Ey, ich hab schon viele wütende Leute erlebt, aber keiner konnte so was!“, widersprach Vitali. Ariane warf Secret einen flehenden Blick zu. „Was sollen wir jetzt tun?“ Secret klang kalt. „Von hier verschwinden, ehe sie uns erwischt.“ Entgeistert sah Ariane ihn an. „Du willst sie zurücklassen?“ „Du Scheißkerl!“, brüllte Vitali. Gefährlich funkelte Secret ihn an. „Hör zu.“ Seine Stimme war schneidend. „Dieses Mädchen ist der sichere Tod. Wenn du unbedingt Selbstmord begehen willst, meinetwegen. Aber ich habe nicht vor, mich zerfetzen zu lassen.“ Bei seinen Worten hoben sich Vitalis Nasenflügel voller Abscheu. Es war deutlich, dass er kurz davor stand, handgreiflich zu werden. Secret ließ das kalt. Justin legte Vitali die Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten. Mit unerschütterlicher Entschlossenheit fixierte er Secret. „Wir werden alle zusammen hier rauskommen. Keiner wird zurückgelassen!“ Vivien nickte. „Wir warten einfach, bis sie sich beruhigt hat.“, schlug sie lächelnd vor, als handle es sich bloß um den normalen Gefühlsausbruch einer Pubertierenden. „Ihr wollt es nicht verstehen.“, sagte Secret. „Sie ist von Rachegefühlen getrieben und zerreißt ihre Seele. Es ist auszuschließen, dass sie noch einmal von sich aus zurückfindet.“ Eine weitere Energiewoge rauschte über ihre Köpfe hinweg und ließ winzige Spiegelsplitter auf sie nieder regnen. Serena kreischte qualvoll. „Dann müssen wir ihr eben dabei helfen!“, schrie Vivien, sprang auf und rannte Serena blindlings entgegen. Ohne zu zögern folgte ihr Vitali. Auch Justin erhob sich und sah Secret in die Augen. In Secrets Blick war deutlich zu lesen, für wie töricht er das Verhalten von Vivien und Vitali hielt. Justin schüttelte den Kopf, so voller Willenskraft, als sei er von dem puren Wunsch beseelt, Secret das Gegenteil zu beweisen. Schließlich eilte er den anderen beiden nach. Secret stieß abfällig die Luft aus. Sie hatten keine Chance. Ihm fiel auf, dass Ariane vor ihm saß, den Blick gesenkt. Er erwartete bereits, dass sie sich im nächsten Moment dem Selbstmordkommando anschließen würde, doch sie rührte sich nicht. Ein Gefühl der Skepsis wurde in ihm wach, als könne er nicht glauben, dass sie tatsächlich ihr eigenes Leben über das der anderen stellte. „Wollten wir nicht gehen?“ Fast erschrak er über ihre ungerührte Stimme. Er schlug die Augen nieder. Noch einen Moment verharrte er. . „Menschen betrügen.“, hörte er sie sanft sagen, als wiederhole sie ein Mantra. Sollte das eine Rechtfertigung ihres Verhaltens sein? Ihres Betrugs? Er ballte die Hände zu Fäusten. Wenn sie schon ihre Freunde im Stich ließ, sollte sie sich nicht so einfach herausreden. Das war feige. Das war - „Am liebsten sich selbst…“ Ihre Worte trafen ihn unvorbereitet. Fassungslos starrte er sie an. Für einen Atemzug hätte er sich gewünscht, in ihrem Gesicht Abscheu oder Wut zu lesen, doch stattdessen schlug ihm die furchtbare Erkenntnis entgegen, dass sie in sein Innerstes gesehen hatte, als sei er aus Glas. Geschlagen atmete Secret aus. „Warum sitzen wir dann noch hier?“ Ariane lächelte ihn an. Was auch immer dieses Handeln mit sich bringen würde, es fühlte sich richtig an. Einfach nur richtig. Vivien und Vitali hasteten auf Serena zu, Justin hinterdrein. Die Scherben knirschten unter ihren Schuhen und sie hörten ein seltsames Geräusch von der Atmosphäre um Serena herum kommen. Ein wirbelnder, zischender Laut, unwirklich und fremd. Die beiden riefen Serenas Namen, doch sie reagierte nicht, und Justin fragte sich, ob es sinnvoll war, Serena auf sich aufmerksam zu machen. Wenn stimmte, was Secret gesagt hatte, rannten sie einer unabsehbaren Gefahr entgegen. Justin beschleunigte seinen Lauf, um die beiden einzuholen und zur Geduld zu mahnen. Sie brauchten zunächst einen Plan! Doch schon rief Vivien wieder lauthals nach dem fehlenden Mitglied. „Serenaaa!!“ Da waren sie wieder! Serena hatte gedacht, sie hätte sie bereits zerfetzt, aber sie konnte deutlich jemanden ihren Namen rufen hören. Und die Rufe kamen näher. Nein! Sie sollten verschwinden! Verschwinden sollten sie! Für immer!!! Niemand würde ihr mehr wehtun. Niemals mehr!!! All ihre Muskeln verkrampften sich. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer grausigen Dämonenfratze. Schneller als ihm die Augen folgen konnten, schoss etwas aus der lodernden Aura, die sich um sie aufgebaut hatte. Bevor Vivien sich ihrer Lage überhaupt bewusst werden konnte, wurde sie von der Energiewelle erfasst und ging zu Boden. Sie schrie automatisch, ohne dass sie es noch wahrgenommen hätte. Das einzige, das sie noch spürte, war das peinigende Gefühl, dass sich in ihr Inneres fraß. Es brannte! Brannte wie Höllenfeuer in Viviens Adern! Nahm ihr für einen Moment das Augenlicht. Sie lag am Boden, bekam es aber gar nicht mehr mit. Alles in ihr zog sich zusammen, um sich vor der eindringenden Gewalt zu verschließen, doch die fremde Empfindung bohrte sich immer tiefer in sie hinein. Das Gefühl, innerlich zu zerreißen, breitete sich in ihr aus und verpestete mit rasender Geschwindigkeit ihr Herz, ließ sie wütend die Zähne zusammenbeißen, weckte in ihr das Bedürfnis, zu zerstören. Dann erst registrierte sie langsam wieder das Geschehen in ihrer Umgebung. Vitali und Justin knieten über ihr und schrien auf sie ein. Sie konnte die besorgten Stimmen hören, doch die Worte drangen nicht zu ihr vor. Qualvolle Angst zeichnete sich in Justins Gesicht ab, er sah sie so mitleidig an, dass ihr ganz schlecht wurde vor Wut! Sie biss die Zähne zusammen so fest es ging. Doch als Justin sie auch noch an der Wange berührte, hielt sie es nicht mehr aus. Mit zornerfülltem Blick schlug sie seine Hand brutal beiseite. „Fass mich nicht an!!!“, kreischte sie rasend. Justin, zunächst perplex, sah sie getroffen an. Vivien erkannte an seinem Blick, dass sein Herz sich verkrampfte. Wie ein geschlagener Hund wich er zurück. Und obwohl sie all das wahrnahm, verspürte sie keinerlei Mitgefühl für ihn oder gar Reue. Am liebsten hätte sie verzweifelt auf ihn eingeschlagen. Obwohl sie glaubte, noch klar denken zu können, war sie ihren Gefühlen gegenüber machtlos. Sie verstand nicht, was da in ihr vorging! Sie hatte den Eindruck, die Kontrolle über sich zu verlieren. Alles in ihr war so verkrampft, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Kopf drohte zu platzen. Blitzartig schoss es durch ihre Gedanken, als wäre es das Logischste überhaupt. Serena! Es waren Serenas Gefühle! Ariane und Secret hatten die anderen erreicht und knieten sich ebenfalls zu Vivien. „Was ist mit ihr?“, fragte Ariane eilig. „Keine Ahnung.“, sagte Vitali wahrheitsgetreu, während Justin geradezu verschüchtert daneben saß. Vivien lag noch immer am Boden und atmete hektisch, als würde sie einer Panikattacke erliegen. „Wir müssen in Deckung.“, sagte Ariane an Justins Stelle. Viviens Verhalten hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. „Dort hinüber.“ Ariane zeigte nach links zu den Überresten eines weiteren Spiegelraums. Vitali ergriff den Oberarm der am Boden Liegenden, um Vivien nach links zu hieven. „Lass mich!!!“, fauchte sie bitterböse. „Drehst du jetzt auch noch durch!“, schrie Vitali. Secret sah Vivien fassungslos an. „Serenas Gefühle sind auf sie übergegangen.“ „Hä?!“, machte Vitali. „Was meinst du?“, wollte Justin erfahren. Sie hörten ein lautes Klirren und erkannten, dass Serena eine weitere Energiewelle ausgestoßen hatte, allerdings in eine andere Richtung. „Erst mal aus Serenas Schussfeld.“, entgegnete Secret. Justin warf einen besorgten Blick auf Vivien. Sie rührte sich keinen Zentimeter. „Darum kümmre ich mich.“, sagte Secret und packte Vivien grob am Arm. Unter ihrem tollwütigen Toben zog er sie nach oben. Trotzig verlagerte sie ihr Gewicht und wollte nicht auf die Beine kommen. Secret riss brutal an ihr. „Tu ihr nicht weh.“, bat Justin kleinlaut. Eine erneute Scherbenexplosion. Serena schoss wahllos in die Gegend. „Ihr sollt rüber gehen!“, forderte Secret nochmals. Er schleifte Vivien unter ihrem Gezeter mit sich, dann biss sie ihm in die Hand. Secret schrie auf und riss Vivien an ihren Haaren zurück. Sie kreischte. Der Laut zerrte an Justins Nerven, im gleichen Moment rannte er zurück. Von dem Geschrei gelenkt, schoss eine Druckwelle nur Millimeter neben Vivien vorbei und fegte die am Boden liegenden Scherben hinfort. Vor Schreck ließ Secret Viviens Kopf los, woraufhin diese mit ihrem Gebrüll aufhörte. Im gleichen Moment sah er Justin neben sich und wurde wütend. Der Junge wollte einfach nicht verstehen, dass sich Vivien gerade wie eine wilde Bestie aufführte. Man konnte sie nicht mit Samthandschuhen anfassen! Doch Justin handelte anders als Secret es erwartet hatte, anstatt ihm zu sagen, er solle weniger brutal mit Vivien umgehen, packte er kurzerhand Viviens Beine. Sie strampelte wild und wollte Justin treten, aber das ließ er nicht zu. „Los!“, rief er. Secret reagierte sofort. Mit Justins Hilfe schleppte er Vivien wie einen Sack Mehl nach links zu den anderen. Dann ließen die beiden sie auf den Boden plumpsen und entfernte sich eilig ein Stück, um nicht geschlagen, getreten oder gebissen zu werden. Ungläubig starrten Ariane und Vitali auf die zum tollwütigen Tier mutierte Vivien, die doch sonst immer die Fröhlichkeit in Person gewesen war. Justin und Secret setzten sich zu ihnen. „Passiert uns das auch, wenn wir getroffen werden?“, fragte Ariane. Secret schüttelte den Kopf. „Ihr könntet von Glück reden, wenn ihr so glimpflich davonkommt. “ Justin blickte betreten auf Vivien. Glimpflich… Er verspürte schmerzhafte Stiche in der Brust. „Du hast gesagt, Serenas Gefühle sind auf sie übergegangen.“, sagte er gedämpft. Wenn schon diese kleine Berührung so etwas bewirken konnte, und das bei dem Sonnenkind Vivien, was musste dann erst in Serenas Innerem vorgehen? Konnten sie ihr denn überhaupt nicht helfen? „Ich habe keine Ahnung, wie sie das gemacht hat. Es hätte sie einfach nur verwunden müssen.“, meinte Secret ernst. Wieder ertönten Serenas schrille Schreie, gefolgt vom Splittern von Spiegeln. Dieses Mal schien ihr Kreischen gar nicht mehr abbrechen zu wollen. Es lag so viel Verzweiflung darin, dass es ihnen die Kehle zuschnürte. Vitali war kurz davor, wieder aufzuspringen. Aber was konnte er tun? „Wenn das so weiter geht, versiegen ihre Kräfte bald.“, sagte Secret in düsterem Tonfall. „Du meinst, sie kommt wieder zu sich?“, fragte Ariane hoffnungsvoll. Secret warf ihr nur einen Blick zu und sie wusste, dass er das nicht gemeint hatte. Plötzlich schreckte er auf. „Auf den Boden!“ Nicht alle von ihnen folgten schnell genug. Die Druckwelle schleuderte Vitali nach vorne. Schmerzhaft kam er auf dem Boden auf. Winzige Spiegelsplitter schnitten ihm ins Gesicht und brannten höllisch. Seine Gelenke taten weh. Im nächsten Moment halfen ihm Ariane und Justin auf. In gebückter Haltung eilten sie weiter nach links und setzten ihn nicht weit von Vivien ab. Sie selbst nahmen zu seiner Linken und seiner Rechten Platz. Vivien, die Serenas Attacke knapp entgangen war, funkelte Justin, der nun neben ihr saß, feindselig an. Justin zwang sich, seinen Blick abzuwenden. Secret kniete sich vor die anderen, zum Aufbruch bereit. Wachsam horchte er auf Schritte in der Dunkelheit. Leises Knirschen war zu hören, denn Serena, die zuvor an einem Punkt verharrt hatte, bewegte sich nun. Sie suchte wohl die Störenfriede, die sie gehört hatte – oder deren Überreste. „Was heißt: ihre Kräfte versiegen?“, wollte Vitali mit grimmigem Gesichtsausdruck von Secret wissen. Ein Teil von ihm kannte bereits die Antwort. Secret sah ihn finster an. Seine Stimme war gedämpft, damit Serena ihre Spur nicht noch schneller aufnahm. „Wenn sie weiterhin solche enormen Wellen freisetzt, wird ihre Energie bald nicht mehr dafür reichen, ihren Organismus aufrechtzuerhalten. Es kommt zum Versagen der Organe.“ Vitali zitterte. Ob vor Wut oder Verzweiflung, konnte er nicht sagen. Eine schreckliche Ohnmacht erfüllte sein Inneres und er wollte irgendwem die Schuld daran geben. Aber davon würde dieses kranke Horrorszenario auch nicht enden. Serenas qualvolle Schreie kamen immer näher und zerfetzten ihre Hoffnung auf ein glückliches Ende. Vivien krümmte sich zusammen, den Kopf zwischen ihre Handballen gepresst. Sie konnte nicht mehr! Es war zu unerträglich. Dann schrie sie aus Leibeskräften. Laut. Schrill. Dem Wahnsinn nahe. Dieses Mal wusste Serena genau, wohin sie zielen musste. Das Spiegelstück, hinter dem sie sich versteckt hatten, zerbarst. Mit unheimlichen Wucht wurden sie getroffen und knallten auf dem harten, kalten Boden auf, dass es ihnen fast die Besinnung raubte. Schritte hallten in der Grabesstille auf dem Untergrund. Das Knirschen von Spiegelbruchstücken, die zertreten wurden. Serena kam auf sie zu. Vivien fühlte zahllose Tränen über ihre Wangen kullern. Die Erschöpfung machte Platz für das, was hinter der Wut gelegen hatte. Ihre Ohnmacht hatte nun endlich ihren Ausdruck gefunden. Dann spürte sie eine Hand ihre Rechte erfassen. Im gleichen Moment wusste sie, dass es Justins war. Selbst auf die Gefahr hin, von ihr gebissen oder gekratzt zu werden, hatte er ihr noch Halt geben wollen. Mit tränenüberströmten Augen begegnete sie seinem scheuen Blick und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen – wären sie nicht beide flach wie zwei Flundern auf dem Boden gelegen. „Ich weiß jetzt, wie wir Serena zurückholen.“, schluchzte sie gedämpft. Schwer atmend näherte sich Serena dem Trümmerhaufen, hinter dem sich ihre Feinde versteckt halten mussten. Wieder spürte sie das quälende Gefühl der Unterlegenheit und des Unwertseins. Sie biss die Zähne zusammen. Niemand würde sich mehr über sie lustig machen! Niemand würde ihr mehr wehtun dürfen! Sie würde es nicht zulassen!!! Regelrecht panisch atmete sie ein und aus. Heiße Tränen trübten kurz ihren Blick und erschwerten das Luftholen. Schlagartig hörte sie ein Geräusch von rechts. Sie riss den Kopf herum. Einer ihrer Peiniger wollte fliehen! Fiebrige Aufregung überkam sie. Schon immer hatten sie sie attackiert und gequält, hatten sich an ihrer Hilflosigkeit geweidet! Sie hatten keinerlei Mitleid gezeigt. Kein Erbarmen. Endlich würden sie dafür büßen! Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich erneut. Unbändige Aggression übernahm die Kontrolle über sie. Die Spiegel reflektierten tiefrotes, bedrohliches Licht um ihre Gestalt. Erbittert streckte sie ihren Arm in die Richtung des Geräuschs. Automatisch sammelte sich eine gewaltige, pechschwarze Energiewelle um sie herum, fand an ihrem Arm zusammen und schoss von dort aus mit einer rasenden Geschwindigkeit auf weitere verbliebene Spiegelteile zu. Mit einem Knall zersplitterten sie. Im gleichen Moment sprang vor ihr eine Person in die Höhe. „Kuckuck!“ Schuss. Gerade noch im letzten Moment warf sich Vivien zu Boden. Sie schnappte nach Luft. Das war knapp gewesen. Hoffentlich war auch Ariane nichts passiert. Als nächstes war Vitali an der Reihe. Sie mussten dafür sorgen, dass Serena zu erschöpft war, um ihre Wut aufrechtzuerhalten. Dann würde Vivien die Chance ergreifen und sich auf sie stürzen, schließlich war sie die einzige, die Serenas Kraft absorbieren konnte. Dann würde Serena nichts anderes übrig bleiben, als ihrer Verzweiflung anders Ausdruck zu verleihen und Vivien würde da sein, um sie zu halten, bis sie sich beruhigt hatte. Links von Serena sprang wieder eine Person aus der Dunkelheit hervor. Es reichte! Ihr Schuss zerfetzte weitere Spiegelüberreste. Sie sah wie etwas durch die Luft segelte und mit einem Schmerzenslaut auf dem Boden aufkam. Sie empfand nicht einmal Genugtuung dabei, oder jedwede Erleichterung. Ihr war elend und das Gefühl von übergroßer Bedrohung engte sie ein. Alles und jeder stand ihr feindselig gegenüber. Sie war ganz allein. Jeder wollte ihr bloß Leid antun. Sie verstand es nicht. Wieso? Wieso hassten sie alle so sehr?! Dumm… Hässlich… Schlecht… Plötzlich kam die jähe Angst in Serena auf, die Atmosphäre selbst wolle sie zerquetschen, um ihrem erbärmlichen Dasein ein Ende zu setzen. Sie spürte schon den äußeren Druck auf ihren Körper. Ihre Innereien taten weh, als verschrumpelten sie gerade zu ausgedörrten, grauschwarzen Überresten. Ihre Glieder waren schwer und schwach. Sicher wollte die Natur ihren schändlichen Fehler endlich beheben und die Missgeburt, die sie ausgespien hatte, zu Staub zermalmen. Dann hörte sie wieder Schritte überall um sich herum. Hektisch drehte sie sich nach allen Seiten. Drückende Hitze stieg in ihr auf. Die Feinde wollten sie einkeilen! Panik packte Serena. Wieder dröhnten die Stimmen in ihrem Kopf. Das gehässige Lachen. Sie war ihnen ausgeliefert! Nie wieder… NIE WIEDER!!! Serenas ohrenbetäubender Schrei breitete sich über das gesamte Gebiet aus, gefolgt von einer gewaltigen Druckwelle, die sich dieses Mal nicht nur in eine Richtung erstreckte. Die Energie schoss von ihrem Körper aus in sämtliche Himmelsrichtungen und fegte alles hinfort, das sich ihr in den Weg stellte. Serena fiel auf die Knie. Ihre gesamte Körperoberfläche wurde von einem fremdartigen Kribbeln heimgesucht. Sie spürte Hitze und Schwindel in ihrem Kopf. Das Blut pochte in ihren Ohren und das Bild vor ihren Augen verschwamm. Eine unbezwingbare Schwäche überfiel sie. Verzweifelt sog sie Luft in ihre Lungen, doch es half nichts. Sie hatte das Gefühle, etwas sauge das Leben aus ihr heraus. Was für eine unerträgliche Hitze! Ihr war so schrecklich schwindlig! Schwärze trat vor ihre Augen. Wie wild trommelte ihr Herz, als wolle es im nächsten Moment zerbersten. Ihre Umgebung verlor sich in einer unendlichen Weite, das Leben entfernte sich von ihr. Ein letztes Mal glühte die unerträgliche Pein in ihrem Leib auf und Tränen, die sie gar nicht mehr spürte, quollen aus ihren Augen. Alle waren gegen sie. Ungeliebt. Verachtet. Verraten. Niemand, kein einziger war für sie da. Niemand! Niemand… Serena kippte nach vorne um. Nach einigen Sekunden kam Secret wieder zur Besinnung. Er biss die Zähne zusammen, schluckte den Schmerz hinunter und raffte sich wieder auf. Vorsichtig lugte er aus seinem Versteck hervor und versteinerte. Gleichzeitig zerbrach Vitalis Schrei die Totenstille. Panisch humpelte Vitali auf den leblosen Mädchenkörper zu. Auch die anderen vier bahnten sich einen Weg zu der am Boden Liegenden. Secret richtete sich langsam auf und beobachtete mit emotionslosem Gesichtsausdruck das Schauspiel vor ihm. Vitali drehte Serena auf den Rücken und schreckte nach der Berührung mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück, als habe er sich verbrannt. In Wahrheit gewährte Serenas mit Verzweiflung und Zorn erfüllte Aura nicht das Eindringen einer fremden Gefühlsebene. Das Höllenfeuer, das sie heraufbeschworen hatte, war noch nicht erloschen. Sie schien ins Koma gefallen zu sein. Secret wusste es besser. Während Vivien und Vitali vergebens versuchten, Serena wieder zu Bewusstsein zu bekommen, standen Ariane und Justin einfach nur da, starrten entsetzt auf das grausige Szenario. Langsam und bedächtig trat Secret schließlich ebenfalls vor. Vitali und Vivien schrien mit zunehmend gebrochener Stimme auf Serena ein, ohne dass sich jegliche Reaktion zeigte. Vitalis Schreie wurden immer heftiger und hysterischer. Nochmals versuchte er, Serena wachzurütteln und nochmals verbrannte er sich dabei die Hände. Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und blickte daraufhin mit feuchten Augen in Secrets ausdrucksloses Gesicht. „Es ist zu spät.“, sagte Secret. Die gesamte restliche Welt verschwamm in diesem Moment im Hintergrund und für einen atemlosen Augenblick waren die Blicke aller auf ihn gerichtet. Die Grausamkeit der Erkenntnis schnitt ihnen ins Fleisch. „Sie war nicht... stark genug.“, ertönte Secrets Stimme. „NEIN!!!“, brüllte Vitali aufmüpfig in das gleichgültige Schweigen des Todes und schlug Secrets Hand weg, als könne er damit die Wahrheit verdrängen. „Neeeeeiiiin!!!!!“ Ariane sackte in sich zusammen und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Reglos war Justins Blick auf die noch aufgerissenen Augen Serenas fixiert. Das Labyrinth, die Schatthen, den sicheren Tod hatten sie überstanden, um nun eines ihrer Mitglieder zu verlieren? Das konnte nicht sein… Das durfte nicht sein! Herzzerreißendes, unkontrollierbares Schluchzen war für einige Zeit das einzige Geräusch in der sie gefangenhaltenden Schwärze, die sich über ihre Seelen legte. Gebrochen kniete Vivien neben Serena. „Jeder fühlt sich allein.“, flüsterte sie, ohne sich von Serena abzuwenden. Sie erinnerte sich an das, was die Spiegel ihr gezeigt hatten und an die Gefühle, die sie mit Serena geteilt hatte. „Jedem wird wehgetan. Jeder kennt Leid. Und manchmal, da ist es so schlimm, dass wir am liebsten sterben würden. Weil wir es einfach nicht mehr aushalten können! Weil uns keiner versteht. Weil keiner für uns da ist. Weil keiner uns liebt. Aber das stimmt nicht.“ Sie musste nach Luft schnappen. „Es stimmt nicht! Nur manchmal wollen wir die Wirklichkeit einfach nicht sehen. Manchmal ist es einfacher zu denken, dass die ganze Welt uns hasst. Denn dann haben wir ja das Recht, die ganze Welt zurück zu hassen. Die ganze verdammte Welt!“ Sie holte Atem.. „Dabei wollen wir doch nur, dass uns jemand versteht. Wir wollen nur, dass … Dass jemand für uns da ist und uns sagt, dass alles gut wird. Dass uns jemand liebt!“ Vivien schluchzte auf. Dann versuchte sie, ihre Lautstärke zu erhöhen. „Ist es nicht so? Ist es nicht so?!!“ Wieder schluchzte sie. „Antworte mir!“, schrie sie den leblosen Körper vor sich an. Dann weinte sie wieder. „Geh nicht weg. Bitte…“ Nochmals erhob sie ihre Stimme. „Ich hab dich doch lieb!“ Anschließend ertrank ihre Stimme in dem Meer ihrer Schluchzer. Secret atmete geräuschlos aus. Unbedeutend, wie sehr sie sich dagegen sträubten, sie mussten Serenas Tod hinnehmen. Mit einem Mal bemerkte er eine schwache Veränderung der Atmosphäre, konnte aber nicht genau bestimmen, welchen Ursprung sie hatte. Argwöhnisch ließ er seinen Blick über die Gegend schweifen. Doch die Dunkelheit gewährte ihm kaum Einblicke. Er spürte, dass sich Schatthen näherten. Diese Kreaturen, geschaffen aus Hass und Zorn, Inkarnationen der Zerstörungswut, wurden von den Gefühlen, die Serenas ausgestrahlt hatte, angezogen wie die Motten von Licht. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als Serenas Leichnam hier liegen zu lassen. Sie mussten weiter. Secret warf einen letzten, Respekt erweisenden Blick auf Serena, ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Ihr Anblick schmerzte. Die Augen noch immer geöffnet. Die Wangen – noch feucht von unzähligen Tränen. Der Gesichtsausdruck eines Menschen, der keine Hoffnung mehr sah, den Zorn und Verzweiflung zugrunde gerichtet hatten. Er hätte ihr gerne die Augen geschlossen, um ihr so vielleicht etwas Frieden zu schenken, doch er wusste, dass eine Berührung unmöglich war. Die intensiven Schwingungen des Hasses umschwirrten weiterhin Serenas Körper. Wie eine schwarze Gewitterwolke, die Unheil verkündete. Der grauenvolle Gedanke, dass sich diese Wellen in der energetisch aufgeladenen Umgebung selbstständig zusammenziehen und zu einem Schatthen formen könnten, kam in Secret auf. Sofort versuchte er ihn zu unterdrücken. Dann weiteten sich seine Augen. Die Atmosphäre. Diese seltsame Veränderung… Das durfte nicht sein! Überstürzt jagte Secret um die anderen herum und schmiss sich neben Serenas Kopf auf die Knie. „Du musst dagegen ankämpfen!“, schrie er den leblosen Körper an. „So schnell verlässt die Seele den Körper nicht. Du kannst es noch aufhalten! Bitte!“ Die anderen folgten Secrets Aktion mit apathischen Blicken. Eine seelische Betäubung hatte ihr abstumpfendes Netz über sie geworfen. Nur so waren sie dem Wahnsinn entronnen, der sie nach dem Verlust ihres Mitglieds zu verschlingen drohte. Die emotionale Qual war auf diese Weise langsam einer dumpfen Gefühlsleere gewichen, die es erst wieder abzustreifen galt. „Lebt sie noch?!“ Vitali wollte laut rufen, aber es war nur ein heiseres Flüstern, das er herausbrachte. Secret hätte so oder so nicht auf seine Frage geantwortet. „Serena!“ Auch Viviens Stimme war schwach, aber der winzige Funken Hoffnung, den sie aus der Fehlinterpretation von Secrets Worten schöpfte, gab ihr neue Kraft. Sie griff nach Serenas Hand und verbrannte sich die Finger wie Vitali zuvor. Es war ihr egal! Gleichzeitig kamen nun auch Justin und Ariane an die Seite der Totgeglaubten gestürmt und riefen ihren Namen. Doch Secret musste erkennen, dass jegliche Appelle umsonst waren. Alles lief auf das Unvermeidbare hinaus: Die Geburt eines Schatthens! Wie vom Leibhaftigen verfolgt sprang Secret auf. „Wir müssen hier weg!!!“ Die anderen sahen ihn nur verständnislos an. Dann blickte Ariane unwillkürlich zurück auf Serena und stieß im gleichen Moment einen Schreckenslaut aus. Secrets Herzschlag setzte aus. Der Schock zog den Augenblick in eine qualvolle Länge. Bis die Zeit ihn schließlich zum Zerreißen brachte. In dieser Sekunde hatte Secrets Gehirn erst die Kraft, zu verarbeiten, was sich da vor seinen Augen abspielte, was sich an Serenas Körper zeigte. Eine Träne. Sie glitzerte in Serenas entseelten Augen auf, wanderte zu ihren Augenwinkeln und lief dort die Seite ihres Gesichts hinunter. Für einen atemlosen Moment waren alle Blicke auf sie gerichtet. Andächtiges Schweigen herrschte, als fürchteten die fünf, sie könnten durch Geräusche jegliche weitere Reaktion verscheuchen. Doch mit einem Schlag wurde ihre Ungewissheit zertrümmert – einem Augenschlag. Serenas Augenlider hatten geblinzelt. Dennoch dauerte es noch eine Sekunde, ehe die fünf es wirklich begriffen, ehe sie es nicht mehr als bloßen Wunschgedanken abtaten. „Serena!“, schrie Vivien und bedeckte den Oberkörper des Mädchens mit dem eigenen und umklammerte es wie ein kleines Kind. Daraufhin spürte sie, was in der Dunkelheit keiner von ihnen erkannt hatte: das schwache Auf und Ab von Serenas Brustkorb. Ein seltsames Geräusch stieg aus Viviens Kehle, eine Mischung aus Lachen und Schluchzen. „Sie lebt… Sie lebt!“ Unverhofft wich die schmerzhafte Anspannung von Secret wie eine übergroße Last und nahm alle störenden Gedanken mit sich. Geistesabwesend hörte er das schluchzende Lachen nun auch von den anderen kommen und ehe er sich versah, hörte er eine weitere Stimme miteinstimmen, die er erst im nächsten Moment als seine eigene identifizierte. Er spürte etwas Unbekanntes: ein seltsam drückendes Gefühl, das sich einen Weg von seinem Magen, über seinen Brustkorb, hin zu seinem Kopf bis zu seinen Augen bahnte und dort mit einem Kitzeln in der Nase seinen Blick für kurze Zeit trübte, um sich in einer ungewohnten Feuchte über seine Wangen zu entladen. Durch den Schleier aus blindem Zorn, hinein in den Krater der Verlorenheit war etwas zu Serena vorgedrungen, hatte etwas in ihr bewirkt, hatte ihre Aura zu einer Veränderung angeregt, die als schwacher Wandel in der Atmosphäre zu spüren gewesen war. Sie hatten den letzten Funken Leben in ihr mit einem zarten Hauch auf Neue entfacht – diese wenigen Worte. Und obwohl Serenas Bewusstsein sich später an all das nicht erinnern konnte, wirkte der Satz, den die gleiche Mädchenstimme ihr wieder und wieder sagte, wie heilender Balsam für ihre Seele. „Wir haben dich lieb.“ Kapitel 13: Letzte Chance - Vorbei ---------------------------------- Letzte Chance – Vorbei! „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ (Sprichwort) Allmählich wurde Serenas Atmung wieder regelmäßiger und weniger flach. Es blieb die Sorge, ob sie wieder zu sich kommen würde, denn das Bewusstsein hatte sie noch nicht wiedererlangt. Schließlich wurde sich Secret der immer noch bestehenden Gefahr wieder bewusst. Selbst wenn Serenas Ausstoß negativer Energiewellen ein Ende gefunden hatte, würden die Schatthen durch diesen Wandel nicht sofort die Fährte verlieren. Den anderen seine Bedenken mitzuteilen, hatte gerade wenig Sinn. Daher versuchte er zunächst, seine eigenen Gedanken zu ordnen. Den Teil dieses Ortes, an dem sie sich momentan befanden, kannte Secret nicht. Er wusste nicht, wohin sie sollten, wo es einen Ausgang gab. Ob es einen Ausgang gab. Wie Ratten in einem Versuchslabor. Zwar konnte er nicht sagen, woher der Gedanke kam, aber mittlerweile war er an diese plötzlichen Eingebungen gewöhnt. Er versuchte, den Gedanken zu verfolgen. Auch sie rannten und rannten, gehetzt von Schatthen und anderen Gefahren. Aber sie konnten nicht aus ihrem Gefängnis entkommen, weil sie sich in vorgegebenen Bahnen bewegten. Es galt, aus diesem System auszubrechen. „Was denkst du?“ Justin war neben ihn getreten. Secret antwortete mit gesenkter Stimme. „Die Schatthen sind uns bereits auf der Spur.“ Sorgenvoll sah Justin ihn an. „Ich glaube nicht, dass Serena transportfähig ist.“ „Darum geht es nicht.“, entgegnete Secret. Zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich Denkfalten. „Egal, wie weit wir kommen, wir werden keinen Ausgang finden. Das hier ist nicht darauf ausgelegt.“ Justin nickte. „Diese Räume folgen nicht den natürlichen Gesetzen. Ob Boden oder Wände, irgendwie ist das Material fähig, sich umzuformen. Vielleicht nicht an allen Stellen, aber zumindest an bestimmten Schnittpunkten zwischen den einzelnen Bereichen. Es gibt sozusagen Verbindungen zwischen den Räumen. Vielleicht brauchen sie ein bestimmtes Signal um aktiviert zu werden.“ „Wir wollen mithören!“, rief Vivien. Justin und Secret traten wieder näher zu den anderen. „Mit der Ohnmächtigen kommen wir nicht weit.“ Vitali klang nicht halb so hart, wie er es wollte. „Im besten Fall müssen wir das auch nicht.“, sagte Secret. „Was meinst du?“, wollte Ariane wissen. Secret wies Justin an, seine These zu erläutern. „Vielleicht gibt es in der Nähe einen Ausgang. Also nicht wirklich einen Ausgang. Eher eine Art Verbindung nach draußen.“ „Hä?“ machte Vitali. „Wir suchen einen Link, der uns nach draußen bringt?“, fragte Vivien. „So ähnlich.“, stimmte Justin zu. „Aber wir wissen nicht, wie dieser Link aussieht und wie man ihn aktiviert und ob er sich überhaupt in der Nähe befindet.“ „Ich kapier gar nichts.“, meinte Vitali. „Sie denken, es gibt eine Art Portal, das wir finden und aktivieren müssen.“, erklärte Ariane. „Das hier waren Gehirnwäscheräume.“, sagte Secret. „Es würde Sinn ergeben, wenn es hier eine Verbindung nach draußen gäbe.“ Ariane erhob sich. „Dann sollten wir uns auf die Suche machen.“ „Jemand muss bei Serena bleiben.“, sagte Vivien. Vitali stand auf. „Jemand, der sie aus der Gefahrenzone bringen kann, wenn es darauf ankommt.“, fügte Justin hinzu und sah Vitali an. Vitali zog kein begeistertes Gesicht. Er seufzte und wehrte sich nicht gegen die Entscheidung. „Meinetwegen.“ „Danke.“, sagte Justin. „Wir sollten in Zweier-Teams gehen.“ Vivien schloss sich Justin an. Ariane und Secret suchten in der anderen Richtung. Vitali blieb mit Serena zurück. Er hätte sowieso nicht gewusst, nach was er hätte suchen sollen. Er seufzte und schaute auf Serena, die in dem gespenstischen Schein der Spiegelsplitter noch blasser aussah. „Du könntest mal wieder aufwachen.“ Er sah sich nach den anderen um, die in den Bereich gelaufen waren, der durch ein paar größere Spiegelreste noch besser beleuchtet war. Plötzlich hörte er jammernde Geräusche von Serena kommen. Er lehnte sich näher zu ihr. „Hey. Passt dir vielleicht nicht, aber du musst mit mir vorlieb nehmen.“ Er bemerkte, dass sie zuckte, als habe sie einen Albtraum. „He.“, machte er nochmals und griff nach ihrem Handgelenk. Zumindest hatte ihre Haut aufgehört, ihn zu verbrennen. Ein Knacken ließ ihn aufhorchen. Er hatte das seltsame Gefühl, das Licht in dem Bereich rechts von ihm wäre weniger geworden. Lag wohl an der Nachtsicht. Serena winselte noch stärker. Dieses Mal beugte er sich über sie und erkannte, dass sie wieder zu Bewusstsein gekommen war. „Hey!“ Seine Wortgewandtheit ließ vielleicht zu wünschen übrig, aber er war einfach froh, dass sie zu sich gekommen war. „Willkommen zurück!“ In ihren Augen stand Angst und er begriff, dass sie versuchte, ihren Arm nach ihm auszustrecken. Es war ihm zwar peinlich, aber er griff nach ihrer anderen Hand. „Ich bin ja da.“, presste er knarzig hervor und vermied ihren Blick. Er hatte keine Ahnung, wie er sie beruhigen sollte. Wieso hatten die anderen ausgerechnet ihm diese blöde Aufgabe übertragen müssen! Serena war bestimmt nicht froh, ihn als erstes zu sehen. Da fiel ihm ein, dass Serena sich vielleicht wunderte, wo die anderen waren. „Die anderen suchen einen Ausgang. Die sind bald wieder da.“, erklärte er und sah sie wieder an. Serena hatte etwas Drängendes in ihrem Blick, als wolle sie ihm etwas Wichtiges mitteilen. In diesem Moment hörte er erneut dieses Knacken. Secret stockte in der Bewegung. „Sie sind hier.“ Ariane kam nicht dazu, nachzufragen, was er gemurmelt hatte. Secret wirbelte herum: „Schatthen!“ Vitali starrte entsetzt in Secrets Richtung. Dann erst begriff er, dass die Bedrohung nicht aus der Richtung der anderen kam, sondern von dem Bereich, aus dem er das Knacken gehört hatte. „Keine Zeit zum Ausruhen.“, sagte er zu Serena und versuchte, sie auf die Beine zu bekommen. Das gestaltete sich allerdings schwierig, da Serenas Beine ihr Gewicht nicht halten konnten. Vitali fluchte. Er sah über Serenas am Boden kauernden Körper hinweg in die Dunkelheit. Nur der fahle Schimmer der Spiegelsplitter spendete etwas Licht, doch dieses schien nach und nach zu erlöschen. Secret war gerade im Begriff, zu Vitali zu rennen, als Ariane ihn aufhielt. „Wieso zerstören sie die Spiegelsplitter?“, fragte sie ihn. Er begriff nicht. „Die Schatthen. Sie machen die Splitter kaputt.“, begehrte Ariane nochmals auf. „Vielleicht damit wir sie nicht sehen.“, gab er knapp zurück. Ariane schüttelte den Kopf. „Die Spiegel sind wichtig!“ In diesem Moment kam Vivien zu ihnen gerannt. Sie und Justin hatten sich aufgeteilt. „Wir müssen den Ausgang finden.“, rief sie. Secret sah Ariane an. „Die Spiegel.“, sagte er, als würde er eine Rückversicherung von ihr einholen wollen. Ariane nickte. Secret sah sich um. Nicht weit entfernt stand ein mannshoher Überrest eines Spiegelsaals. Ohne zu zögern, lief er darauf zu. Er versuchte, sich zu konzentrieren, in der Hoffnung, seinen sechsten Sinn vielleicht einmal willentlich einzusetzen. Dann spürte er das Pochen in seinem linken Oberarm. Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Ariane erklärte Vivien derweil: „Wir müssen den Spiegel irgendwie aktivieren.“ Secret hielt inne. Wie von einer plötzlichen Eingebung geleitet, entfernte er den Verband von seiner Wunde. „Was tust du?“, fragte Ariane. Er antwortete nicht. Die schwarzen Adern auf seinem Oberarm pulsierten. Er streckte seinen verwundeten Arm aus, legte seine Handfläche auf die Spiegeloberfläche und schloss die Augen. Ariane und Vivien erschraken. Secrets Wunde entwickelte plötzlich ein Eigenleben. Als wäre das Licht des Spiegels auf sie übergegangen, schimmerte sie in dem blassen Licht. Das Leuchten schoss mit einem Mal zurück in den Spiegel. Im nächsten Moment wurden sie geblendet. Fassungslos erkannten sie, dass der Spiegel nun ein taghelles Licht ausstrahlte. „Geht durch.“, sagte Secret. „Ich halte die Schatthen auf.“ Bevor sie noch irgendwas sagen konnten, rannte er in die Richtung von Vitali und Serena. Derweil hatte Justin Vitali erreicht und half dabei, Serena zu bewegen. Sie kamen nur schleppend voran und wussten nicht, wie viel ihnen das helfen würde. In diesem Moment kam ihnen Secret entgegen. „Lauft zu dem Licht.“, befahl er und baute sich hinter ihnen auf. „Was hast du vor?“, rief Justin. „Ich komme nach.“, antwortete Secret. Sie hatten keine Zeit sich länger damit zu beschäftigen, was er damit meinte. Sie schleiften Serena weiter mit sich. Die Schatthen schienen begriffen zu haben, dass ihre Taktik, die Spiegelsplitter zu zerstören nicht aufgegangen war, denn sie wurden nun in dem Licht der Splitter sichtbar. Secret wusste aus unerfindlichen Gründen genau, was er zu tun hatte. Er machte eine entschiedene Armgestik. Die Bewegung kam fast schon reflexartig, als sei sie von etwas in ihm gelenkt. Von etwas, das vielleicht zuvor durch die gleiche Blockade unterdrückt worden war wie seine Gefühle. Doch dieses Hindernis war eingerissen worden. Wie von einer unsichtbaren Kraft erfasst, wurden drei Schatthen durch die Luft zurück in die Finsternis katapultiert. Secret wiederholte seine Armbewegung und schleuderte zwei weitere hinfort. Ungläubig verfolgten Ariane und Vivien Secrets Kräfteeinsatz. Glücklicherweise hatten Justin und Vitali nichts davon mitbekommen, so konzentrierten sie sich allein darauf, Serena zu dem leuchtenden Spiegel zu bekommen. Secret schnappte nach Luft. Kein Schatthen war mehr zu sehen. Er drehte seinen Kopf von der einen zur anderen Seite und wirbelte herum. „Sie umzingeln uns!“, brüllte er und rannte los. Vivien eilte Vitali und Justin das letzte Stück entgegen und half ihnen, die letzten Schritte zu dem Spiegel hinter sich zu bringen. „Geh du vor.“, sagte sie zu Vitali und wandte sich an Justin. „Nimm du Serena.“ Hintereinander verschwanden die drei in dem Spiegelportal. Vivien drehte sich zu Ariane. „Ich warte auf Secret.“, sagte Ariane entschieden. Vivien nickte. Sie durfte nicht riskieren, dass Justin und Vitali aus Sorge nochmals zurückkamen. Sie lief durch das Portal. Alles wirkte für Ariane wie in Zeitlupe, Secret schien noch so schrecklich weit entfernt. Sie verfolgte, wie er erneut seine Armbewegungen ausführte, dieses Mal zur Seite. Sie konnte allerdings nicht sehen, welchen Effekt dies hatte. Nur noch ein paar Meter. Plötzlich trat Entsetzen in Secrets Gesicht. Sie sah noch den Ansatz einer Armbewegung, dann wurde sie mit einem enormen Druck durch das Portal geschleudert. Nur Sekundenbruchteile später zertrümmerte der Schatthen, der jenseits von Arianes Blickfeld hinter dem Spiegelportal aufgetaucht war, die letzte Chance auf ein Entkommen für Secret. Kapitel 14: Zurück ------------------ Zurück „Humanität besteht darin, dass niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird.“ (Albert Schweitzer, ev. Theologe, Arzt, Philosoph) Ariane schlug auf einem harten Boden auf. Gleichzeitig verschwand das Portal. Die anderen starrten fassungslos auf die Stelle, von der aus sie hier gelandet waren, dann auf Ariane, die sie nur an der Silhouette erkannten, denn das schwache Licht der Straßenlaternen reichte nicht bis zu dem Baugrund. Die Bagger und Kräne standen immer noch da, als wäre nie etwas geschehen. Und obwohl es viele Stunden her sein musste, dass sie von hier aus ins Schatthenreich verschleppt worden waren, herrschte noch immer stockfinstere Nacht. „Wo ist Secret!“, schrie Vitali hektisch. Er kniete neben Serena, die von Vivien gestützt, auf dem Boden saß. Ariane sprang panisch zurück auf die Beine. Das Leuchten des Portals war erloschen. „Was ist passiert?“, rief Justin. Ariane griff verzweifelt in die Leere, als hoffe sie, der Durchgang ins Schatthenreich wäre einfach nur unsichtbar geworden. „Ariane!“, forderte Justin sie nochmals zu einer Antwort auf. Ariane drehte sich zu ihm um und brach im gleichen Moment in Tränen aus. Vitali sprang auf und packte Ariane an den Schultern. „Was ist mit Secret passiert?“ Er klang verstört. „Ich weiß es nicht.“, presste Ariane hervor. „Er hat – Ich glaube, er hat mich durch das Portal geschleudert.“ Vitali ließ von ihr ab. „Da ist kein Portal mehr!“ Vivien versuchte, die Gemüter zu beruhigen. „Er hat den Durchgang geöffnet. Er kann das auch bei einem anderen Spiegel.“ Ihre Stimme überschlug sich fast. „Und er kann die Schatthen abwehren.“ Justin starrte zu Boden. Wenn der Spiegel zerstört worden war, wie sollte Secret so schnell einen anderen finden und aktivieren, während die Schatthen ihn angriffen? Vivien wollte die Hoffnung nicht aufgeben. „Vielleicht können wir von dieser Seite ein Portal öffnen!“ „Wir müssen zurück.“, stieß Ariane aus. „Wir müssen irgendwie zurück.“ Justins Stimme wurde streng. „Das ist sicher nicht das, was Secret will.“ „Er will sicher nicht, dass wir ihn zurücklassen!“, begehrte Ariane auf. „Keiner wird zurückgelassen. Das habt ihr gesagt.“ Justins Blick schweifte über dem Baugrund. Er hatte keine Ahnung, wie sie Secret da rausholen sollten. „Wie hat er das Portal geöffnet?“ „Er hat seine Wunde benutzt.“, erklärte Vivien. „Wir müssen was tun!“, forderte Vitali. Ariane verließ die Gruppe, um nach etwas auf dem Baugrund zu suchen, als könne sie irgendwo einen Spiegel entdecken. Serena stierte leer vor sich hin. Keiner von ihnen konnte Portale öffnen. „Wir verbinden unsere Kräfte!“, rief Vivien überzeugt. „Kommt her!“ Die anderen folgten ihrem Aufruf, egal wie absurd der Vorschlag klang. Sie setzten sich zu Serena und Vivien auf den Boden und nahmen sich an den Händen. „Konzentriert euch auf Secret!“, wies Vivien sie an, während Justin es übernahm, Serena zu stützen. Sekunden verstrichen „Das bringt nichts!“, schimpfte Vitali. „Versuch‘s weiter!“, verlangte Vivien. Vitali stieß einen Fluch aus und gehorchte. Aber wie sollten sie dadurch etwas bewirken? Das war doch alles Schwachsinn! „Vitali, konzentrier dich.“, gemahnte Justin, als habe er seine Gedanken gelesen. Sollte er sich jetzt etwa vorstellen, wie Secret wie aus dem Nichts zwischen ihnen auftauchte? Vitali beobachtete, wie die anderen ihre Augen schlossen, als würden sie meditieren. Er stieß die Luft aus und bemühte sich, irgendwelche Kräfte, die er eventuell hatte, einzusetzen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie. Plötzlich glaubte er, ganz zarte Glöckchen klingen zu hören. Irritiert drehte er sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Für einen Augenblick meinte er, dort ein kleines Leuchten zu erkennen. Gerade wollte er die anderen darüber informieren, als das Leuchten auch schon wieder verschwunden war. Hatte er sich das eingebildet? Wieder der Klang. Dieses Mal direkt vor ihm. „Leute!“, schrie Vitali. In diesem Moment blitzte das Licht hell auf, dass er gezwungen war, die Augen zu schließen. Kapitel 15: [Normale Welt - Normales Leben?] Zwischenspiel 1 ------------------------------------------------------------ Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen durch die verstaubten Fenster des alten Gebäudes und tauchten dessen Einrichtung in trübes Licht. Antike Gegenstände aus sämtlichen Zeitepochen zierten die sonst eher karg wirkenden hohen, kalten Säle des burgähnlichen Bauwerks. Von den Wänden hallten Schritte auf dem steinernen Boden wider. Der Bewohner dieses Gemäuers durchquerte den Eingangsbereich. Zu seinen üblichen Falten hatten sich zahlreiche weitere gesellt und betonten das griesgrämige Erscheinungsbild des Mannes. Wieder ertönte das nervtötende Sturmläuten, das ihn gerade aus seinen Studien gerissen hatte. Das würde derjenige noch bitter bereuen! Mit Riesenschritten hatte der Mann die Haustür erreicht und riss sie auf, fest dazu entschlossen den Störenfried – wenn schon nicht mit der Eisernen Jungfer aus seiner Sammlung – doch zumindest mit seinen Blicken aufzuspießen. Ein junger Mann stand vor ihm und sah ihn leicht eingeschüchtert an, neben ihm auf der Schwelle stand ein großes Paket. „Doktor Schmidt?“, fragte der Fremde zaghaft mit einem amerikanischen Akzent. Auch noch so ein blöder Ami! Das schlug dem Fass doch den Boden aus! „Hier gibt’s nicht zu betteln!“, brüllte Schmidt. „Habt ihr nicht schon genug in der Welt angerichtet?!“ Verwirrt sah der Amerikaner ihn an. Erst im nächsten Moment fand er die Kraft, wieder etwas zu sagen. „Ich bin ein Ausgrabungsassistent von Professor Geronimo.“, stellte er sich vor. „Und weiter?!“, knurrte Schmidt ihn an. Der junge Mann wurde immer unsicherer. Mit einer abgehackten Bewegung zeigte er auf das Paket neben sich. „Das ist eine Entdeckung, die ich Ihnen bringen soll.“ „Was ist da drin?“, fragte Schmidt gereizt. Die Antwort war dem Fremden sichtlich peinlich. „Das weiß ich leider nicht. Er wollte es niemandem sagen.“ Schmidt warf dem Ausgrabungsassistenten einen herablassenden Blick zu und bückte sich, um das Paket an sich zu nehmen. „Vorsicht, es ist heavy!“, warnte der Amerikaner. „Soll ich Ihnen helfen?“ Schmidt sah es nicht einmal als nötig an, zu antworten, und hievte stattdessen das Paket hoch und drehte sich um. „Mein Name ist übrigens ..“ Ehe der junge Mann fertig gesprochen hatte, hatte Schmidt ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. „..Tylor.“ Ungläubig starrte Tylor auf die geschlossene Tür. Dann verzog sich sein Gesicht. „What a grumpy geezer!“, murrte er beleidigt. Tylor seufzte und wandte sich um. Und dafür hatte er die lange Fahrt auf sich genommen? Eine starke Brise schlug ihm ins Gesicht. Tylor blickte zum Himmel auf. Ein feindliches Bataillon schwarzer Gewitterwolken hatte sich breit gemacht. Gefährliches Grollen ertönte und ein erster Regentropfen traf auf Tylors Wange auf. Eilig spurtete er los, um dem drohenden Regenschauer zu entgehen. Anstatt den kurvigen Weg zu nehmen, der zu Schmidts Anwesen hinauf führte, rannte er die grasbewachsenen Hügel hinunter, die ihn von seinem fahrbaren Untersatz trennten. Das mehr als schrottreife Gefährt, ein uralter Fiat, den der Professor ihm vorgesetzt hatte, hatte auf der Hälfte des kurvigen Weges den Berg hinauf schlapp gemacht. Wahrscheinlich Überhitzung nach der neunstündigen Anfahrt. Und unter Überhitzung litt auch Tylor, der die ganze Zeit ohne Klimaanlage hatte auskommen müssen. Tylor spie ein amerikanisches Schimpfwort aus. Dieser verfluchte Professor! Erst ihn dazu verdonnern, seinen verdammten Fund ans andere Ende Deutschlands zu fahren, ihm dann die größte Schrottkarre aller Zeiten vorsetzen und ihm nicht einmal sagen, worum es eigentlich ging! Achja, dann noch der Umstand, dass er den zentnerschweren Fund zu Fuß den Berg hinauf schleppen gemusst hatte und zu guter Letzt dieser überaus freundliche Amerika-feindliche Jugendfreund des Professors. Machen Sie ein Auslandssemester! Lernen sie neue Leute kennen! Diese Zeit werden Sie nie vergessen! Und ob er die nie vergessen würde! Klitschnass stieg Tylor in die Metallbüchse auf Rädern ein. Zumindest hatte der Regen das Auto abgekühlt, so dass es tatsächlich ansprang. Und hey, einer der Scheinwerfer funktionierte sogar! Tylor war nahe dran loszuschreien. Umgeben von ohrenbetäubendem Donner und strömendem Regen, der heftig auf das Dach und gegen die Fensterscheiben prasselte, fuhr Tylor los. Nachdem er wenige Minuten dahingetuckert war, klingelte sein Handy. Ein Wunder, dass er es trotz des ratternden Motorgeräuschs überhaupt hörte. „Ja?“ „Na endlich!“, schimpfte die Stimme eines seiner Kollegen vom anderen Ende. „Ich dachte schon, du wärst mit der Karre in die Luft geflogen.“ „Was nicht ist, kann ja noch werden.“, entgegnete Tylor grimmig. „Dieser verfluchte Geronimo! Hätte er den blöden Fund nicht mit der Post schicken können! Und warum gerade ich? Weißt du, wie es ist, bei der Hitze mit 80 auf der Autobahn dahinzuschleichen? Und das wegen einem Fund, der wahrscheinlich genauso interessant ist wie – keine Ahnung wie was, etwas sehr Langweiliges! Ich bringe ihn um!“ „Zu spät.“, sagte die Stimme am anderen Ende ernst. „Ist mir jemand zuvor gekommen?“, meinte Tylor spöttisch. Doch sein Kollege war nicht zum Scherzen aufgelegt. „Er ist heute Mittag tot aufgefunden worden.“ „Was?“, stieß Tylor atemlos aus. Ein lauter Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken. „Heute Mittag, als du schon weg warst, hat ihn Benedikt entdeckt. Er lag tot in seinem Büro..“ „Aber wie?“, fragte Tylor ungläubig. „Die Polizei war auch da. Es ist nichts gestohlen worden. Aber es war alles durchwühlt.“ In seiner Aufregung fiel es Tylor schwer, die richtigen deutschen Worte zu finden. „He was killed?“ „Das weiß bisher keiner. Die anderen sagen, dass es bei dem letzten Treffen mit den Sponsoren zu einem Riesenzoff gekommen ist. Sie wollten die Ausgrabungsstelle und alles, was dazugehört verkaufen. Nur der Prof war dagegen. Er wollte nicht riskieren, seine Forschungsergebnisse abgeben zu müssen. Daher hat er dich wohl auch mit dem Paket losgeschickt, um es in Sicherheit zu bringen oder so.“ „Du meinst, es ging um seine Entdeckung?“ „Warum hätte man sonst sein Zimmer durchwühlen sollen?“ Für einen Moment nahm Tylor nur noch das monotone Trommeln des Regens und das Motorengeräusch wahr. „Was zum Teufel ist dieser verdammte Fund?“ Schlagartig schoss etwas auf die Fahrbahn, die im gleichen Moment von einem grellen Blitz erhellt wurde. Fluchend ließ Tylor das Handy fallen und stieg auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen nach einigen Metern zum Stehen, während das Tier längst wieder in der Finsternis verschwunden war. Tylor schnappte nach Luft. Der Schrecken steckte ihm noch in den Gliedern. Sicher ein Wildschwein, redete er sich ein. Doch ein schemenhaftes Bild von der Kreatur, das er im Moment des Blitzlichts zu sehen geglaubt hatte, schoss ihm erneut in den Sinn und jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Tylor schüttelte sich, um das Hirngespinst aus seinen Gedanken zu vertreiben. Auf dem Boden entdeckte er sein heruntergefallenes Handy. Die Verbindung war bereits getrennt worden und die Akkuanzeige gab ihm zu verstehen, dass ein weiterer Anruf nicht mehr möglich war. Im nächsten Moment schaltete sich das Display mit einem Piepsen bereits eigenständig aus. Zu allem Überfluss bemerkte Tylor nun auch eine ungewohnte Stille - der Motor war ausgegangen. Er versuchte den Wagen neu zu starten. Nichts tat sich. Auch zwei weitere Versuche blieben ohne Erfolg. Schimpfend öffnete er die Wagentür. Unsicher, ob er nicht sofort weggespült würde, stieg er aus und öffnete die Motorhaube. Nachdem er an allem möglichen, dessen Nutzen ihm nicht einmal klar war, herumgefuhrwerkt hatte – zwischendurch immer öfter amerikanische Flüche ausstoßend – und seine Kleidung von dem strömenden Regen völlig durchnässt war, kam er zu dem Schluss, dass der Wagen nun wirklich schrottreif war. Aber wo sollte er mitten in der Pampa einen Abschleppwagen herbekommen, wo sein Handy den Geist aufgegeben hatte und weit und breit keine Menschenseele zu finden war? Tylor stieß einen leidvollen Klagelaut aus, als ihm klar wurde, dass er gezwungen war, zurück zu dem Anwesen von Doktor Schmidt zu marschieren. Kapitel 16: Wahnvorstellung --------------------------- Wahnvorstellung „Wer am Tode vorübergegangen ist, lebt anders als er früher gelebt hat.“ (aus Wallonien) Als Serena die Augen wieder öffnete, fiel ihr helles Sonnenlicht ins Gesicht, sodass sie ihren Arm schützend über die Augen legte. Sie lag auf etwas Weichem. Eine angenehme, ihr seltsam bekannte Wärme und ein vertrauter Geruch umgaben sie. Dann schloss sie erneut die Augen. Die Müdigkeit war einfach zu groß. Sie drehte sich auf die andere Seite, wo die Sonne nicht direkt hinstrahlte und unternahm einen weiteren Versuch aufzuwachen. Vor ihr war eine Wand, weiß. Verwirrt stützte sie sich auf ihren Ellenbogen und erstarrte für einen Moment. Das konnte nicht sein! Sie lag in ihrem Bett. Durch die Balkontür strahlte die Sonne herein. Doch war diese Tür, durch die sie letzte Nacht entkommen war, jetzt geschlossen. Sie setzte sich auf und untersuchte ihren Körper, aber es waren keinerlei blaue Flecken oder Kratzer zu finden. Hektisch sprang sie aus dem Bett. Alles sah vollkommen normal aus, kein Anzeichen von einem nächtlichen Überfall. Ihr Wecker zeigte 12:24 Uhr an. Sie trug ihren Schlafanzug. Was…? Furcht, dass die ganze Realität sich im nächsten Moment auflösen und vor ihren Augen zerfließen könnte wie schmelzender Käse, kam in Serena auf. Sie wollte nicht wahnsinnig sein! Aber das war die einzige Erklärung hierfür. Ihre Zimmertür wurde langsam geöffnet, ihre Mutter lugte zaghaft herein. „Bist du wach? Essen ist fertig.“ Beim Anblick ihrer Mutter stieß Serena unwillkürlich einen Schluchzer aus. Tränen schossen ihr in die Augen. Besorgt eilte ihre Mutter zu ihr und nahm sie schützend in die Arme. „Was ist denn passiert?“, fragte Frau Funke, aber das einzige, was Serena, die sich fest an sie klammerte, herausbrachte, war immer wieder „Mama“. Vivien riss ihr Zimmerfenster auf und kreischte mit voller Kehle Justins Namen. Es war ihr egal, dass sie den Jungen damit aus dem Schlaf riss, dass Passanten von der angrenzenden Straße unter ihr sie befremdet musterten, oder die gesamte Nachbarschaft sie für total gestört hielt. Auch ließ sie sich nicht von der erdrückenden Befürchtung aufhalten, dass der Nachbarsjunge sie im nächsten Moment nur verständnislos anstarren würde, weil all die Schrecken, die sie in der letzten Nacht mit ihm gemeinsam überstanden hatte, nur ihren Träumen entsprungen waren. Sie sah Justin vom Bett hochfahren und sich hektisch umblicken. Ihr Herz pochte heftig. Dann endlich schaute er in ihre Richtung. Und als sich ihre Blicke trafen, voller Verwirrung, Angst und Zweifel, breitete sich eine Mischung aus Erleichterung und beklemmender Erkenntnis in ihnen beiden aus. Es war kein Traum gewesen. Vitali stürmte aus dem Haus, hörte nicht auf die Frage, die ihm seine Mutter hinterher rief. Er war viel zu sehr mit dem Gedankensturm beschäftigt, der in seinem Kopf tobte. Wie ein Wahnsinniger rannte er in Richtung Stadtmitte. Waren all diese Erlebnisse nur ein Hirngespinst gewesen? Er weigerte sich, das zu glauben, auch wenn alles darauf hindeutete. Vitalis Gang wurde langsamer. Er war außer Atem gekommen. Um ihn herum waren einige Leute, die ihn etwas befremdet ansahen. Es war Samstag, daher füllten heute zur Zeit der Mittagspause zwar weinger Angestellte die Straßen, dafür waren Feriengäste unterwegs. Vitali ging noch einmal alles im Kopf durch. Logisch betrachtet, ergab es viel mehr Sinn, wenn er alles nur geträumt hatte. Nun mal ehrlich, wie wahrscheinlich war es, von einer Horde Monster entführt zu werden, durch eine Spielwelt zu irren und dann von einem Moment auf den anderen im eigenen Bett aufzuwachen? Schließlich erreichte er den Baugrund. Ein ganz normales Grundstück. Kein Übergangsort direkt in die Hölle. Vitali bedeckte mit der Hand seine Augen. War er wirklich verrückt geworden? „Vitali?“ Vitalis Kopf schnellte nach links, wo die ihm vertraute Stimme hergekommen war. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren kam auf ihn zu gerannt. Ariane! Vor ihm blieb sie abrupt stehen, offenbar unsicher, ob Vitali überhaupt wusste, wer sie war. In einer anderen Situation hätte er sich vielleicht einen Spaß daraus gemacht, so zu tun, als kenne er sie nicht, aber das kam jetzt nicht in Frage. „Wenigstens bin ich nicht der einzige Irre.“, meinte Vitali schwach lächelnd. Arianes Mundwinkel zogen sich nach oben, doch ihre Augen waren den Tränen nahe. Dann fielen auch ihre Mundwinkel ab und wie aus einem Reflex heraus umarmte sie Vitali für einen Moment. „Hey!“, rief eine ihnen bekannte Stimme fröhlich. Ariane und Vitali erkannten, wie Vivien und Justin sich näherten. Ein beunruhigendes Déjàvu. „Öfter hier?“, fragte Vivien wie die Nacht zuvor. „Neuerdings schon.“, antwortete Ariane. Sie lachten, auch wenn die ganze Sache nicht wirklich zum Lachen war. „Serena ist mal wieder die Letzte.“, stellte Vitali fest. Justin stockte. „Wir wissen nicht, wie wir sie ausfindig machen sollen, wenn sie nicht hierher kommt.“ Seine Sorge war unbegründet. „Ich glaube, da hinten kommt sie.“, sagte Ariane und zeigte in die Richtung, aus der Serena schon die Nacht zuvor zu ihnen gestoßen war. Serena schien sie ebenfalls erkannt zu haben, denn sie rannte ihnen entgegen. Allerdings ging ihr die Puste aus, ehe sie sie erreicht hatte. Vitali verschränkte die Arme vor der Brust und rief: „Also, die Strecke schaffst du jetzt auch noch!“ „Wer sagt, dass ich zu euch will?“, rief Serena zurück. Vivien lachte. „Dein Blick!“ Serena zog ein unzufriedenes Gesicht. Dennoch lief sie ihnen, nun in Schrittgeschwindigkeit, entgegen. Schließlich standen sie alle wieder im Kreis beieinander. Und was nun Wirklichkeit und was Einbildung war, war in diesem Moment nicht weiter wichtig, denn sie waren wieder zusammen. „Fehlen nur noch die Schatthen.“, scherzte Vitali. Im nächsten Moment hatte er Serenas Hand auf dem Mund. „Halt die Klappe!“, rief sie, als könne allein die Erwähnung der Kreaturen deren plötzliches Erscheinen bewirken. Vitali schaute sie grimmig an. Serena begriff, dass sie ihn anfasste und zuckte abrupt zurück. Vivien lachte. Serena warf ihr daraufhin einen bösen Blick zu, den Vivien mit einem breiten Lächeln erwiderte. Ariane sprach die Frage aus, die sie alle beschäftigte: „Was ist da passiert? Warum waren wir plötzlich wieder zu Hause?“ Die anderen wirkten genauso planlos wie sie. „Da war so‘n komisches Licht.“, glaubte Vitali sich zu erinnern. „Du glaubst, ein komisches Licht hat uns nach Hause gebeamt?“, fragte Serena skeptisch. „Ey, ich sag nur, was ich gesehen hab. Keine Ahnung, was das Licht gemacht hat. Es war hell.“, verteidigte sich Vitali. „Als ich die Augen wieder aufgemacht hab, war ich daheim.“ Justin sah die anderen an. „Was ist das Letzte, woran ihr euch erinnert?“ Ariane senkte den Blick. „Secret.“ Plötzliches Schweigen trat auf. „Glaubt ihr, er lebt noch?“, wollte Ariane wissen. „Natürlich!“, rief Vivien. „Die wollten uns nicht töten.“ Vitalis Stimme bekam einen schelmischen Unterton. „Du meinst, das war ihre Art, uns zu sich nach Hause einzuladen?“ „Vielleicht.“, grinste Vivien. „Ich finde das nicht lustig.“, klagte Ariane. „Vivien hat Recht.“, sagte Justin. „Sie hatten nicht vor, uns zu töten.“ Ariane schien das nicht zu beruhigen, sie ließ den Kopf hängen. „Wir werden mehr über das alles herausfinden.“, sagte Justin aufmunternd. „Vielleicht können wir so auch Secret helfen.“ Ariane nickte. Etwas Besseres konnten sie wohl eh nicht tun. „Und was willst du tun? Schatthen und Schatthenreich googlen?“, spottete Serena. Vivien blieb gut gelaunt. „Das wäre eine Idee!“ „Wir haben gar keinen Anhaltspunkt.“, sagte Serena. Ariane schreckte auf. „Doch haben wir!“ Sie sah die anderen bedeutungsvoll an. „Dieser Baugrund! Er ist mit dem Schatthenreich verbunden!“ Serena machte einen Schritt zurück. als wolle sie nicht länger auf diesem Boden stehen. „Der Grund gehört der Finster GmbH.“ Ariane zeigte auf das Gebäude neben der Baustelle. „Mein Vater arbeitet dort.“ „Du meinst, dein Vater arbeitet für die Bösen?“, scherzte Vitali. „Vielleicht solltest du ihn mal fragen, warum sie uns entführt haben.“ Ariane ließ ihm einen vielsagenden Blick zukommen. „Der Name würde auf jeden Fall passen.“, lachte Vivien. Justin hatte Einwände. „Wir können nicht automatisch davon ausgehen, dass die Finster GmbH etwas mit unserer Entführung zu tun hat.“ „Lasst uns zur Bibliothek gehen!“, rief Vivien begeistert. „Bleib gefälligst beim Thema!“, schimpfte Serena. Vivien lächelte. „In der Bibliothek gibt es bestimmt eine Stadtchronik, vielleicht finden wir so mehr über das Grundstück heraus.“ „Ich weiß zwar nicht was das bringen soll –“, begann Serena. „Vielleicht haben sie ja ein Buch Wie man Schatthen abwehrt.“, warf Vitali dazwischen. „Es ist besser als nichts.“, fand Ariane. „Oder hast du einen besseren Vorschlag?“ Den hatte Serena natürlich nicht. Also ließen sie sich allesamt von Vivien zur Stadtbibliothek schleifen. Ein mit verspielten Verzierungen geschmücktes Geländer umrahmte die steinerne Treppe, die hinauf in die Bibliothek führte. Das kleine Café im darunter liegenden Geschoss lud mit seiner Einrichtung, die aus vielen Gemälden verschiedener Stilrichtungen bestand, nicht nur kulturell interessierte Gäste ein. Die fünf gingen die Treppe hinauf. Gläserne Türen gewährten einen ersten Einblick in die Bücherei. Ariane stoppte in der Bewegung. „Ist das das Wappen von Entschaithal?“ Neben der Tür war das Bild eines Schildwappens angebracht. Es war senkrecht in zwei Teile geteilt. Zur einen Hälfte war es weiß, zur anderen schwarz. In der Mitte prangte ein sechszackiger Stern mit entsprechend verwechselter Farbgebung. „Ja.“, bestätigte Justin. „Kennst du es nicht?“ „Ich wurde zwar hier geboren, aber meine Eltern sind kurz darauf nach Hannover gezogen.“, erklärte Ariane. „Mein Vater hat eine gute Stelle bei der Finster GmbH angeboten bekommen, dadurch sind wir wieder hier.“ „Na dann.“, sagte Vitali und verstellte seine Stimme zu der eines Fremdenführers: „Willkommen in Entschaithal! Idyllischer Kurort und Heimat der Schatthen!“ Ariane lächelte und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bild „Das Wappen ist hübsch.“ „Und so einfallsreich, Weiß und Schwarz.“, spottete Serena. „Das Weiß steht für Silber.“, klärte Ariane sie auf. „So wie Gelb für Gold steht. Bei Wappen müssen sich immer Farbe und Metall abwechseln.“, Die anderen sahen sie verblüfft an. „Du bist unser Joker, wenn es um Geschichtszeug geht.“, verkündete Vitali. Ariane lachte. Gemeinsam betraten die fünf die Bücherei. Geradeaus waren eine Rezeption und ein Bereich, in dem man Bücher abgeben und abholen konnte. Umgeben waren sie von zahlreichen Buchregalen. „Soll ich mal fragen, wo die Stadtchroniken sind.“, erkundigte sich Justin. „Frag lieber nach dem Schatthen-Überlebenstrainer!“, blödelte Vitali. Ariane grinste. „Der steht sicher in der Ratgeberecke.“ Vitali wandte sich ihr begeistert zu. „Oder bei den Heimat- und Sachbüchern. Entschaithal und seine Kreaturen.“ Ariane lachte. Serena warf den beiden einen bösen Blick zu. Sie konnte den Einklang zwischen Vitali und Ariane nicht ausstehen. „Kümmert euch lieber darum, dass wir schneller finden was wir suchen!“ „Ich glaube, die Stadtchroniken sind dort drüben bei den Arbeitsbereichen.“ Vivien deutete nach links. Die fünf hatten sich an einen großen weißen Tisch gesetzt, jeweils einen Band der Stadtchronik in Händen. „Ich kapier hier drin gar nichts.“, sagte Vitali und legte seinen Band auf dem Tisch ab. „Hat doch gar nichts mit uns zu tun.“ „Ich glaube, ich habe hier etwas.“, sagte Ariane und zeigte den anderen einen Stadtplan von Entschaithal. „Alle Straßen laufen auf den Baugrund zu.“ Vitali verstand nicht. „Ja und?“ „In den meisten Orten ist der Mittelpunkt die Kirche oder eine königliche Residenz. Zum Beispiel führen in Karlsruhe alle Straßen zum Schloss, deshalb wird diese Stadt auch Fächerstadt genannt.“, erklärte Ariane. „Das Schatthenschloss oder was?“ Vitali zog eine Grimasse. Ariane wandte sich an die anderen. „Was stand denn ursprünglich an diesem Ort?“ Justin, der die Chronik über den ältesten Zeitraum durchsah, antwortete: „Ich habe darüber nichts gefunden. Nur dass Entschaithal 666 nach Christus erstmals erwähnt wurde.“ Vivien sprach in effektvollem Ton. „Die Zahl des Teufels.“ „Bisher stand da nie was.“, sagte sie dann wieder in normalem Ton. Vitali scherzte: „Vielleicht stört es die Schatthen, dass jemand was auf ihr Zuhause baut und deshalb fangen sie an, Leute zu entführen.“ Serena stöhnte und ließ ihren Blick über ihre Umgebung schweifen. Eine Tischauslage neben ihnen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Darauf stand ein Bilderbuch mit der Aquarell-Illustration eines Engels und eines Teufels. Vivien folgte ihrem Blick. „Die Legende von Entschaithal.“ Serena sah irritiert zu ihr. „Das Buch.“ Vivien deutete auf die Auslage. Ariane war ganz Ohr. „Was ist das für eine Legende?“ Vivien stand auf und ergriff das Bilderbuch. Zurück an ihrem Platz schlug sie es auf und zeigte die Illustration den anderen. „Alsooo.“ begann sie das Märchen wiederzugeben, das sie ihren Geschwistern schon oft erzählt hatte. „Die Kurzversion: Die Welt der Engel und die der Teufel sind voneinander getrennt.“ Sie blätterte um. „Aber eines Tages durchbrechen die Teufel die Pforte und gelangen in die Welt der Engel.“ Wieder blätterte sie um. „Diese nehmen sie freundlich auf, aber die Teufel planen, den Engeln das Land wegzunehmen.“ Sie blätterte mehrere Seiten vor. „Einer der Teufel – so was wie der Anführer der Teufel verliebt sich in einen Engel.“ „Ja klar…“, nölte Vitali. Dem ungeachtet setzte Vivien fort. „Als es schließlich zum Kampf zwischen den beiden Lagern kommt, stellt sich der Anführer-Teufel auf die Seite der Engel.“ Nächste Seite. „Er versucht seine Sippe von der Wichtigkeit des Friedens zu überzeugen.“ Sie blätterte um. „Aber dann wird sein Engel getötet. Der Teufel ist verzweifelt. Aber anstatt die anderen Teufel anzugreifen, beginnt er zu weinen.“ Sie blätterte auf die entsprechende Seite. „Das ist das erste Mal, dass Tränen auf dieser Welt entstehen, denn weder Engel noch Teufel haben je zuvor geweint. Als seine Tränen auf seinen Engel fallen, werden alle, sowohl Engel als auch Teufel, von einem Gefühl der Liebe überwältigt. Während Engel nämlich nur Sympathie gekannt haben, hat es für Teufel nur Begierde gegeben.“ Nächste Seite. „Mit diesem Gefühl im Herzen schließen die beiden Parteien Frieden.“ Nächste Seite. „Und als dies geschehen ist, wird dem toten Engel neues Leben geschenkt.“ Sie blätterte nochmals um. „Weil Gott so gerührt von der Szene ist, nimmt er sie zum Anlass, den Menschen zu erschaffen. Deshalb haben Menschen auch die Seiten von Engeln und von Teufeln in sich.“ „Und was hat das mit Entschaithal zu tun?“, unterbrach Serena. Vivien erklärte: „Die Legende besagt, dass die Engel und die Teufel genau hier zusammengetroffen sind.“ Justin führte noch weiter aus. „'Entscheidungstal' ist der eigentliche Name dieses Ortes. 'Tal' wurde früher mit h geschrieben, also 'Thal', und 'Entscheidung' verkürzte sich im Laufe der Zeit einfachheitshalber zu 'Entschai', daher 'Entschaithal'.“ Ariane nickte. „Scheiden bedeutet „trennen“. Entscheiden ist die Aufhebung einer Trennung.“ „Genau!“, rief Vivien. „Und im Entscheidungstal hat die Trennung zwischen Engeln und Teufeln ein Ende gefunden.“ „Geht es nicht vielmehr darum, sich für die Engel- oder die Teufelseite zu entscheiden?“, warf Serena ein. Vivien zuckte mit den Schultern. „Das kann auch sein.“ Serena stöhnte. „Ey, da kommen Teufel in ne andere Welt. So wie die Schatthen!“, rief Vitali. „Das stimmt.“ Justin überlegte. „Die Legende, wie wir sie heute kennen, ist eine Kinderversion. Vielleicht wurde ursprünglich auf eine Durchbrechung der Barrieren von unserer Welt und der Welt der Schatthen hingewiesen.“ Ariane stimmte zu. „Legenden haben meistens einen wahren Kern wie ein historisches Ereignis.“ Skepsis zeichnete sich auf Serenas Züge ab. „Und das historische Ereignis ist, dass Schatthen aufgetaucht sind?“ „Es würde zumindest Sinn ergeben.“, meinte Ariane. „Nur was hatten die mit uns vor?“ Vivien lachte. „Vielleicht suchen sie ihren Engel.“ Justin seufzte. „Vielleicht hängt das auch alles überhaupt nicht miteinander zusammen und wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, was wir vom Schatthenreich wissen.“ „Das da wäre?“, wollte Serena erfahren. Vivien ließ ihre Fantasie spielen. „Die Spiegelsäle waren so was wie Gehirnwäscheräume. Vielleicht wollen sie die Leute dieses Ortes böse machen.“ „Zu spät.“, zischte Serena. „Fängst du schon wieder mit deiner Die-Welt-ist-schlecht-Leier an?“, stöhnte Vitali entnervt. „Nur weil du uns alle killen wolltest, heißt das nicht, dass alle anderen auch so drauf sind.“ „Weil du dich für ach so gut hältst!“, höhnte Serena. „Hast du ein Problem damit?“, gab Vitali zurück. Serena funkelte ihn an. „Isst du Fleisch?“ Vitali starrte aufmüpfig zurück. „Ja! Na und?“ „Damit lässt du die Tiere grausam ermorden! Ja, du bist wirklich einer von den Guten.“, spottete sie. Vitali wurde ungewollt lauter. „Ey, ich hab nicht versucht, meine Freunde zu töten!“, rief er gereizt. Serena reagierte im Reflex. „Wir sind keine Freunde!“ „Na dann hilf dir das nächste Mal selbst, wenn du in Schwierigkeiten steckst, du arrogante Zicke!“ Justin unterbrach die beiden. „Bitte, hört auf.“ „Nein, ich höre nicht auf!“, rief Vitali aufbrausend. „Ständig lässt sie die Große, Tolle raushängen und tut so, als wüsste sie alles besser und alle anderen seien bescheuert! Ich hab die Schnauze voll davon! Als wir gefangen waren, hab ich mir das noch gefallen lassen, aber jetzt reicht es!“ „Dann geh doch!“, fuhr Serena ihn an. „Wir wär’s wenn du gehst?“, blaffte Vitali zurück. „Gern!“ Serena packte ihre Sachen und stand auf. „Serena!“, rief Justin. Sie reagierte nicht und ließ die anderen einfach sitzen. „Aber heul nicht!“, schrie Vitali ihr unbeherrscht nach. Die anderen sahen Vitali tadelnd an. „Was?“, stieß Vitali beleidigt aus. Im gleichen Atemzug sprang Vivien auf und rannte Serena hinterher. „Was sollte das?“, wollte Justin von Vitali wissen. „Wieso bin ich es jetzt wieder?“, ärgerte sich Vitali. „Sie kann rumzicken so viel sie will, aber wenn ihr jemand was entgegnet, dann rennt sie gleich heulend weg!“ Ariane zeigte ein beschwichtigendes Lächeln. „Ihr habt so eine Art die Knöpfe voneinander zu drücken.“ Vitali schnaubte. „Ich hab einfach keinen Bock, mich ständig beleidigen zu lassen. Sie fängt jedes Mal wieder damit an!“ „Es ist wichtig, dass wir alle zusammenarbeiten. Auch wenn ihr einander nicht leiden könnt.“, erinnerte Justin. Vitali atmete erneut geräuschvoll aus und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein eingeschnapptes Kind. „Ich finde einfach, dass es mal nötig war, ihr die Meinung zu sagen.“ „Wenn Sie jetzt nicht sofort mit diesem Rumgeschreie aufhören, setze ich Sie vor die Tür!“, fauchte die wutschäumende Stimme einer Büchereiangestellten, die zu ihnen getreten war. Justin entschuldigte sich höflich. Mit einem unschuldig einsichtigen Lächeln mussten sie anschließend auf die Bitte der Dame eingehen, die Bibliothek erst wieder zu betreten, wenn alle von ihnen Benehmen gelernt hatten. Also packten sie ihre Sachen. „Ich werde mich nicht entschuldigen.“, grummelte Vitali. „He Serena!“, schrie Vivien und holte sie kurz vor der Bibliothek ein. Serena blieb stehen. „Was ist?“, fragte sie gereizt. Vivien lächelte sie unschuldig an. „Nichts ist.“ Argwohn zeichnete sich auf Serenas Gesicht ab.. „Warum läufst du mir dann nach?“ „Weil du weggelaufen bist.“, antwortete Vivien mit dem Blick eines treudoofen Hundes, der es als das Selbstverständlichste ansah, seinem Besitzer zu folgen. Serena zögerte. Sie wollte nicht mit Vivien darüber reden, warum sie gegangen war. Wenn Vitali sie nicht da haben wollte, würde sie den Teufel tun, sich ihm noch länger auszusetzen. „Kann dir doch egal sein.“, sagte sie halblaut und wandte sich zum Gehen. Sofort hatte Vivien sie eingeholt und stellte sich ihr in den Weg, weiterhin diesen dümmlich naiven Ausdruck im Gesicht. „Wir sind doch ein Team!“ Serena traute Viviens aufgesetzt fröhlicher Miene nicht. „Das war im Schatthenreich. Jetzt sind wir nur noch fünf vollkommen Fremde.“ Serena schluckte und begriff, dass diese Worte sie für immer von den anderen abschneiden würden. Sie hatte gerade selbst den Schlussstrich gezogen und Vivien würde sie jetzt einfach stehen lassen und sie würde die anderen nie wiedersehen. Vivien hatte andere Pläne. „Ist das schlimm?“, meinte sie lächelnd. Serena war verdutzt. „Es ist doch egal, ob wir Fremde sind. Das heißt doch bloß, dass wir noch ganz viel zum Kennenlernen haben.“ Ein warmes, freundschaftliches Lächeln strahlte Serena entgegen, das sie sprachlos machte. Dann verzog sich wieder Serenas Miene. „So ein Quatsch.“ Sie konnte Vivien nicht nochmals ansehen. „Geh mir aus dem Weg.“ Vivien zuckte bloß mit den Schultern und machte bereitwilligen einen Schritt zur Seite, um den Weg für Serena freizugeben. Dem fügte sie noch eine Armbewegung à la Nach Ihnen an. Serena war davon einmal mehr verunsichert. „Du - Du sollst mir nicht folgen!“ Vivien zog die Augenbrauen hoch. „Das hatte ich gar nicht vor.“ Serena schämte sich, den Gedanken gehabt zu haben. „Dann ist ja gut.“, presste sie hervor, um sich keine weitere Blöße zu geben, und schritt an Vivien vorbei. Als sie kaum zwei Schritte von Vivien entfernt war, hörte sie Vivien wie beiläufig sagen. „Du gehst bloß, weil du Angst hast.“ Daraufhin stoppte Serena in der Bewegung und starrte zurück auf das orangehaarige Mädchen. Vivien grinste. Aber nicht auf die gleiche Weise wie sie es sonst tat. Serena erkannte mit Fassungslosigkeit, dass Vivien geradezu durchtrieben dreinschaute, wie ein arglistiger Kobold. Wo war der treudoofe Hund geblieben? Und nun folgte eine weitere ungewohnte Mimik. Vivien lächelte triumphierend. „Ich meine nicht, vor den Schatthen. Du hast Angst, wie du jetzt wieder Vitali entgegentreten sollst. Du hast Angst, was andere von dir denken, darum bist du auch so fies zu ihnen, weil sie für dich eine Gefahr darstellen.“ Die Worte trafen Serena. „Spiel hier nicht die Psychologin!“ Mit einem Mal war Vivien wieder das strahlende Sonnenkind. „Das mach ich aber gern.“, lachte sie. „Du bist leicht zu durchschauen.“ „Du kennst mich doch überhaupt nicht!“, rief Serena in purer Notwehr. „Das denkst du!“ Ein Geräusch hinter ihr ließ Vivien ihren Kopf zurück zur Bücherei drehen. „Ah, da sind auch schon die anderen.“ Serena folgte ihrem Blick und setzte daraufhin eilig ihren Weg fort. „Du hast Angst.“, hörte sie Vivien hinter sich überlegen sagen. Serena blieb mitten in der Bewegung stehen und biss die Zähne zusammen. Justin und Ariane kamen zu ihnen gelaufen, Vitali trottete, den Blick fortrichtend, hinter ihnen her. „Alles in Ordnung?“, fragte Justin unsicher. „Klar!“, freute sich Vivien. Serena holte noch einmal tief Luft und verfluchte sich selbst. Warum war sie nicht einfach weitergelaufen? Schließlich drehte sie sich zu den anderen um, ohne sie anzusehen. Justin und Ariane schauten von Serena zu Vitali und wechselten dann unglückliche Blicke. Die beiden Streithähne schienen sich fest dazu entschlossen zu haben, einander nicht anzusehen, und verströmten eine regelrechte Weltuntergangsstimmung. Auch Vivien betrachtete die beiden Schmollenden. Dann stieß sie ein langgezogenes „Ooooh“ aus, als habe sie gerade ein kleines Tierbaby vor sich. „Ihr seid ja so süß!“, rief sie entzückt. Ariane und Justin wussten nicht recht, ob sie sich verhört hatten oder sie einfach Viviens Gedankengang nicht folgen konnten. „Es ist euch peinlich und jetzt überlegt ihr angestrengt, wie ihr euch bei einander entschuldigen könnt.“, unterstellte Vivien. „Gar nicht!“, riefen Serena und Vitali gleichzeitig. Vivien grinste. „Streitet es ruhig ab. Aber es sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass ihr einander mögt!“ Die beiden zogen komische Gesichter. „Blödsinn!“, schrie Serena. „Von wegen!“, schrie Vitali. Selbstgefällig verschränkte Vivien die Arme vor der Brust. „Ach, tut doch nicht so. Wer hat sich denn so schreckliche Sorgen gemacht, als Vitali ohnmächtig war? Und wer hat Secret verprügeln wollen, als er gesagt hat, dass wir Serena zurücklassen sollen? Häh? Häh?“ Breit grinsend starrte Vivien die beiden an. Vitali und Serena zögerten kurz. Viviens Worte waren ihnen peinlich. Um sich zu verteidigen, schrien sie noch lauter als zuvor. „Das war was vollkommen anderes!“ Daraufhin prustete Vivien los. „Was?“, fragte Vitali verärgert. Vivien deutete mit den Zeigefingern auf die Gesichter von Vitali und Serena.. „Ihr seid ja ganz rot!“ Im gleichen Augenblick schnellten Serenas und Vitalis Blicke zueinander. Allerdings mussten sie feststellen, dass sich im jeweils anderen Gesicht keinerlei Rötung gezeigt hatte. „Stimmt doch gar nicht!“, riefen sie wie aus einem Munde. Vivien machte eine lässige Armbewegung. „Nein. Aber jetzt habt ihr einander wieder angeschaut.“ Keck streckte sie den beiden Sprachlosen die Zunge heraus. Ariane und Justin waren baff. Vivien hatte es geschafft, Serena und Vitali so geschickt – geradezu beiläufig – darauf aufmerksam zu machen, dass der jeweils andere sich um einen sorgte und eigentlich doch mochte, dass die beiden es selbst in ihrer trotzigen Dickköpfigkeit eingesehen hatten. „Lasst uns wieder rein gehen.“, rief Vivien. „Ich glaube nicht, dass sich das noch rentiert. Sie schließen gleich.“, informierte Justin. „Außerdem hat sich die olle Mitarbeiterin über uns aufgeregt.“, ergänzte Vitali. Ariane wechselte das Thema. „Wir können niemandem von dem erzählen, was passiert ist. Richtig?“ „Man würde uns nicht glauben.“, bestätigte Justin. „Oder uns in die Klapse stecken.“, fügte Serena hinzu. Ariane sah die anderen besorgt an. „Was ist, wenn sie wieder angreifen?“ Mit Schaudern dachten sie an den Einbruch der Dunkelheit. „Solange die Gefahr besteht, sollten wir möglichst zusammenbleiben.“, entschied Justin. „Die Schatthen haben uns in der Nacht angegriffen.“, wandte Serena ein. „Wie sollen wir da zusammenbleiben?“ „Ganz einfach.“, sagte Vivien. „Justin wohnt direkt gegenüber von mir. Also übernachten du und Ariane bei mir und Vitali bei Justin. Dann sind wir ganz in der Nähe voneinander.“ „Super Idee!“, lobte Vitali, während sich Justin fragte, wo er Vitali unterbringen konnte. Platzmangel! „Aber geht das auch in Ordnung?“, fragte Ariane. „Klar.“, antwortete Vivien. „Bei uns sind Gäste immer willkommen.“ Anschließend fiel ihr Serenas unglückliches Gesicht auf. „Was ist?“ „Meine Mutter wird das nie im Leben erlauben.“, gestand Serena kleinlaut. „Äh hallo, es geht hier um unser Überleben!“, rief Vitali. Wie konnte Serena in dieser Situation mit solchen kleinkarierten Problemen kommen? Serena funkelte ihn an. „Ja, vielleicht sollte ich meiner Mutter das genau so sagen!“ „Ach, das kriegen wir schon hin.“, ermutigte Vivien sie. „Wir gehen jetzt allesamt zu dir nach Hause und überreden deine Mutter ganz einfach.“ Ganz einfach... Sicher doch. Serena seufzte. Vivien kannte ihre Mutter ja nicht. Wenn sie ehrlich war, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in der Nacht nicht allein sein zu müssen. Sie zweifelte nur stark daran, dass Vivien ihre Mutter überreden konnte, ihre Tochter bei jemandem übernachten zu lassen, von dem sie heute zum ersten Mal etwas hörte. Kapitel 17: Keine leichte Mission --------------------------------- Keine leichte Mission „Jedes Land hat seine Gesetze, jede Familie ihre Vorschriften.“ (aus China) Zwei Frauenhände befreiten einen Salatkopf von seinen äußeren Blättern, um ihn sogleich unter fließendem Wasser zu reinigen. Frau Funke stand in der Küche und war dabei den Salat für das Abendessen vorzubereiten, währenddessen unterhielt sie sich mit ihrer Tochter Anita, die sich lässig an den ungenutzten Teil der großen Küchenzeile lehnte. „Ich krieg schon wieder Zustände. Wo ist Serena bloß? Sie hat sich heute so seltsam benommen.“ Die belgische Schäferhündin Leila kam in die Küche geschlendert und ließ sich auf den Boden fallen. „Wieso, was ist denn passiert?“, wollte Anita wissen. „Heute Morgen hat sie gar nicht mehr aufgehört zu weinen.“ „Wahrscheinlich ist es, weil übermorgen die Schule anfängt.“, mutmaßte Anita. Ihre Mutter machte ein unglückliches Gesicht. „Das hab ich auch zuerst gedacht, aber dass sie jetzt auch noch einfach so aus dem Haus gegangen ist. Und sie geht nicht an ihr Handy! Ich dreh noch durch!“ „Ganz ruhig. Sie wird das Handy einfach nicht gehört haben.“ „Wozu hat man denn so ein Ding, wenn man es nicht hört!“, beschwerte sich ihre Mutter. „Ach Mama, sie wird schon nicht Selbstmord begehen.“ Frau Funke erstarrte in der Bewegung. Sie riss sich regelrecht die Schürze vom Leib und stürmte aus der Küche, dass Leila vor Schreck auf alle Viere sprang. „Ich geh sie suchen!“ „Mama!“ Anita eilte ihr hinterher. In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Leila stürzte an Frau Funke und Anita vorbei zur Tür und begrüßte den Eindringling mit zornigem Gebell. „Leila.“, drang Serenas Stimme von draußen, woraufhin die Hündin nun ein vorfreudiges Pfienzen von sich gab. „Serena!“, schrie Frau Funke, schloss die Tür auf und riss sie geradezu aus den Angeln. Ehe sie ihre Tochter noch richtig zu Gesicht bekommen hatte, begann sie bereits zu schreien. „Was soll das! Du kannst doch nicht einfach so abhauen!“ Im nächsten Moment stockte sie. Hinter ihrer jüngeren Tochter stand eine ganze Horde Jugendlicher. Mit unverhohlenem Argwohn stierte die Frau, die offensichtlich Serenas Mutter war, sie an. Ariane verspürte den Impuls, sich zu entschuldigen, ohne zu wissen wofür genau. Justin neben ihr wirkte mit einem Mal ebenfalls angespannt. Allein Vivien schien die feindseligen Schwingungen nicht wahrzunehmen. Überschwänglich winkte sie Serenas Mutter zu. „Hallo!“ „Leila!“, schrie die junge Frau, die wohl Serenas Schwester war, hilflos, konnte aber nichts mehr tun. Der riesige Hund mit dem schwarzen Gesicht, dessen angsteinflößendes Bellen sie zuvor schon hatte zusammenzucken lassen, zwängte sich durch die Haustür und stürmte auf sie zu. Ariane erschrak und wich zurück. Doch statt angegriffen zu werden, wurden sie und die anderen nur neugierig beschnüffelt. Vivien kicherte. „Anita, hol den Hund rein!“, befahl Frau Funke barsch. Die herbstfarbene Hündin zeigte eine besondere Begeisterung für Vitali, was dieser mit Streicheleinheiten belohnte. Endlich mal jemand, der ihn zu schätzen wusste! „Der macht doch gar nichts.“, meinte er und lächelte breit. Als er aufsah und Frau Funkes finsteren Blick abbekam, ließ er jedoch schleunigst die Finger von dem Haustier der Familie. Frau Funkes strenger Blick fiel auf Serena. Serena klang ungewohnt unsicher. „Äh Mama, also… das sind ein paar ... äh … Bekannte von mir.“ „Freunde!“, verbesserte Vivien ohne zu zögern. Sie trat vor und reichte Frau Funke die Hand. „Ich bin Vivien. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.“ Ihre Tonlage hätte glauben lassen können, dass sie nicht der Mutter einer Freundin, sondern ihrem größten Idol begegnete. Sie verwies auf die anderen. „Das sind Justin, Ariane und Vitali.“ Zumindest Serenas Schwester Anita wirkte freundlich. „Also das sind deine neuen Freunde.“ Vivien hakte sich demonstrativ bei Serena unter. „Seit Kurzem die allerbesten besten Freunde!“, erklärte sie strahlend. Anita lächelte amüsiert. „Wie kurz ist kurz?“ Justin wollte eingreifen. Aber wie? Sie konnten ja schlecht antworten, dass sie sich in der vergangenen Nacht kennengelernt hatten. Vivien lachte. „Es war Freundschaft auf den ersten Blick!“ „Das ist ja mal originell.“, war Anitas Kommentar dazu. Serena fragte zaghaft: „Dürfen sie reinkommen?“ Der skeptische Ausdruck wich nicht von Frau Funkes Gesicht. Dennoch machte sie den Weg ins Innere des Hauses frei. „Du kannst mit ihnen ins Esszimmer.“ Die vier folgten Serena. Auch Leila war nun bereit, wieder ins Haus zu gehen. „Wenn du gesagt hättest, dass du Freunde mitbringst, hätte ich aufgeräumt.“, sagte Serenas Mutter vorwurfsvoll. „Das war eher eine spontane Idee.“, versuchte Ariane Serena zu entlasten. „Aha.“, gab Frau Funke von sich. Sie betraten das Esszimmer, das durch einen offenen Durchgang mit dem Wohnzimmer verbunden war. Justin bemerkte den Vogelbaum, der dort am Fenster stand und auf dem fünf Wellensittiche saßen. „Wie süß!“, rief Vivien. „Das findet Leila nicht so.“, merkte Anita an. „Sie rennt immer weg, sobald sie anfangen zu fliegen.“ Vitali war fassungslos. „Echt? Der große Hund?“ Anita erzählte: „Serena hat ihr als kleinem Welpen gedroht sie umzubringen, sollte sie den fünfen auch nur eine Feder krümmen.“ Vitali zog eine Grimasse. „Ja, das passt zu ihr.“ „Halt die Klappe.“, zischte Serena. Ariane warf Serena einen flehenden Blick zu. Sich mit Vitali zu streiten, war nun wirklich nicht der beste Weg, ihre Mutter dazu zu bringen, ihr die Erlaubnis zum Übernachten zu geben. Serena unterließ daraufhin einen weiteren Kommentar. Unter Frau Funkes Argusaugen nahmen sie Platz. „Woher kennt ihr euch?“, forderte sie zu wissen. Es herrschte kurze Stille. „Internet!“, stieß Serena aus. So ließ sich auch begründen, warum sie sich noch nie zuvor getroffen hatten. „Wir ...“ „Wir hatten ausgemacht, uns heute zu treffen.“, kam Ariane ihr zu Hilfe. „Aha.“ Frau Funke schien skeptisch. „Und woher kommt ihr?“ Ariane antwortete. „Wir wohnen alle in Entschaithal.“ Frau Funkes Gesichtsausdruck verriet, dass sie das für einen zu großen Zufall hielt. Serenas Schwester klärte ihre Mutter auf: „Im Internet kann man gezielt nach Leuten aus der eigenen Umgebung suchen.“ Derweil war Vitali nur noch mit Leila beschäftigt. Voller Freude hüpfte die Hündin ihm verspielt auf den Schoß. „Leila!“, schrien Serena und ihre Schwester gleichzeitig. „Kein Problem!“, sagte Vitali etwas kleinlaut. Er war von dem Geschrei der Schwestern um einiges mehr zusammengezuckt als Leila. „Sie scheint ja einen echten Narren an dir gefressen zu haben.“, bemerkte Anita. „Also so wie sie sich benimmt…“ Sie drehte sich zu ihrer jüngeren Schwester. „Serena, stehst du auf ihn?“ Serenas Faust schlug mit gewaltiger Wucht auf den Tisch. „Du hast sie wohl nicht alle!!!“, brüllte sie tobsüchtig. „Schrei nicht so.“, tadelte ihre Mutter sie. Nun ging Vivien schnurstracks dazu über, Frau Funke ihr Anliegen nahe zu bringen: „Wir hatten vor, heute Abend eine Pyjama-Party zu machen. Justin und ich sind Nachbarn. Daher hatten wir überlegt, dass Vitali bei Justin übernachtet und Ariane und Serena bei mir.“ Vivien zeigte ihr lieblichstes Lächeln. „Das ist viel zu kurzfristig.“, sagte Frau Funke knallhart. Sie war wohl kein Freund von Spontaneität. Vivien kicherte bloß. Ariane fragte sich, wie es Vivien bei einer so angespannten Atmosphäre gelang, so unbeschwert zu wirken. „Keine Sorge.“, sagte Vivien. „Serena und Ariane können in den Betten meiner Geschwister schlafen. Die beiden mögen es sowieso, in Schlafsäcken auf dem Boden zu liegen. Das ist dann wie ein Abenteuer für sie.“ Frau Funke machte nicht den Eindruck, als würde das irgendetwas ändern. „Serena ist bei uns gut aufgehoben.“, versicherte Vivien nochmals. Frau Funke atmete geräuschvoll aus und wandte sich dann an Serena. „Kann ich kurz mit dir reden?“ Sie stand auf und ging in die Küche. Serena folgte. Sie hatte es ja gewusst. Was hätte Vivien auch ändern sollen? Dieses Vorhaben war von vorne herein zum Scheitern verurteilt gewesen. Sie schloss die Tür zum Wohnzimmer hinter sich und trat zu ihrer Mutter. Ihre Mutter sprach leise, damit es die Gäste nicht hörten: „Diese vier, setzen die dich unter Druck? Warst du deswegen heute Morgen so fertig?“ Überrumpelt riss Serena die Augen auf. Deutliche Sorge stand im Gesicht ihrer Mutter. „Was ist?“, drängte Frau Funke auf eine Antwort. „Nein Mama, die setzen mich nicht unter Druck.“, antwortete Serena ausweichend. Sie konnte ihrer Mutter nicht in die Augen sehen. „Da stimmt doch was nicht!“, beharrte ihre Mutter. „Du hast noch nie von diesen Leuten auch nur das Geringste erzählt und auf einmal kommen sie her und wollen dich auf eine Pyjama-Party mitnehmen. Dass dir eins klar ist, das ist mir ganz und gar nicht Recht! Das kannst du vergessen!“ Serena sah sie getroffen an, war im Begriff etwas zu entgegnen, senkte dann aber nur geschlagen das Haupt. „Wie kommst du überhaupt dazu, diese wildfremden Leute hier anzuschleppen? Du kennst diese Leute doch gar nicht.“ Serena biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. „Serena, ich möchte jetzt mal gerne wissen, was hier los ist!“, forderte ihre Mutter. „Heute Morgen bist du völlig aufgelöst, dann haust du einfach ab, ohne was zu sagen, und dann tauchen plötzlich diese Leute hier auf. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass das normal ist!“ Serena schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Nein, normal war hier gar nichts. Sie war kurz davor, wieder loszuheulen. „Bitte, Mama.“ „Serena, ich mache mir doch nur Sorgen.“ Serena holte tief Luft. „Das heute Morgen hatte nichts mit ihnen zu tun.“ „Mit was dann?“ Serena schwieg. Sie konnte ihrer Mutter doch nicht erzählen, dass sie entführt worden und nur knapp dem Tod entronnen war. Ihre Mutter würde komplett ausrasten! Und beschützen konnte sie sie trotzdem nicht. Schließlich presste Serena hervor. „Ich will wirklich da hin.“ „Serena.“, tadelte ihre Mutter. „Da sind auch noch Jungs dabei. Was weißt du, was die mit denen treiben? Da willst du gar nicht dabei sein!“ „So ein Quatsch!“, rief Serena empört. Auch wenn ihre Mutter sich nur sorgte, hatte sie kein Recht, den vieren so etwas zu unterstellen. „Du kennst sie überhaupt nicht!“ Frau Funkes Augen wurden schmal. „Du kennst sie doch selbst nicht.“ Serena bot ihrer Mutter die Stirn. „Das stimmt nicht! Ich kenne sie gut!“ Ihre Mutter machte eine ausladende Armgeste. „Das sind Leute, die du im Internet kennengelernt hast. Die können dir sonst was erzählt haben.“ Serena schüttelte trotzig den Kopf. „Ich vertraue ihnen!“ Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wurde kühl. „Wir wissen ja, wohin dich das bisher gebracht hat.“ Serena schossen Tränen in die Augen. Die Tür zum Esszimmer öffnete sich. Die vier sahen Serena nach, die soeben die Tür zur Küche hinter sich geschlossen hatte. „Wir müssen einen ziemlich schlechten Eindruck machen.“, sagte Ariane niedergeschlagen. „Das liegt nicht an euch. Unsere Mutter kann ziemlich streng sein. Und sie ist es nicht gewöhnt, dass Serena mit solchen Wünschen kommt.“, erklärte Anita. Vitali streichelte über Leilas Fell: „Ja, sonst kann Serena ja nicht mit Menschen.“ Ariane konnte nicht fassen, dass er das laut gesagt hatte! Sie wollten doch gerade Serenas Schwester auf ihre Seite bekommen! Anita sah die vier prüfend an. „Wie viel wisst ihr?“ Vivien setzte ein unschuldiges Gesicht auf und hob die Hände in die Höhe. „Wir wissen gar nichts.“ Das schien Anita eher zu der Vermutung zu veranlassen, dass sie eingeweiht waren – in was auch immer. „Es fällt ihr schwer zu vertrauen.“ „Haben wir gar nicht gemerkt.“, spottete Vitali. Justin hätte gerne gefragt, wieso das Serena so schwer fiel. Aber wenn ihre Schwester davon ausging, dass Serena sich ihnen bereits anvertraut hatte, hätte er diese Illusion damit auffliegen lassen. Außerdem hatte Serenas Amoklauf in den Spiegelsälen deutlich genug gemacht, dass sie etwas Schlimmes erlebt hatte. Wenn Serena ihnen nicht davon erzählen wollte, hatte er kein Recht, danach zu fragen. „Sie kann manchmal etwas garstig sein.“, sprach Anita weiter. „Aber sie meint es nicht böse.“ Vivien kicherte. „Das wissen wir. Wir sind ihre Freunde.“ Anita zeigte ein geradezu trauriges Lächeln. „Keine Sorge, wir passen auf sie auf. Großes Ehrenwort!“, gelobte Vivien. „Auch wenn sie noch so gemein zu uns ist.“ „Echt jetzt?“, rief Vitali. „Vitali.“, sagte Ariane flehentlich. „Was denn?“, gab er zurück. „Muss ich mich jetzt immer von ihr anzicken lassen?“ Anita lachte. „Zu denen, die sie mag, ist sie am zickigsten.“ Vivien drehte sich strahlend zu den anderen. „Habt ihr gehört? Sie liebt uns!“ Vitali wirkte wenig begeistert. Anita seufzte. „Ihr solltet euch wirklich überlegen, ob ihr das aushaltet. Es ist besser, ihr nehmt jetzt Abstand, bevor sie sich Hoffnungen macht.“ Ariane sah verunsichert zu den anderen. Hatte ihnen Serenas Schwester gerade ernsthaft nahe gelegt, sich von ihr fernzuhalten? Überraschenderweise war es Justin, der nun eine unverbrüchliche Entschlossenheit an den Tag legte. „Wir haben uns längst entschieden.“ Sie gehörten zusammen. Plötzlich drang Lärm aus der Küche. Die Worte klangen entfernt wie: Du kennst sie überhaupt nicht. Alle Blicke waren auf die Küchentür fixiert. „Könnte ich was zu trinken bekommen?“, fragte Vivien, als hätte sie gar nicht mitbekommen, dass sich Serena gerade mit ihrer Mutter zu streiten schien. Anita schaute verdutzt und nickte. „Gläser sind dort im Schrank. Ich hole Getränke.“ „Dankeschön!“, flötete Vivien. Anita stand auf und verschwand ebenfalls in der Küche. Vivien ergriff die Gelegenheit, um an der Tür zu lauschen. „Vivien.“, flüsterte Justin geradezu verstört. Vivien machte daraufhin eine abwinkende Bewegung ihrer Hand, mit der sie ihn dazu aufrief, sich abzuregen oder still zu sein, wahrscheinlich beides. Die Tür zum Esszimmer öffnete sich. Serena wandte sich mit verzweifelter Miene um. „Anita, ich mag es nicht, wenn diese Leute ganz alleine da drin sitzen.“, beanstandete Frau Funke verstimmt. „Ich hole nur was zu trinken.“, rechtfertigte sich Anita. Serena senkte den Blick. Anita ergriff erneut das Wort. „Und ich denke, du solltest Serena gehen lassen. Das sind wirklich nette Kinder.“ „Ganz sicher nicht.“, sagte ihre Mutter. „Und erst Recht nicht so kurzfristig.“ „Am Montag geht wieder die Schule los. Lass ihnen doch den Spaß.“; meinte Anita. Ihre Mutter sah sie nur streng an. Anita holte zu einem erneuten Versuch aus. „Ich denke, es würde Serena gut tun, wenn sie endlich mal wieder unter Leute käme. Sei doch froh, dass sie endlich Freunde gefunden hat.“ „Freunde?“, Frau Funkes Stimme wurde nahezu schrill. „Sie kennt diese Leute doch erst seit heute!“ Serena war kurz davor zu platzen. Ihre Mutter hatte ja keine Ahnung! Sie wusste überhaupt nicht, was die anderen für sie getan hatten! Und wie oft sie sie gerettet hatten! Anita dagegen blieb ruhig: „Heutzutage ist es ganz normal sich über das Internet kennenzulernen. So hat sich schon manches Ehepaar gefunden.“ Frau Funkes Mund wurde zu einem dünnen Strich. „Na, ich hoffe doch wohl nicht, dass sie einen davon heiraten will.“ Anita sah Serena mit einem ernsten Gesichtsausdruck an: „Soll ich Vitali die traurige Nachricht mitteilen?“ Serenas Gesicht wandelte sich zu einer Dämonenfratze. „Anita! Dir ist wohl nicht klar, dass ich hier Messer habe!“ „Jetzt hört auf!“, beschwerte sich Frau Funke. „Ach komm Mama, lass sie gehen.“, appellierte Anita nochmals. „Bitte, Mama.“, flehte Serena. Frau Funke stöhnte auf. „Und was wäre, wenn sie alle bei uns übernachten würden?“ Serena war im ersten Moment sprachlos. Ihre Mutter forderte sie mit ihren Augen zu einer Antwort auf. „Ich … ich weiß nicht, ob das in Ordnung wäre.“, murmelte Serena kleinlaut. „Entweder das oder gar nichts.“, stellte ihre Mutter das Ultimatum. Anita war nicht minder verblüfft. „Und wie willst du das mit den Jungs machen?“ „Die schlafen im Büro, die Zwischentür wird abgeschlossen und Leila wird davor gelegt.“, erklärte ihre Mutter. In Serenas Fantasie malte sie sich das Szenario so aus, dass ihre Mutter die beiden Jungs fesseln und knebeln, in den tiefsten Winkel eines Verlieses werfen und dann, nachdem sie den Schlüssel weggeworfen hatte, einen riesigen Felsbrocken vor die Tür rollen lassen würde. Vielleicht wäre auch noch ein Graben mit Piranhas mit eingeplant. „Frag sie halt einfach.“, schlug ihre Mutter vor. Vivien zeigte den anderen den erhobenen Daumen, dann wollte sie sich eilig von der Tür entfernen, weil sie hörte, wie sich Schritte näherten, allerdings war sie nicht schnell genug. Erschrocken starrte Serena auf die Person, die sie soeben fast K.O. geschlagen hätte. Vivien grinste. „Was haltet ihr davon, wenn ihr alle bei uns übernachtet?“, fragte Frau Funke. Die anderen – mit Ausnahme von Vivien – waren etwas überrumpelt. „Wir alle?“, fragte Ariane ungläubig. „Das ist toll!“, rief Vivien freudig aus und stürzte sich ohne Umschweife in Serenas Arme. Damit wusste Serena allerdings nicht wirklich umzugehen. Da sie fast genauso groß wie Justin war, reichte ihr Vivien gerade mal bis zum Kinn. „Macht Ihnen das wirklich nicht zu viele Umstände?“, fragte Justin besorgt. „Ihr müsst halt beim Aufbau helfen.“, sagte Frau Funke knapp. „Selbstverständlich.“, sagte Justin. „Wann sollen wir da sein?“ Sie machten aus, sich in zwei Stunden wieder bei Serena zu treffen. Nachdem die vier gegangen waren, wandte sich Serena ihrer Mutter zu und umarmte sie. „Danke.“ Ihre Mutter hielt kurz inne. „Aber wehe du drückst dich vor den Vorbereitungen.“ Sie lächelte. Kapitel 18: Gemütliches Beisammensein ------------------------------------- Gemütliches Beisammensein „Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freud ist doppelte Freud.“ (Sprichwort) Glücklicherweise sahen die Eltern der anderen vier die Angelegenheit weit gelassener als Serenas Mutter: Anstatt sich über die Kurzfristigkeit seiner Bitte zu beschweren, wirkten Justins Eltern richtig erfreut über seine Eröffnung, dass er bei Freunden übernachten wollte. Ihre Reaktion machte ihn etwas verlegen. Hatten sie sich zuvor etwa Sorgen gemacht, weil er im Gegensatz zu seinem Bruder keinen großen oder auch nur kleinen Freundeskreis besessen hatte? Ziemlich überrascht waren Arianes Eltern. Sie hatten zwar gewusst, dass es ihrer Tochter nicht schwer fiel, neue Bekanntschaften zu schließen, aber direkt am ersten Tag eingeladen zu werden, beeindruckte sie dann doch. „Wie, da sind Jungs dabei?“, fragte ihr Vater schockiert. Ehe sie ihm das erklären konnte, hatte ihre Mutter das Wort ergriffen. „Wie ehrlich unsere kleine Maus ist! Also ich habe das zu Hause nie erzählt.“ Ihr Vater sah seine Frau daraufhin verstört an. „Was soll denn das heißen?“ Ihre Mutter grinste verschmitzt. Hilfesuchend schaute ihr Vater daraufhin Ariane an, als brauche er eine Versicherung, dass sie immer noch seine kleine Prinzessin war. „Keine Angst, Papa. Ich bin nicht wie Mama.“ Ein theatralisches Seufzen kam von ihrer Mutter. „Du vergeudest deine Jugend mit Vernünftigsein.“ Ariane sparte sich eine Antwort. Im Gegensatz zu ihrer Mutter strebte sie keine wilde Jugend an und war heilfroh, dass keiner der anderen sie als potentiellen Partner betrachtete und auf ihre weiblichen Reize reduzierte. Sie hatte es schließlich schon erlebt, dass sie auf Feiern nicht eingeladen worden war, mit der Begründung, die anderen Mädchen würden nicht wollen, dass sie wieder die ganze Aufmerksamkeit der Jungen auf sich zog. Lautstark beschwerte sich Vitalis Mutter darüber, nicht vorher informiert worden zu sein und dass er sich dadurch auch noch vor seinem Tischdeck- und -abräumdienst drückte. Zweiteres sah Vitali seinerseits als positiven Nebeneffekt. Viviens Mutter wünschte ihr viel Spaß. Als sie wie verabredet um vier wieder bei Serena eintrafen und sich daran machten, alles herzurichten, hatte es sogar fast den Anschein, als könnten sie den tatsächlichen Grund ihres Zusammenseins für kurze Zeit vergessen. Während die Jungs im Obergeschoss – dem Steuerbüro von Serenas Eltern – übernachten sollten, war für die Mädchen vorgesehen, ihr Lager in Serenas Zimmer aufzuschlagen. Unsicher führte Serena Vivien und Ariane in ihr Zimmer. Die Einrichtung eines Raumes sagt viel über dessen Bewohner aus, und genau das war Serena unangenehm. Sie hatte nicht die geringste Lust, den anderen vieren mehr von sich zu offenbaren als unbedingt nötig war. Aber sie hatte in der kurzen Zeit, in der die anderen weg gewesen waren, natürlich nicht ihr gesamtes Zimmer ummodellieren können, um alles Persönliche zu verstecken. Das nagende Gefühl der Verunsicherung breitete sich in ihrer Magengrube aus, als sich die beiden Mädchen neugierig in ihrem Zimmer umsahen. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass sie sich über sie lustig machen könnten. Serena machte einen Rundumblick in ihrem Zimmer und versuchte sich vorzustellen, welche Schlüsse Ariane und Vivien wohl ziehen würden. Da waren die zahlreichen Fantasy-Glitzerbilder an der einen Wand, vor allem Einhornmotive, die sich seit Kindertagen dort gesammelt hatten. Auf ihrem Schrank stand immer noch altes Spielzeug, bevorzugt in der Farbe Pink. Serena verspürte einen Stich. Ihre Einrichtung musste das Uncoolste, Kindischste und Peinlichste sein, das die anderen beiden jemals gesehen hatten! Sie biss sich von innen auf den unteren Lippenbereich. Wie sehr sie auch diese Normalo-Jugendlichen hasste, die überall beliebt waren und all das repräsentierten, was gerade in war, manchmal … ja manchmal, da wünschte sie sich nichts sehnlicher, als diesen Eindruck auf andere machen zu können – normal und cool zu sein. Doch längst war ihr schmerzlich bewusst geworden, dass egal, was sie tat, sie das unsichtbare Mal des Andersseins – des Unterlegenseins – niemals loswerden konnte. Und seither verabscheute sie den erbärmlichen Versuch, sich anzupassen, mehr als alles andere auf der Welt. Unterdessen bestaunte Vivien freudig Serenas Bücherregal. „So viele Mangas!“, rief sie freudig aus und begutachtete die stattliche Sammlung an Bänden verschiedener Mangareihen. Mit leuchtenden Augen sah sie Serena an. „Darf ich?“ Zaghaft nickte Serena. Viviens Reaktion war das genaue Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. Die Fantasie-Vivien in ihrem Kopf hatte ein hämisches Kichern von sich gegeben und sie mit einem herablassenden Blick bedacht, der zu sagen schien: Wie peinlich ist das denn? Serena schüttelte das Bild ab. Sie hatte hier Vivien vor sich! Dieses Mädchen, das mit ihrer Aufgedrehtheit jeder Anime-Figur Konkurrenz machte. Derweil hatte Ariane auf Serenas Schreibtisch einen vollgeschriebenen Schreibblock entdeckt. „Was ist das?“, fragte sie. Serena hetzte neben sie. „Das… das ist..“ Ariane legte den Block schnell wieder aus der Hand. „Entschuldige. Ist das dein Tagebuch?“ Serena schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist… eine Geschichte, die ich schreibe.“ Sofort war Vivien zur Stelle. „Eine Geschichte?“ „Worum geht es?“, wollte Ariane wissen. Serena druckste merklich herum. „Naja, also …“ Sie sah beschämt zu Boden. „Es geht um ein Mädchen, das die Wiedergeburt eines Teufels ist. Sie weiß davon aber nichts. Die zweite Hauptperson ist ein Junge aus einer Paralleldimension, der von ebendiesem Teufel getötet wurde. Seine Aufgabe ist es, die Wiedergeburt zu beschützen, weil die Bösen vorhaben, den Teufel in ihr wiederzuerwecken.“ „Darf ich es lesen?“, fragte Vivien ungestüm. Serena wurde verlegen. „Es ist aber noch nicht besonders gut. Ich bin erst am Anfang und ändere ständig wieder was.“ Vivien strahlte. „Dann lese ich es eben mehrmals!“ Auf Serenas Reaktion hin wurde Viviens Lächeln noch breiter. Serena wirkte wie ein kleines eingeschüchtertes Reh, was allzu süß aussah. In diesem Moment traten die Jungs durch die offen stehende Zimmertür. Sie waren mit ihrer Einrichtungsarbeit, bei denen ihnen Serenas jüngerer Bruder geholfen hatte, offensichtlich schon fertig. „Wessen Zimmer ist denn das?“, fragte Vitali abfällig. „Serenas!“, informierte Vivien begeistert. Nochmals sah Vitali sich um – mit noch ungläubigerem Gesichtsausdruck. Serena brauste auf. „Passt dir irgendwas nicht!“, blaffte sie ihn im Verteidigungsmodus an. „Voll das Kitschzimmer.“ Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Belustigung und dem Impuls loszulachen. „Das ist als würde ein Gangsta-Rapper in nem rosa Himmelbett schlafen.“ Er sah aus, als würde er gleich Platzen vor Lachen. Serena warf ihm einen mörderischen Blick zu. „Halt die Klappe! Wer hat dir überhaupt erlaubt, hier reinzukommen?! Verschwinde!“ Vitali grinste immer noch. „Der Gast ist König.“ „Wer hat behauptet, dass du mein Gast bist?“, gab Serena zurück. Vitali schnaubte. „Gibt es eigentlich auch Momente, in denen du nicht zickig bist? Wenn ja, sag mir, wann das ist, damit ich erst dann wiederkomme.“ Serena machte eine Geste, als müsse sie einen Augenblick nachdenken, um dann zu antworten: „Wenn du erst dann wiederkommen solltest – dann nie!“ Vitali verzog einen Moment lang unzufrieden den Mund. Dann hoben sich seine Mundwinkel wieder. „Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Das sind die Momente, wenn du heulst!“ Die Schadenfreude war in sein Gesicht zurückgekehrt. „Blöder Idiot.“, giftete Serena. „Serena schreibt ein Buch!“, rief Vivien, als würde sie dafür Werbung machen. Daraufhin wirkte Serena deutlich verstört. „Sag Bescheid, wenn es verfilmt wird.“, meinte Vitali bloß. „Das wird nicht verfilmt, du Trottel!“ „Wieso nicht?“, fragte Vitali. „Na weil…“ Serena stockte. „Es wird doch nicht jedes Buch verfilmt!“ Vitali zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht?“ „Weil das eben so ist!“ „Jo, wenn du meinst.“ Vitali schien nicht weiter mit ihr streiten zu wollen. „Dafür müsste es ein Bestseller werden!“, rechtfertigte sich Serena. „Dann mach es halt zum Bestseller.“, meinte Vitali, als handle es sich dabei um eine banale Aufgabe wie den Müll rauszubringen. Serena wusste ehrlich nicht, was sie darauf entgegnen sollte. „Dein Zimmer ist interessant.“, sagte Justin. Serena musterte ihn argwöhnisch. „Es zeigt noch mal eine andere Seite von dir.“ Justin lächelte sanft. Wären die Worte von Vitali gekommen, hätte Serena sie wohl wieder als persönlichen Angriff gewertet. Von Justin dagegen empfand sie sie tatsächlich als nett. „Brutale Schale, kitschiger Kern.“, lachte Vitali. Serena streckte ihm die Zunge raus, was Vitali sogleich erwiderte. „Zunge rausstrecken darf man nicht, denn das heißt: Ich liebe dich.“, sang Vivien heiter, womit sie tatsächlich bewirkte, dass die beiden kurze Zeit Ruhe gaben. Allerdings eben nur kurze Zeit. „Habt ihr keinen Schinken oder Salami?“, fragte Vitali, während sein Blick suchend durch das Innere des Kühlschranks schweifte. Die fünf waren gerade dabei, Pizza zu machen. Frau Funke war extra noch losgefahren und hatte frisch gemahlenes Vollkornmehl besorgt, was bei Vitali nicht auf sonderlich große Gegenliebe gestoßen war. Skeptisch hatte er das seltsam bräunliche Mehl betrachtet. Serena schlug ihm den Kühlschrank vor der Nase zu. „Wenn du tote Tiere willst, dann musst du dich mit Leila um ihr Fleisch streiten.“ Eingeschnappt ging Vitali einen Schritt zurück. „Mann, ist deine ganze Familie Vegetarier?“ „Nein, aber ich gebe mein Bestes.“ „Das nennt man Nötigung.“ „Klappe!“ Ariane konnte das Verhalten der beiden nicht nachvollziehen. „Könnt ihr euch nicht einfach mal vertragen?“ Vivien flötete „Was sich liebt, das neckt sich!“, woraufhin sie von Serena angefunkelt wurde. Justin füllte die Zwiebeln, die er gerade geschnitten hatte, in eine kleine Schüssel und stellte sie zu den anderen Belagzutaten. „Das ist viel.“, stellte Ariane fest. „Wir müssen auch an ein Blech für Serenas Familie denken. Dafür brauchen wir genug Belag.“, wandte Justin ein. Vivien hüpfte an seine Seite. „Du denkst immer an alle.“ Sie strahlte ihn an. Verlegen wandte sich Justin ab. „Das ist doch ganz normal.“ Vitali stützte sich mit dem Ellenbogen auf Justins Schulter und maulte: „Vollkornmehl. Kein Fleisch! Mann, ich weiß nicht, ob es das wert ist.“ Serena zischte: „Wie wär’s, wenn du dich einfach heute Nacht mitten auf die Baustelle stellst? Vielleicht hab ich Glück und sie holen dich gleich!“ „Darüber macht man keine Scherze!“, tadelte Justin ernst. Serena verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab. Ariane seufzte. „Du solltest dich bei Vitali entschuldigen.“ „Den Teufel werd ich tun!“, fauchte Serena. Nun wurde Ariane aufbrausend. „Würdest du auch noch so reden, wenn er im Schatthenreich zurückgeblieben wäre?!“ Serena nahm die Arme runter und senkte schuldbewusst den Blick. Ariane schluckte. „Mach bitte nie wieder Scherze darüber. Und sei gefälligst dankbar, dass Vitali bei uns ist!“ Serena schwieg. Im gleichen Moment wurde die Tür geöffnet und Anita trat ein: „Und, wie weit seid ihr mit der Pizza?“ Einige Zeit später konnten sie schließlich das Produkt ihrer Mühen genießen, wenn von genießen die Rede sein konnte. „Nächstes Mal bring ich Weißmehl und Schinken mit.“, sagte Vitali, der mit der Vollkornpizza keinen Frieden schließen konnte. „Es wird kein nächstes Mal geben!“, schimpfte Serena. Vitali sah auf das Pizzastück auf seinem Teller. „Ich glaub, das Vollkornzeug macht aggressiv.“ Als Antwort stieß Serena einen tobsüchtigen Schrei aus. Vivien kicherte. „Ihr seid so unterhaltsam.“ „Was ist daran unterhaltsam?“, fragte Ariane verständnislos. Sie war mittlerweile dazu übergegangen, die Streitereien zwischen Serena und Vitali weitestmöglich zu ignorieren und sich stattdessen mit Justin zu unterhalten. „Ist doch total faszinierend, dass es ihnen Spaß macht, sich zu streiten.“, erklärte Vivien. „Das macht keinen Spaß!“, stieß Serena aus. Vivien legte den Kopf schräg. „Warum machst du’s dann?“ Die Frage schien Serena deutlich zu irritieren. Sie antwortete nicht. Nach dem Essen setzte sich die ganze Gruppe in das Wohnzimmer des Hauses. „Du hast ne Spielekonsole!“, rief Vitali begeistert. „Ja und?“, fragte Serena pampig. „Lasst uns spielen!“, meinte Vitali. Serena schien ein Problem damit zu haben, dass der Vorschlag von Vitali kam, doch da keiner der anderen Einspruch erhob, duldete sie es. Aufgrund der auf vier beschränkten Spieleranzahl erklärte sich Justin freiwillig bereit, nicht mitzuspielen. „Du kannst dich mit mir abwechseln.“, sagte Vivien und rückte deutlich näher an Justin heran, als es nötig gewesen wäre. Sie gab ihm den Controller in die Hand und erklärte ihm die Funktionen, nicht ohne die Gelegenheit zu nutzen, um ihre Hände auf seine zu legen, als wäre das für ihre Erläuterungen notwendig. Infolge der Körpernähe zu ihr, war Justin nicht wirklich in der Lage, ihren Ausführungen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Er fürchtete, dass sein Gesicht bereits knallrot war und hoffte inständig, dass Vivien es nicht bemerken würde. Derweil erklärte Serena Ariane, wie es funktionierte. Sie hatten sich für Mario Party entschieden. Doch bereits nach den ersten paar Runden war der Konkurrenzkampf zwischen Serena und Vitali so unerträglich geworden, dass Ariane kurzerhand aufstand und das Spiel ausschaltete. „Hey!“, rief Vitali. „Selbst wenn euch das Spaß machen sollte, mir macht es keinen Spaß, wenn ihr die ganze Zeit streitet!“, erklärte sich Ariane. Währenddessen hatte Vivien aus der Spielesammlung ein Kampfspiel hervorgezogen. „Wir könnten das spielen!“ „Das ist nicht hilfreich!“, klagte Ariane. Sie befürchtete, dass das nur zu noch mehr Beleidigungen zwischen Serena und Vitali führen würde. Vivien grinste. „Du solltest mit Vitali den Platz tauschen.“ Ariane war bisher neben Serena gesessen. „Was?“, schrie Serena aufgebracht. „Du und Vitali geht in ein Team.“, erklärte Vivien, als wäre das beschlossene Sache. Serena schien widersprechen zu wollen, unterließ es dann aber und wandte ihr Gesicht ab. Vitali zuckte nur mit den Schultern und erhob sich von seinem Platz, um den von Ariane einzunehmen. „Komm mir ja nicht zu nahe.“, zischte Serena, als er sich neben sie setzte. „Wer war in der Kugel auf mich gepresst und hat sich beim Hochklettern an mich geklammert?“, gab Vitali zurück. „Du hast gesagt, ich soll mich festhalten!“, schrie Serena. Vitali starrte auf den Bildschirm. „Drückst du jetzt Start oder nicht?“ Serena schnaubte und startete das Spiel. Zur Überraschung von Justin und Ariane stellten sich Serena und Vitali nach anfänglichem Gezeter tatsächlich als gutes Team heraus. Zumindest schienen sie eine Heidenfreude daran zu haben, ihre Gegner fertigzumachen, was ihnen aufgrund ihrer Spiel-Erfahrung nicht schwerfiel. Dass sie immer mal wieder harsche Worte füreinander parat hatten, war angesichts der vorigen Beleidigungen nicht mehr der Rede wert. Nach einer Weile konnten sie sogar andere Spiele spielen, ohne dass die beiden wieder in alte Muster verfielen. So verging die Zeit, und die Nacht war schneller hereingebrochen als ihnen lieb war. Frau Funke sah noch einmal nach ihnen. „Ihr solltet nicht die ganze Nacht durchmachen.“ Dafür dass sie bezüglich des Übernachtens so streng gewesen war, war sie bezüglich der Schlafenszeit erstaunlich locker und hatte ihnen viel Freiraum gelassen. Sie warf den Jungen noch einen Blick zu. „Und ihr schlaft oben.“ Mit diesen Worten ließ sie sie allein. Die fünf schwiegen einen Moment lang. Sie hatten nicht bemerkt, dass es schon Mitternacht war. Die Finsternis draußen wirkte mit einem Mal bedrohlich und die Angst, von der sie sich bisher erfolgreich hatten ablenken können, kam zurück. „Glaubt ihr, sie werden es wieder versuchen?“, fragte Ariane. Ängstlich starrten sie durch die Glastür zur Terrasse hinaus in die Schwärze. „Ich raff immer noch nicht, wieso die’s auf uns abgesehen haben.“, sagte Vitali. „Unsere Kräfte!“, erinnerte Vivien. „Sie wussten sicher, dass wir magische Fähigkeiten haben.“ „Und woher wussten die das, wenn wir es nicht wussten?“, wollte Vitali wissen. Justin machte ein nachdenkliches Gesicht. „Das ist eine gute Frage.“ „Ist doch ganz logisch.“, fand Vivien. Vitali und Serena musterten sie argwöhnisch. „Ach ja?“ „Ja! Böse Monster, eine Verwandlung, magische Kräfte.“, zählte Vivien auf. „Wir sind Auserwählte!“, rief sie, als sei das das Offensichtlichste auf der Welt. Die anderen gafften sie an. „Aus-er-wählte.“, wiederholte Vivien wie ein Fremdwort, das sie den anderen erst beibringen musste. „Also das sind so Leute, die gegen die bösen Monster kämpfen und die Welt retten. Kommen in nahezu jedem Fantasybuch vor.“ Serena verdrehte die Augen aufgrund der unnötigen Definition. „Aber wer soll uns denn auserwählt haben?“, fragte Ariane. „So was wird in den Büchern nie gefragt.“ Vivien fasste sie sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, um eine nachdenkliche Pose einzunehmen. „Also ich denke, sie werden vom Schicksal ausgewählt. Oder von Gott.“ „Das ist doch Schwachsinn.“, grummelte Serena. „Das hier ist kein Roman!“ Vivien beharrte auf ihrer Meinung. „Alles deutet darauf hin.“ „Dann hätte uns doch irgendjemand darüber Bescheid sagen können.“, beschwerte sich Serena. Vivien lächelte unschuldig. „Vielleicht ist das ihre Art, uns Bescheid zu sagen.“ Serena schnaubte. „Könnte dann nicht mal einer von den Guten auftauchen und uns das Ganze erklären?“, forderte Vitali. Vivien lehnte sich wieder gegen die Lehne des Sofas. „Spiderman muss sich auch alles selbst beibringen. Und Batman und Superman und –“ „Wir haben’s kapiert.“, unterbrach Serena. Ariane zog das Fazit. „Wir sind auf uns alleine gestellt.“ „Wir haben zumindest einander!“, rief Vivien. „Nicht so wie Spiderman, Batman, Superman, -“ „Hat Superman nicht so ein Raumschiff, das die Erinnerung von seinem Vater enthält?“, wandte Vitali ein. „Und Batman hat keine Superkräfte, der ist bloß superreich.“ „Stimmt. Wir sollten uns an Spiderman ein Beispiel nehmen.“ „Da stirbt der Onkel.“, gemahnte Serena. „Und die Freundin.“ Ariane sah die drei genauso ahnungslos an wie Justin. „Woher wisst ihr das alles?“ Vivien grinste. „Wir sind Superhelden-Nerds.“ Ariane nickte andächtig. „Und wie machen das die Superhelden?“, fragte Justin. Vitali erklärte: „Die probieren das aus und dann funktioniert es einfach.“ „So wie bei uns!“, rief Vivien. „Im Notfall zumindest.“ „Fürs Ausprobieren ist es jetzt etwas spät.“, meinte Ariane. „Wir sollten Ruhe bewahren.“, sagte Justin. „Wir wissen nicht, ob sie heute wieder angreifen.“ „Oder erst morgen.“, murrte Serena. Vivien ermutigte die anderen. „Zusammen schaffen wir das.“ Serena seufzte. „Wir sollten wenigstens die Vögel schlafen lassen. Gehen wir hoch.“ Nicht allein aus Fürsorge für ihre fünf Wellensittiche machte Serena diesen Vorschlag. Der ständige Blick durch die Fenster in die Finsternis machte sie krankhaft nervös. Jedes Mal wenn der Wind die Äste der Bäume im Garten bewegte, glaubte sie im nächsten Moment erneut Schatthen gegenüberzustehen und wurde von einem eisigen Schaudern ergriffen. Leise begaben sich die fünf hinauf in den ersten Stock. Auf dem Weg mussten sie nur Leila mit Streicheleinheiten bestechen, die am Ende der Treppe lag und Wache hielt. Vorsichtig, um niemanden zu wecken, schlichen sie sich in Serenas Zimmer.. Hier waren die Fluchtmöglichkeiten besser als im Büro des Hauses. Allerdings wussten sie ja bereits, wie gering die Chancen tatsächlich waren. Sollte es zu einem erneuten Angriff kommen, waren sie geliefert. Wohin sollten sie auch flüchten? Es gab keinen Ort, an dem sie sicher waren. Selbst das Licht, das sie anmachten, konnte ihre ängstlichen Gedanken nicht vertreiben. Sie setzten sich in einen Halbkreis auf die zusammengestellten Gästematratzen, auf denen die Mädchen schlafen sollten, lehnten sich an die Wand, an die Seite von Serenas Bett und den Kleiderschrank in der Ecke. Auf diese Weise hatten sie sowohl die Tür als auch das Fenster, das hinaus zum Balkon führte, im Blick. An Schlaf war nicht zu denken. „Warten wir jetzt darauf, dass sie angreifen?“, fragte Vitali. „Was willst du sonst machen?“, flüsterte Serena. Vitali zuckte mit den Schultern. „Wir sind zusammen.“, rief Vivien ihnen ins Gedächtnis und ergriff die Hände von Serena und Justin, die rechts und links neben ihr saßen. Die anderen setzten die Kette fort. Selbst wenn die Schatthen sie nicht angriffen, was war morgen? Oder übermorgen? Würde ihr ganzes Leben nun erfüllt sein von dieser alles beherrschenden Angst? Nach einer Weile rückten sie noch etwas enger zusammen, Vitali an Serenas Bett gelehnt, Justin und Vivien an die Wand und Serena und Ariane gegen den Kleiderschrank. Auf diese Weise vereint, schien die Angst allmählich nachzulassen. Sie wich einem schwach abgestumpften Gefühl, das ihre Augenlider immer schwerer werden ließ und ihren Geist langsam einlullte, bis sie der sich auf Samtpfoten genäherten Müdigkeit ohne großen Widerstand erlagen. Kapitel 19: Zwischenspiel 2 --------------------------- Schmidt blickte zum x-ten Mal verwundert auf die zwei Steinplatten, die neben ein paar Aufzeichnungen und einem Schreiben des Professors in dem Paket enthalten gewesen waren. Abermals las er den beiliegenden Brief durch: Sehr geehrter Herr Doktor Schmidt, lieber Freund, vermutlich wird dieser Fund Dich genauso faszinieren wie mich. Ich habe nach alten Römerstätten gesucht und die verschütteten Überreste eines Bauwerks gefunden, das allerdings um einiges jünger ist. An den Wänden fand ich diese Inschriften und löste sie mit höchster Behutsamkeit ab. Du bist der erste, der von ihrer Existenz erfährt. Mit was für einer Schrift ich es hier zu tun habe, ist mir bisher nicht klar. Ich hoffe, es gelingt Dir, sie einzuordnen und zu übersetzen. Wie Du an den Tafeln erkennen kannst, scheint die Inschrift in den Stein eingebrannt worden zu sein. Doch mir bleibt es ein Rätsel, wie dies mit solcher Präzision, wie man sie an den feinen Buchstaben erkennen kann, zu jener Zeit möglich gewesen sein soll. Nun zu etwas anderem: Eine gewisse Finster GmbH trachtet nach meiner Ausgrabungsstätte. Meine Partner, soweit man diese Ignoranten so bezeichnen kann, haben dem Kauf bereits zugestimmt. Ich bin als einziger noch dagegen. So einfach werde ich meine Ergebnisse nicht an einen dahergelaufenen Dilettanten abtreten! Aus diesem Grund habe ich Dir auch die Originalplatten geschickt. Bei Dir weiß ich sie in Sicherheit vor diesen raffgierigen Individuen. Bitte informiere mich so schnell wie möglich über den Inhalt der Schriften. Mit freundlichen Grüßen Giovanni Kritisch betrachtete Schmidt die beiden Artefakte. Ganz zart und schlank waren die Buchstaben darin eingelassen; die sachten Schwünge, die ohne zusätzliches kitschiges Geschnörkel auskamen – eine vollendete Schönheit, wie er fand. Auf den Zügen des Doktors zeigte sich ein kurzes Schmunzeln. Natürlich hatte der aus Italien stammende Geronimo die Schrift nicht erkannt. Sein alter Freund war vermutlich alle möglichen antiken Schriften durchgegangen, mit denen er sich im Laufe der Jahre beschäftigt hatte, doch mit alter deutscher war er vermutlich nicht vertraut. Schmidt kannte die Sütterlinschrift natürlich, daher war es für ihn ein Leichtes die Worte zu entziffern: In einer Ära, da der Kosmos gestört durch die eine Lebensform, die wider die Natur zu verhalten befähigt, ist das Gleichgewicht bedroht und das Chaos ziehet herauf. Leben zu Tod, Tod zu Leben. Dies Geschick den Beschützern gegeben. Jenseits von Licht und Finsternis erschaffen, müssen ihren Weg sie wählen, der da führt zu Rettung oder Untergang. So lautete der Text der ersten Tafel, während die andere einen Reimtext beinhaltete: Finster ward es beim Einbruch der Nacht der da verdrängt des Lichtes Wacht Das Eine gespalten nun entzweit brachte statt Liebe nur Schmerz und Leid Entstandenes Leben drohet zu wanken überschreitet die Schöpfung des Gleichgewichts Schranken Schicksal Verändern Vereinen Vertrauen Wunsch Geheim Auf diese Beschützer müsst ihr bauen Bald wird gekommen sein die Zeit Die Auserwählten geleitet Ewigkeit Die Sütterlinschrift war ab 1930 an allen deutschen Schulen gelehrt worden. 1941 verbot Hitler ihren Gebrauch. Kreiert worden war die sogenannte „deutsche Schrift“ von dem Graphiker Ludwig Sütterlin durch eine Vereinheitlichung unterschiedlicher deutscher Handschriften des 17. bis 19. Jahrhunderts. Somit war Schmidt sich nicht sicher, ob es sich nun um Sütterlinschrift oder eine der ihr vorangegangen Kurrentschriften handelte. Dies erschwerte die Bestimmung der Entstehungsepoche. Des Weiteren stellte sich die Frage, wie der geradezu primitiv abergläubische Inhalt mit dieser Zeitspanne vereinbar war, wo doch zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung in Deutschland begonnen hatte? Vielleicht hatten irgendwelche Sektenanhänger diese Endzeitprophezeiung verschuldet. Aber wie war es ihnen gelungen, die Zeilen in die Wand zu gravieren? Der Gedanke, dass jemand aus der Gegenwart den Text mit den fortgeschrittenen Mitteln des 21.Jahrhunderts in die Wände geschweißt hatte, hätte zwar den Umstand erklärt, wie die Schrift mit solcher Präzision in den Stein gebrannt worden sein konnte, klang aber absurd. Zudem war der Herkunftsort laut Geronimo bis zur Freilegung verschüttet gewesen. Des Rätsels Lösung suchte Doktor Schmidt vergeblich in seinen grauen Zellen. Sein Denken wurde durch das kontinuierliche Prasseln des Regens, der mit einer enormen Gewalt auf das Fenster eindrang und immer schlimmer zu werden schien, nicht gerade beflügelt. Zumindest war das Donnern schwächer geworden. Plötzlich war ein lautes Klirren zu hören. Herr Schmidt stand auf. Das Geräusch musste aus einem der hinteren Räume gekommen sein. Hatte eine Scheibe dem Druck nicht Stand halten können? Schmidt öffnete die Türe seines Arbeitszimmers, dessen Licht nun in den stockfinsteren Gang fiel und betätigte den Lichtschalter. Er war es gewohnt, dass die Lampen etwas längere Zeit beanspruchten, ehe sie ihre Arbeit aufnahmen, und so wartete er, umhüllt vom Heulen des durch die Fensterscheibe dringenden Windes. Dabei bemerkte er nicht, wie ein Teil des Schwarzen wie ein lebendiger Schatten in sein Arbeitszimmer schlüpfte. Es tat sich nichts. Die Beleuchtung sprach nicht an. Erneut legte Schmidt, nun fluchend, den Schalter um, doch es blieb beim gleichen Ergebnis. Zu allem Übel wurde im nächsten Moment die Türe zu seinem Arbeitszimmer zugestoßen. Wohl vom Windzug. Deutlich gereizt öffnete er die Tür wieder, doch auch dieser Raum lag jetzt in Finsternis. Der gesamte Strom musste ausgefallen sein. Dieses verdammte alte Gemäuer! Plötzlich entdeckte er auf seinem Tisch, zumindest war er sich sicher, dass dieser sich an jener Stelle befinden musste, eine ihm unbekannte Lichtquelle. Vorsichtig, um nicht irgendwo anzustoßen, näherte er sich dem Leuchten, dessen Aktivität unaufhaltsam intensiver wurde. Seine Augen weiteten sich. „Unmöglich...“ Die Inschrift auf den Steintafeln hatte begonnen zu glühen. Schmidt war sprachlos. Gebannt starrte er auf das zauberhafte Schauspiel vor seinen Augen: Weißblaues Licht, in dem Millionen von winzigen Kristallen zu funkeln schienen, strömte aus den Buchstaben. Im nächsten Moment änderte sich dies. Die Zeichen erleuchteten in einem knalligen Pink, gleichzeitig fingen sie an, zu blinken, als wollten sie ihn vor etwas warnen. Mit einem Mal gewahrte Schmidt einen eisigen Hauch im Nacken, der sich nicht nur um seinen Körper, sondern auch um seinen Geist legte und mit erbarmungsloser Gewalt diesen zu zerquetschen drohte. Ehe sein Verstand registriert hatte, was vorging, hatte sein gesamter Körper begonnen, zu zittern. Das Knurren, das seine Ohren vernahmen, spiegelte puren Hass und Mordlust wider. Er wollte sich nicht umdrehen, doch tat er es im Affekt. Kapitel 20: Guten Morgen ------------------------ Guten Morgen „Tröste dich die Stunden eilen, und was all dich drücken mag; auch das Schlimmste kann nicht weilen, und es kommt ein andrer Tag.“ (Theodor Fontane, dt. Schriftsteller) Justin kam zu sich. Erst allmählich begriff er, wo er sich befand. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber er glaubte, draußen den Anfang der Morgendämmerung zu erkennen. Durch die immer noch eingeschaltete Zimmerbeleuchtung konnte er es allerdings nicht genau sagen. Er spürte den Körperkontakt zu Vitali und Vivien. An seiner Linken war Vitali mit seinem Kopf gegen Serenas Bett gelehnt eingeschlafen. Ariane hatte sich als einzige wirklich auf die Matratzen gelegt, nicht nur aufgrund des geringen Platzes, berührte sie dabei die anderen, während Serena ihren Kopf in Viviens Schoß gebettet schlief. Schützend hatte Vivien ihren Arm um sie gelegt. Sie selbst schlummerte gegen Justin gelehnt und hielt noch immer seine Hand. Normalerweise wäre ihm aufgrund dieses Umstands das Blut in den Kopf geschossen, aber in diesem Moment war er noch viel zu benebelt. Eine wohlige Wärme und Geborgenheit, die von der Nähe zu den anderen herrührte, verführte ihn dazu, erneut in Schlaf zu sinken. Justin schloss wieder seine Augen. Die Dunkelheit und mit ihr die Angst waren geschwunden. Die Schatthen hatten nicht angegriffen, dieses Wissen erfüllte ihn mit einem feinen Glücksgefühl. Nichts weiter war wichtig. Und so vertraute er sich wieder dem Schlaf an. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er zurück in den Wachzustand geholt wurde. Vor sich erkannte er Vivien. Er fuhr auf. „Ist was passiert?“ Sie gab ihm zu verstehen, dass er leise sein sollte, allerdings legte sie dazu den Zeigefinger nicht auf ihre, sondern auf seine Lippen, was zwangsläufig dazu führte, dass Justin eine pochende Hitze in sich aufsteigen fühlte, die ihn einen Moment lang jedes klaren Gedankens beraubte. Vivien konnte angesichts seiner Reaktion ein Grinsen nicht unterdrücken. Vielleicht hätte sie sich ihm zuliebe etwas zurückhaltender geben sollen, aber dazu genoss sie den Effekt ihres Verhaltens viel zu sehr. Derweil versuchte Ariane, sich die Müdigkeit aus den Augen zu reiben, während Serena darum bemüht war, Vitali aus dem Schlaf zu reißen, und das um einiges harscher als Vivien es bei Justin getan hatte. Bei Vitali handelte es sich aber auch um ein richtiges Murmeltier! Er wollte und wollte einfach nicht zur Besinnung kommen. Stattdessen brabbelte er nur irgendetwas Unverständliches. Serena riss langsam aber sicher der Geduldsfaden. Aber sie musste leise bleiben, um auf keinen Fall jemanden zu wecken. Wenn jemand entdecken sollte, dass die Jungs bei ihnen geschlafen hatten… Wie sollte sie das bloß ihrer Mutter erklären??! Natürlich war diese Besorgnis nichts im Vergleich zu der Angst, die sie in der Nacht verspürt hatte, aber dennoch war sie groß genug, um Serena ihre Gelassenheit zu rauben. Vitali schlug im Schlaf mit dem Arm nach ihr. „Lass mich in Ruhe, Vicki!“ Noch etwas benommen fragte Ariane: „Ist das seine Freundin?“ Der Schock dieser Behauptung traf Serena unvorbereitet. Die Eröffnung, dass Vitali nicht nur eine feste Freundin hatte, sondern offenbar auch noch das Bett mit ihr teilte, war zu viel für sie. Eine so übermächtige Scham verheerte ihr Selbst, dass sie die unerträgliche Schmach nur ertragen konnte, indem sie sich stattdessen ihrer Entrüstung ergab. Ungehalten sprang sie auf und trat Vitali gehörig gegen das Schienbein. Vitali schrie auf. „Klappe!“, fuhr Serena ihn an. „Verschwinde!“ Wutentbrannt spie Vitali aus: „Hast du sie noch alle!“ „Hör endlich auf zu schreien!“ Serena konnte ihre Stimme selbst nicht mehr unter Kontrolle halten. „Du schreist doch!“ Ariane, die hinter Serena getreten war, hielt ihr eilig den Mund zu, Gleiches tat Justin bei Vitali. Anders konnte man die beiden nicht zum Verstummen bringen. Im Zimmer nebenan glaubten sie plötzlich Geräusche zu hören. Gebannt horchten sie, darum bemüht, keinen Ton von sich zu geben. Nach einigen Augenblicken der Stille atmeten sie schließlich auf. „Ihr müsst hoch, bevor jemand merkt, dass ihr hier geschlafen habt.“, erklärte Vivien leise. Ein genervtes Geräusch von sich gebend, stand Vitali auf, warf Serena, die sich demonstrativ von ihm weg gedreht hatte, seinen bitterbösesten Blick zu, und begab sich gefolgt von Justin zur Tür. „Brutale Irre.“, knurrte er und ging dann hinaus. Als die Jungs das Zimmer verlassen hatten, wandte sich Ariane mit tadelndem Blick an Serena. „Du kannst ihn doch nicht einfach so treten!“ Serena gab ein gleichgültiges Zischen von sich, ohne sich zu Ariane umzudrehen. Vivien deutete Ariane mit einer schneidenden Handbewegung an ihrem Hals an, dass sie das Thema keinesfalls weiter verfolgen sollte. Ariane konnte das nicht wirklich nachvollziehen, hielt es aber ebenfalls für zwecklos, in übermüdetem Zustand mit Serena zu diskutieren. Sie nahm sich allerdings vor, dies später nachzuholen. Vitali stapfte grummelnd die Treppe hinauf. „Die spinnt doch. Die hat sie doch nicht mehr alle. Diese Bekloppte!“ Nachdem sie das Büro betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte sich Justin an ihn. „Du hast im Schlaf einen Mädchennamen gesagt.“ „Hä?“ Vitalis Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, von was Justin da redete. „Du bist nicht zu dir gekommen. Und als du den Namen gesagt hast, ist sie irgendwie wütend geworden.“ „Waaas??!! Das geht sie nen feuchten Dreck an! Ich kann so viele Mädchennamen sagen, wie ich will. Verstanden?! Ich kann ja wohl machen, was ich will! Klar?! Die ist doch gestört!! Gestört!!!“ Vitali schien sich überhaupt nicht mehr einzukriegen. Glücklicherweise schlief er jedoch rasch wieder ein, nachdem Justin und er sich auf die Gästematratzen gelegt hatten. Und so begann der neue Tag, anstatt mit Freude über die gut überstandene Nacht mit einem abermaligen Streit zwischen Serena und Vitali. Ein nerviges Maschinengeräusch riss Vitali wieder aus dem Schlummer. Schon am Vortag hatte Serenas Mutter ihn und Justin gewarnt, dass sie und ihr Mann morgens im Büro ihren Kaffee tranken, aber dass die Kaffemaschine solche abartigen Missklänge produzierte, hatte sie eindeutig vergessen zu erwähnen. Vitali stöhnte, drehte sich auf die andere Seite und wollte weiterschlafen. „Es ist schon halb zehn.“, informierte ihn Justin. „Und?“, brummte Vitali. „Vielleicht sollten wir schauen, ob die Mädchen schon aufgestanden sind.“ Vitali gab kein sehr begeistertes Geräusch von sich. Die Mädchen hatten sich auf der Suche nach etwas zu Essen in die Küche begeben, wobei ihnen Leila Gesellschaft leistete. Ein Laut ließ die Hündin jedoch aufhorchen und hinaus in die Diele stürmen, wo Justin und Vitali die Treppe herunter kamen. Überschwänglich stürmte Leila auf Vitali zu, als sei er ein langjähriges Mitglied der Familie. Vitali, der die Zuneigung offensichtlich erwiderte, kniete sich zu der Hündin und wurde sogleich von ihr abgeschleckt. Er lachte. Der Anblick erheiterte Vivien und Ariane, die mit Serena der Hündin gefolgt waren. Serena jedoch reagierte bissig. Wegen der Angelegenheit am Morgen war sie noch immer in Rage. „Leila! Du sollst keine ekligen Sachen ablecken!“ Ruckartig sprang Vitali auf. Erst der Tritt gegen das Schienbein, ihr ständiges Rumgezicke und jetzt das. Es reichte! Augenblicklich herrschte eine unglückverheißende Atmosphäre, die befürchten ließ, dass die beiden aufeinander losgingen „Das geht zu weit.“, sagte Ariane missbilligend. Vivien blieb gelassen, sie klang sogar nahezu belustigt. „Sie ist bloß eingeschnappt, weil er heute Morgen von Vicki geträumt hat.“ Am liebsten hätte Serena sie für diesen Satz erwürgt, doch Vitali gab ihr keine Zeit dafür. Sein Gesicht verzog sich fürchterlich. Seine ganze Muskulatur schien sich anzuspannen. „Vicki? … Vicki?!!!“ Dann brüllte er sie lauthals an, dass selbst Leila flüchtete. „Du dämliche Ziege!!! Für wen hältst du dich eigentlich?!!!“ Wie unter Hieben zuckte Serena zusammen. Erstarrt stand sie da und spürte, wie jähe Scham ihr die Luft abschnürte. „Jetzt fang nicht auch noch an zu heulen!“, schrie Vitali wutschnaubend. „Die ganze Zeit spinnst du hier rum wegen diesem Scheiß! Du bist doch wirklich nicht mehr ganz richtig im Kopf! Geh mal zum Psychiater!“ Justin trat energisch dazwischen. „Hör auf zu schreien! Du bist hier nicht in einer Kneipe!“ „Was ist denn da unten los!“, drang die Stimme von Serenas Mutter von oben zu ihnen. Dann kam Anita heruntergerannt. „Was ist?“ Anita erkannte, dass ihre Schwester den Tränen nahe war. „Ein … Missverständnis.“, sagte Ariane kleinlaut. Argwohn zeichnete sich auf Anitas Zügen ab. „Achja?“ Glücklicherweise stand Vitali mit dem Rücken zu ihr, denn sein von Zorn erfüllter Blick sprach Bände. Er biss die Zähne zusammen, um seine Wut, die sich mit aller Macht entladen wollte, zurückzuhalten. Er wollte Serena anschreien, sie beschimpfen, sie richtig zur Sau machen! Das Verlangen danach war so groß, dass er fast platzte. Vivien sprach in ruhigem Ton, als handle es sich um eine altbekannte Problematik, die sie schon öfter in den Griff bekommen hatten. „Wäre es okay, wenn wir die Sache erst mal unter uns klären?“ An Anitas misstrauischem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass ihr das nicht zusagte. Dennoch lenkte sie ein.. „Klärt das, sonst klär ich es. Oder Leila.“ Vivien nickte und schob Serena zur nächsten Tür, die zum Kaminzimmer und zum Wohnzimmer führte, Justin gab Vitali zu verstehen, dass er folgen sollte. Widerwillig kam er der Aufforderung nach. Ariane bildete das Schlusslicht. Als sie im Wohnzimmer standen, fixierte Justin die beiden. „Was ist nur mit euch los?“, forderte er von ihnen zu erfahren. „Mit mir?“, entfuhr es Vitali. „Sie tritt mich, beleidigt mich und tyrannisiert mich! Und warum? Weil ich ‚Vicki‘ gesagt habe!“ „Wer ist Vicki?“, fragte Vivien neugierig. „Das ist mein Bruder, okay?!“, schimpfte Vitali. „Vicki, von Viktor! Aber das geht Serena auch überhaupt nichts an! Wir sind ja kein Paar oder so! Da braucht sie sich nicht so aufspielen!“ Serena hatte den Kopf eingezogen und ballte die Hände zu Fäusten. Sie wusste, dass die anderen nun eine Stellungnahme von ihrer Seite verlangen würden. Aber sie hatte keine. „Ich tu mir das nicht länger an!“, schrie sie und wollte flüchten. Was hätte sie auch sagen sollen? Vitali hatte ja Recht. Es ging sie nichts an. Ihr eigenes Verhalten war so beschämend, dass sie sich am liebsten einfach in Luft aufgelöst hätte. Justin versperrte ihr den Weg und wirkte ungewohnt aufgebracht. „Hört mir mal zu. Ich werde nicht zusehen, wie wegen eurem Stolz und euren kindischen Meinungsverschiedenheiten dieses Team auseinanderbricht. Wir sind nicht mehr gefangen, aber genauso wenig können wir, so wie die Dinge momentan stehen, ein normales Leben führen. Es geht hier nicht allein um den Frieden zwischen euch beiden. Wir stecken ziemlich tief in der Tinte. Auch wenn die Schatthen heute Nacht nicht angegriffen haben, heißt das noch lange nicht, dass wir sie jetzt los sind. Wir müssen mehr über die ganze Sache herausfinden, als Team! Wir fünf können das nur gemeinsam schaffen.“ Seine braunen Augen wanderten zwischen Serena und Vitali hin und her. „Seht ihr eigentlich nicht, wie lächerlich euer Gestreite ist? Heute Nacht sind wir alle zusammen da gesessen und haben einander Halt gegeben. Und am nächsten Morgen, da fangt ihr schon wieder an, herumzukrakeelen! Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, solltet ihr doch etwas besser miteinander umgehen können.“ „Aber sie –“, wollte Vitali sich verteidigen. „Ich habe nicht gesagt, dass du Schuld bist, oder?“, unterbrach ihn Justin. „Ja, aber trotzdem werde ich immer geschimpft! Das ist unfair! Zu euch ist sie ja nicht so!“ Justin seufzte und wandte sich an Serena, die den Kopf eingezogen hatte. „Serena, tu mir den Gefallen. Spring endlich mal über deinen Schatten und entschuldige dich. Das wird dich schon nicht umbringen.“ Serena zog ein Gesicht, als würde sie das durchaus umbringen. Ihr Blick ging zu Boden. Plötzlich spürte sie, wie ihre Rechte ergriffen wurde. Vivien war neben sie getreten und hatte mit der anderen Vitalis Hand ergriffen, um die Hände der beiden zusammenzuführen, wie man es bei kleinen Kindern tat, wenn sie sich vertragen sollen. Entsetzt entriss sie Vivien ihre Hand. „Serena!“, tadelte Ariane. „Wieso kannst du dich nicht einfach bei ihm entschuldigen?“ Serena spürte Tränen in sich aufsteigen. Sie wollte sich ja entschuldigen, aber … Sie konnte einfach nicht. Sie brachte kein Wort heraus. Ariane sprach weiter. „Das hat Vitali nicht verdient.“ Doch Serena reagierte nicht. „Serena, was ist denn mit dir?“, fragte Justin nun besorgt. Vorsichtig berührte Vivien sie am Oberarm. „Serena?“ Serena zuckte zusammen. Sie machte sich so klein wie möglich, wollte sich vor den anderen verstecken. Grob wurde sie an den Schultern gepackt. „Hey!“, rief Vitali. Verängstigt starrte sie ihm ins Gesicht. „Krieg dich wieder ein, ok?“ Nachdem sie immer noch nicht reagierte, fügte er eindringlich hinzu: „Alles halb so schlimm.“ Serena wusste nicht, was sie sagen sollte, sie kämpfte mit den Tränen. Vitali stöhnte entnervt und ließ schließlich von ihr ab. Sie sah ängstlich zu ihm. „Ich hab Hunger.“, sagte Vitali. „Wir sollten was essen.“ „Das ist eine super Idee!“, rief Vivien. Sie lächelte Serena aufmunternd an. Serena machte allerdings nicht den Eindruck, als würde der jähe Themenwechsel sie beruhigen. Vitali wandte sich nochmals an sie. „Ich bin nicht mehr sauer, ok? Nur heul nicht.“ Auf diese Worte hin konnte Serena die Tränen nicht mehr zurückhalten und krümmte sich. „Du machst immer das Gegenteil von dem, was ich sage, oder?“, kommentierte Vitali. „Es tut mir leid.“, schluchzte Serena und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Vivien holte eine Packung Taschentücher vom Wohnzimmertisch. Vitali war mit der Situation überfordert. „Ey, wenn du nicht aufhörst zu heulen, schmeißt uns deine Mutter raus.“ Ariane war erfreulicherweise taktvoller. Sie sprach in sanftem Ton. „Es ist alles gut. Du bist wahrscheinlich nur unterzuckert und deshalb so empfindlich. Ja?“ Serena nahm die Taschentücher von Vivien entgegen und putzte sich die Nase. Justin legte ihr die Hand auf die Schulter, wie sein Vater es schon bei ihm getan hatte, als er niedergeschlagen gewesen war. „Du brauchst dich vor uns nicht schämen. Wir sind für dich da.“ Serena ließ den Kopf hängen. „Alter, wenn man nett zu dir ist, solltest du dich freuen und nicht wie ein Häufchen Elend schauen.“, beschwerte sich Vitali. Ariane sah Vitali vorwurfsvoll an. „Du brauchst definitiv auch was zu essen.“ „Hab ich doch gesagt.“, antwortete er. In fürsorglichem Ton sprach Justin nochmals Serena an, deren Schulter, er noch immer hielt. „Wollen wir zusammen essen?“ Serena nickte langsam. „Gut.“ Er ließ sie los. Vivien und Vitali gingen vor in die Küche. Auf dem Weg dorthin fiel Vitali auf: „Wieso ist jetzt eigentlich sie getröstet worden? Ich wurde doch beleidigt!“ Vivien lachte. Ariane seufzte. Justin blieb an Serenas Seite und lief mit ihr den anderen nach. Vivien hatte vorgeschlagen, bei dem schönen Wetter doch draußen zu essen. Da der Weg auf die Gartenterrasse jedoch durch Serenas Wellensittiche behindert war, und es einige Umstände bereitet hätte, sie in den Käfig zu bekommen, entschieden sie nach Rücksprache mit Serenas Mutter, auf dem Balkon zu frühstücken – so man es noch Frühstück nennen konnte. Vitali hatte sich zwar darüber beschwert, dass sie noch extra den Balkon herrichten mussten, aber die Betätigung war gut gewesen, um Serena etwas aus ihrem Gedankenkarussell zu befreien. Die Klappstühle und der Tisch waren mittlerweile abgewischt, Sitzkissen darauf gelegt und Geschirr und Besteck auf den Tisch gestellt. Vivien wandte sich an Serena und Vitali. „Kümmert ihr euch um alles weitere. Wir anderen bringen den Rest.“ Sie packte Justin und Ariane und zog sie mit sich, ehe diese sich wehren konnten. Überrumpelt wollte Serena noch die Hand nach ihnen ausstrecken, um sie davon abzuhalten, sie mit Vitali alleine zu lassen. Doch dazu war es zu spät. Vitali begriff nicht. „Hä? Was will sie denn jetzt? Ist doch schon alles gerichtet.“ Serena zog ein banges Gesicht. Sie wusste, was Vivien bezweckte. Zaghaft linste sie zu Vitali und senkte wieder den Blick. Sie brauchte einen weiteren Moment, ehe sie die Worte über die Lippen brachte. „Tut mir leid.“ „Kannst du doch nix für.“ Es hätte ihr wohl klar sein müssen, dass er ihre Worte nicht mehr mit dem Vorfall von zuvor in Verbindung bringen würde. Sie brachte es aber nicht über sich, konkreter zu werden. Sie setzte sich auf einen der Klappstühle und hielt den Blick auf den Teller vor sich gerichtet. Vitali war die Stille unangenehm und Serena sah schon wieder niedergeschlagen aus. Er schaute in eine andere Richtung, dann wandte er sich doch wieder an sie. „Was war’n das vorhin? Ich mein… Du brauchst doch nicht gleich durchdrehen. Ich schrei dich halt an, weil du mich nervst. Kein Grund zu heulen.“ Serena starrte ihn ungläubig an. Hatte er das gerade ernsthaft in einem Ton gesagt, als hätte er etwas Nettes von sich gegeben? „Was?“, fragte Vitali. „Entschuldige, dass ich dich nerve.“, gab sie zurück. „Ey, du hast mich getreten und beleidigt. Ist doch klar, dass du mich nervst.“ „Du nervst mich auch!“, rief sie in purer Notwehr. „Alter, ich hab gepennt!“ Serena verzog das Gesicht. Vitali setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Die anderen kriegen nen Anfall, wenn wir noch mal streiten.“ Serena starrte auf die Tischplatte. Sie wollte sich ja gar nicht streiten. Sie wusste nur wirklich nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Wieder dieses Schweigen. „Wo bleiben die anderen?“, nörgelte Vitali. Serena seufzte und nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Danke.“ Zu mehr als einem Flüstern hatte es nicht gereicht. „Hä?“ „Dass du…“ Sie brach ab. „Im Schatthenreich. Und davor.“ Sie rang nach Worten. „Danke, dass du mir immer geholfen hast.“ Sie wartete darauf, dass Vitali etwas entgegnete, aber er blieb still. Daraufhin fühlte sie sich gezwungen, doch noch den Blick zu heben, um ihn in Augenschein zu nehmen. Sein Gesichtsausdruck war absolut nichtssagend. „Jo.“ War das alles? Ihrer Mimik war die Frage wohl anzusehen, denn Vitali fühlte sich zu weiteren Worten genötigt. „Alter, was willst du denn von mir hören?“ Serena wandte sich ab. „Nichts.“ Er stieß geräuschvoll die Luft aus. Verstimmt verzog sich ihr Mund. „Du wolltest doch, dass ich Danke sage.“ Ihre Worte nahmen Bezug auf die Situation im Schatthenreich, als er gefordert hatte, sie solle sich für seine Hilfe bedanken statt zu weinen. „Das ist ewig her.“ Eigentlich waren es nicht mal zwei Tage. Serenas Stimme bekam wieder diesen schnippischen Ton. „Also soll ich mich nicht bei dir bedanken.“ „Das hab ich doch gar nicht gesagt!“, verteidigte sich Vitali. „Warum machst du immer alles so verdammt kompliziert!“ Serena ließ den Kopf hängen. „Mann! Selbst wenn du dich bedankst, kann man‘s dir nicht recht machen. Was willst du denn?“ Das wusste Serena selbst nicht so genau. Es hatte sie so viel Überwindung gekostet, dass sie sich irgendwie darüber gefreut hätte, wenn ihre Worte nicht völlig belanglos für ihn gewesen wären. Sie hörte die anderen durch ihr Zimmer zurück auf den Balkon kommen. Sie hatten sich eindeutig mehr Zeit gelassen, als nötig gewesen wäre. „Einen Kuss.“, antwortete Vivien, während sie und die anderen Teller voller Brotscheiben und Belag auf dem Tisch verteilten. „Hä?“, machte Vitali. Vivien grinste ihn an. „Na, was sie von dir will.“ Serena kreischte verstört: „Halt die Klappe, Vivien!“ Vivien setzte sich ungerührt neben sie und nahm sich eine Brotscheibe. „Ich hab heute Morgen schon gedacht, du hättest ihn wachküssen sollen statt ihn zu treten. Das wäre viel effektiver gewesen.“ Äußerst verlegen sah Justin daraufhin in ihre Richtung. Das hatte Vivien doch nicht bei ihm gemacht, oder? Vivien zwinkerte ihm zu. Mit hochrotem Kopf versuchte er sich auf das angerichtete Frühstück zu konzentrieren. Sie machte doch nur Scherze. Wieso hätte sie ihn auch küssen sollen? Sie war ja nicht mal an ihm interessiert. Seine Aufregung wandelte sich jäh in Frustration. Er seufzte. Vivien konnte den Wandel in seinem Gesicht nicht nachvollziehen, vor allem da Serena ihren Gedankengang unterbrach. „Du hast sie wohl nicht alle!“, schrie sie sie an. Anstatt auf Serena zu reagieren, wandte sich Vivien übers ganze Gesicht grinsend an Vitali. „Das hätte dir doch auch besser gefallen.“ Vitali machte wieder dieses komische Gesicht wie eben nach Serenas Danksagung. Weder wirkte er von der Vorstellung besonders angetan noch angewidert. Serena wurde davon noch beschämter. „Vivien!“, kreischte sie. Vivien lachte ausgelassen. Ariane stellte mit Verwunderung fest, dass die Unterstellung, sie hätten romantische Gefühle füreinander, bisher tatsächlich das einzige war, das Serena und Vitali von Streitigkeiten abhielt. Sie selbst hielt es zwar für fragwürdig, den beiden den Floh ins Ohr zu setzen, ihre Abneigung füreinander sei in Wirklichkeit eine spannungsgeladene Anziehung, die sie sich nicht eingestanden. Aber in Ermangelung einer Alternative waren sie wohl darauf angewiesen, dass Vivien diese Geheimwaffe immer wieder einsetzte. Ob sich Vivien dessen bewusst war? Oder hatte sie bloß eine Vorliebe dafür, Serenas und Vitalis Grimassen angesichts dieser Behauptung zu sehen? Ariane konnte es nicht sagen. Die Hauptsache war, dass sie nun in Ruhe frühstücken konnten. Der restliche Tag ging ohne weitere Zwischenfälle von statten. Da der Schulbeginn bevorstand und sie bereits nachmittags nach Hause kommen sollten, machten sie sich direkt daran, ihre Lager wieder abzubauen Anschließend tauschten sie ihre Kontaktdaten aus, um so einander immer erreichen zu können. Allerdings besaß Justin kein Handy und Arianes neues Zuhause hatte noch kein WLAN oder einen Festnetzanschluss. Nicht allein aus diesem Grund verabredeten sie, sich mindestens einmal pro Woche persönlich zu treffen. Bereits für den nächsten Tag machten sie aus, um 15 Uhr zusammenzukommen, um ihre Nachforschungen fortzuführen. Die Angst vor einem Angriff war vielleicht kleiner geworden, aber sie war nicht verschwunden. Kapitel 21: Zwischenspiel 3 --------------------------- Tylor hatte einen markerschütternden, ihm für einen Moment die Kehle zuschnürenden Schrei aus dem Gebäude gehört. Angsterfüllt hetzte er die restliche Strecke den Buckel hinauf, sich fragend, ob dies die richtige Entscheidung war. Wenige Augenblicke später war er an der Seite des Hauses angekommen, wo er eine eingeschlagene Fensterscheibe vorfand. Ohne lange zu zögern, stieg er durch das zerbrochene Fenster ins Innere, auf das Schlimmste gefasst. Seiner Meinung nach musste ein Einbrecher sowohl die Ursache des kaputten Fensters als auch des Schreis gewesen sein. Tylor hatte in der Highschool Football gespielt. Der Glaube, dadurch in Sachen Kraft dem vermutlichen Einbrecher gegenüber überlegen zu sein und dass er den Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben meinte, gaben ihm einen törichten Mut. Tylor hinterließ eine riesige Pfütze und musste aufpassen, dass er nicht ausrutschte und seine durchnässten Turnschuhe keine unnötigen Geräusche erzeugten. Zu allem Überfluss stieß er im nächsten Moment gegen einen der Einrichtungsgegenstände, der krachend zu Boden ging. Kurz hielt Tylor inne und kramte dann aus seiner Hosentasche die kleine Taschenlampe hervor, die er immer bei sich trug. Damit fiel schon mal der Überraschungsmoment weg, aber falls er gegen noch weitere Objekte stieß, würde er wohl auch in Kürze entdeckt werden. Er knipste die Taschenlampe an. Wie durch ein Wunder funktionierte sie trotz der Nässe noch. Dann ging er vorsichtig weiter. Das Problem war bloß: Wohin sollte er gehen? Alles war totenstill. Der Regen musste aufgehört oder zumindest schwächer geworden sein. Außer seinen eigenen Schritten und dem Heulen des Windes konnte er kein weiteres Geräusch ausmachen. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Das Fenster war möglicherweise wegen etwas anderem zerbrochen und der griesgrämige alte Mann hatte einfach ein Rad ab und schrie deshalb regelmäßig. Musste ja schließlich einen Grund geben, warum er allein lebte. Und wenn Schmidt ihn entdeckte, würde er ihn wahrscheinlich auch noch wegen Einbruch anzeigen. Tylor war nahe daran umzudrehen. Aber waren das nicht zu viele Zufälle? Unsicher setzte er seinen Weg fort. Unbewusst wählte Tylor den richtigen Weg, aber vielleicht wurde er auch von etwas dorthin geführt. Langsam öffnete er die Tür zum Arbeitszimmer. Alles war dunkel. Er suchte nach einem Lichtschalter und fand ihn. Der Raum erhellte sich. Vor Schreck zuckte er zusammen. Leichenblass, mit aufgerissenen Augen kauerte Schmidt in einer Ecke. Er zitterte verstört, als habe ihm etwas den Verstand geraubt. Das flackernde Licht der Beleuchtung machte den Anblick noch unheimlicher. Tylor war zu schockiert, um sofort zu reagieren. Plötzlich bewegte sich ein Schatten gleich einem lebendigen Wesen auf ihn zu. Ungläubig starrte Tylor auf den schwarzen Fleck, der im gleichen Moment zu einer dreidimensionalen Gestalt heranwuchs, die einem menschlichen Körper glich. Die Konturen des Wesens wurden deutlicher und Entsetzen packte ihn. Die Bestie glich einer vermoderten Leiche und besaß auch deren Gestank. Der gesamte Körper schien an den Konturen in grauen Dunst überzugehen, der gleich einer verdampfenden Masse mit der Umgebung verschmolz. Die Arme waren von Muskeln besetzt und von der gleichen Länge wie die Beine, somit war es wahrscheinlich, dass das Monstrum sowohl aufrecht als auch auf allen Vieren gehen konnte. Eine Nase fehlte vollkommen, dafür waren die menschenähnlichen Hände mit Krallen besetzt. Doch das Schlimmste war der Blick der Kreatur. In den gelblich grauen Augen, die keine Iris besaßen, stattdessen aber von unzähligen lilagrauen Äderchen durchzogen waren und deren Pupillen denen einer Schlange glichen, war nichts als absoluter Hass, Zorn und unstillbare Mordlust zu lesen. Tylor wurde von diesem Blick gelähmt. Er blickte dem sicheren Tod entgegen. Doch es lief nicht sein ganzes Leben an ihm vorbei, nein, er sah nur die Bestie und jegliche Regung war aus seinem Körper verschwunden. Diesmal folgte kein Schrei. Es blieb still. Totenstill. Kapitel 22: Schule und andere Katastrophen ------------------------------------------ Schule und andere Katastrophen „Leben ist das, was dir passiert, während du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen.“ (John Lennon, engl. Musiker, The Beatles) Schweißgebadet fuhr Justin aus seinem Albtraum auf. Panisch blickte er sich um. Sein Zimmer, sein Bett. Er war in Sicherheit. Erst jetzt begriff er, dass sein Wecker klingelte. Bemüht, die Bilder seines Traums abzuschütteln, schaltete er den Wecker aus. Die Augen wieder zu schließen, traute er sich nicht,. Die Furcht, dass der Traum sich dann erneut fortsetzen könnte, war zu groß. Er hievte sich zum Rand seines Bettes, stellte die Füße auf den Boden und starrte zu Boden. Was hatte diese Vision zu bedeuten? Die logischste Erklärung war, dass die Furcht vor einem erneuten Angriff sein Unterbewusstsein zu diesem Szenario inspiriert hatte. Aber wie häufig kam es vor, dass die Handlung eines Traums über mehrere Nächte hinweg fortgeführt wurde? Und genau das war geschehen! Seit der Nacht, in der sie aus dem Schatthenreich entkommen waren. Heute also zum dritten Mal. Sollte er die anderen informieren? Andererseits würde er ihnen damit vielleicht nur unnötig noch mehr Sorgen bereiten. Das wollte er nicht. Unwillkürlich wanderte sein Blick zum Fenster. Im Zimmer von Vivien und ihren Geschwistern rührte sich noch nichts. Als Justin bemerkte, was er gerade tat, wandte er sich schnell ab. Warum musste er auch ausgerechnet in ihr Zimmer schauen können?! Er seufzte und stand auf. Ein nerviges, piepsendes Geräusch riss Vivien aus dem Schlummer. Etwas unbeholfen tastete ihre Hand herum, bis sie etwas Viereckiges unter ihren Fingern spürte. Sie drückte einen kleinen Knopf und drehte sich dann noch einmal um. Die flauschige Weiche des Bettes war einfach zu verlockend. Einige Zeit später schreckte Vivien auf und starrte auf ihren Wecker. 7 Uhr! Sie musste noch mal eingenickt sein! Eilig sprang sie aus dem Bett und stürmte an ihrer noch schlafenden Schwester vorbei aus dem Zimmer. In Windeseile machte sie sich fertig und zog sich an. Dann hetzte sie in die Küche, wo ihr Bruder bereits am Frühstücken war. Vivien gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und stibitzte sich eine der Toastscheiben von ihrem Teller. Mit großen Bissen verschlang sie den Toast, schnappte sich das Pausenbrot, das ihre Mutter für sie vorbereitet hatte, verstaute es in ihrem Rucksack und rannte ein Tschüss rufend aus dem Haus. Sie stürzte auf das Nachbarhaus zu, klingelte und wartete schnaufend einen Moment. Hoffentlich war sie nicht zu spät! Nach einigen Augenblicken öffnete Justin die Tür. „Morgen!“, rief sie quietschfidel und fixierte ihn dann mit freudigem Lächeln und großen erwartungsvollen Augen. „Willst du mit mir gehen?“ Justin wäre fast die Kinnlade runtergeklappt. Vivien musste sich ein Kichern verkneifen, ein breites Grinsen nahm ihre Züge ein. Röte stieg in Justins Gesicht. Er sah so hilflos und von der Situation überfordert aus, dass Vivien schließlich einlenkte. „Oh, ich dachte, du würdest auch noch zur Schule gehen und wir könnten gemeinsam laufen.“ Sie machte eine gespielte Verlegenheitsgestik. „Ich hab gar nicht überlegt, dass du auch eine Ausbildung angefangen haben könntest.“ Sie lachte kurz auf und streckte dann achselzuckend und mit einem Zwinkern kurz die Zunge heraus. Justin löste sich aus seiner Erstarrung. Es war ihm sichtlich peinlich, dass er ihre Frage, ob er mit ihr gehen wolle, anders verstanden hatte. Der Arme konnte ja nicht wissen, dass sie ihre Wortwahl mit voller Absicht getroffen hatte. „Äh nein. Doch. Also ja.“, stotterte er. „Ich gehe auch noch zur Schule.“ Als wäre das die absolut wundervollste Nachricht überhaupt, strahlte Vivien übers ganze Gesicht und packte ihn am Arm, wie um ihn mit sich zu ziehen. „Wa-warte!“, rief er. „Mein Rucksack.“ Vivien kicherte und ließ ihn los. Justin eilte nochmals hinein und kam sogleich mit seinem Rucksack und einem Umschlag in der Hand zurück. Bei dem Anblick des Umschlags schnellte Viviens Laune noch weiter in die Höhe. „Du gehst auch auf die Handelslehranstalt?!“, jauchzte sie. Verlegen nickte Justin. Ihm fiel jetzt erst auf, dass sie am Wochenende gar nicht darüber gesprochen hatten, welche Schulen sie besuchten. Serena hatte so verängstigt geschaut, als Ariane das Thema Schule angeschnitten hatte, dass Vivien schnell das Thema gewechselt hatte. „Welche Schulart? Welche Klasse?“, fragte Vivien überschwänglich. „Wirtschaftsgymnasium. E6.“ „Dann sitzen wir zusammen!“ Ehe Justin noch ein Wort sagen konnte, zog sie ihn mit sich. „Entschuldigen Sie.“, Ariane versuchte die Aufmerksamkeit der Schulsekretärin auf sich zu ziehen. Die Dame sah auf. „Guten Morgen. Ich bin neu hier und hätte gerne gewusst, in welches Klassenzimmer ich gehen muss.“, brachte Ariane ihr Anliegen vor. „Welche Schulart?“, fragte die Sekretärin. „Wirtschaftsgymnasium.“ „Soweit ich weiß, müssten Sie einen Brief erhalten haben, in dem Klasse und Raum stehen.“, entgegnete die Dame. „Es ist so: Ich bin erst frisch hierher gezogen und durch die neue Anschrift hat das mit dem Brief nicht so recht geklappt.“, erklärte Ariane. „Die Liste für kurzfristige Wechsler hängt am Schwarzen Brett aus. Das ist direkt an der Treppe vorne in diesem Stockwerk.“, beschrieb die Sekretärin. Ariane bedankte sich und verließ das Sekretariat. Ihr Vater hatte ihr empfohlen, vom allgemeinbildenden auf ein berufliches Gymnasium zu wechseln, da die Unterschiede in den Lehrplänen von Niedersachsen und Baden-Württemberg dadurch weniger ins Gewicht fallen würden. Nachdem sich ihre Befürchtung, auf einem beruflichen Gymnasium könne man nur die Fachhochschulreife machen, als falsch herausgestellt hatte, war dem nichts mehr im Weg gestanden. Ihre Mutter hatte außerdem angemerkt, dass sie auf diese Weise nicht in eine bereits eingeschweißte Klassengemeinschaft kommen würde. Ariane hatte es unterlassen, sie darüber aufzuklären, dass die Oberstufe am allgemeinbildenden Gymnasium ohnehin nicht mehr aus Klassen aufgebaut war. Vor dem Schwarzen Brett angekommen, musste Ariane zunächst den Zettel für das Wirtschaftsgymnasium ausfindig machen. In dem Schulgebäude der Handelslehranstalt waren nämlich auch ein Berufskolleg, mehrere Berufsschulklassen und eine Wirtschaftsschule untergebracht. In die Suche vertieft, bemerkte sie nicht, wie jemand neben sie trat. Gerade glaubte sie, den richtigen Zettel gefunden zu haben, als derjenige sie höflich ansprach: „Dürfte ich kurz?“ Ariane fuhr beim Klang der Stimme zusammen. Einen Moment lang war sie unfähig, sich umzudrehen. Auch wenn es albern war, wollte sie sich zumindest kurz der Hoffnung hingeben, bevor sie sich der Wahrheit stellte. Schließlich wandte sie sich um. Und erstarrte. Die grünblauen Augen… das ihr vertraute Gesicht. Secret sah sie an, als warte er darauf, dass sie endlich eine Reaktion zeigte. Ehe sie auch nur darüber nachdenken konnte, hatten ihre Beine den Abstand zwischen ihnen überwunden und sie umarmte ihn, wie sie es schon bei Vitali getan hatte, nachdem sie auf der Baustelle wieder zusammengetroffen waren. Es war ihr egal, ob Secret sie deshalb für schwach halten oder sich im nächsten Augenblick darüber beschweren würde. Wie oft hatte die Frage, ob er überhaupt noch lebte, ihr Inneres beherrscht? Und jetzt stand er direkt vor ihr! Ihre Finger gruben sich für einen Augenblick in sein T-Shirt. Dann schnappte sie nach Atem und fand schließlich die Kraft sich wieder von ihm zu lösen. Secrets Blick war hart. Das hätte sie sich wohl denken können. Sie ignorierte es. Hauptsache, er lebte. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie regelrecht angewidert. „Nur weil du ein hübsches Gesicht hast, kannst du dir nicht alles erlauben.“ Sie war zu perplex, um seine Worte einzuordnen. „Das war die dreisteste Anmache, die ich je erlebt habe. Das heißt nicht, dass sie gut war.“, spie er aus. Sie versuchte zu begreifen, was er da von sich gab. Ihr Gesicht verzog sich in völligem Unglauben. Sie wollte etwas erwidern, stockte, starrte ihn sprachlos an. Kein Zweifel, das war Secret! „Du erinnerst dich nicht?“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und Hohn trat in seine Stimme. „Jetzt willst du auch noch behaupten, dass wir uns kennen?“ Sein überhebliches Verhalten brüskierte sie. Stolz hob sie ihr Haupt. Sie würde sich nicht von ihm beschämen lassen! Daraufhin schnaubte er verächtlich und sah sie herausfordernd an. „Meinen Namen kennst du dann ja wohl auch.“ Er lächelte herablassend. Sie wollte ihm gerade antworten, als sie erkannte, dass keiner von ihnen Secrets richtigen Name erfahren hatte. Von ihrem Schweigen in seiner Unterstellung bestätigt, verschränkte er die Arme vor der Brust und blickte demütigend auf sie herab. Seine offensichtliche Verachtung war ihr unerträglich. „Für wen hältst du dich eigentlich?“, stieß sie aus. „Es geht hier doch darum, für wen du mich hältst.“ Ariane biss sich auf die Unterlippe. Es musste doch etwas geben, das auf die Erlebnisse im Schatthenreich hindeutete! Ihr Blick schnellte zu seinem linken Oberarm. In einem verzweifelten Versuch, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, riss sie den Ärmel seines T-Shirts nach oben. „Hast du sie noch alle?!“ Es war der gleiche tobsüchtige Schrei wie damals vor dem Labyrinth, die gleiche Reaktion, der gleiche Satz, den er damals schon gesagt hatte. Aber diesmal war es anders. Nichts! Nicht das kleinste Anzeichen eines Kratzers. Aber das konnte nicht sein! Unwillkürlich schüttelte Ariane den Kopf. Als sie in Secrets Gesicht sah – und sie war sich sicher, dass es Secret war! – erkannte sie eine Mischung aus Unglaube und Abscheu. Ariane war verzweifelt. Was sollte sie jetzt tun? Die Frage erübrigte sich. Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, ließ er sie mit einem Gedankensturm in ihrem Kopf zurück. Serena tapste unschlüssig in einen der Gänge und blickte rechts und links auf die Schilder, die neben den Türen der Klassenzimmer befestigt waren. Die Zimmer waren immer von rechts nach links springend durchgezählt worden. Nervös schnappte Serena nach Luft. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr war übel. So lange hatte sie sich vor diesem Tag gefürchtet. Selbst der Gedanke, dass sie das hier nach allem, was ihr widerfahren war, doch als viel weniger erschreckend ansehen sollte, tröstete sie kein Stück. Vor dem letzten Zimmer links blieb sie stehen. Das Schild zeigte ihr an, dass sie hier richtig war. Eingangsklasse Nummer 6. Serena biss die Zähne zusammen. Sie kam sich wieder so klein und einsam vor. Für einen Moment wünschte sie sich, die anderen wären bei ihr. Aber das war lächerlich. Niemand würde sie beschützen. Sie trat ein. Als erstes erkannte sie, dass zu ihrer Linken die erste Bank direkt an der Tür noch unbesetzt war und stellte, ohne sich noch einmal umzublicken, ihren Rucksack auf die Schulbank. Sie atmete aus. Einen Rundblick wagte sie nicht. „Na, wen haben wir denn da?“ Eine gehässige, harte Mädchenstimme ließ Serena aufschrecken. Fassungslos starrte sie auf die Bank hinter der, an der sie gerade hatte Platz nehmen wollen, und sah sich zwei ihr allzu bekannten Gesichtern gegenüber. Serenas Augen streiften nur beiläufig die graublonde Jugendliche mit der grobklotzigen Ausstrahlung, von der sie angesprochen worden war. Zu schnell verirrte sich ihr Blick zu der rotblonden Person daneben. Und zu spät kam ihr die Erkenntnis, dass sie sich geschworen hatte, diese nie wieder so hilflos anzusehen, wie sie es gerade tat. Amanda. Ihr Inneres, von ihrem Magen über ihren Brustkorb bis zu ihrem Hals, drohte, zerquetscht zu werden. Zwanghaft riss sie sich von dem Anblick Amandas los und wandte sich der anderen zu. Wie Serena es von ihr gewöhnt war, grinste Amandas Schwester Susanne sie herablassend an, dann kam sie auf sie zu. Serena beobachtete schweigend, wie die Blondine etwas versetzt vor ihr stehenblieb und sie auf ihre möchtegern-coole Art von oben bis unten musterte. „Hässlich…“, zischte sie. „Du solltest aufhören, Selbstgespräche zu führen.“, entgegnete Serena fest. Unterdrückter Ärger zeichnete sich auf dem Gesicht ihres Gegenübers ab. „Hast du dich eigentlich schon mal im Spiegel angeschaut?!“ Der altbekannte Spruch. Serena kannte ihn zu genüge. Und was sie ebenfalls kannte, waren die Schwachstellen ihres Gegenübers. „Dass du mit deinem Hintern durch die Tür gepasst hast, wundert mich.“ „Kleines Biest!“ Wutentbrannt blitzten die wässriggrauen Augen ihrer Kontrahentin auf. Doch nicht diese Blondine war es, die Serenas Inneres so sehr aufwühlte. Ohne es zu wollen, wandte Serena sich erneut zu Amanda, die sitzen geblieben war. Noch immer würdigte die bronzeblonde Jugendliche Serena keines Blickes, stattdessen gab sie mit ihrer gezierten Stimme ein kurzes, hohes Seufzen von sich, um klarzustellen, als wie lästig sie die Situation empfand. Ihre augenscheinliche Gleichgültigkeit traf Serena brutaler als jede Ohrfeige. Dann erklang die Serena wohlvertraute Stimme, süß wie Honig. „Susanne.“, sprach Amanda ihre Schwester an. „Niemand ...“ Dieses Mal streiften ihre hellgrünen Augen mit den goldenen Sprenkeln Serena für einen winzigen Moment, so voller grausam desinteressierter Geringschätzung, dass Serena die Luft wegblieb. „…interessiert sich für sie.“ Verstört stand Serena da, bekam keinen Ton mehr heraus. Das war auch gar nicht nötig. Eine feste männliche Stimme ertönte rechts hinter ihr, ohne dass sie ihr Beachtung geschenkt hätte. „Achja?“ Serena sah, wie Amanda sich dem Sprecher zuwandte und ihr Gesichtsausdruck entgleiste. Schockiert widmete sich daraufhin auch Serena dem Neuankömmling, denn soweit sie sich erinnern konnte, gab es nichts, das Amanda jemals aus ihrem ‚Mich lässt alles kalt‘-Modus hätte reißen können. Sie stockte. Seine Statur war athletisch, seine Selbstüberzeugung sprang einem regelrecht ins Gesicht. Ohne auch nur zu zögern, legte er seinen linken Arm einfach um ihre Schultern und spießte Amanda und ihre Schwester dabei mit einem erbarmungslosen Blick auf. „Ich würde euch raten, dass ihr sie in Ruhe lasst.“ Die blaugrünen Augen in seinem makellosen Gesicht waren stechend. „Sie gehört zu mir.“ Vitali lief die Treppe im Eingangsbereich der Schule hinauf und schaute auf die Bezeichnung der Gänge um ihn herum. Er suchte B2. „Vitali!“, rief eine ihm bekannte Stimme. Vitali sah sich fragend um, dann entdeckte er Ariane, die von der nach oben führenden Treppe eilig heruntergerannt kam. „Hey!“, gab Vitali freudig zurück. Ariane erreichte ihn. „Sag bloß du bist auch hier auf der Schule!“, freute er sich. Ariane nickte hastig. „Vitali, du wirst nicht glauben –“ „Welche Schulart?“, unterbrach Vitali sie. „Wirtschaftsgymnasium, aber –“ „Hey, da bin ich auch! Klasse E6. Und du?“ „Auch E6.“ Ehe sie weitersprechen konnte, hatte Vitali wieder das Wort ergriffen. „Krass! Aber jetzt müssen wir erst noch den Raum finden. Wo ist nur B2?“ Ariane warf einen hastigen Blick auf den Gang hinter ihr, der durch eine Glastür abgetrennt war, und streckte ihren Arm in die entsprechende Richtung. „Dort. Aber –“ „Lass uns reingehen, bevor wir noch in der ersten Reihe sitzen müssen.“, meinte Vitali und lief los. „Jetzt hör mir doch mal zu!“, schrie Ariane ihm empört hinterher. „Komm halt!“, entgegnete Vitali locker. Ärgerlich rannte Ariane ihm hinterher und fragte sich, ob sie jemals dazu kommen würde, ihm von ihrer Begegnung mit Secret zu erzählen. Vitali suchte die Schilder neben den Türen nach ihrer Zimmernummer ab. Als Ariane neben ihn trat, wagte sie einen erneuten Versuch: „Vitali, ich hab Secret –“ „Ja gleich.“, würgte Vitali schon wieder ab. Ariane gab es auf. Die Türen der Klassenzimmer standen alle noch offen. Im hintersten Zimmer der linken Seite stand eine Person mitten im Durchgang, was Vitalis Aufmerksamkeit erregte. „Ist das Serena?“, fragte Ariane, die Vitalis Blick gefolgt war. Serena hatte sich jemandem neben sich zugewandt, jemandem, der seinen Arm um sie gelegt hatte. „Wer ist der Typ?“, brummte Vitali. Erbost wandte sich die Rotblonde ab, packte ihre Sachen und suchte sich einen anderen Sitzplatz, während die Graublonde das Klassenzimmer verließ. Er nahm den Arm wieder von den Schultern der verschüchterten Brünetten und senkte die Stimme, sodass nur sie seine Worte hören konnte. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ Er nahm wieder den nötigen Höflichkeitsabstand zu ihr ein. Sie starrte ihn fassungslos an, ja schien geradezu den Tränen nahe zu sein. „Schon gut, die tun dir nichts mehr.“, versuchte er sie zu beruhigen. Doch sie sah ihn so eindringlich an, als wolle sie sich ihm jetzt auch in die Arme werfen. Für einen Moment fragte er sich, ob es nicht doch eine blöde Idee gewesen war, vom Jungeninternat hierher zu wechseln. Ein übertrieben lauter Ruf zog seine Aufmerksamkeit auf sich. „Hey Serena!“ Ein hochgewachsener hellbrünetter Junge kam regelrecht auf sie zu gestürmt, als habe er sie bei irgendetwas unterbrechen wollen. Hinter ihm ganz… ganz langsam folgte die durchgeknallte Blondine von zuvor. Warum bloß?! Warum konnte sie nicht im Erdboden versinken?! Ariane hatte ihn schon zuvor erkannt, was Vitali erst jetzt tat. Vitali war baff. „Das gibt’s ja gar nicht! Alter!“ Der Schwarzhaarige war sichtlich verwirrt von dieser Reaktion. Vitali gab ihm einen kumpelhaften Klopfer auf den Rücken. „Hey Muskelmann, ich dachte schon wir wären dich endgültig los!“ Ziemlich ratlos sah der Schönling ihn an. „Wie bist du denn da wieder rausgekommen? Bei all den Schat-“ Ariane brachte Vitali mit einem Klaps auf seinen Rücken zum Verstummen. „Was geht!“, beschwerte sich Vitali. „Mann Serena, ist deine Brutalität etwa ansteckend?“ Serenas Lippen schürzten sich verstimmt. Der Blick des Schwarzhaarigen blieb an Ariane haften, es war ein kalter Blick. Sie kannte diesen distanzierten Ausdruck in seinen Augen, überlegen und unnahbar. So hatte Secret geschaut, wenn er über die Fallen gesprochen hatte und die Schwierigkeiten, die vor ihnen lagen. Aber dass er sie so ansah! So wie er ein Problem ansah! Ariane wandte sich Serena und Vitali zu: „Wir sollten uns Plätze suchen.“ Ehe sie dazu kamen, folgte bereits die nächste Überraschung. Die Schulglocke läutete und zwei Personen kamen ins Klassenzimmer gehetzt. Fast hätten sie sie über den Haufen gerannt. „Tadaaa!“ Vivien stand triumphierend vor ihnen. „Ist das nun Schicksal oder was!“ Dann fiel auch ihr das ihnen vertraute Gesicht auf und ihre Fröhlichkeit kannte keine Grenzen mehr. „Secret!!!“, schrie sie übermütig. Auch Justin war anzusehen, dass ihn der Anblick ihres verlorenen Mitglieds tief berührte. Ariane ging dazwischen, ehe sich Vivien in die Arme des Jungen werfen konnte. Sie ergriff Viviens Arm, um sie von vorschnellen Aktionen abzuhalten und forderte nun noch einmal mit mehr Nachdruck: „Wir sollten uns setzen!“ Wie sollte sie den anderen klar machen, dass das nicht Secret war? Naja, eigentlich war sie sich sicher, dass er es war. Aber er war es eben doch nicht. Zumindest nicht derselbe. Ach, das war einfach viel zu kompliziert! „Dann setz dich doch.“, sagte dieser Angeber kalt. Fiel denn keinem der anderen seine Distanziertheit auf? Na gut, Secret war eigentlich schon immer eher gefühlskalt als herzlich gewesen. Justin stimmte zu. „Wir können ja in der Pause reden.“ Er warf dem Schwarzhaarigen ein warmes Lächeln zu. Die Erleichterung darüber, Secret wohlbehalten wiederzusehen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nachdem die zweite Reihe geräumt worden war, war diese noch unbesetzt, genau wie die erste Reihe an der Wandseite und in der Mitte. Die vordersten Reihen waren definitiv nicht die Beliebtesten. „Okay!“, rief Vivien. „Serena und Ariane setzen sich hierhin, Justin und ich dahinter, und Vitali und Secret da drüben hin. Ist doch perfekt!“ „Willst du wirklich, dass ich neben dir sitze?“, fragte Justin zaghaft. Jetzt, wo er nicht mehr der einzige Klassenkamerad war, den Vivien kannte, war er sich unsicher über ihr Angebot. Vivien schaute ihn mit einem Schmollmund an: „Du hast es mir versprochen!“ Justin spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Damit Vivien das nicht bemerkte, setzte er sich schnurstracks auf den ihm zugedachten Platz. Auf Viviens Zügen erschien ein zärtliches Lächeln. Für wie ahnungslos er sie doch hielt! Zu süß. „Die erste Reihe?“, maulte Vitali. Derweil wollte sich der Schwarzhaarige, der sich nicht mit Secret angesprochen gefühlt hatte, auf den Weg zu den hinteren Bänken begeben. Vitali hielt ihn auf. „Hey Muskelprotz, du glaubst doch wohl nicht, dass du dich so einfach nach hinten verziehen kannst. Du wirst mit mir zusammen hier in der ersten Reihe leiden, klar?!“ Ariane platzte heraus: „Ich glaube kaum, dass er sich zu dir setzen will!“ Die anderen sahen sie verwirrt an. Wenn der Schwarzhaarige zuvor noch reichlich unentschlossen gewirkt hatte, jetzt hatte er sich für seinen Sitzplatz entschieden. „Ich finde es hier eigentlich ganz nett.“, sagte er in geradezu gönnerhaftem Tonfall und setzte sich auf den der Fensterseite näheren Platz in der ersten Reihe der Mitte. Auch die übrigen setzten sich. Ariane war einem Nervenzusammenbruch nahe. Was sollte sie bloß tun! Der Typ würde sie doch alle für verrückt erklären lassen! Aber wie konnte sie die anderen denn warnen, wenn er die ganze Zeit in Hörweite war? „Wie hast du es geschafft, da wieder rauszukommen?“, wollte Vitali nun endlich erfahren. „Aus ihren Fängen?“, spottete der Schwarzhaarige zweiflerisch. „Ja.“, sagte Vitali, als begreife er beim besten Willen nicht, was daran lustig sein sollte. Die Augenbrauen seines Gegenübers senkten sich. „Wieso gibst du dich mit ihr ab, wenn du sie so schlimm findest?“ Vitali verzog den Mund. „Es geht nicht um Serena!“, schimpfte er aufgebracht. Der Schwarzhaarige zog kurz die Augenbrauen irritiert zusammen. „Ich meine, deine Freundin, die Blondine.“ „Ariane.“, verbesserte Vitali. „Von ‚Blondine‘ ist sie nicht so begeistert.“ „Wir sind nicht dazu gekommen, uns vorzustellen.“ „Wieso vorstellen?“ Vitali schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie geht’s überhaupt deiner Wunde?“ „Welche Wunde?“ „Wie witzig.“, höhnte Vitali und verstellte seine Stimme: „Der starke Held, der seine Schmerzen versteckt.“ Er schnaubte. „Na, der Wunde an deinem linken Oberarm natürlich!“ Ariane, die nur durch den Mittelgang von Vitali getrennt wurde, hielt das nicht länger aus und sprang wie vom Donner gerührt auf. „Vitali, dürfte ich mal kurz mit dir reden? Und mit euch auch.“ Vitali war Arianes Verhalten schleierhaft. „Warum denn?“, wollte er wissen. Arianes Blick machte durchaus deutlich, dass er diese Frage besser unterlassen hätte. Vitali war verwirrt. Hatte Ariane heute ihre Tage, oder was?! Der Schwarzhaarige mischte sich ein. Seine Augen fixierten Ariane. „Du solltest akzeptieren, dass es Dinge gibt, die du auch mit deinem Aussehen nicht bekommen kannst, anstatt gleich deine ganze Clique gegen mich aufhetzen zu wollen.“ Ratloses Schweigen bei den vier übrigen. Sie verstanden nur Bahnhof. Und Ariane stand wortlos da, brachte keinen Ton mehr heraus. Sie wusste nicht, welcher Wunsch in ihr größer war, diesem Großmaul Kontra zu geben oder zu heulen, weil er ja alles falsch verstehen musste, wenn er sich nicht mehr erinnerte! Sie versuchte Mut zu schöpfen. Vielleicht klappte es ja auf diese Weise. Akribisch kratzte sie sämtliche ihr innewohnende Würde zusammen, um sich nicht sofort im nächsten Mauseloch zu verkriechen. Dann richtete sie das Wort an den Angeber. „Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen.“ Vitali musste natürlich sofort reinquatschen: „Hä? Wieso wollt ihr euch denn ständig vorstellen?!“ Der Secret-Verschnitt stützte sich mit seinem Ellenbogen auf den Tisch und ließ sein Kinn auf seiner Faust ruhen. „Ja, wieso vorstellen? Ich dachte, du kennst mich.“ Ariane sog Luft in ihre Lungen. Sie richtete ihre Wirbelsäule auf und versuchte, eine so königliche Haltung einzunehmen wie nur möglich. Ihr Blick wurde kalt. „Da du dich nicht mehr erinnerst, dachte ich, wir sollten uns neu vorstellen.“, sagte sie distanziert. „Außerdem hattest du wohl Recht, ich muss dich verwechselt haben. Die Person, die ich meinte, war ganz anders als du.“ Diesen Wink mussten die anderen verstanden haben! „Man sollte eben nicht allein auf das Äußere gehen.“, entgegnete er mit diesem arroganten Lächeln. Nicht minder überzeugt hielt Ariane dagegen. „Das wäre das Letzte, was ich täte.“ Mit diesen Worten setzte sie sich wieder. Vitali starrte den Jungen neben sich verstört an. „Nee! Jetzt sag bloß nicht, du hast schon wieder nen Gedächtnisausfall. Kommt so was bei dir öfter vor oder bist du ne gespaltene Persönlichkeit, oder was?“ Im nächsten Moment war Vivien vor die Bank der beiden getreten. „Hi! Ich bin Vivien. Der neben dir ist Vitali. Das da hinten Justin, da drüben Serena. Und Ariane kennst du wohl schon.“ Zunächst etwas überrumpelt, antwortete der Schwarzhaarige: „Erik Donner.“ „Also Erik.“ Vivien strahlte. „Ich glaube, wir werden die besten Freunde.“ Kapitel 23: In einer Klasse --------------------------- In einer Klasse „Willst du jemanden kennen, frage: Wer sind deine Freunde?“ (Aus der Türkei) Ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters trat ein und schloss geräuschvoll die Tür. Vivien huschte zurück an ihren Platz. Der Mann trat zum Lehrerpult und ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. „Guten Morgen!“ Er wartete bis die Klasse zurück gegrüßt hatte und setzte dann fort. „Ich bin Herr Mayer, euer neuer Klassenlehrer. Ich unterrichte das Profilfach Wirtschaft. Da ich kein Freund von Smalltalk bin, kommen wir doch gleich zu den wichtigen Dingen: Eurem Stundenplan.“ Er ließ einen Zettel rumgehen, auf dem der Wochenplan ihrer Fächer mit dazugehörigen Zimmernummern und Lehrernamen stand. Herr Mayer erklärte, dass die ersten vier Stunden jeweils als Doppelstunden gerechnet wurden, also ohne Pause dazwischen. Dafür würde es nach jeder Doppelstunde eine Fünfzehn-Minuten-Pause geben. Sollten sie in einer dieser Doppelstunden zwei verschiedene Fächer haben, so erfolge ein ‚fliegender Wechsel‘, wie er es nannte. Anschließend hielt er ihnen einen Vortrag über die Schwierigkeiten im Wirtschaftsgymnasium. Vor allem Mathe schien ein großes Problemfach darzustellen. „Ich erwarte von euch Disziplin und Lernbereitschaft. Unter dieser Voraussetzung, steht eurem Erfolg hier nichts im Wege. Solltet ihr dennoch auf Probleme stoßen, kontaktiert mich frühzeitig, damit wir gemeinsam eine Lösung finden können.“, sprach er weiter. Dann überflog er die Namensliste und blieb an einem Namen hängen. „Erik Donner?“ Erik atmete geräuschvoll aus und gab etwas widerwillig ein „Ja“ von sich. Herr Mayer prüfte kurz seine Erscheinung. „Der Sohn von Rechtsanwalt Donner?“ „Ich wüsste nicht, was das hier zur Sache tut.“, gab Erik trotzig von sich, was Herrn Mayer zu missfallen schien. Ariane wunderte sich über Eriks Reaktion. Hatte er nicht eben, als er sich ihnen vorgestellt hatte, extra seinen Nachnamen genannt? Und auf einmal wollte er ein Geheimnis aus seiner Herkunft machen? Sie fand das ziemlich widersprüchlich. Zwar wirkte Herr Mayer von Eriks Antwort alles andere als begeistert, hakte aber nicht nochmals nach. Er widmete sich wieder der Namensliste und las sie nun von vorne vor, um die Anwesenheit zu kontrollieren. Anschließend schickte er einige Jungen los, um die Schulbücher für die Klasse zu holen, darunter auch Erik, Vitali und Justin. Er überreichte Erik eine Liste mit den benötigten Büchern und erklärte, dass sie diese der Dame bei der Bücherausgabe zeigen sollten. Während die Jungs sich auf den Weg machten, betrieb Herr Mayer nun doch noch etwas Smalltalk mit der verbliebenen Klasse. „Wie kann es sein, dass er sich nicht mehr erinnert?“, flüsterte Serena Ariane zu. Ariane zuckte ratlos mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Vivien lehnte sich so weit vor, dass sie halb auf ihrer Bank lag. „Du hast ihn vorher schon getroffen?“ „Warum hast du uns nichts gesagt?“, fügte Serena an. „Das war erst vorhin im Flur.“ Arianes Gesicht verzog sich leidend. „Ich habe mich vollkommen zum Idioten gemacht. Vor Freude habe ich ihn umarmt. Und jetzt denkt er sonst was von mir.“ Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen. „Ihr drei! Hier spielt die Musik!“, ertönte die Stimme von Herrn Mayer. „Falls ihr unterfordert seid, habe ich gute Nachrichten: Ab der zweiten Stunde habt ihr ganz regulär Unterricht.“ Die allgemeine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Auf dem Weg zur Bücherausgabe wandte sich Vitali an ihn: „Hey Erik. Was hast du eigentlich Freitagnacht gemacht?“ Erik warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Kann es sein, dass du dich nicht dran erinnerst?“ Vitali grinste vielsagend und Eriks Argwohn wuchs. Jäh mischte sich Justin ein. „Äh Erik, von welcher Schule kommst du eigentlich?“ Kurz wog Erik ab, ob er die Frage beantworten sollte oder nicht. Er richtete seinen Blick wieder nach vorn. „Von einem Internat.“ Vitali machte große Augen. „So’n Bonzenschuppen?“ Erik sah es nicht als nötig an, darauf zu antworten. „Haben die dich rausgeschmissen?“, lachte Vitali. Er ließ Vitali einen eindeutigen Blick zukommen: Niemand warf einen Donner raus. Geräuschvoll stieß er die Luft aus und konzentrierte sich wieder auf den Weg. Doch zu seinem Leidwesen drängte sich die Erinnerung an den Streit mit seinem Vater zurück in seine Gedanken. „Ich wechsle aufs Wirtschaftsgymnasium.“ Er hatte im Arbeitszimmer seines Vaters vor dem großen Mahagonischreibtisch gestanden, der ihm als Kind wie eine Festung vorgekommen war. Eine Festung, die Fremden keinen Einlass gewährte. Und er war ein Fremder. Der Mann mit den schwarz-grauen Haaren, sein Vater, hatte nicht aufgeblickt. Auch sonst hatte er keinerlei Reaktion gezeigt. Als habe er Erik gar nicht wahrgenommen. Daraufhin hatte sich Erik gezwungen gefühlt, seinen Worten Nachdruck zu verleihen: „Ich werde nicht wieder ins Internat gehen.“ Noch immer hatte der berühmte Rechtsanwalt – Sproß einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien Entschaithals – ihn nicht angesehen. „Das hast du nicht zu entscheiden.“ Die Aussage war nüchtern gewesen, als rede er mit einem Dreijährigen, der sich darüber beschwerte, Brokkoli essen zu müssen. „Ich habe mich schon umgemeldet.“, hatte Erik so gefühllos wie möglich geantwortet. Nun erst hatte sein Vater den Blick gehoben. Seine stahlgrauen Augen hatten ihn wie Seziernadeln durchbohrt. Nicht der Hauch von väterlicher Wärme hatte darin gelegen. Erik kannte es auch nicht anders. „Es ist mein Leben.“ „Nein.“ Ein Wort. Unverwerflich. Undiskutierbar. Dann war da diese drückende Stille gewesen, in der es Erik so vorgekommen war, als müsse er gegen etwas ankämpfen, das sein Vater ihm unsichtbar antat, allein durch diesen grausam-unerbittlichen Blick. Er war unfähig gewesen zu reagieren. Sein Vater hatte sich wieder abgewandt. Die Angelegenheit war erledigt. „Ich werde später in der Schule anrufen und es rückgängig machen.“ „Das wirst du nicht!“, hatte Erik geradezu hilflos geschrien, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, sich zu beherrschen, sich genauso kalt und berechnend zu geben wie sein Vater. Herr Donner hatte die Augen geschlossen und seinen silbernen Kugelschreiber aus der Hand gelegt. „Sechs Jahre der besten Ausbildung und nun willst du auf eine solche Versagerschule wechseln?“ Seine Stimme hatte zum ersten Mal gepresst geklungen. „Du glaubst doch nicht wirklich,“ Schlagartig war er laut geworden. „dass ich das zulassen werde!“ Die vergangene Woche hatte Erik noch befürchtet, sein Vater würde ihn gegen seinen Willen in das traditionsreiche Jungeninternat zurück verfrachten. Schließlich hatten dort schon sein Vater und sein Großvater ihre Schulausbildung absolviert. Doch stattdessen hatte sein Vater ihn freitags Unterlagen an einen Klienten überbringen lassen, als wäre er durch den Schulwechsel nur noch ein Lakai. Erik wusste nicht, was seinen Vater dazu bewegt hatte. Vielleicht hatte seine Mutter sich eingemischt, aus einem schlechten Gewissen wegen vernachlässigter Mutterpflichten oder dergleichen heraus. Andererseits klang das so überhaupt nicht nach seiner Mutter. Und kaum war er jetzt an dieser Schule geriet er gleich in solch seltsame Situationen! Was sollten diese komischen Andeutungen von Vitali? Und was hatte sich diese Blondine gedacht? Sexuelle Belästigung wäre ok, solange sie von einer Frau ausging? Auf körperliche Nähe konnte er wirklich verzichten! „Diese –“. Er unterbrach sich. „Ariane. War die mit euch in einer Klasse?“ Justin und Vitali schüttelten die Köpfe. „Woher kennst du sie?“, fragte Justin und hoffte, dass Erik dem Gerede von Vitali nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Vitali zog eine Grimasse. Diese Frage erschien ihm einfach allzu dämlich. „Ich bin ihr auf dem Gang begegnet.“, berichtete Erik in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er das lieber vermieden hätte. „Ist etwas vorgefallen?“, hakte Justin vorsichtig nach. „Ihr schient ein gespanntes Verhältnis zu haben.“ Erik schaute finster. „Sie hat mich -“ Er zögerte kurz. „…belästigt.“ „Hä?“ Vitali schaute unverständig. Grimmig verzog sich Eriks Mund. „Sie hat offenbar Probleme mit persönlichen Grenzen.“ Justin und Vitali warfen einander verwirrte Blicke zu. „Bist du sicher, dass du von Ariane sprichst?“, wandte Justin ein. Erik bedachte ihn mit einem stechenden Blick. „Vielleicht findet ihr es ja normal, dass sie sich Wildfremden ohne zu fragen an den Hals wirft.“ „Von wegen wildfremd.“, murmelte Vitali. Justin betete dafür, dass Erik es nicht gehört hatte. Sie waren bei der Bücherausgabe angekommen und unterbrachen ihr Gespräch. Nach den Anweisungen der Sekretärin suchten sie in den Regalen die Bücher zusammen. Als Erik nicht in unmittelbarer Nähe stand, wandte sich Justin mit gedämpfter Stimme an Vitali: „Du solltest nicht ständig solche Bemerkungen gegenüber Erik machen. Er erinnert sich kein bisschen an das, was geschehen ist. Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist. Sei vorsichtiger!“ Mit diesen Worten lief er mit einem Stapel Bücher wieder aus dem Raum. Vitali folgte ihm, ebenfalls mit Büchern beladen, und spurtete an seine Seite. „Bist du sauer?“ Justin war von der Frage überrascht. „Eh... Nein.“ Vitali grinste ihn an und wollte ihm eigentlich die Faust hinhalten, damit Justin bei ihm einschlug, allerdings ging das aufgrund der Bücherstapel, die sie zu schleppen hatten, nicht. Stattdessen sagte er auffordernd. „Kumpel?“ Wieder schaute Justin verwirrt drein und hatte unwillkürlich das Bild eines Bergarbeiters vor Augen. Erst dann dämmerte ihm die wahre Bedeutung von Vitalis Ausspruch. Aber wer konnte ihm das verübeln? Das war das erste Freundschaftsangebot seines Lebens. Ein schüchternes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Klar.“ Das Thema Erik und die Geschehnisse in der Nacht von Freitag auf Samstag wurden für einige Zeit vermieden. Als nach der vierten Stunde die Schulglocke die zweite Große Pause einläutete, wandte Vivien sich an die anderen: „Gehen wir raus?“ Ohne Einwände folgten die anderen mehr oder weniger schnell ihrem Aufruf und standen von ihren Plätzen auf. Nur Erik blieb sitzen. Offensichtlich zählte er sich nicht zu Wir. „Du auch!“, rief ihm Vivien auffordernd zu. Erik wirkte im ersten Moment irritiert, als hätte er mit solch einem Angebot nicht gerechnet. Dann schaute er zu Ariane. Wahrscheinlich vermutete er, dass sie lauthals dagegen protestieren würde. Beschämt wandte Ariane sich ab. Sie wollte gar nicht wissen, was er von ihr dachte. Warum musste Vivien ihn denn jetzt auch noch einladen! So hatte sie wieder keine Möglichkeit, sich mit ihnen über die ganze Situation zu unterhalten. „Das wäre nicht jedem Recht.“, antwortete Erik. Ariane holte tief Luft. „Das stimmt nicht!“ Diesmal hielt sie seinem Blick stand. Schlussendlich stand Erik auf und gesellte sich zu ihnen. Die sechs gingen den Gang entlang, geradeaus zum Haupteingang. Doch auf halbem Weg blieben sie stehen, denn schon von Weitem war zu erkennen, dass sich dort bereits eine ganze Meute Raucher versammelt hatte. Da keiner von ihnen zu dieser Spezies zählte, wandten sie sich nach rechts, wo eine Treppe hinunter führte. Dort befand sich so etwas wie ein Aufenthaltsraum. Seine Wände waren teilweise aus Glas, was einen ein wenig an einen Wintergarten erinnern konnte. Ein ziemlich billig eingerichteter, nicht bewundernswert schöner Wintergarten. Aber immerhin. Es standen ein paar Bänke und Tische bereit. Allerdings musste es hier im Winter schrecklich kalt sein. Durch die gläsernen Wände hatte man Blick auf den Schulhof. Besagten sahen sie sich als nächstes an. Während sie liefen, tauschten sie sich gegenseitig darüber aus, wer von ihnen Französisch und wer Spanisch gewählt hatte. Da kein weiterführender Französischkurs zustande gekommen war, gehörte Ariane zu den Spaniern, genau wie Vitali und Erik. Die Freude über diesen Umstand hielt sich bei Ariane, angesichts der momentanen Situation mit Erik, verständlicherweise in Grenzen. Zumindest würde sie in der Religionsstunde von ihm verschont bleiben. Wie sie erfuhr, besuchte er als einziger von ihnen den Ethik-Kurs. Der Hof war von einzelnen Grünflächen mit Bäumen und Blumen durchwachsen. Die sechs sichteten freie Sitzflächen unter einem Kastanienbaum und nahmen gemeinsam darauf Platz. Während die anderen sich weiter unterhielten, wandte sich Erik mit gesenkter Stimme an Serena. Sie beide saßen am äußeren Ende der Gruppe. „Wer waren die?“ Serena schien sofort begriffen zu haben, was er meinte. Sie wirkte fast ängstlich und antwortete nicht sofort, sondern zog den Kopf ein. „Hey!“, rief plötzlich Vitali von der anderen Seite in ihre Richtung. Davon aufgeschreckt, wandte Serena sich ihm zu. Doch sobald er ihre Aufmerksamkeit hatte, schien Vitali nicht mehr zu wissen, was er jetzt tun sollte. Er schlug Justin neben sich gegen den Oberarm. „Sag was.“ Verdutzt schaute Justin ihn an. Vitali deutete unverhohlen in Serenas Richtung. Daraufhin sah nicht nur Justin zu ihr. Erik fragte sich, was das jetzt für eine Aktion war. „Ist alles ok?“, erkundigte sich Ariane besorgt. Serena wandte sich ab. „Ja.“ Sie klang wie eine unzufriedene Katze. Erik warf Ariane einen vielsagenden Blick zu. Wie dumm konnte man sein, dass man bei dieser Antwort wirklich annahm, ihr ginge es gut. Mit einiger Entrüstung erwiderte Ariane seinen Blick. „Hab ich was verpasst?“, fragte Vivien unbekümmert und stupste Serena an. „Nein.“, brummte Serena geradezu wütend und sah die anderen nicht an. Erik wurde stutzig. Er hatte die anderen für ihre Freunde gehalten. Aber was für eine Freundschaft konnte das schon sein, wenn diese Leute nicht einmal wussten, dass Serena von dieser Rotblonden gemobbt wurde? Er sah nochmals Ariane an. „Wenn ihr ihre Freunde seid, solltet ihr wissen, was los ist.“ Die ganze Gruppe wirkte mit einem Mal betroffen. Vitali wurde aufbrausend. „Alter, wenn sie nicht das Maul aufmacht, wissen wir nicht, was los ist!“ „Ihr kennt sie ja sehr gut.“, spottete Erik. Hastig berührte Serena Erik am Unterarm und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er aufhören sollte. Er begriff das nicht. Die Berührung löste noch mehr Wut in Vitali aus. „Wenn du sie so gut verstehst, dann kümmer du dich doch um sie!“, schrie er. „Gute Idee.“, sagte Erik, griff nach Serenas Arm und erhob sich. Gezwungenermaßen stand auch sie dadurch auf. Hilflos blickte sie ihn an, als sei sie mit der Situation völlig überfordert. Daraufhin ließ er von ihr ab und entfernte sich in eine andere Richtung. Davon komplett verunsichert, sah Serena von seiner Rückenansicht zu den anderen und wieder zu ihm. Vivien gab ihr mit einer kurzen Bewegung ihres Kopfes das Zeichen, dass sie ihm folgen sollte. Serena rannte Erik nach. „Alter, waaaaas?“, brüllte Vitali und sprang auf die Beine. Noch bevor ihn jemand aufhalten konnte, rannte er den beiden nach. Justin stand ebenfalls auf und war im Begriff ihm nachzueilen, wurde aber von Vivien gestoppt, die sich ihm in den Weg stellte. Sie machte eine Bewegung der Hände, als müsse er sich nicht beeilen. Sie drehte sich einfach in die Richtung, in die die anderen gegangen waren. In kaum drei Metern Entfernung hatte Vitali Erik und Serena eingeholt. „Ey, du hast sie ja wohl nicht alle!“, schimpfte Vitali. Erik antwortete mit einem entschiedenen Blick. Wütend schaute Vitali Serena an. „Sag mir gefälligst auch, was los ist!“ Er machte einen geradezu beleidigten Eindruck. Serena wusste wirklich nicht, wie sie darauf reagieren sollte. „Wenn sie es dir sagen wollte, hätte sie es wohl schon getan.“, sagte Erik kalt. Auf die Worte hin sah Vitali so entrüstet und gleichzeitig ohnmächtig aus, dass Serena sich gewünscht hätte, ihn trösten zu können. Dann wurde sie von seinem vorwurfsvollen Blick getroffen. Erik zog die linke Augenbraue skeptisch in die Höhe und fixierte Vitali. „Was bist du für sie?“ Vitali starrte ihn planlos an. Serena wusste sich nicht länger zu helfen. „Amanda!“, rief sie. „Sie heißt Amanda. Wir waren in einer Klasse.“ Die beiden Jungen sahen sie an. Sie senkte den Blick. „Ich wusste nicht, dass sie auch wechseln würde.“ Erik wandte sich an sie. „Und die andere?“ „Das war ihre Schwester Susanne.“ „Hä?“, machte Vitali. Serena zog den Kopf ein. Erik sah ein, dass der andere Junge nichts dafür konnte, dass er die Situation am Morgen nicht mitbekommen hatte. „Diese Amanda und ihre Schwester haben sie heute Morgen angegriffen. Bevor du und deine Freunde gekommen seid.“, informierte er. Vitali zog ein dümmliches Gesicht. „Wie? Angegriffen?“ Erik zog die Augenbrauen zusammen. „Schon mal was von Mobbing gehört?“ „Serena?“, fragte Vitali ungläubig und deutete auf das Mädchen neben ihm, als könne er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich jemand mit ihr anlegen würde. „Bist du so blöd oder tust du nur so?“, gab Erik zurück und erntete einen weiteren von Vitalis ergrimmten Blicken. Vitali wandte sich unzufrieden an Serena. „Warum hast du nichts gesagt?!“ Sie drehte ihren Kopf weg von ihm. „Vielleicht vertraut sie euch nicht.“, sagte Erik hart. Serena sah daraufhin geschockt zu Vitali, der die Zähne zusammengebissen hatte. „Nein!“, rief sie hektisch. Wieder waren die Blicke beider Jungen auf sie gerichtet. „Ich hab… Ich wollte nicht…“ Sie kämpfte gegen den Impuls sich zu verstecken an und rang nach Worten. „Ich wollte nicht dran denken.“ Fast tonlos fügte sie an. „Auch jetzt nicht.“ Vitali stieß beleidigt die Luft aus. „Du hättest trotzdem was sagen können.“ „Hast du ihr nicht zugehört?“, konterte Erik. „Sie wollte nicht darüber reden. Mit niemandem.“ Vitalis geschürzte Lippen und zusammengezogenen Augenbrauen machten deutlich, dass er das nicht akzeptieren konnte. „Was haben die für ein Problem mit dir?“, forderte er zu wissen. Erik konnte nicht fassen, dass er eine so selten dämliche Frage stellte. Solche Leute brauchten keinen Grund! Serena zog den Kopf ein. „Amanda war…“ Sie schloss die Augen. „… meine beste Freundin.“ Vivien, Justin und Ariane, die sich langsam genähert und das Gespräch aus einem gewissen Abstand mitangehört hatten, um niemanden zu unterbrechen, traten nun zu ihnen. Serena sah bei dem Geräusch ihrer Schritte auf. Die Gesichtsausdrücke der anderen waren so mitleidig, dass es ihr das Herz zusammenzog. Es beschämte sie. Sie hatte nicht gewollt, dass sie davon erfuhren. Niemand sollte davon wissen. Sie hätte am liebsten selbst nichts davon gewusst! Vitali redete einfach weiter: „Kapier ich nicht. Wieso mobbt dich deine beste Freundin?“ Ariane war entsetzt darüber, dass er etwas so Unsensibles von sich gab. „Sie ist nicht mehr ihre beste Freundin!“ „Aber warum?“, fragte Vitali verwirrt. „Vitali, nicht jetzt.“, sagte Justin streng, denn Serena war wie unter Hieben zusammengezuckt, als er seine Frage gestellt hatte. Ariane sah Vitali irritiert an. „Wenn jemand gemein zu dir ist, ist er doch nicht mehr dein Freund.“ Vitali schien das nicht nachvollziehen zu können. „Wieso? Serena ist doch die ganze Zeit gemein. Und wir sind trotzdem mit ihr befreundet.“ Darauf konnte Ariane tatsächlich nichts entgegnen. Serenas Verhalten Vitali gegenüber war oft wirklich nicht von Mobbing zu unterscheiden. Vivien eilte zu Serena und umarmte sie heftig. „Jetzt hast du ja uns!“ Sie sah zu Serena auf. „Egal was passiert.“ Serena schien zu hilflos, um darauf reagieren zu können. „Dann soll sie aber nächstes Mal das Maul aufmachen.“, beklagte sich Vitali, während Vivien sich wieder einen Schritt von Serena entfernte. Ängstlich sah Serena zu ihm. Erik missbilligte Vitalis Einwand. „Sagt dir ihr Gesicht nicht alles?“ „Hä?“ Vitali sah zu Serena, die schnell den Blick abwandte. „Was soll mir das denn sagen?“ Erik stieß die Luft aus, als wäre jedes Wort an ihn verschwendet. „He!“, schimpfte Vitali. Ariane näherte sich ebenfalls Serena. „Wir sind für dich da. Wenn irgendetwas ist, kannst du es uns immer sagen.“ Sie lächelte Serena aufmunternd an. „Du solltest aufpassen, wem du dein Vertrauen schenkst.“, sagte Erik. Getroffen sah Ariane in seine Richtung. Hatte er das auf sie bezogen? Als er ihren Blick bemerkte, sah er sie durchdringend an. Die Schulglocke läutete. Erik wandte sich an Serena. „Kannst du reingehen?“ Serena nickte betreten. „Natürlich kann sie reingehen!“, schimpfte Vitali und packte Serena am Oberarm. Serena sah ihn vorwurfsvoll an. Vitali begegnete ihr mit nicht minder vorwurfsvollem Blick. Mit einer Bewegung ihrer Augen wies sie ihn darauf hin, dass er sie gerade berührte. Als begreife er das erst in diesem Moment, schreckte Vitali regelrecht von ihr weg und verzog den Mund. Erik beobachtete die Szene und begriff nun auch, was Vitali für Serena war. Er schnaubte belustigt. Dann sah er nochmals zu Ariane und sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. Auch wenn es in der Oberstufe freigestellt war, ob man das Klassenzimmer in den Pausen verließ, hatten viele Schüler bei dem schönen Wetter die Möglichkeit genutzt, hinauszugehen, und strömten nun zurück in ihre Räume. Auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer sah Justin besorgt zu Ariane. Ihm war nicht entgangen, dass Erik noch abweisender zu ihr war als zu ihm und den anderen. Ausgerechnet Ariane, die besonders darunter gelitten hatte, Secret im Schatthenreich verloren zu haben. Er berührte sie flüchtig an der Schulter, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Das wird schon wieder.“, sagte er sacht. Ariane versuchte sich an einem Lächeln, aber ihre Augen verrieten, wie sehr ihr die Situation mit Erik zu schaffen machte. „Er ist nicht Secret.“, flüsterte sie und wandte sich wieder nach vorn. Kapitel 24: Anhaltspunkte ------------------------- Anhaltspunkte „Carpe diem! Nutze den Tag.“ (Horaz, röm. Dichter) Das erlösende letzte Läuten für diesen Tag erklang und Erik verabschiedete sich von ihnen. Erst einige Augenblicke später und ganz langsam, damit sie ihn heute bloß nicht nochmals zu Gesicht bekommen musste, ging Ariane mit den anderen aus dem Klassenzimmer. Endlich konnte sie offen mit ihnen reden. „Was ist bloß geschehen, dass er sich an nichts erinnert?“, fragte sie unglücklich. „Er scheint ja öfter so was zu haben.“, kommentierte Vitali. Vivien überlegte laut: „Vielleicht hat er doch noch einen Spiegelsplitter gefunden. Aber aus Selbstschutz hat sein Hirn das Ganze verdrängt!“ „In dem Fall bestünde die Möglichkeit, dass er sich eines Tages wieder erinnert.“, schlussfolgerte Justin. Vitali stupste Ariane an. „Hast du gehört? Dann hält er dich auch nicht mehr für verrückt.“ Ariane sah ihn bestürzt an. „Er hält mich für verrückt?“ Vitali wich ihrem Blick aus. Das hatte er ja wieder toll hinbekommen!. Mittlerweile waren sie im Vorhof der Schule stehen geblieben und hatten ihre Rucksäcke auf den Boden gestellt. Die ganzen Bücher waren eine schreckliche Last. Ariane ergriff wieder das Wort. „Ihr erinnert euch doch an Secrets Wunde.“ „Wer könnte die vergessen?“, gab Vitali angeekelt von sich. „Erik hat dort nicht den geringsten Kratzer!“, informierte Ariane. Justin sah sie verwundert an. „Woher weißt du das?“ Ariane zog ein gequältes Gesicht. „Ich habe nachgeschaut, als ich ihn im Gang traf.“ Vivien musste lachen. „Ich bin mir vorgekommen wie der letzte Idiot!“, klagte Ariane. „Kein Wunder denkt er so über dich.“, entschlüpfte es Vitali, worauf Serena ihm gegen den Oberarm schlug. „Warum immer ich?“, beschwerte er sich. „Weil du’s verdient hast.“, erwiderte Serena und wandte sich dann wieder den anderen zu. „Aber das ist doch eindeutig Secret.“ „Oder er hat einen Zwillingsbruder.“, spaßte Vivien. „Oder einen Kloooon!“ Ariane seufzte. „Das klingt nicht mal so viel unwahrscheinlicher als dass er schon wieder sein Gedächtnis verloren hat.“ Justin setzte zu weiteren Überlegungen an. „Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist, bevor wir ihn vor dem Labyrinth getroffen haben. Die Spiegelsäle waren vielleicht nicht die einzigen Räume für Gehirnwäsche. Sein Gedächtnis wurde eventuell manipuliert.“ „Du meinst, Secret ist nicht entkommen, sondern von unseren Entführern zurückgeschickt worden?“, hakte Ariane nach. „Möglich wäre es.“, antwortete Justin. „Und die Wunde?“, wollte Serena wissen. Vivien meldete sich zu Wort. „Das war keine normale Wunde.“ Sie machte eine kurze Pause und sprach in vollkommen unbekümmertem Ton weiter. „Vielleicht haben sich die schwarzen Adern ja einfach in seinen Arm hineingefressen und jetzt sieht man sie nicht mehr.“ Vitali schaute angewidert. „Erik könnte also auch gefährlich für uns werden...“, schlussfolgerte Serena. Zum ersten Mal wirkte sie, als würde ihr eine solch pessimistische Sichtweise widerstreben. „Das ist nicht auszuschließen. Wir wissen nicht, was mit ihm gemacht wurde.“, antwortete Justin. „Aber“, setzte Serena an. „Er gehört doch immer noch zu uns…“ Sie blickte hilfesuchend zu den anderen. Doch Justin und Ariane waren im ersten Moment zu überrascht davon, dass ausgerechnet Serena diese Worte ausgesprochen hatte. Allein Vivien strahlte. Auch Vitali zögerte nicht. Er boxte Serena geradezu begeistert gegen den Oberarm, dass sie ihn aufgrund der Geste im ersten Moment verstört ansah. „Jo, endlich raffst du’s.“ Er grinste breit. Serena schürzte daraufhin die Lippen. Ariane seufzte. „Du hast Recht.“ Ihre Stimme bekam wieder mehr Kraft. „Secret gehört zum Team. Auch wenn er sich jetzt nicht mehr daran erinnert.“ Serena schenkte ihr ein dankbares Lächeln. „Wir freunden uns einfach noch mal neu mit ihm an!“, entschied Vivien. „Dennoch sollten wir vorsichtig bleiben.“, gemahnte Justin. Vivien grinste. „Je näher wir ihm sind, desto besser können wir ihn im Auge behalten.“ „Wenn er uns für verrückt hält, wird er sich von uns fernhalten.“, wandte Justin ein. „Deshalb sollten wir ihn in dem Glauben lassen, dass er uns nicht kennt. Einverstanden?“ Die anderen nickten. „Hauptsache, er lebt.“, sagte Ariane. Der leise Kummer war ihr immer noch anzusehen. Vivien nahm ihre Hand und drückte sie aufmunternd, woraufhin Ariane sie anlächelte. „Das ist erst mal das Wichtigste.“, stimmte Justin ihr zu. „Da fällt mir ein.“, begann Ariane. „Mein Vater hat mir erst gestern gesagt, dass heute Abend eine Jubiläumsfeier der Finster GmbH stattfindet. Alle Mitarbeiter mit Familie sind eingeladen. Vielleicht kann ich dort mehr herausfinden!“ Vivien klatschte begeistert in die Hände. „Super!“ „Sei vorsichtig.“, sagte Serena streng. „Dort sind so viele Leute, es wird mir schon nichts passieren.“, beruhigte Ariane sie lächelnd. Serenas Gesichtsausdruck blieb hart. „Und verrat uns nicht.“ Und da hatte Ariane sich gerade doch tatsächlich eingebildet, Serena würde sich Sorgen um sie machen. „Die wissen vielleicht nicht, dass wir zusammenarbeiten.“, fügte Serena an. Sie stockte und wurde nachdenklich. „Findet ihr es nicht seltsam, dass wir alle in einer Klasse sind? Ich meine, selbst Secret.“ „Das hat mich auch gewundert.“, gestand Ariane. „Aber worauf willst du hinaus?“ „Ich weiß nicht. Aber mir kommt es wie ein zu großer Zufall vor.“, antwortete Serena. Vitali gefiel die Idee, dass die Schule etwas mit ihrer Entführung zu tun haben könnte. „Vielleicht ist der Direktor der Bösewicht. Oder unser Klassenlehrer! Der kam mir gleich verdächtig vor!“ Serena stöhnte. Wenn Vitali das sagte, klang es wirklich bescheuert. „Vielleicht ist es einfach Schicksal!“, rief Vivien freudig. Ariane fasste sich grüblerisch ans Kinn. „Wir sind auch alle im gleichen Alter.“ Schüchtern wandte sich Justin an Vivien. „Ich dachte du wärst ein Jahr jünger.“ Diese Info hatte seine Mutter von Viviens Mutter. „Ich bin ein Jahr früher eingeschult worden.“, erklärte Vivien. „Bist du irre?“, rief Vitali fassungslos. „Wieso geht man freiwillig früher in die Schule?“ Vivien lächelte unbekümmert. „Ich wollte unbedingt mit meiner damaligen besten Freundin eingeschult werden.“ „Und was ist daraus geworden?“, fragte Serena argwöhnisch. „Dadurch kann ich jetzt mit euch in einer Klasse sein!“, rief Vivien freudig. Ariane versuchte an den Gedankengang von zuvor anzuknüpfen. „Denkt ihr, dass noch mehr Personen als wir entführt wurden? Vielleicht unsere ganze Klasse?“ „Ok, das ergibt noch weniger Sinn als dass es einfach Zufall ist.“, mäkelte Serena. „Wir sollten es im Hinterkopf behalten.“, beschloss Justin. „Aber momentan bringt es uns wohl nicht weiter.“ An dieser Stelle entschieden sie, die Diskussion zu beenden und sich auf den Heimweg zu machen. Vivien umarmte jeden von ihnen noch zum Abschied. Das Treffen um drei war nun nicht mehr nötig. Nachdem die anderen gegangen waren, wandte sich Ariane an Serena. „Ich wohne im Mozartweg.“ Eine Pause entstand. Ariane wurde von Serenas Reaktionslosigkeit leicht verunsichert. Wohnte sie etwa in einer besonders gefährlichen Gegend? „Ist das … schlimm?“ „Nein.“, erwiderte Serena. „Ich weiß bloß nicht, wo das ist. Ich kenne mich in Entschaithal nicht aus.“ Ariane war sichtlich erleichtert. „Seit wann wohnst du denn hier?“ Plötzlich verfinsterte sich Serenas Gesichtsausdruck. „Schon immer.“ Überraschung zeichnete sich auf Arianes Gesicht ab. „Und du kennst dich trotzdem nicht aus?“ „Nein.“, gab Serena halb knurrend zurück. „Ich hasse diese Stadt!“ Nun sah Ariane besorgt drein. „Es ist doch eine schöne Stadt.“ Serena verfiel in bedrohliches Schweigen und Ariane fragte sich, ob Serena ihr für diesen Kommentar gleich an die Gurgel gehen würde. „Ähm … Ich muss in diese Richtung.“ Eifrig deutete Ariane nach Osten. „Du wohnst nicht weit weg von meinem Haus. Ich könnte dich nach Hause begleiten. Wäre das okay für dich?“ Serenas böser Gesichtsausdruck wandelte sich zu dem eines ausgehungerten kleinen Straßenkindes, dem plötzlich etwas zu Essen angeboten wurde – unsicher, ob es die Gabe wirklich annehmen durfte, unsicher, ob es sich dabei nicht um eine arglistige Falle handelte. Ariane wunderte sich über die jähe Veränderung. Dieses Mädchen schien ein lebender Gegensatz zu sein. Lächelnd ergriff sie Serenas Arm. „Also los!“ Während des Weges versuchte Ariane eine unverfängliche Unterhaltung zu führen, über den ersten Schultag, den Stundenplan, die Lehrer. Obwohl Serena sich an dem Gespräch beteiligte, spürte Ariane, dass es Serena wohl unangenehm war, mit ihr Arm in Arm zu gehen. Ob sie allgemein keinen Körperkontakt mochte? Aber Viviens Umarmung zuvor schien ihr nicht unangenehm gewesen zu sein. Als die beiden an einem Zeitschriftenladen vorbeikamen, fiel Ariane ein, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, eine Zeitung mitzubringen. Momentan hatten sie zuhause weder Fernsehen, noch Internet, noch eine Tageszeitung. Ohne Smartphone hätte sich ihre Mutter wohl ganz von der Außenwelt abgeschnitten gefühlt. In dem Kiosk zogen die beiden erneut ihr schweres Gepäck ab und entschieden sich, wo sie schon einmal da waren, die große Auswahl an Magazinen und Taschenbüchern genauer in Augenschein zu nehmen. Ariane hatte schnell ein Historikmagazin gefunden, während Serena sich noch umblickte, dann fiel ihr ein Heft mit einem skurrilen Umschlag auf. Neugierig nahm sie es zur Hand und blätterte darin. Es schien um UFOs und andere unerklärliche Phänomene zu gehen. In dieser Ausgabe war ein großer, mehrere Seiten umfassender Bericht über Außersinnliche Wahrnehmungen enthalten. Telepathie, Hellsehen und dergleichen. Ariane lugte über Serenas Schulter. „Was ist das?“ „Hier steht was über übersinnliche Fähigkeiten. In dem Buch, das ich zuhause habe, habe ich nicht viel gefunden. Nur mit welchen verschiedenen Utensilien man in die Zukunft sehen kann.“ Für einen Moment war Ariane überrascht, dass Serena ein Buch über solch ein Thema besaß, andererseits hatte sie ja erfahren, dass Serena eine Fantasy-Geschichte schrieb, da konnte man so etwas wohl gut gebrauchen. „Na, wenn das In-die-Zukunft-Sehen funktionieren würde, wäre es doch ganz nützlich.“, scherzte Ariane. „Willst du das Heft kaufen?.“ „Ich hab kein Geld mitgenommen.“, gestand Serena. Ariane kramte in ihrem Rucksack und holte ihren Geldbeutel hervor. „Dann bezahle ich es.“ Serena wollte protestieren. „Aber-“ Ariane machte eine abwehrende Handbewegung. „Es geht hier schließlich um uns alle, oder nicht?“ Dann nahm sie Serena das Heft aus der Hand und schaute auf den Preis. „Nicht gerade billig. Wir sagen den anderen morgen einfach, sie sollen ihren Beitrag dazu auch zahlen.“, entschloss sie und ging zur Kasse. Nachdem sie gezahlt hatte, drückte sie Serena das Heft in die Hand. „Hier.“ Serena erhob Einspruch. „Du hast doch bezahlt.“ „Ich werde heute sowieso nicht mehr zum Lesen kommen. Du weißt doch, die Jubiläumsfeier.“ Serena nickte zögernd. Sie setzten ihren Weg fort. Am späten Nachmittag saß Serena in ihrem Zimmer und blätterte durch das Heft. Eigentlich hatte sie vorgehabt, zunächst den Leitartikel zu lesen, wegen dem sie dieses Magazin überhaupt ausgesucht hatte, doch dann lenkte ein anderer Beitrag ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Titel lautete: „Angriff der Untoten“. Entgegen dem ersten Eindruck handelte es sich nicht um eine in dem Heft veröffentliche Kurzgeschichte oder dergleichen, sondern um einen Bericht. Die Einleitung fand sie ziemlich lächerlich, klischeehaft geschrieben, wie man es von einem UFO-Heftchen erwartete. Dann war die Sprache von einem jungen Amerikaner namens Tylor, der vor kurzem in Deutschland als Assistent bei einer Ausgrabung in Schweigen in Süddeutschland tätig gewesen sei. Es wurde auf eine seltsame Entdeckung hingewiesen. Diese habe der Mann – ohne über den genauen Inhalt in Kenntnis gesetzt worden zu sein – auf Geheiß in den Norden Deutschlands verfrachtet. Der Artikel schwenkte kurzzeitig ab, um über den Inhalt des Pakets, den der Interviewte als äußerst schwer beschrieben hatte, nachzusinnen. Verschiedene Verschwörungstheorien wurden angeschnitten. Dann informierte der Verfasser darüber dass der Fund mit zwei tragischen Schicksalschlägen zusammenhing. Der erste hätte sich direkt nach der Übergabe des Fundes an den besagten Amerikaner zugetragen. Der Professor, der den Fund gemacht hatte, sei kurz darauf tot aufgefunden worden. Herzstillstand. Sein Büro sei komplett durchwühlt worden, doch nicht das Geringste sei gestohlen worden – äußerst mysteriös. Der Artikel wechselte in einen erzählenden Stil und schilderte das Geschehen, das sich fünf Monate zuvor abgespielt haben sollte, nachdem dieser Tylor seine Lieferung in Norddeutschland abgegeben hatte. Eine Autofahrt in strömendem Regen und eine seltsame Begegnung mit einem mysteriösen Untier, das der Fahrer zunächst nicht erkannt habe, wurden beschrieben. Aufgrund eines Motorschadens am Wagen, sei Herr Tylor zurück zu dem Anwesen, wo er den Fund abgegeben hatte, gelaufen. Dort habe sich Grauenvolles zugetragen. Der Amerikaner sei durch einen Schrei aufgeschreckt worden und durch ein zerbrochenes Fenster in das Innere gestiegen, wo er in einem Raum den Mann vorgefunden habe, dem er den Fund ausgehändigt hatte. Doch dieser sei völlig apathisch gewesen, ja irre. Als Serena die darauffolgenden Zeilen las, stockte ihr der Atem. Sie sprang samt dem Heft auf und stürmte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter bis ins Esszimmer. Dort hatte sie in einer der Schubladen den Zettel mit den Telefonnummern der anderen verstaut. Sie nahm ihn zur Hand und ging zum Telefon. Da Ariane bisher keinen Festnetzanschluss hatte und vielleicht schon auf dem Weg zu der Jubiläumsfeier war, versuchte sie es zunächst bei Vivien. Nach Kurzem nahm eine Jungenstimme ab. „Bei Baum.“ „Hallo. Ist Vivien da? Hier ist Serena.“ „Nein. Die ist gerade einkaufen.“ Serena war enttäuscht. „Okay, danke. Tschüss.“ „Tschüss.“ Der nächste auf der Liste war Justin. Justin saß vor dem Computer. Die Suchseite, die er angewählt hatte, zeigte zwar sehr viele Ergebnisse, aber wirklich brauchbar waren keine davon. Was hatte er sich auch erhofft? Seine Anfrage war nicht gerade die eindeutigste. In dem Suchfeld stand „Schatten böse“ Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen. Er klickte auf den nächsten Link. Die Seite öffnete sich und zeigte eine Begriffsdefinition. Schatten: C.G. Jung hat diesen Begriff geprägt. Unter Schatten versteht man eine Zentralisation jeglicher als schlecht erkannter Eigenschaften im Menschen. Diese Eigenschaften versucht der Mensch von sich abzuspalten, wodurch der Schatten ein ungewolltes Eigenleben innerhalb der Psyche der Person entwickelt und alles repräsentiert, was der Mensch als böse empfindet. Justin seufzte. Das half ihm leider nicht weiter. Er klickte auf Zurück und änderte seine Eingabe ab. Diesmal war es „Schatten Dämon“ Daraufhin wurde er auf einige Seiten mit Beschreibungen über Dämonen aus allen möglichen Sagen und Erzählungen verwiesen. Aber keine Beschreibung passte auf die Kreaturen, denen sie begegnet waren. In seine Suche vertieft, überhörte er das Festnetztelefon, das im Erdgeschoss klingelte. Serena sah ein, dass niemand mehr abnehmen würde, und legte auf. War denn keiner zu erreichen? Sie stöhnte auf, starrte auf den letzten Namen auf der Liste und beschloss, es erst noch auf Arianes Handy zu versuchen. Doch Ariane nahm nicht ab. Erneut starrte sie auf die letzte Nummer und biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte Vitali nicht anrufen! Nein, nein, nein! Serena schüttelte den Kopf. Sie benahm sich ja wie ein Kind. Sie brauchte sich doch nun wirklich nicht so anstellen. Schließlich war es bloß Vitali... Das war es ja gerade! Es war Vitali! War es die Tatsache bei einem Jungen anzurufen? Wohl kaum. Bei Justin hatte sie auch nicht so einen Aufstand gemacht. Genau. Warum machte sie denn so ein Theater? Das war doch lächerlich. Nur weil sie sich ständig mit ihm stritt? Sie saßen immer noch im selben Boot! Also... Zögerlich wählte Serena seine Nummer. O hoffentlich ging er selbst dran! Vitali saß mal wieder vor seiner Spielekonsole und lieferte sich mit seinem kleinen Bruder Viktor ein erbittertes Rennen. Die beiden Sportwagen flitzten auf dem Bildschirm um die nächste Kurve. Vitali überholte den ersten Fahrer, dicht gefolgt von Vicki. Sie fuhren über die Startgerade. Die letzte Runde. Das Telefon klingelte. „Vitali, gehst du mal ran?“, rief seine Mutter aus einem anderen Teil des Hauses. „Jetzt nicht!“, brüllte Vitali zurück. Im nächsten Moment hörte er eine Tür knallen. „Glaub ja nicht, dass ich noch mal was für dich mache!“, krakeelte seine Mutter und nahm dann den Hörer ab. „Hallo?“, fragte sie mit deutlicher Gereiztheit in der Stimme. Serena blieb fast das Herz stehen. „Äh, hallo. Ist Vitali da?“ „Wer ist denn da?“, wollte die Stimme am anderen Hörer wissen. „Ähm, ich bin eine Klassenkameradin von ihm.“ „Warte mal.“ „Vitali, es ist für dich! Ein Mädchen aus deiner Klasse.“ Aufgrund der Lautstärke musste Serena für einen Moment den Hörer von sich weg halten. „Hä? Wer?“, rief Vitali zurück, immer noch auf das Spiel fixiert. Die letzten paar Kurven lagen vor ihm. Seine Mutter brummte und sagte dann in den Hörer: „Wie ist denn dein Name?“ Eine Sekunde später schrie sie zurück zu Vitali: „Es ist Serena!“ „Serena?!“ Vitali war für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt und rutschte aus der letzten Kurve. Sein Bruder zog an ihm vorbei durchs Ziel und jubelte. „Erster! Erster!“ Sonst ziemlich stinkig nach einer Niederlage, stand Vitali diesmal eher verwirrt als verdrossen auf und lief zu seiner Mutter. Diese knurrte ihn an, nächstes Mal solle er gleich selbst dran gehen, sie sei ja nicht seine Sekretärin. Unsicher nahm er den Hörer entgegen. „Hallo...?“ „Hi.“, hörte er Serenas ungewöhnlich zaghafte Stimme. Vitali war sichtlich verwirrt, allerdings konnte man das durch ein Telefon ja nicht sehen. „Was gibt’s?“ „Vielleicht will sie mit dir gehen!“, kam die Stimme seines kleinen Bruders aus dem Wohnzimmer. „Noch so’n Kommentar und du bist ‘nen Kopf kürzer!“, schimpfte Vitali. „Was hat er gesagt?“, wollte Serena wissen, die nichts verstanden hatte. „Ah, nichts.“, entgegnete Vitali eilig. „Also warum rufst du an?“ Serena wurde aufgrund seiner forschen Sprechweise unsicher. „Stör ich?“ „Nein, nein. Wundert mich bloß, dass du mich anrufst.“ „Von den anderen erreiche ich keinen.“ „Na danke, dass ich deine erste Wahl bin.“, murrte Vitali. „Du hast doch eben noch selbst gesagt, dass du nichts anderes erwartet hast!“ „Ja, ja. Was wolltest du denn von ihnen?“, wich er aus. „Es geht um das hier.“ Serena nahm wieder den Artikel zur Hand und las die entsprechenden Zeilen vor: „Ein Schatten kam wie ein lebendiges Wesen auf ihn zugekrochen. Dann wuchs er zu einer mannshohen Gestalt an. Ein regelrechtes Monster soll das Wesen gewesen sein, so Herr Tylor. Das Aussehen erinnerte an eine vergammelnde Leiche. Einzelne faulig graue Hautlappen hingen von der Kreatur weg. Das Gesicht ähnelte einem Totenkopf. Aber besonders die Augen beschreibt Herr Tylor als angsteinflößend. Sie seien durchzogen von graulila Äderchen und ihre Pupille ähnle denen einer Schlange. Des Weiteren soll die Kreatur einen penetranten modrigen Geruch ausgesondert haben. Was danach passierte, kann Herr Tylor nicht sagen, wahrscheinlich sei er ohnmächtig geworden.“ „Woher hast du das?“, fragte Vitali aufgeregt. „Das ist ein Bericht aus einem Heft, das Ariane und ich vorhin gekauft haben.“ „Echt jetzt?“, rief Vitali. „Der Typ, der das erzählt hat, wer ist das?“ Serena erzählte ihm die ganze Hintergrundgeschichte. „Und wo ist dieser Tylor jetzt?“, erkundigte sich Vitali. Serena sah auf den Artikel. „Er war erst in Untersuchungshaft. Danach ist er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, um diesen Albtraum hinter sich zu lassen.“ „Verdammt. Dann ist er jetzt für uns unerreichbar.“, ärgerte sich Vitali. „Und dieser Doktor Schmidt ist wohl in eine psychiatrischen Anstalt eingeliefert worden. Mehr steht da nicht.“ „Meinst du, das hängt mit uns zusammen?“, fragte Vitali. „Keine Ahnung.“, gestand Serena. „Aber wir werden es herausfinden.“ Kapitel 25: Finster und Geheim ------------------------------ Finster und Geheim „Es ist nie zu spät, neu anzufangen.“ (Redensart) Zusammen mit ihren Eltern lief Ariane auf die Finster GmbH zu – das vierstöckige Gebäude direkt neben der Baustelle. Einmal mehr hatte sie das Gefühl, ihre Erlebnisse seien nichts als ein Traum gewesen und kurz fragte sie sich, ob sie sie nach vielen Jahren nicht tatsächlich als Hirngespinst abtun würde. Sie ging schneller, denn die Luft war abgekühlt und in ihrem roten Cocktailkleid begann sie zu frieren. Mit flinken Schritten eilte sie die Eingangstreppe des Unternehmens hinauf und rettete sich in das warme Innere. In der Vorhalle befanden sich rechts die Garderoben, links eine Rezeption, die heute Abend nicht besetzt war. Der Weg geradeaus führte zum Aufzug. An beiden Seiten daran vorbei zog ein Menschenstrom zu zwei großen Türen. Ariane und ihre Eltern folgten den anderen Gästen und betraten einen riesigen Raum, in dem Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern zu hören waren. Ein Büffet mit Getränken und Häppchen war an der einen Seite aufgebaut, dort, wo auch die größte Menschenansammlung zu finden war. Unter den sekttrinkenden Gästen an den Stehtischen erkannte ihr Vater einen seiner Arbeitskollegen. Er führte seine Familie hinüber zu ihm und stellte sie beide vor. Ariane lächelte nur manierlich, als der Mann ihr ein Kompliment für ihre außergewöhnliche Schönheit machte und sie danach wieder wie Luft behandelte. Offensichtlich wurde ohnehin von ihr erwartet, dass sie nur hübsch aussah und keine intelligenten Beiträge lieferte, daher schaute sie sich lieber um, als das belanglose Geplauder zu verfolgen. Höflich entschuldigte sie sich und trennte sich von der Gesprächsrunde. Im Raum verteilt standen und hingen verschiedene Ausstellungsstücke, die ihr weit ansprechender erschienen als der Smalltalk ihrer Eltern. Interessiert schritt sie durch den Saal und betrachtete die Ausstellungsstücke. Es handelte sich offenbar um Gegenstände und Bilder, die symbolisch für die Phasen und Errungenschaften des Unternehmens standen. Was für eine nette Idee. An der Wand entdeckte Ariane eine Kopie des ersten Gesellschaftsvertrags der Firma, außerdem ein Bild von den Bauarbeiten an diesem Gebäude. Nicht weit entfernt stand die Werbung für das neueste Computerprogramm des Unternehmens. Aber die Finster GmbH schien sich nicht nur für die durchaus vielseitige IT Branche zu interessieren, sondern war, wie Ariane überrascht feststellte, darüber hinaus auch sozial engagiert. Eine Fotocollage zeigte, dass die unteren Räumlichkeiten, in denen sie sich befand, für verschiedene Ausstellungen zur Verfügung standen, deren Einnahmen an ein benachbartes Kinderheim gingen. Als Geschenk hatten die Heimkinder zahlreiche Bilder gemalt, die in einem gemeinsamen Bilderrahmen neben der Collage hingen. Ariane lächelte. So etwas diente zwar sicher nur PR-Zwecken, aber süß war es trotzdem. Sie sah sich weiter um. Ein weiterer Aushang informierte darüber, dass die Finster GmbH Berufsberatung für Jugendliche und Praktikumsplätze anbot. Auch unterstützte das Unternehmen ortsansässige Schulen dabei, den Schülern einen Einblick ins Berufsleben zu bieten. Ariane war beeindruckt. All dieses Engagement trotz des doch relativ kurzen Bestehens des Betriebs. Im hinteren Teil des Raumes war ein Rednerpodest aufgestellt worden. Einige Meter davor, mitten im Raum, befand sich eine mannshohe Glasvitrine. Interessiert näherte sich Ariane ihr. Es befanden sich zwei Steintafeln darin. Ein Schild informierte darüber, dass das neueste Projekt der Finster GmbH eine Produktreihe an Software war, mit der man Ausgrabungsgegenstände und alte Dokumente einscannen, bearbeiten und archivieren konnte. In Rahmen dessen hatte die GmbH eine Ausgrabungsstelle aufgekauft, in Schweigen. Schweigen. Ariane konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Interessanter Ortsname. Dann nahm sie die Tafeln genauer in Augenschein. Sie staunte nicht schlecht, als sie die feinen geschwungenen Linien wahrnahm, die in den Stein eingelassen waren. Altdeutsche Schrift! Arianes Großmutter hatte ihr beigebracht, sie zu entziffern, so hatte sie alte Aufzeichnungen ihrer Urgroßmutter lesen gelernt. Sie hatte es geliebt, diese grazilen Buchstaben zu enträtseln. Dabei hatte sie sich jedes Mal vorgestellt, es handle sich um eine Geheimschrift, hinter der sich ein Abenteuer versteckte. Ein unwillkürliches Lächeln trat bei dem Gedanken auf ihre Lippen und sie wandte sich freudig erregt der rechten Tafel zu, die weniger Text aufwies. In einer, entschlüsselte sie. Einen Augenblick brauchte sie, um sich erst wieder einzulesen, dann konnte sie den Inhalt wiedergeben. In einer Ära, da das Gleichgewicht gestört durch die eine Lebensform, die ... wider die Natur zu verhalten befähigt, der Kampf von Gut und Böse entflammt und das Chaos ziehet herauf. Leben zu Tod, Tod zu Leben. Dies Geschick den ... Beschützern gegeben. Jenseits von Licht und Finsternis erschaffen, müssen ihren Weg sie wählen, der da führt zu Rettung oder Untergang. Seltsam. Eine geheimnisvolle Männerstimme ließ sie aufschrecken. „Kannst du es lesen?“ Die Stimme klang tiefer und reifer als Secrets, aber sie erinnerte sie auf befremdliche Weise an ihn. Sie hatte nicht bemerkt, dass ein Mann neben sie getreten war, vielleicht Ende zwanzig. In dem hellgrauen Anzug, den er trug, stach er eindeutig aus der Masse Schwarzgekleideter heraus. Vielleicht hatte ihm niemand gesagt, dass es nicht der Etikette entsprach, abends einen hellen Anzug zu tragen. Andererseits machte er nicht den Eindruck, als würde er sich von allgemeinen Gepflogenheiten von irgendetwas abhalten lassen. Sofort fiel Ariane seine gelbe Krawatte mit dem verspielten gold-silbernen Paisley-Muster auf. Sie liebte dieses Muster. Ihr Vater trug immer nur langweilige Schlipse in gedeckten Farben. Als Ariane einmal versucht hatte, ihm ein ausgefallenes Muster aufzuschwatzen, hatte er gemeint, das sehe kitschig und unseriös aus. Dieser Mann jedenfalls schien das Gegenteil zu beweisen. Noch immer wartete ihr Gegenüber auf eine Antwort. „Ja.“, stieß Ariane aus. „Es ist Sütterlinschrift.“ Sie verbesserte sich, da sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, von wann die Schrift stammte. „Oder eine andere deutsche Kurrentschrift.“ Der Mann mit den dunkelbraunen Haaren war sichtlich beeindruckt und lächelte begeistert. Dann trat etwas Verschwörerisches auf seine Züge und Ariane bemerkte, dass seine grünen Augen je nach Lichteinfall in ein Grau übergingen. „Kannst du die andere Tafel für mich entziffern?“ Er wies mit einer Kopfbewegung zur Vitrine. Hätte Ariane die Worte nicht genau verstanden, so wäre sie anhand des Tonfalls davon ausgegangen, er habe sie gerade dazu aufgefordert, für ihn in den Hochsicherheitstrakt der Europäischen Zentralbank einzubrechen. Und dabei lächelte er so vergnügt, als befinde er sich mit ihr auf einer Schatzsuche. So hatte sich bisher nur ihr Vater ihr gegenüber verhalten. Männer nahmen sie normalerweise nicht ernst oder flirteten auf widerliche Art und Weise mit ihr. Ariane lächelte und fühlte sich dazu angestachelt, der Bitte nicht sofort Folge zu leisten. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wieso?“ Der Fremde antwortete ihr ohne zu zögern. „Über vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig altdeutsche Kurrentschrift lesen und schreiben.“ Ariane musste grinsen. Sie drehte sich wieder zu der Vitrine und besah sich das zweite Artefakt. Zunächst überflog sie die Inschrift, ehe sie sie stockend vorlas. „Fin- Finster ward es beim Einbruch der Nacht, der da verdrängt des Lichtes Wacht. Das Eine, gespalten nun, entzweit, brachte statt Liebe nur Schmerz und Leid. Entstandenes Leben drohet zu wanken, überschreitet die Schöpfung des Gleichgewichts Schranken. Schicksal, Verändern, Vereinen, Vertrauen, Wunsch – Geheim, Auf diese Beschützer müsst ihr bauen. Bald wird gekommen sein die Zeit. Die Auserwählten geleitet Ewigkeit.“ „Und was soll das heißen?“, fragte der Mann. Dass er sich tatsächlich nach ihrer Meinung erkundigte, freute Ariane so sehr, dass sie sich strahlend zu ihm wandte. „Naja, es … ähm, vielleicht ist es irgendein Mythos oder eine Sage.“ „Auf einer Steintafel?“ „Vielleicht ist ihnen das Papier ausgegangen.“, scherzte sie. Der Mann lachte, dann trat er etwas zur Seite und hielt ihr die Hand hin, als wären sie ebenbürtig. „Nathan.“ Ariane wurde von Stolz erfüllt. Bisher hatte kaum ein erwachsener Mann – außer ihrem Vater – sie behandelt, als wäre sie ihm intellektuell gewachsen. Nicht dass sie nicht schon Männern begegnet wäre, die so zu tun versucht hatten, als seien sie an ihren Worten interessiert, aber der Blick dieser Männer hatte immer eine ganz andere Sprache gesprochen. Dieser Fremde dagegen wahrte eine respektvolle Distanz zu ihr. Fast wie ein junger König. Jedenfalls hatte sie sich als Kind einen König als jemanden vorgestellt, der zwar erhaben über den Dingen stand, aber dennoch freimütig Kontakt zu den Menschen in seinem Reich suchte. Bei dem Gedanken, hier so jemandem zu begegnen, lächelte Ariane. Sie ergriff Nathans Hand. „Ariane.“ „Wieso Auserwählte?“, fragte er. Kurz musste Ariane daran denken, dass sie dieselbe Frage schon mit den anderen erörtert hatte. Allerdings war es etwas ganz anderes, wenn man den Begriff nicht auf sich selbst bezog. „Damit sind wahrscheinlich eine Art Erlöser oder Gottgesandte gemeint wie es sie in manchen Glaubensrichtungen gibt. Die Juden werden auch als das auserwählte Volk bezeichnet. Oder es handelt sich wie im Buddhismus um Menschen, die eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht haben.“ Nathan lächelte, offenbar imponierte ihre Denkweise ihm. Dann drehte er sich wieder zur Vitrine und fixierte die Steintafeln, als hätten sie ihn in ihren Bann gezogen. „Mein Name kommt darin vor.“, sagte er. Für einen Moment rätselte Ariane, was der Name Nathan wohl bedeutete. Doch ehe sie ihn danach fragen konnte – „Ich muss mich entschuldigen. Die Pflicht ruft.“ Er lächelte einmal mehr sein souveränes und doch offenes Lächeln. „Noch einen schönen Abend.“ „Gleichfalls.“ Ariane noch einmal zunickend, begab sich Nathan hinüber zu ein paar Leuten, die am Rednerpodest versammelt standen. Guter Laune schaute Ariane ihm nach. Anschließend blickte sie sich nach ihren Eltern um. Wie es der Zufall so wollte, kamen die beiden gerade auf sie zu gelaufen. Ihr Vater musterte sie neugierig. „Da hast du dir gleich den richtigen Gesprächspartner gesucht. Nicht, dass das meiner Karriere schaden würde. Aber es verwundert mich doch etwas.“ Bevor Ariane nachfragen konnte, welche Position Nathan in dem Unternehmen einnahm, kam ein Geräusch vom Rednerpodest und alle im Raum richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Sprecher. In seinem grau-silbernen Anzug war Nathan wirklich nicht zu übersehen. Er hatte das Rednerpodest erklommen: „Ich begrüße alle Anwesenden ganz herzlich und danke Ihnen im Namen der gesamten Finster GmbH dafür, dass sie so zahlreich erschienen sind. Ohne die engagierte und passionierte Mitarbeit aller Angestellten wäre diese Firma niemals so erfolgreich geworden.“ Er legte eine bedeutsame Pause ein. „Diese Feier ist für Sie!“ Er wies mit seinen Armen auf die Menschen vor ihm und ließ seinen anerkennenden Blick über sie schweifen. Der ganze Saal applaudierte. Ariane musste während des Klatschens lächeln und verstand gut, dass Nathan die Aufgabe zugeteilt worden war, die Ansprache zu halten. Vielleicht war er ja der Pressesprecher der Firma. Sie sah sich kurz um. Bestimmt würde auch Herr Finster noch ein paar Worte sagen. Es war wichtig, dass sie dann genau zuhörte. Sie lauschte weiter den eindringlichen Worten Nathans. „Ich bin dankbar und stolz, der Geschäftsführer dieses Unternehmens zu sein.“ Ariane stockte. Ge-schäfts-füh-rer…? Sie sah ihren Vater von der Seite an, doch der war weiterhin auf den jungen Mann auf dem Rednerpodest fixiert, der gerade von verschiedenen Etappen in der Geschichte des Unternehmens sprach. Herr Finster war doch der Geschäftsführer des Unternehmens. Jedenfalls hatte sie das so verstanden. Hieß das etwa? Nathan… Finster. Jetzt ergab auch Nathans Kommentar bezüglich der Steintafeln Sinn. Die erste Zeile des zweiten Textes lautete: Finster ward es. Das war sein Name. Währenddessen war Nathan am Ende seiner Ansprache angekommen und wünschte allen Gästen noch einen schönen Abend. Ariane wandte sich eilig an ihren Vater. „Das ist Herr Finster?“ „Ja.“, antwortete ihr Vater leicht belustigt. Ariane gaffte ihn an. „Aber… Ist er nicht zu jung?“ Schelmisch grinste ihr Vater sie an. „Zu jung um Herr Finster zu sein?“ Ariane war nicht zum Scherzen aufgelegt, schließlich hatte sie gerade eine Sympathie für jemanden entwickelt, der vielleicht in die ganze Sache mit ihrer Entführung verwickelt war. Ihr Vater sah ihr die Verstimmung offenbar an und antwortete ihr endlich. „Naja, ich war anfangs auch ziemlich überrascht. Aber er ist ein kompetenter Mann und weiß, wie er mit den Mitarbeitern umzugehen hat. Soweit ich gehört habe, steckt er sein Herzblut in das Unternehmen. Aber ihm gehört schließlich auch der größte Anteil an der GmbH.“ Ariane starrte nochmals auf die Bühne, doch Nathan Finster war nicht mehr zu sehen. Um sich nicht einreden zu müssen, dass sie auf das Schauspiel ihres potentiellen Gegners hereingefallen war, suchte sie hastig nach Alternativen. „Kommt er aus einer bekannten Familie?“ Vielleicht steckte ja der ganze Finster-Clan dahinter. Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Das alles hat er sich selbst erarbeitet. Ich habe gehört, er ist ein Waisenkind.“ Jetzt war sie auch noch ungewollt beeindruckt. Die Spenden an das Kinderheim hatten also einen persönlichen Hintergrund. Gerade wollte sie ihrem Vater weitere Fragen stellen, als dieser erneut einen Arbeitskollegen entdeckte und samt ihrer Mutter abdüste. Das hieß wohl, dass sie mit ihren Fragen bis später warten musste. Sie blieb, wo sie war, und sah erneut zu dem leeren Rednerpult. Vielleicht konnte sie doch noch Nathan – nein, Finster – ausmachen. Seine Freundlichkeit war wohl nur Taktik gewesen. Wenn er einer der Drahtzieher hinter ihrer Entführung war, dann hatte er sie natürlich sofort erkannt und daher versucht, sich ihr Vertrauen zu erschleichen. Ariane seufzte lautlos. Toll, der einzige, von dem sie sich zur Abwechslung mal nicht auf ihre Weiblichkeit reduziert gefühlt hatte, war ihr mutmaßlicher Widersacher! Frustriert ließ sie ihren Blick über die Leute in ihrer Umgebung schweifen. Und erstarrte. Wie ein Tier auf der Flucht suchte sie schnellstens Deckung hinter der Glasvitrine mit den Steintafeln. O hoffentlich hatte er sie nicht gesehen! Zwei Sekunden verstrichen. Drei. Nichts geschah. Vorsichtig lugte Ariane daraufhin in halb geduckter Haltung noch einmal um die Ecke – wie eine Kriminelle, die von der Polizei verfolgt wurde. Im nächsten Moment wäre sie mit ihrer Nase fast auf einen Menschenkörper gestoßen. Ariane schreckte zurück. Er hatte sie entdeckt! Warum hatte sie auch ein rotes Kleid anziehen müssen? „Spielst du Verstecken?“ Der großspurige Klang seiner Stimme war unverkennbar. In einem schwarzen Anzug stand Erik vor ihr. Wo hatte dieser Typ bloß eine lila Krawatte her und wieso sah das an ihm auch noch gut aus? „Ich dachte, es wäre dir lieber, mich nicht zu sehen.“, entgegnete Ariane. Erik lächelte selbstgefällig. „Wie zuvorkommend.“ Ariane bedauerte es zutiefst, Herrn Finsters Stimme mit seiner verglichen zu haben. Das hatte dieser Mann, ob Feind oder nicht, nun wirklich nicht verdient. Aber sie hatte ja auch an Secret gedacht, nicht an Erik. Secret hatte sich zwar ziemlich abweisend und unnahbar gegeben, aber gehässig war er nicht gewesen. „Was führt dich hierher?“, fragte Erik. Für einen Augenblick glaubte Ariane sogar, dass die Häme aus seiner Stimme gewichen war. Wahrscheinlich war es einfach nur zu anstrengend, diesen herablassenden Tonfall ständig beizubehalten. „Das Gleiche könnte ich dich fragen.“, gab sie zurück. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und sie hatte den Eindruck, leichte Gereiztheit aus seiner Stimme herauszuhören. „Ich versuche gerade freundlich zu sein.“ Ariane reagierte in gespielter Überraschung. „Ach wirklich? Das solltest du deinem Gesicht sagen. Ich fürchte, es weiß nichts davon.“ Hatte sich sein Mundwinkel gerade kurz gehoben? Erik schnaubte geradezu belustigt. „Und was genau soll ich ihm sagen?“ „Ich bin sicher, da kommst du auch ganz alleine drauf.“, antwortete Ariane nun ihrerseits gönnerhaft. „Natürlich.“, stimmte Erik zu. „Ich dachte bloß, da du mich so gut kennst, könntest du mir dabei behilflich sein.“ Er hob vielsagend eine Augenbraue. Ariane versuchte, sich von seiner Andeutung auf ihr Verhalten am Morgen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „So wie ich dich kenne, würdest du dir von mir ganz sicher nichts sagen lassen.“ „Da muss ich dir wohl Recht geben.“, sagte Erik. „Das fällt dir sicher schwer.“, erwiderte Ariane. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Du weißt gar nicht wie.“ „In dem Fall gibt es bestimmt genug andere Personen, die du um Rat fragen kannst und gegen die du keine so große Abneigung hast.“, entgegnete Ariane. Eriks Mundwinkel senkten sich. Für Augenblicke starrte er sie an, stumm und durchdringend. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Geräuschvoll stieß er die Luft aus, als würde er die Situation als furchtbar störend empfinden. Ariane war davon pikiert. Er hätte sie schließlich auch einfach in Ruhe lassen können. Wieder sah er sie an, doch dieses Mal, als studiere er ihre Gesichtszüge, um darin die Antwort für etwas zu finden, das ihm nicht einleuchtete. Der Blick war ihr unangenehm und sie wandte sich ab. „Also was willst du?“ „Herausfinden, mit wem ich es zu tun habe.“, sagte Erik ohne zu zögern. Ariane horchte auf. Sie war überzeugt gewesen, dass er an dem vorgefassten Bild, das er von ihr hatte, nichts mehr ändern würde, Sein ganzes Verhalten in der Schule hatte darauf hingedeutet. „Und ich dachte, das hättest du längst entschieden.“, antwortete sie spitz. „Ich bin bereit dazuzulernen.“, sagte er mit düsterem Blick. Sie sah ihn stumm an. Wenn er wirklich dafür offen war, sein vorschnelles Urteil zu revidieren, war vielleicht ihre eigene Einschätzung übereilt gewesen. Allerdings wollte sie keinesfalls riskieren, dass er noch mal auf die Idee kam, sie wolle ihn mit ihrem weiblichen Charme bezirzen und seine Gunst gewinnen. Sie wandte sich der Vitrine zu. „Was hältst du von diesen Steintafeln?“, fragte sie, um ein unverfängliches Gesprächsthema zu haben. Erst jetzt schien Erik die beiden Steinplatten überhaupt wahrzunehmen. Er begutachtete sie ausgiebig und las die Informationstafel. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er beäugte die Tafeln zweiflerisch, als gäbe es etwas Dubioses an ihnen. „Was ist?“, fragte sie. „Nichts.“, sagte er. „Nichts, was du mir sagen würdest.“, korrigierte sie. Wieder bedachte er sie mit diesem durchdringenden Blick, als wolle er sie entlarven. „Liege ich falsch?“, fragte sie herausfordernd. Erik schien es nicht für nötig zu erachten, ihr zu antworten. Daher setzte sie zu einem neuen Versuch an, ihn zu einer Reaktion zu bewegen. „Dein Vater ist also der Anwalt der Finster GmbH.“ Leise Skepsis trat in Eriks Züge. Dadurch fühlte sie sich zu weiteren Spekulationen ermuntert. „Es gab Probleme bei dem Kauf der Ausgrabungsstätte. Tatsächlich ist er noch gar nicht zustande gekommen und deshalb darf Finster die Steintafeln überhaupt nicht ausstellen.“ Sie lächelte amüsiert über die Geschichte, die sie gerade zusammengesponnen hatte. „Denkst du dir immer solche abstrusen Geschichten aus?“, höhnte Erik. „Zumindest ist mir bewusst, dass es nur Geschichten sind, im Gegensatz zu Personen, die ihre Schlussfolgerung für die Wahrheit halten.“, gab sie mit eindeutigem Blick zurück. Seine Augen verengten sich. Ariane sprach weiter. „Du willst auch nicht, dass man dich wegen deinem Vater in eine Schublade steckt, sonst hättest du in der Schule nicht so auf Herrn Mayers Frage reagiert.“ Erik schwieg. Sie blickte ihm entschlossen in die Augen. „Wir sind uns ähnlicher als du denkst.“ Ein langsamer Augenaufschlag Eriks folgte. „Das heißt wohl, dass ich dir vertrauen soll.” „Das erwarte ich nicht.“, erwiderte Ariane mit fester Stimme. Erik verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann erzähl mir deine Version.“ Ariane stockte. Sie begriff, dass sie sich gerade selbst in eine ziemlich missliche Lage gebracht hatte. Schließlich konnte sie ihm nicht die Wahrheit darüber erzählen, warum sie ihn umarmt hatte. Sie wich seinem Blick aus. „Das geht nicht.“ „Warum nicht?“, forderte er zu erfahren. Resigniert senkte sie das Haupt. Daraufhin stieß er erneut geräuschvoll die Luft aus. Ariane wagte nicht aufzublicken. Sie hatte nichts, womit sie Erik davon überzeugen konnte, nicht die zu sein, für die er sie hielt. „Du hattest Recht. Mein Vater ist der Anwalt der Finster GmbH.“ Verdutzt blickte sie auf. Wieso redete er noch mit ihr? „Mit allem anderen lagst du daneben.“ Ariane bemühte sich, sich wieder zu sammeln und ihm normal zu antworten. „Und warum hast du dann ein Problem mit diesen Tafeln?“ Erik starrte sie an. „Du hast sie so angeschaut.“, erklärte sie. „Gute Beobachtungsgabe.“ Seine Worte überrumpelten sie. Erik setzte fort. „Ich glaube nicht, dass diese Tafeln echt sind. Deshalb verstehe ich nicht, dass Finster sie hier ausstellt.“ Sie konnte zwar immer noch nicht nachvollziehen, was ihn dazu bewog, nun mit ihr zu reden. Schließlich hatte sie seine Geschichte über sie nicht widerlegen können. Doch Hauptsache, sie führten ein normales Gespräch. „Wieso sollten sie nicht echt sein?“ „Sieh sie dir an.“ Er deutete auf die Inschrift. „Diese feinen Buchstaben im Stein. Für so etwas benötigt man moderne Technik, das bekommt man nicht von Hand hin. Außerdem, was sind das für Zeichen? Das ist kein Latein. Es sind auch keine Runen“ „So hat man früher in Deutschland geschrieben.“, klärte Ariane ihn auf. „Das ist eine Kurrentschrift.“ „Und genau das ist doch wohl seltsam. So was buddelt man doch nicht irgendwo aus.“, meinte Erik. „Aber wenn sie von der Ausgrabungsstelle kommen.“, hielt Ariane entgegen. Erik sah sie ausdruckslos an, als wolle er ihr nicht mehr erzählen. Arianes Augenbrauen zogen sich zusammen, während sie versuchte, daraus schlau zu werden. Dann erhellte sich ihr Gesicht wieder. „Kommen sie etwa nicht von dort?“ Eine abgründige Stimme unterbrach Ariane und Eriks Gespräch. „Noch immer von den Tafeln gefesselt?“ Die beiden drehten sich zu Nathan Finster um. Als sein Blick auf Erik fiel, erschien ein erkennendes Lächeln auf seinen Lippen. „Vertrittst du deinen vielbeschäftigten Vater?“ Er hielt Erik die Hand hin, doch Erik blieb unbewegt stehen und schwieg. Nicht gerade das Verhalten, das man dem Klienten seines Vaters gegenüber an den Tag legen sollte, ging es Ariane durch den Kopf. Finster störte sich an Eriks Unhöflichkeit jedoch nicht. „Ich sehe, dass du dich in intellektuell ebenbürtige Gesellschaft begeben hast.“ Seine Augen wanderten zu Ariane. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Mund zu einem Lächeln verführt wurde. Erst dann bemerkte sie Eriks Gesichtsausdruck. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen. Der Junge, der jetzt neben ihr stand und dessen distanzierter Blick auf Herrn Finster gerichtet war, war von der Ausstrahlung, vom Gesichtsausdruck, von Sprechrhythmus und Wortklang, in allem: Secret. „Mit dummen Leuten gebe ich mich nicht ab.“ Finster lächelte amüsiert. Angesichts Eriks plötzlicher Verwandlung zunächst noch perplex, musste Ariane erst wieder zu sich finden. Sie musste sich auf etwas anderes konzentrieren. „Wie kann es sein, dass bei Ausgrabungen zwei Tafeln mit deutscher Kurrentschrift gefunden werden? Bei solchen Freilegungen werden doch viel ältere Funde gemacht.“ Ihn zu fragen, ob er rein zufällig mit ihrer Entführung zu tun hatte, wäre wohl etwas zu viel des Guten gewesen. „Allerdings.“, sagte Finster mit selbstsicherem Blick und für einen Moment kam es Ariane so vor, als habe er damit nicht auf ihre Frage geantwortet, sondern ihren unausgesprochenen Gedanken bestätigt. Dann fuhr er fort. „Manch einer würde behaupten, es handle sich um Fälschungen“ Aus seinen Augenwinkeln blickte er Erik an, als wisse er über dessen Skepsis Bescheid. „Aber etwas sagt mir, dass die Antwort nicht so einfach ist. Was meinst du?“ Ariane blickte nachdenklich zurück auf die Steinplatten. „Was ergäbe es für einen Sinn, irgendeinen Text in deutscher Kurrentschrift in zwei Steinplatten zu brennen?“, überlegte sie laut. „Ein solcher Fund ist rein geldmäßig nicht viel wert.“ „Nur wenige Leute erkennen auch den immateriellen Wert der Dinge. Doch deshalb sind sie nicht weniger wertvoll.“ Ariane lächelte und ermahnte sich dann, dass sie ihm nicht trauen durfte. Dann bemerkte sie plötzlich, was sie hier tat. Woher nahm sie sich das Recht, Nathan als Bösewicht abzustempeln? All die Kränkungen, die sie selbst aufgrund vorschneller Verurteilung erlitten hatte und nun tat sie genau dasselbe? „Es ist schön, einem jungen Menschen zu begegnen, der sich für solche Artefakte interessiert.“, meinte Nathan Finster. Er griff in sein Jackett, um eine Visitenkarte und einen Stift herauszuholen. Damit schrieb er etwas auf die Rückseite der Karte und streckte sie hernach Ariane entgegen. „Das ist meine private Emailadresse. Vielleicht fällt dir ja ein, was der Text auf den Tafeln bedeuten könnte und lässt mich daran teilhaben.“ Ariane bedankte sich und nahm die Karte entgegen. „Ich sollte mich jetzt wieder den anderen Gästen widmen, ehe sie sich beleidigt fühlen.“ Für einen Augenblick trat etwas Schelmisches in seinen Blick. „Einen schönen Abend noch.“ Er löste sich von ihnen und wurde sogleich von einigen Gästen angestürmt. „Komischer Kauz.“, bemerkte Erik abfällig. „Viel eher ein sagenumwobener Phönix.“, berichtigte Ariane und drehte sich einmal mehr zu den Steintafeln um. Flüchtig sah sie dann zu Erik neben ihr. „Findest du nicht auch, dass diese Tafeln irgendetwas Sonderbares ausstrahlen?“ „Dafür bin ich wohl nicht feinfühlig genug.“, dementierte er. Nicht feinfühlig genug… Und das sollte der Junge sein, der drei Nächte zuvor noch hellseherische Fähigkeiten besessen hatte? Andererseits war es ihr ganz recht, wenn Erik sich so wenig wie möglich wie Secret verhielt. Seine plötzliche Verwandlung eben war schon schlimm genug gewesen. Es war leichter, Secret und Erik als zwei getrennte Personen anzusehen. Was Ariane allerdings nicht wusste, war, dass Erik sehr wohl dieses Sonderbare empfand, nur dass es nicht von den Tafeln ausging, sondern von ihr. Nach einer Erklärung für ihr groteskes Verhalten am Morgen suchte er zwar vergeblich, aber etwas stimmte auch nicht mit dem Bild der ausgefuchsten Femme fatale oder der durchgeknallten Spinnerin. Besonders die nicht minder seltsame Reaktion ihrer Freunde auf ihn hatte Erik nachdenklich gestimmt. Erst im Nachhinein waren ihm die eindeutigen Parallelen zu Arianes Handlungen aufgefallen. Zum Beispiel Vitalis Bemerkung über eine Wunde an seinem linken Oberarm. Sie stand zweifellos im Zusammenhang mit Arianes Aktion, seinen linken Ärmel nach oben zu ziehen. Was das alles zu bedeuten hatte? Erik hatte keine Ahnung. Aber im Geheimen war der Wunsch in ihm erwacht, dieses Rätsel zu lösen. Kapitel 26: Puzzleteile und Planung ----------------------------------- Puzzleteile und Planung "Die beste Tarnung ist immer die Wahrheit, die glaubt einem keiner.“ (Max Frisch, schweiz. Schriftsteller) Abends hatte Vivien Serena zurückgerufen und vorgeschlagen, sich am nächsten Morgen noch vor dem Unterricht zu einer Besprechung mit allen zu treffen. Serena war einverstanden gewesen und hatte daraufhin Ariane eine SMS geschrieben. Diesmal war es ihr auch leichter gefallen, Vitali anzurufen. Vivien hatte Justin informiert. Und so standen sie nun in der morgendlichen Kühle beieinander. „Es ist kalt.“, beklagte sich Serena. „Gehen wir rein.“, schlug Justin vor. Gemeinsam betraten sie das Schulgebäude, das glücklicherweise schon aufgeschlossen war, und nahmen dann die Treppe hinunter in den wintergartenähnlichen Bereich. Es waren noch zwanzig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Serena verkniff es sich zu sagen, dass es hier auch nicht viel wärmer war. Sie holte das Heft aus ihrem Rucksack und las den anderen denselben Artikelabschnitt vor wie Vitali am Vortag. Daraufhin stellten Vivien und Ariane ihr Fragen, während Justin irgendwie entrückt wirkte. Serena wollte ihnen die Geschichte erzählen, wurde aber zwischendrin immer wieder von Vitali unterbrochen. „Dann erzähl du es doch.“, fuhr Serena den Jungen neben sich an. „Ich hab doch nur ergänzt.“, rechtfertigte sich Vitali. „Du bist mir ins Wort gefahren!“ „Sei doch nicht so empfindlich.“ Ihr Streit wurde vom anderen Tischende unterbrochen. Justins Stimme hörte sich ungewöhnlich schwach und heiser an. „Wie ..wie hieß der Mann?“ „Tylor.“, antwortete Vitali und wurde dafür von Serena angeblitzt. „Und der Tote hieß Dr. Schmidt.“, sagte Justin mit beängstigendem Gesichtsausdruck. Da Serena aufgrund von Justins seltsamem Verhalten nicht sofort reagierte, nahm Vitali ihr einfach das Heft aus den Händen. „Hey!“ Vitali ignorierte ihren Aufruf. „Hier steht gar nicht, wie der hieß.“ „Nein, ihr versteht nicht.“ Justin stockte und starrte auf die Tischplatte vor sich. „Hast du den Mann gekannt?“, fragte Ariane ihn taktvoll. Justin schüttelte nur den Kopf. Vivien legte ihm vorsichtig die Hand auf den Oberarm. „Justin, was ist?“ Einen weiteren Moment tobte ein Sturm in Justins Kopf. „Ich habe es geträumt. Ich habe all das geträumt.“ Er schnappte nach Luft. „Wie Tylor das Paket abgegeben hat. Wie Tylor weggefahren ist. Wie Schmidt den Fund betrachtet hat. Der Schrei. Wie Tylor ihn gefunden hat. Und dann. Der Schatthen.“ Betretenes Schweigen. Vitali verstand nicht. „Wie, du hast es geträumt?“ „Das hat er doch gerade gesagt.“, zickte Serena ihn an. „Aber das gibt es doch gar nicht.“, beschwerte sich Vitali. „Wieso nicht?“, fragte Vivien vergnügt. „Es gibt Menschen, die im Traum in die Zukunft sehen, warum soll Justin dann nicht in die Vergangenheit sehen können?“ Sie beugte sich zu Justin hinüber, um in seinen Sichtbereich zu gelangen, und lächelte ihn freudig an. „Das ist doch toll!“ Justin schaute verunsichert. Ihm war elend. Er empfand die Situation als unheimlich und fühlte sich mit einem Mal fremd in seinem Körper. Wie konnten diese fremden Eindrücke einfach so in ihn eindringen und ihn in seinem Schlaf heimsuchen? Er wollte das nicht. Vivien – nun bäuchlings auf dem Tisch liegend, um von Justin, der die Augen niedergeschlagen hatte, überhaupt bemerkt zu werden – versuchte nochmals, ihm Mut zuzusprechen. „Das heißt, dass unsere Kräfte auch jetzt noch funktionieren. Das kann doch nur von Vorteil sein! Nicht wahr?“ Unglücklich blickte Justin auf. Vivien hatte Recht. Angenehm war die Erkenntnis aber dennoch nicht. „Und hast du gesehen, was dieser Fund war?“, wollte Ariane wissen. Es musste sich um etwas Wichtiges handeln. Etwas, das sie vielleicht weiterbrachte. „Es waren zwei Steintafeln.“, antwortete Justin. Ariane stockte. Sie dachte an die beiden Steintafeln, die sie am Tag zuvor auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH gesehen hatte. Aber das wäre ein zu großer Zufall gewesen. Andererseits war Nathan Finster ohnehin ihr Hauptverdächtiger, so unangenehm ihr das war. „Zwei Steintafeln mit Sütterlinschrift?“, fragte sie vorsichtig. Justin starrte sie an. „Altdeutsche Schrift.“, erklärte Ariane. Unglaube zeichnete sich auf Justins Gesicht ab. „Woher –“ Ariane fasste sich an die Stirn. „Hey, ich kapier grad gar nix!“, beschwerte sich Vitali. Serena hätte gerne gestichelt, dass das bei ihm ja nichts Neues war, leider verstand sie genauso wenig wie er. „Ich habe diese Tafeln gestern auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH gesehen! Sie waren dort ausgestellt.“, erklärte Ariane. Vitali verzog das Gesicht. „Wie können die da ausgestellt sein?“ „Die Finster GmbH hat die Ausgrabungsstelle, aus der sie stammen, gekauft.“, informierte Ariane. „Als Werbung für eine neue Software.“ Serena hatte eine andere Erklärung. „Der Fund ist verschwunden und auf einmal taucht er in der Finster GmbH auf, dem gleichen Unternehmen, dem auch der Baugrund gehört. Der Schatthen hat die Tafeln also dorthin gebracht. Die Sache ist klar: Herr Finster ist derjenige, der die Schatthen auf uns gehetzt hat.“ Unwillkürlich wurde in Ariane das Bedürfnis wach, Nathan Finster gegen Serenas Vorwürfe zu verteidigen. „Das weißt du doch gar nicht.“ Serena funkelte sie aufgebracht an. „Noch eindeutiger geht es ja wohl nicht.“ „Du kennst Herrn Finster doch überhaupt nicht.“, wandte Ariane ein. „Darauf verzichte ich auch gern.“, zischte Serena. Arianes Ausdruck wurde ernst. „Ich habe ihn gestern kennen gelernt. Er wirkte nicht wie ein Bösewicht.“ Serena reagierte giftig. „Deine Menschenkenntnis in Ehren, aber ich vertraue den Fakten da mehr.“ „Ja. Im Verurteilen bist du immer groß.“, brauste Ariane auf. „Zickenterror!“, rief Vitali lautstark in die Runde und zog damit Arianes und Serenas wenig freundliche Blicke auf sich. Justin ergriff das Wort: „Ariane, woher sollte die Finster GmbH die Steintafeln haben, wenn nicht von dem Schatthen?“ Ariane legte die Unterarme auf den Tisch vor sich. „Keine Ahnung, aber wieso sollte jemand Schatthen einen Fund stehlen lassen, der ihm ohnehin gehört, nur um diesen Fund dann auszustellen? Damit würde man sich doch selbst belasten.“ „Ein Wahnsinniger würde so etwas tun.“, meinte Serena. „Aber vielleicht ist Herr Finster eben nicht wahnsinnig und das alles hat eine andere Erklärung. Dass er der Böse ist, wäre doch viel zu offensichtlich.“, erwiderte Ariane. „Das ist hier kein Krimi.“, beanstandete Serena. „Herr Finster ist der Bösewicht und du willst es einfach nicht akzeptieren.“ „Und was bringt uns das jetzt?“, fragte Vivien dazwischen. Sie schaute Serena mit großen unschuldigen Augen an. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte an den eines naiven Kleinkinds. Serenas linke Augenbraue ging argwöhnisch in die Höhe, als wittere sie hinter Viviens Worten eine Art Intrige. „Sollen wir zu ihm hingehen und ihn zur Rede stellen?“, fragte Vivien weiterhin arglos. „Natürlich nicht!“, keifte Serena. „Was dann?“ „Keine Ahnung!“, rief Serena aufgebracht. „Worauf willst du überhaupt hinaus!“ Vivien zuckte mit den Schultern. „Naja. Es ist doch ziemlich sinnlos, sich darüber zu streiten, ob Finster der Böse ist, wenn das sowieso nichts an unserer Vorgehensweise ändert. Ist es nicht sinnvoller, wenn wir uns überlegen, was wir jetzt als nächstes tun?“ Serena protestierte nicht. „Warum wollen überhaupt alle diese zwei Steintafeln?“, wollte Vitali wissen. „Kann man damit reich werden?“ „Es steht eine Art Prophezeiung auf ihnen“, informierte Ariane. Vitali zog die Augenbrauen zusammen. „Und was bringt das?“ „Das sind keine normalen Steintafeln.“, erklärte Justin. „In meinem Traum haben sie geleuchtet. Besonders als der Schatthen aufgetaucht ist.“ „Toll.“, spottete Vitali und verstellte seine Stimme. „Heute haben wir eine Weltneuheit in unserem Online-Shop. Vergessen Sie langweilige Tischlampen. Nehmen Sie leuchtende Steintafeln!“ Er blickte Justin skeptisch an. „So etwa?“ Vivien rief dazwischen. „Stehen wir in der Prophezeiung?“ Weder Ariane noch Justin schienen die Frage zu verstehen.. „Steht etwas über Auserwählte drin?“, konkretisierte Vivien. Ariane saß jäh kerzengerade auf ihrem Stuhl. „Ja!“ Serenas Stimme triefte vor Unwille. „Das ist doch jetzt ein Scherz.“ „Seht ihr?“, rief Vivien freudig triumphierend. Serena bedachte sie mit einem zynischen Blick und wandte sich dann an Ariane und Justin. „Was genau stand denn da?“ Ariane überlegte kurz. „Es ging darum, dass die Welt bedroht wird und zu diesem Zeitpunkt Auserwählte auftauchen werden.“ „Etwas genauer, bitte.“, forderte Serena. „Ich habe kein fotografisches Gedächtnis!“, erwiderte Ariane. „Außerdem war es kein eindeutiger Text.“, fügte Justin hinzu. Vivien lachte. „Vielleicht kann uns ja Herr Finster den Text geben!“ Ariane saß einen Moment bewegungslos da. „Das ist gar keine schlechte Idee.“, überlegte sie laut. Serena glaubte, sich verhört zu haben. „Bist du jetzt total durchgeknallt?“ Ariane ließ sich von ihr nicht aus der Ruhe bringen. Selbstsicher beugte sie sich weiter vor und erwiderte Serenas Blick. „Herr Finster hat mir seine private E-Mail-Adresse gegeben. Wenn ich ihn darum bitte, schickt er mir vielleicht ein Foto der Tafeln.“ „Bist du bescheuert?“, keifte Serena. „Seine private E-Mail-Adresse? Der perverse, alte Sack will ganz sicher keinen Meinungsaustausch mit dir!“ „Er ist weder pervers, noch alt.“, antwortete Ariane empört. Serena verdrehte die Augen. „Den Feind um Hilfe bitten! Ich glaub, ich spinne.“ Vitali sah die Sache lockerer. „Ist doch egal, wenn es uns weiterhilft.“ „Du Trottel, dann weiß Finster, dass wir Informationen sammeln.“, schimpfte Serena. „Ja und?“, wollte Vitali wissen. „Dann schickt er vielleicht umso schneller wieder Schatthen, um uns unschädlich zu machen!“ Ariane mischte sich wieder ein. „Wenn, dann schickt er sie als erstes zu mir! Er weiß schließlich nicht, dass wir fünf zusammenarbeiten.“ „Das weißt du aber genau.“, höhnte Serena. Justin schaute ernst. „Wir haben wohl keine andere Möglichkeit, an die Texte zu kommen.“ „Eben.“, betonte Ariane. „Seid ihr jetzt alle verrückt geworden?“, schimpfte Serena. Auch Vivien war gegen sie. „Wenn uns die Tafeln weiterbringen, dann sollten wir das Risiko eingehen.“ „So bedeutend kann der Inhalt ja nicht gewesen sein, wenn weder Ariane noch Justin sich an Details erinnern.“, lästerte Serena. „Die beiden haben zu dem Zeitpunkt ja nicht gewusst, dass es so wichtig sein würde.“, verteidigte Vivien die zwei. Serena ließ sich davon jedoch nicht überzeugen. „Hast du einen besseren Vorschlag?“, forderte Ariane von Serena zu wissen.. Vitali antwortete an ihrer Stelle. „Wir könnten doch zu der Ausgrabungsstelle gehen.“ „Super Idee!“, lobte Vivien. Wieder hatte Serena Einwände. „Wie wollt ihr das machen? Während die dort arbeiten, können wir schlecht rumlaufen.“ Ariane sah Serena empört an. „Kannst du eigentlich immer nur nörgeln?“ „Besser als kopflos zu handeln.“, gab Serena gereizt zurück. „Wir können doch nachts hingehen, wenn keiner mehr dort ist.“, schlug Vivien vor. „Weiß jemand, wo die Ausgrabungsstelle ist?“, fragte Vitali. „Schweigen.“, antwortete Ariane. Diesen komischen Namen hatte sie sich gut merken können. „Ich glaube, das ist in Bayern.“, informierte Justin. „Das ist viel zu weit weg.“, beschwerte sich Serena. Ariane warf ihr einen zweifelnden Blick zu, schließlich war Bayern von hier aus keine Weltreise. Sie zückte ihr Smartphone und suchte nach einer Route. „Mit dem Auto sind es anderthalb Stunden dorthin.“, eröffnete sie den anderen das Suchergebnis. „Wir haben aber kein Auto.“, kommentierte Vitali. Serena hatte noch weitere Beschwerden. „Seien wir doch mal realistisch. Selbst wenn wir dort leicht hinkämen, ich weiß nicht, wie es bei euch aussieht, aber ich habe keine große Lust, mich dort in der Dunkelheit aufzuhalten. An einem Ort, der nicht nur mit unserer Entführung zusammenhängt, sondern auch noch in Verbindung mit einem Toten steht. Einem Toten durch die Schatthen! Das ist doch wohl reiner Wahnsinn.“ Eine bedrückende Stille legte sich über die fünf. Die Gefahr, die mit ihren Nachforschungen verbunden war, war natürlich nicht zu unterschätzen. Was, wenn sie den Schatthen direkt in die Arme liefen? Vivien schien von derlei Gedanken verschont zu bleiben. „Was haltet ihr von diesem Wochenende?“, schlug sie unbekümmert vor. „Hast du mir eigentlich zugehört!“, schnauzte Serena sie an. Das Lächeln blieb auf Viviens Miene. „Ich höre dir immer zu.“, beteuerte sie. „Deshalb ja das Wochenende. Samstag und Sonntag arbeitet dort sicher keiner, also können wir tagsüber hin.“ Sie blickte in die Runde. „Okay?“ Die Jungs und Ariane nickten ihr zu, doch Serena sah noch immer nicht begeistert aus. „Serena?“, hakte Vivien nach. Für einen Moment hätte Serena zu gerne einfach Nein gesagt, doch etwas hinderte sie daran, das Wort auszusprechen. Und ehe sie sich zu irgendeiner Antwort durchgerungen hatte, hatte schon Vitali das Wort ergriffen. „Ist doch egal, was Serena sagt!“, verkündete er. „Das ist Demokratie! Vier von fünf sind dafür. Also ist die Sache entschieden.“ Serena rechts neben ihm funkelte ihn empört an. „Das heißt noch lange nicht, dass ich mitgehe!“ Vitali grinste höhnisch. „Wie? Hast du gedacht, das interessiert uns?“ Die unterdrückte Kränkung war Serenas verkniffenem Mund deutlich anzusehen. „Mir ist es ganz recht, wenn ihr alleine geht.“, zischte sie so abweisend es nur ging. Wie hatte sie bloß so bescheuert sein können, zu glauben, dass es diesen Vieren auch nur das Geringste ausmachen würde, wenn sie nicht dabei war? „Mann, Mann, Mann.“, machte Vitali und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Du hast hier gar nicht zu entscheiden, ob du mitgehst oder nicht. Wir zwingen dich einfach!“ Er grinste das Mädchen neben sich breit an und löste damit offenkundige Verwirrung in Serena aus. Es dauerte eine Sekunde – in der sich Vitali sichtlich über ihre Sprachlosigkeit amüsierte – bis Serena zu einem Konter fähig war. Kämpferisch funkelte sie Vitali an. „Achja?“ Vitali machte es sich noch ein wenig bequemer in seinem Stuhl, hob die Arme und faltete die Hände hinter seinem Kopf „Ja.“, sagte er lässig. Herausfordernd schlug Serena mit ihrem Handteller auf den Tisch. „Versuch’s doch.“ Vitali richtete sich in seinem Stuhl wieder auf und beugte sich grinsend zu ihr. „Ich bin größer als du.“ Serena tat es ihm gleich. „Und ich bin stärker als du.“ Für Vivien wirkte es, als würden die zwei dabei eine Menge Spaß haben. Ariane unterbrach die beiden. „Aber selbst wenn wir dorthin gehen, kann das nicht den Text der beiden Steintafeln ersetzen.“ Serena stöhnte künstlich genervt. „Dann schreib eben deinem geliebten Herrn Finster.“, lenkte sie endlich ein. Ariane lächelte sie dankbar an. Serena wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn wir alle drauf gehen, ist es deine Schuld.“ Ariane verkniff sich einen Kommentar. „Wir sollten langsam ins Klassenzimmer gehen.“, verkündete Justin. In der zweiten Stunde hatten sie zum ersten Mal Datenverarbeitung, oder besser gesagt, sollten sie haben. Vor einem der Computerräume wartete die Klasse, und wartete…und wartete. „Seid ihr sicher, dass wir hier richtig sind?“, murrte Serena nach einer Weile. „Wir gehen ganz einfach.“, schlug Vitali vor. Einem universellen Gesetz folgend kam der Lehrer natürlich genau in diesem Augenblick. Ob diese Spezies sich wohl manchmal irgendwo versteckte, um sich an den entnervten Gesichtern der Schüler zu weiden? Erst im letzten Moment kamen sie hervor, um damit die Fluchtpläne der Klasse zu vereiteln. Die Schüler machten dem Mann mit dem Schlüsselbund Platz und warteten bis er aufgeschlossen hatte. Anschließend strömte die Meute hinein. Der Raum beherbergte zwei Reihen an großen weißen Tischen für die Schüler. Wie schon im Klassenzimmer so war auch hier die erste Reihe nicht die beliebteste, so dass die fünf samt Erik dort Platz fanden. Die Mädchen setzten sich links an die Fensterseite, die Jungs an die Wandseite. Sie sahen, dass die Computer bereits angeschaltet waren und auf eine neue Anmeldung warteten. Der Lehrer stellte sich ihnen als Herr Becker vor. Er erklärte ihnen, dass sie sich unter diesem Fach nicht vorstellen sollten, dass man die ganze Zeit heimlich im Internet surfen könne. Zunächst würden sie die Theorie durchnehmen müssen, weshalb der Unterricht die nächsten paar Mal in ihrem Klassenzimmer stattfinden würde. Ein Stöhnen ging durch den Raum. Der Lehrer ließ sich davon allerdings nicht beirren. Die erste Arbeit, so Herr Becker, sei rein theoretischer Natur, anschließend würde er die Klasse mit dem Windowsprogramm Excel vertraut machen. „Eigentlich würden wir jetzt eure Benutzerkonten einrichten, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss noch dringend mit dem Direktor reden.“, sagte Herr Becker. „Können wir so lange ins Internet?“, rief eine Jungenstimme von weiter hinten. Herr Becker schaute unsicher. „Eigentlich geht das nicht.“ „Bitte!“, rief die Klasse im Chor, woraufhin sich der Lehrer etwas widerwillig doch noch erweichen ließ. „Na fein.“ Er erklärte ihnen unter welchem Namen sie sich anmelden sollten und gab ihnen das Internetpasswort. „Eigentlich dürfte ich euch gar nicht alleine hier drin lassen.“ Eigentlich war wohl sein Lieblingswort. „Macht ja keinen Unsinn!“, warnte er sie und war sogleich aus der Tür. Vitali lehnte sich gelassen zurück. „Ha, so gefällt mir Schule!“ Auf der anderen Seite wandte sich Vivien an Serena und Ariane. „Ihr könntet doch jetzt gleich an Herrn Finster schreiben.“, schlug sie vor. „Gute Idee.“, freute sich Ariane. „Was heißt ihr?“, beanstandete Serena, die zwischen Ariane und Vivien saß. „Ich schau solange nach der Zugverbindung nach Schweigen.“, kündigte Vivien an, nahm ihren Stuhl und wanderte damit hinüber zu Justin, der den Platz am Gang eingenommen hatte. Der Junge hatte sich bereits als Gast angemeldet und die Verbindung zum Internet aufgerufen. „Ich wusste schon, dass du die gleiche Idee hast.“, lachte Vivien und setzte sich neben ihn, während sich die Startseite der Bahn aufbaute. Justin lächelte verlegen. Erik schob seinen Stuhl zurück, so dass er an Vitali vorbei zu Justin und Vivien sehen konnte. Er erkannte die Internetseite der Bahn und las die Eingabe Justins: Schweigen. Seine Augen wanderten hinüber zur Fensterseite zu Ariane. Dann wandte er sich Justin und Vivien zu. „Was wollt ihr denn da?“ Justin suchte nach einer Ausrede. In Gedanken ging er durch, was eine Fahrt nach Schweigen rechtfertigen konnte. Doch noch ehe ihm etwas eingefallen war, kam ihm Vitali zuvor. „Ariane hat uns erzählt, dass es dort eine Ausgrabungsstelle gibt.“ „Aha.“, machte Erik. Ariane, die das Gespräch der anderen mitbekommen hatte, bemerkte jetzt erst, dass sie nichts von Eriks Anwesenheit auf der Feier der Finster GmbH erzählt hatte. Angesichts der neuen Erkenntnisse hatte sie das einfach vergessen. „Erik war auch auf der Jubiläumsfeier.“, eröffnete sie den anderen. Die übrigen starrten sie an. „Sein Vater ist der Anwalt der Finster GmbH.“, erklärte Ariane. Vivien drehte sich zu Erik und strahlte. „Dann weißt du ja, warum wir dorthin wollen.“ Die anderen hatten keine Ahnung, wovon Vivien redete, allein Eriks Gesicht ließ nicht darauf schließen, ob er Viviens Anspielung verstand oder nicht. Seine Stimme klang eher provokativ als fragend, so als wolle er nicht darauf antworten. „Tue ich das?“ Vivien grinste und schien ihm nun ihrerseits keine Antwort geben zu wollen. Erik sah daraufhin zu Ariane hinüber, als würde sie ihm nähere Auskunft geben können. „Ach komm schon.“, sagte Vivien, als erwarte sie von Erik, dass er endlich auf den Trichter kam. „Ein geheimnisvoller Fund. Das ist doch der perfekte Hintergrund für einen Horrorfilm!“ Nun zog Erik doch verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Wir drehen einen Horrorfilm!“, eröffnete Vivien ihm – und den anderen. Sie ließ ihr Kinn auf ihre Brust sinken und starrte von unten mit düsterem Blick zu Erik auf, ihre Stimme klang krächzend und düster. „DER FLUCH DER FINSTERNIS!“, verkündete sie langsam und bedeutungsschwer. Anschließend grinste sie breit. „Ab Donnerstag im Kino.“ „Wenn ihr meint.“, sagte Erik bloß. Da Vivien die Sache mit Erik im Griff zu haben schien, widmeten sich Serena und Ariane wieder der Mail an Herrn Finster. Ariane hatte ihr E-Mail-Postfach aufgerufen und saß nun vor der leeren Mail. „Was ist denn?“, fragte Serena, nachdem Ariane nur stumm auf den Bildschirm gestarrt hatte. „Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“, gestand Ariane. Serena sah sie skeptisch an. „Sehr geehrter Herr Finster?“ „Das ist viel zu unpersönlich.“, entgegnete Ariane. „Wie wäre es mit: Hallo Schatz?“, höhnte Serena. Ariane warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Er hat sich mir als Nathan vorgestellt und mir das Du angeboten. Es wäre unhöflich, dieses Angebot auszuschlagen.“ „Wenn du meinst.“ Ariane schaute unzufrieden. „Aber Lieber Nathan hört sich doch zu vertraut an, nicht wahr? Hi Nathan kann ich doch auch nicht schreiben. Und Guten Tag Nathan ist wieder zu distanziert.“ Serena stöhnte. „Ich glaube, die Mail wird nie fertig.“ „Vielleicht sollte ich den Anfang erst einmal auslassen.“, meinte Ariane resigniert. Wieder saß sie stumm und bewegungslos vor dem PC. „Du hast keine Ahnung, wie du anfangen sollst.“, vermutete Serena. Unzufrieden stimmte Ariane ihr zu. „Gibt es nicht irgendeinen Aufhänger? Etwas das ihn davon überzeugen könnte, dir den Text zu schicken?“, fragte Serena. Endlich machte Ariane wieder ein hoffnungsvolles Gesicht. „Er hat gesagt, wenn ich mich für alte Schriften und so was interessiere, dann könne ich mich jederzeit bei ihm melden, und falls mir einfallen würde, was der Text auf den beiden Steintafeln bedeuten könnte.“ „Na dann haben wir’s doch. Du sagst einfach, dass du gerne die Texte interpretieren würdest.“ Ariane schien mit der Antwort noch nicht wirklich zufrieden. Schließlich begann Serena zu diktieren: „Hallo Nathan! Ich hoffe, es ist nicht allzu dreist, wenn ich schon jetzt auf das Angebot zurückgreife, mich zu melden. Smiley. Die Steintafeln haben mich sehr fasziniert, deshalb würde ich gerne versuchen, die Texte zu interpretieren. Würde es viele Umstände machen, mir Fotos der Tafeln zuzuschicken? Vielen Dank schon mal im Voraus. Viele liebe Grüße, Ariane.“ Ariane hatte währenddessen eifrig zu tippen begonnen. Da sie das Zehn-Finger-System beherrschte, flogen ihre Finger nur so über die Tastatur, und Serenas Worte erschienen auf dem Bildschirm. Ariane lächelte das Mädchen neben sich freudig an. „Das ist gut. Danke.“ Dann klickte sie auf die Betreffzeile und schrieb Steintafeln hinein. „Weißt du überhaupt die E-Mail-Adresse auswendig?“, erkundigte sich Serena. „Sie war nicht schwer zu merken.“, antwortete Ariane während dem Tippen. Anschließend las sie sich nochmals den Text durch und schickte ihn dann ab. In diesem Moment drang Viviens Stimme zu ihnen. „Ist euch 08:28 Uhr recht?“ „Ja.“, rief Serena zurück. Währenddessen hatte sich Ariane abgemeldet und die Internetverbindung beendet. Sie und Serena drehten sich zu den anderen. „Und wer spielt das Opfer?“, fragte Erik gerade. „Die Rollen sind noch nicht verteilt.“, erklärte Vivien fröhlich. „Wir wollten uns von der Ausgrabungsstelle inspirieren lassen und dann ganz spontan was machen. Das ist immer besser.“ Vitali drehte sich zu Erik. „Ich schlage vor, dass Serena den psychopathischen Killer spielt oder das Monster.“ Er blickte grinsend zu Serena. „Braucht sie gar nicht zu schauspielern.“ „Wenn ich dich dann aufschlitzen darf!“, fauchte Serena. „Ja, das ist die richtige Einstellung!“, lachte Vitali. Erik hatte noch immer einen forschenden Blick aufgesetzt. „Ist für mich auch noch eine Rolle frei?“ Die anderen schwiegen schlagartig. „Du könntest helfen, den Film zu schneiden!“, rief Vivien freudig aus. „Das ist nett, aber bei der Ausgrabungsstätte wollt ihr mich nicht dabei haben, wenn ich richtig verstehe.“, bohrte Erik weiter. Die anderen stockten und hofften, dass Vivien wieder eine gute Ausrede parat haben würde. Doch zu ihrer Bestürzung machte Vivien ein Gesicht, als wäre sie ertappt worden und wisse sich nicht mehr zu helfen. „Erik, es ist so.“, begann Vivien zögerlich in untypisch ernstem und bedrücktem Tonfall. Sie brach nochmals ab und sah Erik durchdringend an. „Auch wenn du es uns bestimmt nicht glaubst. Letzten Freitag sind wir von Monstern angegriffen und entführt worden. Wir dachten, wir würden sterben.“ Tränen bildeten sich in ihren Augen. Ihre Stimme war emotional. „Irgendwie haben wir es geschafft zu entkommen. Aber wir müssen herausfinden, was dahinter steckt. Alles deutet auf diese Ausgrabungsstätte hin. Wir dürfen dich da nicht mit hineinziehen! Bitte versteh das.“ Viviens Gesichtsausdruck war flehend. Eriks Augenbrauen zogen sich in einer Mischung aus Unglaube und Argwohn zusammen. Im gleichen Moment erschien ein breites, schalkhaftes Grinsen auf Viviens Lippen und sie brach in ein Lachen aus. Den anderen vier war das Lachen dagegen vergangen. Erik lehnte sich zurück. „Ihr scheint ja schon eine Story gefunden zu haben.“ Die anderen nahmen seine Worte kaum zur Kenntnis, sie befanden sich immer noch im Schockzustand. „Die Hauptrolle würde ich an eurer Stelle Vivien geben.“, meinte Erik. Vivien kicherte und sprach unbekümmert weiter: „Wenn du willst, kannst du natürlich mit. Die Bahnkarte für fünf Personen ist bloß am günstigsten.“ Erik machte einen plötzlichen Rückzieher. „Nein, schon okay.“ Vivien zwinkerte ihm zu. „Dafür drehen wir die Fortsetzung ganz einfach bei dir. Und da du nicht im ersten Teil mitgespielt hast, winkt dir eine Hauptrolle!“, vertröstete sie ihn. „Aber bei dem Schneiden bleibt es doch?“ Erik antwortete nicht. „Dann kommen wir am Sonntag bei dir vorbei. Die Software bringen wir mit.“, schlug sie vor. „Wäre es nicht einfacher, zu jemandem zu gehen, auf dessen Computer die Software schon ist?“, fragte Erik argwöhnisch. „Serena hat die Kamera erst neu, sie hat die Software auch noch nicht installiert.“, log Vivien. Allerdings hatte sie bei Serena zu Hause tatsächlich einen Camcorder gesehen. „Also musst du uns alle fünf bewirten.“ Erik sah sie skeptisch an. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“, lachte Vivien. „Also… Adresse und Telefonnummer!“, forderte sie wie bei einem Überfall. Überraschenderweise schrieb Erik die Informationen tatsächlich auf den Block, den sie ihm reichte. Die anderen atmeten auf, Erik schien Viviens Märchen wirklich geschluckt zu haben. Die Sache mit der puren Wahrheit hätte sie dennoch unterlassen können. Damit hätte sie ihnen einiges erspart. Allein Vitali hatte Viviens Aktion wenig ausgemacht. Als sie den Computerraum verließen und die Jungs bereits ein Stück entfernt waren, wandte Ariane sich an Vivien. „Wie wollen wir das machen? Erik wird erwarten, dass wir wirklich etwas drehen.“ „Ist doch kein Problem. Wir können doch Serenas Kamera benutzen, oder?“ Serena schaute grimmig, nickte aber. „Das könnte auch ganz nützlich sein, wenn wir dort was finden.“, meinte Vivien. Serena sah zu ihr. „Warum wolltest du unbedingt zu Erik nach Hause?“ „Vielleicht kriegen wir dort ja auch was Neues raus.“, erwiderte Vivien zuversichtlich. Weitere herausragende Erkenntnisse blieben den Rest der Woche aus. Nicht zuletzt weil die Schule immer mehr ihrer Zeit beanspruchte. Anscheinend wollten die Lehrer bereits zu Beginn die Spreu vom Weizen trennen und bombardierten die Schüler daher mit Hausaufgaben. Dafür machten die kleinen und großen Pausen, in denen die fünf mit Erik herumalberten und sich amüsierten, so einiges wieder wett, denn Lachen war ja bekanntlich die beste Medizin – auch gegen Stress. Dennoch entging es Vivien nicht, dass Serena auf Amandas Anwesenheit geradezu allergisch reagierte. Sie schien dann immer sehr verkrampft zu sein, als wäre das gekünstelte, hohe Lachen dieses Mädchen für Serena das, was für Superman Kryptonit war. Keiner von ihnen hatte bisher mehr über die Geschichte der beiden erfahren, aber Vivien lag es auch fern, solche schlechten Erinnerungen in Serena wachzurufen. Sie bediente sich lieber der Ablenkungstaktik und meistens funktionierte das auch. Nebenbei klärten die fünf mit ihren Eltern ihren Ausflug am Wochenende ab. Dabei gab es auch keine großen Schwierigkeiten. Donnerstags besprachen sie sich nach der Schule nochmals. Ariane zeigte ihnen auf ihrem Smartphone die Mail, die Nathan Finster ihr geschrieben hatte. Da sie momentan keinen Computer und keinen Drucker, geschweige denn Internet zu Hause hatte, hatte sie ihnen die Mail nicht ausdrucken können. Liebe Ariane, ich freue mich, dass du dich so sehr für diese Fundstücke interessierst. Anbei schicke ich dir Fotos der beiden Tafeln. Aber nur unter der Bedingung, dass du mich an den Ergebnissen deiner Analyse teilhaben lässt. ;-) Liebe Grüße. Nathan PS: Wie ich an deiner E-Mail-Adresse ersehen konnte, bist du also die Tochter von Stefan Bach, richtig? Da kann ich mir ja doppelt auf die Schulter klopfen, ihn nach Entschaithal geholt zu haben, wenn er so kulturinteressierten Anhang mitbringt. ;-) Serena musste sich schwer zusammenreißen, um sich nicht über das eindeutige Geschleime in dieser Mail zu beschweren, aber sie wollte sich nicht schon wieder mit Ariane streiten. Ariane zeigte ihnen als nächstes den Anhang, der aus zwei gestochen scharfen Bildern bestand, die Ariane das Lesen der Inschrift leicht gemacht hatten. Sie hatte den Text für die anderen in normale Schrift übertragen und zeigte ihnen das Blatt Papier, auf dem sie ihn handschriftlich festgehalten hatte. Doch egal wie oft die anderen sich die beiden kurzen Texte durchlasen, nichts davon gab Aufschluss über ihre Situation. „Gut und Böse, und Auserwählte, die Rettung oder Untergang sind? Das darf einfach nicht wahr sein.“, beschwerte sich Serena. „Wir sind Helden!“, rief Vivien überzeugt. Vitali gab ihr ein High Five, wobei er wegen dem Größenunterschied zwischen ihnen, den Arm nicht groß heben durfte. Serena verdrehte die Augen. „Vielleicht finden wir auf der Ausgrabungsstelle mehr heraus.“, sagte Justin. Kapitel 27: Zur Ausgrabungsstätte --------------------------------- Zur Ausgrabungsstätte „Selbst der Tod hat keine Macht über Erinnerungen.“ (Heinz-Peter Lang) Am Samstag war es endlich soweit. Doch das Wetter war den fünfen nicht wohlgesonnen. Es war ein verregneter Morgen und der graue Himmel, sowie die Wettervorhersage, zeigte an, dass die fünf sich auch für den restlichen Tag keine Hoffnungen auf eine Besserung machen konnten. Obwohl Serenas Mutter sogleich versucht hatte, ihre Tochter von der Idee abzubringen, bei diesem Wetter irgendwohin zu gehen, hielten die fünf mit Regenjacken und Schirmen bewaffnet an ihrem Plan fest. Frau Funkes Vorschlag, alle fünf hinzufahren, musste Serena ausschlagen. Sowieso war ihre Mutter weiterhin skeptisch gegenüber Serenas neuen Freunden. Hätte sie jetzt noch erfahren, dass Serena vorhatte, mit den Vieren bei Regen auf einer Ausgrabungsstelle herumzustreunen, hätte sie sie vermutlich erst gar nicht aussteigen lassen. Wie verabredet traf sich die Gruppe im Entschaithaler Bahnhof und lief gemeinsam zum Bahngleis. Vivien, fröhlich wie immer, fand sogar noch einen Vorteil an dieser Witterung: Erik gegenüber konnten sie nun einfach behaupten, sie seien gar nicht zu der Ausgrabungsstätte gefahren, wodurch das Drehen eines Films überflüssig wurde. Diese Nachricht teilte sie Erik auch sogleich per SMS mit. Schon am Morgen hatte sie Serena darüber informiert, dass sie den Camcorder nicht mitbringen brauchte. Die Fahrt nach Schweigen dauerte zwei Stunden. Zwischendurch mussten sie zweimal umsteigen. Das Wetter besserte sich in dieser Zeit nicht, eher wurde es schlechter. In Schweigen angekommen, nahmen sie den Bus und mussten dann im Regen noch ein Stück zu Fuß gehen. Auch ihre Schirme konnten sie nicht vollends gegen das Unwetter schützen, denn der Wind schien sich mit den Wolken darauf geeinigt zu haben, alle Passanten so nass wie nur möglich zu machen. Die fünf fragten sich, ob sie noch rechtzeitig ankommen würden, bevor die Ausgrabungsstelle unter Wasser stand. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Vor ihnen oder besser gesagt unter ihnen breitete sich die Ausgrabungsstelle aus. Von der gesamten Ausgrabungsumgebung waren viele Meter Boden abgetragen worden. Dadurch befand sich der Grund der Ausgrabungsstätte weit unterhalb des normalen Weges. Sie störten sich nicht an dem Schild, das ihnen das Betreten der Baustelle untersagte. War ja schließlich auch keine Baustelle. Um die Grube der Ausgrabungsstelle waren metallene Gittertrennwände aufgestellt worden, um den Grund vor dem Zutritt Unbefugter zu bewahren. Aber die Absperrung war nur provisorisch. Sie hievten eines der Gitter aus seiner Halterung, um es zu verschieben und eine Öffnung zu erhalten, durch die sie hindurchschlüpfen konnten. Die fünf liefen einen in die Erde eingelassenen, teils aufgeschütteten Abstieg hinunter. Dabei mussten sie höllisch aufpassen, dass sie aufgrund des vom Regen aufgeweichten Bodens nicht auf ihrem Hosenboden landeten und mit einer Rutschpartie auf dem Matsch nach unten schlidderten. Endlich erreichten sie den Boden, mit vor Dreck triefenden Schuhen und sahen sich um. Sie befanden sich nun in einer riesigen viereckigen Grube, umringt von meterhohen Erdwällen. Einige Stellen des von Pfützen durchdrungenen Bodens um sie herum waren aufgebuddelt worden, doch anscheinend ohne großen Erfolg. Die Löcher waren nicht einmal mit rot-weiß gestreiftem Absperrband abgesteckt, dafür aber mittlerweile mit Regenwasser gefüllt. Die fünf taten ein paar Schritte und blickten sich suchend um. Geradeaus an der meterhohen Wand aus Boden waren ein paar weitere Zentimeter Erde abgetragen worden, abgekratzt von einer glatten steinernen Mauer. Mutter Natur musste diesen Fund einige Zeit in ihrem Inneren verborgen haben. In der Mitte der Mauer befand sich eine Öffnung. Neugierig näherte sich die Gruppe der Entdeckung. Davor stand ein weißrot gestreifter Absperrzaun wie sie auf Baustellen üblich sind. Leicht zu umgehen. Die Länder investierten nicht mehr so viel in archäologische Freilegungen, daher gab es keine großartigen Sicherungsvorkehrungen. Der Fund erinnerte die fünf unwillkürlich an eine Hauswand, besonders aufgrund der darin eingelassenen Öffnung. Sie sah aus wie der Eingang bei einem Rohbau, bei dem noch keine Türen vorhanden waren. Andererseits musste dort etwas gewesen sein wie eine Tür, ansonsten hätte man sich jetzt in das Innere wühlen müssen, da Erd- und Gesteinsmassen zuvor eingedrungen wären und alle Freiräume eingenommen hätten. Doch der unterirdische Gang dahinter war frei. Ariane und Vitali verschoben die Absperrung ein Stück, so dass sie nacheinander hindurchschlüpfen konnten. Anschließend blickten die fünf in den Gang vor sich, sahen aber kaum mehr als Schwärze. Das Licht reichte nicht weit hinein. Justin holte eine Taschenlampe aus seiner Jackentasche hervor, aber auch das brachte nicht viel. „Es könnte einstürzen.“, überlegte Serena laut. „Hä? Quatsch.“, meinte Vitali. „Liegt ja sicher schon ewig hier unten.“ Vivien schloss ihren Regenschirm, stellte ihn neben den Eingang und holte ebenfalls eine Taschenlampe aus ihrer Umhängetasche. „Los geht’s!“, rief sie und machte den ersten Schritt in den schwarzen Schlund vor ihnen. Auch die anderen ließen ihre Schirme draußen und folgten. Sogleich spürten sie harten Boden unter sich, nicht mehr die durchgeweichte Erde der Ausgrabungsumgebung. Da Vitali, Ariane und Serena nicht an Taschenlampen gedacht hatten, erleuchteten nur zwei Lichtkegel das unbekannte Gebiet. Der Boden, die Decke, die Wände, alles schien hier aus Stein zu bestehen. „Ein Stollen ist das nicht.“, bemerkte Vitali. „Es wirkt wie ein Haus.“, meinte Ariane und sah sich interessiert um. „Aus welcher Zeit es wohl stammt?“ „Der Professor hat gesagt, dass er die Inschriften von den Wänden abgetrennt hat.“, informierte Justin. Es war etwas seltsam, ihn das sagen zu hören, als wäre er selbst dabei gewesen. „Sütterlinschrift wurde 1911 entwickelt.“, sagte Ariane. „Toll, die haben ein altes Haus ausgebuddelt. Weltbewegender Fund.“, spottete Vitali. „Sütterlinschrift ist anhand älterer Kurrentschriften entworfen. Es könnte also genauso gut keine Sütterlin sein, sondern eine ältere Schriftform. Solche Schriften wurden schon im 17. Jahrhundert benutzt. Das heißt, das Haus kann schon einige hundert Jahre alt sein.“, führte Ariane aus. „Und wie haben die das in die Wände gekriegt?“ Vitali fasste den kalten hellgrauen Stein neben sich an. „Das haben sich Schmidt und der Professor auch gefragt.“, antwortete Justin und beendete damit das Thema. Die Gruppe lief weiter den Gang entlang und atmete stickige, abgestandene Luft ein. Der Todesgeruch alter, verlassener Häuser. Justin und Vivien leuchteten immer wieder die Wände ab, um den Punkt zu finden, von dem die Inschriften abgelöst worden waren, bisher ohne Erfolg. Sie waren ein ganzes Stück gelaufen, als ein Weg vom Hauptgang abführte. Dort endlich entdeckten sie an der rechten Wand ein Loch, das aussah, als habe jemand etwas vorsichtig und präzise aus der Wand entfernt. „Hier müssen die Inschriften herkommen.“, schlussfolgerte Justin. Sie betrachteten die Abzweigung und entschlossen, ihr zu folgen. Nach einigen Schritten veränderte sich der Anblick der Wände. Das Mauerwerk war hier nicht verputzt, so dass die aufeinander geschichteten, großen Backsteine sichtbar waren – die Rippen des Massivbaus. Aber das Ende des Wegs war enttäuschend. Die Abzweigung führte in eine Sackgasse. Sie mussten also zum Hauptgang zurück, doch Vivien blieb stehen und sah sich die Wände genauer an. „Was tust du?“, fragte Serena skeptisch. „Die Sackgasse hier ist doch komisch.“, meinte Vivien. Vitali verstand nicht. „Was ist daran komisch?“ „Habt ihr Zuhause etwa einen Flur, der ins Nichts führt?“, gab Vivien zu bedenken. Ariane stimmte zu. „Wenn man nicht in einem Labyrinth ist, dann führt ein Weg normalerweise irgendwo hin. Kannst du hierher leuchten?“ Vivien tat wie ihr geheißen, während Ariane die eine Wand abtastete. Serena blieb skeptisch. „Meinst du etwa, hier wäre ein Geheimgang?“ „Wieso nicht?“, wandte Ariane ein. „So was gibt’s doch nur im Fernsehen.“, meinte Vitali. Ariane widersprach. „In Venedig im Dogenpalast gibt es auch Geheimgänge. Sie verbinden einzelne Zimmer miteinander, so dass man unbemerkt den Raum wechseln konnte.“ Mittlerweile fragte Vitali Ariane schon nicht mehr, woher sie solches Zeug wusste. „Schaut!“, rief Vivien. Sie richtete ihre Taschenlampe auf einige Ziegel der linken Wand, ein paar Zentimeter neben der Ecke, und fuhr mit den Fingern eine Linie nach, die die Ziegelabschlüsse dort bildeten. „Und?“, fragte Vitali ungeduldig. Ariane begriff. „Die Backsteine sind sonst überall so angeordnet, dass sie nicht an der gleichen Stelle aufhören.“ Vivien ließ den Lichtstrahl auf die Ziegel daneben gleiten und setzte fort. „Aber an dieser Stelle sieht es aus, als wären sie extra so abgesägt worden.“ Der Lichtkegel wanderte einen Meter weiter nach links. „Hier dasselbe. Da muss ein geheimer Gang sein!“, verkündete sie zuversichtlich. Serena und Vitali schauten weiterhin skeptisch drein. Ariane betrachtete nochmals die etwa anderthalb Meter große Linie rechts, die zwei Backsteine vor dem Boden aufhörte. Anschließend begutachtete sie die Linie links. Dort reichte sie bis zu einem Backstein über dem Boden. Das musste es sein! Vivien kniete nieder und legte ihre Hand auf den zweiten Ziegel von unten, der die Linie rechts früher unterbrach. Sie drückte zu. Nichts. Vivien stoppte und hielt Ariane ihre Taschenlampe hin. „Kannst du mal halten?“ Nun mit zwei Händen versuchte sie es nochmals. „Was tust du?“, wollte Justin wissen. „Ich versuche … den Stein reinzudrücken.“, presste Vivien hervor und drückte noch fester. „Was sonst.“, murmelte Serena zynisch. Justin kniete sich neben Vivien und versuchte zu helfen, daraufhin nahm Ariane auch seine Taschenlampe an sich. „Es bewegt sich!“, jubelte Vivien. „Ja, und wahrscheinlich bricht jetzt der ganze Gang ein.“, zischte Serena leise. Vitali, der genau neben ihr stand, musste grinsen. Justin und Vivien drückten mit voller Kraft gegen einen unbekannten Widerstand. Sie fühlten mit einem Mal einen schwachen Luftzug. „Drückt gegen die Wand!“, befahl Justin. Wenn Justin diesen autoritären Ton hatte, begann man besser keine lange Diskussion mit ihm. Sofort taten Serena und Vitali wie ihnen geheißen worden war und stemmten ihr ganzes Gewicht gegen das Mauerwerk. Serena entfuhr ein kurzer Schreckenslaut, als sie spürte, dass die Wand tatsächlich nachgab. Beinahe hätten Vitali und sie das Gleichgewicht verloren und wären vorwärts gestürzt. Gerade noch rechtzeitig zuckten sie zurück, landeten dafür aber unsanft auf dem Hosenboden, während das Stück der Mauer, das Vivien zuvor definiert hatte, nach ihrem Anschubser wie von selbst aufschwang. Gleichzeitig ließen Justin und Vivien erleichtert von dem Stein ab, mit dem sie die ganze Zeit gekämpft hatte. Im gleichen Moment kam dieser auch schon zurückgesprungen, als befände sich hinter ihm eine Art Feder. Fassungslos starrten die fünf auf die Öffnung in der Wand. Ariane, als einzige noch stehend, leuchtete mit beiden Taschenlampen hinein. Ein eisiger Windhauch schlug ihnen entgegen, wie aus einem Schrank, den man ewig nicht mehr geöffnet hatte. „Ein Geheimgang!“, triumphierte Vivien. Schon war sie wieder auf den Beinen und grinste Serena und Vitali breit an. Die beiden waren aber viel zu baff, als dass sie darauf eingegangen wären. Ariane überreichte Justin und Vivien wieder ihre Taschenlampen. Für einen Augenblick standen die fünf ehrfürchtig vor der etwas mehr als einen Quadratmeter großen Öffnung. Dann sahen sie einander an und kletterten hinein. Sand knirschte unter ihren Füßen, wahrscheinlich war es Schmutz. Justin leuchtete die Ecken der Geheimtür ab. In der einen fand er Scharniere, in der anderen eiserne Platten. „Diese Platten müssen die Mauer von hinten an ihren Platz gedrückt gehalten haben.“, vermutete Ariane. Justin nickte. „Und durch den Druck auf den Backstein sind sie eingezogen worden. Fast wie bei einer Türklinke.“ „Aber schon ziemlich verrostet.“, merkte Vivien an. Daher hatten sie so fest drücken müssen. Gespannt gingen die fünf weiter. Sie befanden sich jetzt in einem Teil des Hauses, den selbst die Archäologen noch nicht entdeckt hatten. Ihre Herzen klopften vor Aufregung. Wände und Boden waren hier wieder aus glattem Stein wie zuvor. Die Luft roch grässlich. Nach wenigen Metern entdeckten sie auf dem Boden ein seltsames Symbol. „Was ist denn das für Gekrakel?“, fragte Vitali abschätzig. Das Zeichen bestand aus einem Kreis aus buchstabenähnlichen Gebilden, die jedoch kaum zu entziffern waren. Vivien holte ihr Handy hervor und schoss ein paar Bilder. Ihre Taschenlampe hatte sie langfristig in Arianes Obhut gegeben. Derweil trat Serena näher an das Symbol heran. Konzentriert betrachtete sie die einzelnen Buchstaben, um sie besser dem ihr bekannten Alphabet zuordnen zu können, dann ging sie im Kreis um das Zeichen herum. „Das ist ein Ambigramm.“, stellte sie fest. Vitali sah sie fragend an. „Ein was?“ „Man kann es von beiden Seiten lesen. Wenn du es auf den Kopf drehst, bleibt es das gleiche Wort.“, erklärte Serena. Diese Information hatte sie einmal einem Roman entnommen. Sie deutete auf einen G ähnlichen Buchstaben, der den Anfang des Wortes zu bilden schien. Direkt unterhalb befand sich der gleiche Buchstabe erneut, nur auf den Kopf gestellt. „Dieses G kann als G und als R gelesen werden.“, interpretierte Serena. „Um das Wort von der einen Seite zu lesen, muss man um das Symbol herum laufen oder man stellt sich in den Kreis und dreht sich mit dem Wort mit.“ „Cool!“, freute sich Vivien und stand in den Kreis hinein, um das Symbol von allen Seiten zu betrachten. „Und was steht da?“, wollte Ariane wissen. Serena überlegte kurz. „So was wie: Gleichgewichtsbeschützer.“ Als ob sie mit einem Mal einen Lichtschalter betätigt hätte, schoss aus den Buchstaben des Symbols schlagartig ein helles Licht, das Vivien einkreiste. „Vivien!“, schrie Justin. Vivien fasste mit ihrer Hand durch das Licht hindurch. Es passierte nichts. Und so trat sie aus dem Kreis heraus zurück zu den anderen. Sie lächelte. „Es ist nur Licht.“ „Was hat es ausgelöst?“, wunderte sich Ariane. „Vielleicht weil Vivien sich in den Kreis gestellt hat.“, nahm Serena an. „Aber es ist erst angegangen, als du Gleichgewichtsbeschützer gesagt hast.“, erwiderte Vivien. Justin begutachtete das seltsame Licht, in dem Millionen kleiner Brillianten zu tanzen schienen. „Das ist das gleiche Licht wie bei den Tafeln.“, erkannte er. Nur dass es dieses Mal nicht leicht bläulich, sondern ganz weiß war, mit einem Hauch Silber. Wenn die anderen dazu noch etwas sagen gewollt hatten, ging es jetzt verloren. Denn plötzlich vernahmen sie von weiter hinten eine Stimme. Ihr Herzschlag setzte aus. Atemlos horchten sie, ob sie es sich eingebildet hatten, ob es vielleicht bloß ein Windzug war. Klar! Ein sprechender Windzug! Ach, eine Menschenstimme zu hören, war also wahrscheinlicher?! Ihre Gedanken verspotteten sich gegenseitig, ohne dass die fünf ihnen länger zugehört hätten. Hastig drängten sie sich eng aneinander. Die Stimme, die nicht eindeutig einem Mann oder eine Frau zuzuordnen war, wurde lauter, als würde sie auf sie zu wandern. Die fünf waren wie erstarrt. Dann hörten sie, dass es ein Lied war, das zu ihnen vordrang. Eine melancholische Melodie, die einen in ihren Bann zog. Anschließend verstanden sie die gesungenen Worte, von denen sie gefesselt wurden. Finster ward es beim Einbruch der Nacht der da verdrängt des Lichtes Wacht Das Eine gespalten nun entzweit brachte statt Liebe nur Schmerz und Leid Entstandenes Leben drohet zu wanken überschreitet die Schöpfung des Gleichgewichts Schranken Schicksal Verändern Vereinen Vertrauen Wunsch Geheim Auf diese Beschützer müsst ihr bauen Bald wird gekommen sein die Zeit Die Auserwählten geleitet Ewigkeit Geistesgegenwärtig zog Vivien den Text der Steintafeln aus der Hosentasche, den sie bei Ariane abgeschrieben hatte. „Es ist der gleiche Text.“, flüsterte sie den anderen zu. „Vielleicht führt die Stimme uns irgendwo hin.“ „Bist du verrückt?“, fuhr Serena sie entsetzt an. Die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu. Sie wollte schnellstens von hier verschwinden. Und Vivien? Die hatte vor, dieser Stimme auch noch entgegen zu gehen! „Jetzt oder nie.“, entgegnete Vitali. „Wir sind jetzt schon so nahe dran.“, pflichtete Justin ihm bei. „Und wenn wir direkt in eine Falle tappen?!“, warf Serena in gedämpften Ton ein. „Du spürst es doch auch.“ Vivien starrte gebannt in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Die Stimme ruft uns. Es ist fast so, als würde sie unsere Namen sagen.“ „Das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten!“, beharrte Serena. „Deswegen kann es immer noch eine Falle sein.“ Sie horchte ängstlich auf die melodische Singstimme, die ihr ein beklemmendes Gefühl vermittelte. Es lag ein Schmerz darin, eine tiefe Trauer über etwas, das man verloren hatte oder das man zurücklassen musste und einem unsagbar viel bedeutete. Das Lied erinnerte Serena auf entsetzliche Weise an ein Requiem – ein Totenlied. Doch je näher ihnen die Stimme kam, desto weniger klagend wurde ihr Klang, desto mehr Hoffnung schien auf einmal in ihr zu erwachsen. Als wirke der Anblick der fünf wie Balsam für die gequälte Seele des Liedes, als erlöse die Anwesenheit der fünf den Gesang von einem langen Leiden. Egal wie unheimlich und beängstigend das Lied zunächst geklungen hatte, plötzlich besaß es etwas Menschliches, Dankbares, etwas das die fünf im Innersten dazu antrieb, dieser Dankbarkeit Genüge zu tun, indem sie der Stimme folgten. Dieser Wunsch wurde stärker als ihre Angst. Ohne weitere Widerworte gingen sie in einer Kette, Hand in Hand, dem Ursprung des Gesangs entgegen, umgeben von einem schwachen weißsilbernen Licht, das den Gang erhellte, seit das Symbol aufgeleuchtet hatte, oder seit das Lied ertönte. Die Taschenlampen waren nun nicht mehr nötig. Immer tiefer drangen sie hinein ins Ungewisse, angetrieben von dem Gesang, der mittlerweile ganz sanft in ihren Ohren tönte, so weich und von einem stillen Glück durchwebt, wie es Menschen wohl empfanden, wenn sie ein Leid, das sie lange quälte, endlich loslassen können, um Frieden zu finden. Schließlich verklang das Lied, das bis jetzt in Endlosschleife erklungen war, ganz langsam und sachte, in einem himmlischen Akkord. Auf magische Weise deutete dieser letzte Klang auf die Wand rechts von ihnen. Wie er das machte? Solche Fragen stellten die fünf sich schon nicht mehr. Er tat es einfach und sie spürten es. Um das letzte wunderschöne Echo nicht zu zerstören, flüsterte Ariane. „Vielleicht ist dahinter noch ein Raum.“ Doch ehe die Gruppe nach einem Mechanismus suchen konnte, tat sich die Wand ohne ihr Zutun auf. Vor Schreck wollte sich Serena an der Person festhalten, die am nächsten bei ihr stand, obgleich es sich dabei um Vitali handelte, der wie sie und die anderen geschockt auf das Bild vor sich starrte. Keiner von ihnen hatte jemals echte menschliche Skelette gesehen und nun standen sie gleich zwei Exemplaren davon gegenüber. Hinter der Wand war ein geheimer Raum versteckt gewesen, der die Überreste zweier Menschen in sich barg. Die beiden Toten saßen am Boden, mit dem Rücken gegen die linke Wand gelehnt. Ihre Schädel hingen leblos da, die leeren Augenhöhlen auf den Boden vor sich gerichtet. Die Kleidung war noch halbwegs erhalten geblieben. Die Fäulnisgase vor Ewigkeiten schon verschwunden. Die fünf drückten die Hände von einander und beruhigten sich langsam. Skelette stellten keine Gefahr dar. Dennoch gaben sie ihnen ein mulmiges Gefühl. „Vielleicht eine Totenkammer.“, überlegte Ariane laut. Bedrückt sagte Justin: „Es erinnert eher an ein Gefängnis.“ „Ihr wollt doch da nicht reingehen.“, begehrte Serena auf. „Die sind tot. Die tun uns nichts.“, entgegnete Vitali, hörte sich aber selbst wenig überzeugt an. Justin sah nach vorne. „Die Stimmen haben uns hierher geführt. Vielleicht wollen sie uns dort drinnen etwas zeigen.“ Vivien lächelte den anderen zu. „Gespenster bringen die Leute doch oft zu ihren Leichen. Sicher gehörten die Stimmen den beiden.“ Sie deutete auf die Skelette. „Von ihnen kommen bestimmt auch die Inschriften.“ „Na toll.“, machte Serena und stieß die Luft aus. Vivien schaute Serena unschuldig an. „Was hast du denn gegen die beiden? Sie haben so schön für uns gesungen.“ Serenas Gesicht verzog sich in einer Mischung aus Widerwille und Ekel. Justin tat den ersten Schritt. Gemeinsam betraten die fünf den geheimen Raum. Schlagartig glühten die Wände um sie herum in verschiedenen Farben auf. In allen Spektralfarben erstrahlten sie, als wären die fünf plötzlich in einem Regenbogen gelandet. Für einen Moment waren sie bewegungsunfähig, standen da und ließen das Schauspiel der Lichter auf sich einwirken. Die magische Farbenpracht glich derjenigen, die von den mysteriösen Kugeln ausgegangen war. Damals in den Unendlichen Ebenen. Erst allmählich erkannten die fünf, dass es gar nicht die Wände waren, die das Farbspiel aussandten, sondern zierliche Buchstaben, von denen die Wände übersät waren. „Sütterlinschrift.“, hauchte Ariane. Daraufhin erkannten auch die anderen die Ähnlichkeit zwischen der Schrift an den Wänden und derjenigen auf den Fotos, die sie gesehen hatten. Langsam entspannten sie sich wieder. Das farbenfrohe Lichtspiel wirkte heimisch und schutzgebend. „Die Schrift reagiert auf uns!“, behauptete Vivien freudig und drehte sich zu den zwei Skeletten. Von hier erkannte man, dass sie Hand in Hand saßen, so wie die fünf nun Hand in Hand da standen. „Danke!“, rief sie ihnen zu. Dann zog sie ihr Handy wieder hervor und löste sich von den anderen vier. Nacheinander lief sie die Wände ab und fotografierte die verschiedenen Inschriften. Trotz der ungünstigen Lichtverhältnisse war das Ergebnis, das das Display wiedergab, einwandfrei. „Das ist unglaublich.“, sagte Ariane atemlos. „Voll die Leuchtreklame.“, scherzte Vitali. Serena war perplex. „Was sollen diese Schriften?“ Vivien drehte sich kurz zu ihr um. „Vielleicht locken die Schriften Leute in den Raum, um sie dann mit Leib und Seele zu verschlingen.“, lachte sie leicht gehässig. „Das ist nicht lustig!“, fauchte Serena, woraufhin Vivien nur noch lauter lachte. „Vielleicht sagen uns diese Schriften, was hier vor sich geht.“, meinte Justin zuversichtlich. Ariane verstand dies als Aufforderung und näherte sich einer der Wände, Vivien war mittlerweile fertig mit Fotografieren. Es dauerte kurz, ehe Ariane ihre Auswahl laut vorlas: „Als Wappen verborgen in ungeahnter Tiefe, das Tor zu eurem wahren Wesen. Hier ist es, wo eure wohlverwahrten Fähigkeiten werden erweckt, wo Beschützer und Hoffnungsträger liegen versteckt, deren Aufgabe ist, das Gleichgewicht zu erhalten. Eure Begabung sei die Harmonie, die allein wandelt Chaos zum Kosmos und führet zurück zu dem Einen, dem alles Leben entspringt. Doch das Eine ist nicht immer das Gleiche und die Lösung nicht immer klar, denn die eine Wahrheit wandelt sich.“ „Hä?!“, stieß Vitali laut aus. „So’n Blödsinn! Das rafft doch keine Sau!“ „Die beiden anderen Tafeln waren ja auch nicht viel eindeutiger.“, entgegnete Serena. Justin blieb vertrauensvoll. „Wenn wir alle Inschriften zusammenfügen, ergibt es sicher mehr Sinn.“ „Soll ich weiterlesen?“, fragte Ariane. Im gleichen Atemzug erlosch das Licht und die fünf wurden in jähe Dunkelheit getaucht. Ihr Puls beschleunigte sich. Schnellstens schalteten Justin und Ariane die Taschenlampen wieder an, aber das flaue Gefühl in ihren Mägen blieb. Keiner von ihnen wagte, etwas zu sagen. Jeder verharrte an seinem Platz, bewegungslos, lauschte. Kapitel 28: Gejagt ------------------ Gejagt „Nur mit dem Herzen kann man die Seele eines Menschen erblicken.“ (Annette Andersen, Dichterin) Es herrschte Stille. Absolute Stille. Doch dieses Schweigen – es beruhigte sie nicht, vielmehr schien es ihnen wie die Ruhe vor dem Sturm, als halte das Leben den Atem an. Mit einem Mal wurde die Schwärze von einem durchdringender Ton durchschnitten. Sie konnten nicht ausmachen, woher er kam. Überall um sie herum tönte er, tobte in ihrem Kopf. Ehe ihnen klar wurde, dass er genau dort seinen Ursprung hatte – in ihrem Kopf. Sie drängten sich dicht aneinander, wollten vor dem Eingang in dieses Verließ zurückweichen, weiter in den Raum, fragten sich, ob nicht gerade dort die Gefahr lauerte, blieben stehen. Sie hörten die Atemstöße von einander, unregelmäßig, von Angst erfüllt. Sie spürten die jäh wieder aufgetretene Kälte des Gemäuers wie kleine Stiche auf ihrer Lunge. Hier drin waren sie gefangen, konnten nicht fliehen. Aber was erwartete sie draußen? Das Signal in ihrem Kopf ließ nicht von ihnen ab. Wie eine Alarmsirene. „Raus!“, rief Vitali. Sie stürmten aus dem Raum, dabei einander loslassend, wollten zurück zu der Geheimtür rennen – Ein kurzer Schreckenslaut drang aus Serenas Kehle, als sie die unheimliche Erscheinung sahen. Sie machten eine Kehrtwendung, um in die andere Richtung zu fliehen, stoppten. Da war es wieder: Das Gefühl… Wie an jenem Tag. Zeitgleich verstummte der Signalton. Ängstlich starrten die fünf zurück auf das Leuchten, diese Lichtkugel, die direkt auf sie zugeflogen kam und ihnen merkwürdig bekannt vorkam. Das Licht, das immer wieder für Sekundenbruchteile zu verschwinden drohte, sandte leise Klänge aus, wie eine Stimme, die sie nicht recht vernehmen konnten. Als wäre die Verbindung gestört. „Weg!“, zischte Vitali nervös. „Aber sie sagt doch, wir sollen warten.“, wandte Vivien ein. „Was?“, fragte Ariane verwirrt. Vivien deutete auf das Licht vor ihnen. Vitali fuhr sie an. „Bist du verrückt geworden!?!“ Vivien sah ihn kurz verwundert an, dann griff sie nach Vitali und Justin.. „Nehmt euch an den Händen!“ Die anderen verstanden nicht, aber sie hatten keine Zeit für lange Diskussionen. Sie taten wie Vivien ihnen geheißen hatte. Und tatsächlich! Als sie einander wieder an den Händen hielten, war es, als ob die geheimnisvolle Umgebung, erneut ihre seltsamen Fähigkeiten heraufbeschwor und ihren Blick klärte. Aus dem nebelhaften Leuchten vor ihnen hob sich plötzlich etwas ab: ein mit schimmernden Schmetterlingsflügeln ausgestattetes, auf die Größe einer Hand geschrumpftes blondgelocktes Mädchen. Sogar die Stimme, von der Vivien gesprochen hatte, konnten sie auf einmal entschlüsseln. „Nicht hier raus! Noch nicht! Sie sind da draußen! Ich lenke sie ab. Wartet auf mein Zeichen!“ Im gleichen Moment war die Gestalt auch schon verschwunden und ließ die fünf in völliger Verwirrung zurück. Perplex starrten sie auf die Stelle, an der nur ein Augenzwinkern zuvor das geflügelte Mädchen in der Luft geschwebt war. Dann traf die Erkenntnis sie so brutal, dass es ihnen die Luft aus den Lungen presste. Schatthen! Panik ergriff sie. Sie wollten losrennen, weit fort. Nur die Mahnung des fremden Schmetterlingsmädchens hielt sie noch zurück. Sie sollten auf ein Zeichen warten. Aber was für ein Zeichen? Woher war es überhaupt gekommen? Vielleicht wollte das kleine Ding sie auch nur an diesem Ort festhalten, sie an der Flucht hindern, damit die Schatthen ein leichteres Spiel hatten. Zu viele Fragen schossen ihnen durch die Köpfe. Die wabernde Angst in ihrem Inneren verschlang jeden klaren Gedanken erbarmungslos und stürzte die fünf in vollkommene Ratlosigkeit. Was tun? Die Schatthen! Die Schatthen!! Immer wieder ging es in ihrem Kopf hin und her, in riesigen Lettern raste es durch ihren Geist. Schatthen! Sie begannen zu zittern. Übelkeit und Schwindel wurden in ihnen wach. Plötzlich stand das Schmetterlingsmädchen wieder vor ihnen. „Der Eingang ist frei. Schnell!“ Ohne länger zu hinterfragen, ob sie der fremden Gestalt trauen konnten, rannten sie los. Sie hetzten durch den geheimen Korridor, stürmten den Weg zurück zum Eingang der Stätte. Das wilde Pochen ihrer Herzen dröhnte in ihren Schädeln. Da war kein Platz mehr für Gedanken. Einfach rennen! So schnell man konnte. Sie erkannten den Ausgang vor sich, rannten weiter. Sie jagten an der Absperrung vorbei, stoppten einen Moment, warfen einen panischen Blick über die Umgebung, von Angst erfasst, sogleich einem Schatthen gegenüber zu stehen. Ihr Hirn registrierte keine Bewegung. Sie rannten weiter. Regen prasselte auf sie nieder. Große, harte Tropfen, die unbarmherzig auf sie eindrangen, als attackiere sie der Himmel selbst. Sie stürmten den steilen Weg hinauf, den sie gekommen waren. Ihre Schuhe sackten in dem matschigen Boden ein. Er schien sie festhalten zu wollen, machte jeden Schritt von ihnen zu einem beschwerlichen Unterfangen, sodass ihr Angstzustand ins Unermessliche wuchs. Endlich oben auf der Straße angekommen, blieben ihre Blicke an einer Gruppe Bäume auf der anderen Seite haften. Sie befanden sich hier abseits des Wohngebiets. Hier war niemand. Nirgendwo ein Haus, in dem man sich in Sicherheit bringen konnte. Sie mussten irgendwo Schutz suchen und zwar schnell, sonst waren sie geliefert. Aber hier draußen gab es keine Gebäude. Und auf offener Flur konnten sie nicht bleiben, die Schatthen hätten sie sofort entdeckt. Keine Zeit, lange nachzudenken! Weg! Sie rannten den Bäumen entgegen. Augenblicklich fuhr ihnen das Brüllen eines Schatthens durch Mark und Bein und setzte all die Befürchtungen, all die grausigen Vorstellungen, die sie seit Tagen verfolgten, frei. Wie ausgehungerte wilde Tiere, die soeben aus ihren Käfigen befreit wurden, machten ihre Ängste sich über ihre Besitzer her. Geradezu blind vor Angst zwangen die fünf sich, nicht stehenzubleiben, rannten schneller. Vivien zog Serena weiter. Die Baumgruppe wurde zu einem kleinen Wald. Die fünf stolperten über die den Weg säumenden Baumwurzeln, rannten weiter. Äste streiften sie, verfingen sich in Arianes Haaren, sie befreite sich. Weiter. Sie erreichten das Ende des Waldes, standen auf einem kleinen Hügel, blickten hinunter ins Tal, wo Mais- und Getreidefelder standen. Auch eine alte Scheune war sichtbar, doch weiterhin keine Menschenseele zu sehen. Die fünf flogen regelrecht den Hügel hinab. Serena stolperte, fiel fast hin, wurde von Vivien und Justin gestützt. Sie rannten weiter. Auf das Maisfeld zu. Suchten in ihm Deckung. Die großen Pflanzen umgaben sie, schlossen sie ein, schützten sie vor den Blicken anderer. Hand in Hand bahnten sie sich einen Weg durch das Grün, das ihnen das Durchkommen nicht leicht machte und ihre Flucht deutlich verlangsamte. Weiter! Von Angst durchflutet sogen sie panisch Luft in ihre Lungen, schlugen die Pflanzenblätter beiseite, ließen das Maisfeld hinter sich. Sie stürmten auf die Scheune zu und rissen das Tor auf, eilten hinein, schlugen das Tor hinter sich wieder zu, schnappten gierig nach Luft. „Ihr könnt nicht fliehen.“, erklang eine Stimme neben ihnen, sodass sie nahezu aufgeschrien hätten. Das kleine Etwas! „Sie sind gleich hier. Ihr müsst euch verwandeln.“ Furcht und Betäubung blickten dem Schmetterlingsmädchen aus den fünf Augenpaaren entgegen. Worte hatten ihren Sinn für die fünf verloren, waren nur noch eine absurde Anordnung von Lauten. als würde man versuchen, eine rückwärts abgespielte Fremdsprache gemischt mit Urwaldgeräuschen verstehen zu wollen. „Eure Kräfte!“, wiederholte das kleine Etwas. Keine Reaktion. Sie startete einen weiteren, verzweifelten Versuch. „Die Wappen.“ Zwecklos. Die kleine Seele starrte die fünf entsetzt an. Die Zeit rannte ihnen davon. Die Schatthen waren in unmittelbarer Nähe, das spürte sie deutlich. Wieso hörten die Auserwählten nicht auf sie? Was sollte sie jetzt bloß tun? Sie litt nicht lange unter der Qual, eine geeignete Lösung zu finden… Ohne Vorwarnung schossen die Arme der Schatthen wie tödliche Speere durch das Holz des Scheunentors und packten Justin und Vitali mit erbarmungslosem Griff. Die Mädchen sprangen zu ihnen und zerrten mit aller Kraft an dem halben Dutzend Arme, die die beiden Gefangenen fest umklammert hielten. Vitali rang hilflos nach Luft, die Pranke eines Schatthens hatte sich um seine Kehle gelegt. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, alles schien sich langsam von ihm zu entfernen. Serenas Versuche, Vitalis Hals zu befreien, scheiterten kläglich. Der Griff schien sich dadurch eher noch zu festigen! Hilflos musste sie mitansehen, wie Vitalis Bewusstsein zusehends schwand. Schluchzend wandte sie all ihre Kraft auf, aber umsonst. Sie sah zu den anderen. Ariane war damit beschäftigt, Justin zu befreien, Vivien schien verschwunden zu sein. Keiner konnte ihr helfen. Von Verzweiflung getrieben blieb ihr nur noch eines: So fest sie konnte biss Serena in die Pranke des Schatthens. Ein wütendes Ächzen von sich gebend riss der Schatthen seinen Arm zurück und gab Vitali damit frei. Vitali keuchte, hustete und schnappte nach Luft. Im gleichen Moment kam Vivien mit einer Heugabel bewaffnet zurück, die sie in der Ecke gefunden hatte. Mit ein paar beherzten Stichen in die Extremitäten der Schatthen befreite sie die Arme und Beine der Jungen. Serena verhinderte, dass Vitali zusammenklappte. Sie mussten weiter! An der linken Seite befand sich eine Leiter, die hinauf auf den Heuboden führte. Sie kletterten hinauf, hörten hinter sich das Scheunentor zerbersten, bekamen nicht mehr mit, wie die kleine Gestalt flugs ein grelles Licht aussendete, das die blutdürstige Jagd der Schatthen für kurze Zeit stoppte. Oben angekommen zogen sie mit zittrigen Händen die Leiter hoch, um den Verfolgern den Weg zu erschweren. Sie kämpften sich durch die Massen an Heu in den hinteren Teil. Panik hatte jeden Winkel ihres Körpers eingenommen. Wie in die Enge getriebene Tiere flohen sie kopflos zum weitest entfernten Punkt. Längst nahmen sie das kleine Licht nicht mehr wahr, das ihnen folgte wie ein treues Hündchen. „Eure Kräfte!“, schrie das Schmetterlingsmädchen auf sie ein. „Ihr müsst eure Kräfte einsetzen!“ Das Brüllen der Schatthen fuhr ihnen in den Rücken, trieb sie voran. Unter ihnen erzitterte die Erde, als mehrere Schatthen versuchten, die Luke durch Sprünge zu erreichen. Die Heubüschel wurden weniger und schon im nächsten Augenblick sahen sie sich dem Ende der Scheune gegenüber. Knapp zwei Meter über ihnen befand sich ein großes Fenster. Von außen hatten sie kurz gesehen, dass an die Scheune eine Unterstellung angebaut war, deren Dach auf mittlerer Höhe der Scheune ansetzte. Über dieses Dach konnten sie womöglich fliehen. Reaktionsschnell packte Justin Serena und hievte sie nach oben. Sie war die Unsportlichste von ihnen, folglich sollte sie als erstes gehen. Ohne Worte miteinander austauschen zu müssen, halfen die fünf einander hoch. Die Mädchen zogen die Jungs nach oben. Mit voller Wucht traten sie auf das Fenster ein, das Augenblicke später zerbrach. Dann hörten sie das Kratzen von Pranken auf Holz und starrten nochmals zu der Luke hinüber, durch die sie gekommen waren. Das grausige Brüllen eines Schatthens brachte ihre Körper zum Erbeben, raste durch jede einzelne ihrer Fasern. Die Bestie war hoch genug gesprungen, um sich nun an dem Boden festzukrallen. Keine Zeit, den Schatthen anzugaffen! Sie waren gerade im Begriff, durch das Fenster zu fliehen, als sie in der Bewegung stoppten und aufschrien. Auf dem leicht abfallenden Dach vor ihnen hockte ein Schatthen in der Stellung einer Kröte, um nicht hinab zu rutschen. Umgehend schlug das Monstrum seine tödliche Pranke in das Dach, sodass die Schindeln zerbarsten. So konnte es sich mit voller Kraft abstoßen um mit einem Satz bei den fünfen zu sein. Und genau dazu setzte es jetzt an. Entsetzt vor dem Fenster zurückweichend, wären sie fast hinab auf den Heuboden gestürzt. Sie waren eingekeilt! Das Scheusal von außerhalb des Fensters kam mit einem lauten den Boden und den Geist der fünf erzittern lassenden Schlag auf und baute sich zu seiner überwältigenden Größe auf. Das Bild der grässlichen Drohgebärde, die als nächstes folgte, brannte sich in ihr Gedächtnis ein. Und das schrille Piepsen von zuvor, das schlagartig wieder aufgetaucht war, zerriss ihnen nahezu das Hirn. Nur den Verstand, den konnte es ihnen nicht mehr rauben, das hatte schon die Angst getan. Im letzten Moment stürzte das kleine geflügelte Wesen vor und breitete schützend seine Arme vor den fünfen aus, als könne es damit den Schatthen abwehren. Der Anblick war grotesk. Die Bestie nahm das Schmetterlingsmädchen nicht einmal wahr. Hysterie packte die fünf, gleichzeitig sandte der Körper der kleinen Gestalt etwas aus. Ein helles Licht, das dieses Mal nicht nur den Schatthen blendete, sondern auch die fünf traf. Als habe jemand eine chemische Reaktion in Gang gesetzt, gab es eine enorme Explosion in ihrem Körper, oder zumindest glaubten sie das, denn das unglaubliche Gefühl, das durch ihre Adern schoss, riss sie mit solcher Kraft aus dem Hier und Jetzt, dass sie nicht länger wussten, was oben und unten, rechts und links war. Und das war in diesem Moment auch vollkommen egal. Von einem Augenblick auf den anderen durchflutete ein gleißendes Licht die Scheune, drang durch die Ritze nach außen, raubte den fünfen kurzzeitig die Sicht. Doch es schmerzte nicht in den Augen, kein bisschen. Vielmehr war es, als wären ihre Augen selbst ein Teil des Lichts. Schwer zu erklären, kaum zu glauben, doch nicht minder wirklich. Das unsagbare Empfinden war zurückgekehrt. Als die Zeit wieder einsetzte, erblickten die fünf um sich herum zauberhaften Glanz und Glitzer, der nach und nach vor ihren Augen verschwand. Ob er wirklich verschwand oder ob ihre Augen ihn nicht mehr zu fassen vermochten, konnten sie nicht sagen. In ihren Köpfen erklang wieder die Singstimme aus der Ausgrabungsstätte, ganz sanft und mit großer Erleichterung und Zuversicht erfüllt. Nicht länger hatten die Melodie und der Rhythmus etwas mit einem Requiem zu tun, nun war es ein Freudengesang. Schicksal Verändern, Vereinen, Vertrauen, Wunsch – Geheim Auf diese Beschützer müsst ihr bauen Als die Stimme verklungen war, erkannten sie die mysteriösen runden Gebilde. Diese weiß- und gelbgoldenen Schmuckstücke, die sie damals in den Unendlichen Ebenen schon einmal gesehen hatten und bei deren Berührung die seltsame Verwandlung sie erfasst hatte. Wie erstarrt standen die fünf da. Wagten nicht, sich zu bewegen, ihren Blick abzuwenden von den verzierten Kugeln. Hörten ihr Blut rauschen, ihr Herz wild schlagen, ihren Atem. Instinktiv tasteten sie wie Blinde nach den Händen der anderen, ohne ihren Blick auch nur das geringste bisschen abzuwenden. Endlich fühlten sie die Nähe zu ihren Freunden und mit einem Mal war es, als hülle eine sanfte Ruhe sie ein, die ihre Muskeln entkrampfte und die Panik aus ihrem Körper vertrieb. Sie blickten sich um. Kein Schatthen. Kein einziger. Als wäre nie einer da gewesen. Als wäre alles nur ein Streich, den ihre Gedanken ihnen gespielt hatten. Wie Figuren in einem Rollenspiel fühlten sie sich, abhängig von den Entscheidungen des Spielers, nicht von ihren eigenen, und immer wieder dazu verdammt, das gleiche Spiel zu spielen, gegen die Schatthen, wieder und wieder, und immer wieder, bis in alle Ewigkeit. Dann fiel ihnen das kleine Mädchen mit den Schmetterlingsflügeln ein. War es ebenso verschwunden? Vielleicht waren sie ja doch verrückt. Vielleicht waren sie nur in einem Traum, einem nicht enden wollenden Traum. Doch das geflügelte Mädchen war noch da, lag zu ihren Füßen. Leblos. Die fünf erwachten aus ihrer Trance und knieten sich zu dem fremden Helferlein. Behutsam hob Justin den winzigen menschlich wirkenden Körper auf und bettete ihn vorsichtig auf seine Rechte. Wie lange würde es dauern bis weitere Schatthen hier ankamen? Vitali und Ariane sprangen zurück auf den Heuboden. Beide halfen Serena herunter. Damit Justin springen konnte, nahm Vivien ihm das Schmetterlingsmädchen ab und reichte es ihm, als er unten angekommen war. Dann kam auch sie mithilfe von Ariane und Vitali wieder auf den Heuboden. Für einen Moment blieben sie stehen. Wo wollten sie überhaupt hin? Was, wenn sie den Schatthen genau in die Arme liefen? Hier drin bleiben oder rausgehen? Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Die Kugeln über ihnen schwebten plötzlich über ihre Köpfe und leuchteten erneut auf. Lichtstrahlen hüllten die fünf wie Wände ein. Wegrennen konnten sie nicht mehr. Entsetzt starrten sie auf das leuchtende Gefängnis, das sie eingeschlossen hatte. Auf erschreckende Art und Weise erinnerte es sie an die schwarze Kugel, in der damals ihre Reise in das Schatthenreich begonnen hatte. Dieses Mal kamen die Wände allerdings nicht auf sie zu. Sie blieben, wo sie waren. Es tat sich nichts weiter. „Vielleicht ist es nur Licht!“, rief Vivien, wie um ihren eigenen Kampfgeist wiederzuerwecken. Angesichts der Tatsache, dass dies in der Ausgrabungsstätte der Fall gewesen war, erschien der Gedanke gar nicht so abwegig. Vivien machte ein paar Schritte auf die Lichtwände zu und streckte ihren Arm aus. Doch obwohl die Abgrenzung wie pures Licht aussah, war sie so hart und undurchdringlich wie Beton und ließ Vivien nicht passieren. Dafür bewirkte Viviens Körperkontakt etwas anderes. Es öffnete sich zwar keine Tür, aber die Lichtwände wurden so durchsichtig wie Glas und gewährten den Blick auf ihre Umgebung. Von den Schatthen war keine Spur. Nur das Durcheinander – das kreuz und quer den Boden säumende Heu – zeugte noch von der Hetzjagd. Das Blickfeld verschwand, als Vivien ihre Hand wieder wegzog. Die Wände strahlten wieder in ihrem weißen Licht, in dem zeitweise kleine Regenbögen zu glitzern schienen. Es blieb dabei, sie waren gefangen. Schon wieder. „Es sieht nicht so aus, als wäre das das Werk der Schatthen.“, gab Ariane zu bedenken. „Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, aber eingesperrt sein, ist für mich kein positives Zeichen!“, schimpfte Serena. Mit aller Kraft schlug Vitali auf eine der Wände ein. Diese fing den Schlag aber mühelos ab und wurde bei seiner Berührung bloß kurzzeitig durchsichtig. „Verdammt! Ich hab die Schnauze voll davon, ständig gefangen zu sein und auf irgendwas zu warten!“, brüllte er aus Leibeskräften, als würde ihn jemand, sobald er nur laut und wütend genug rief, erhören und sämtliche Probleme aus dem Weg räumen. Aber wer auch immer ihn hätte erhören können, derjenige hörte wohl gerade nicht hin. „Das bringt nichts.“, sagte Justin ruhig. Vitali fluchte und setzte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf den Boden, als wäre er eingeschnappt. „Vielleicht ist es noch ein Schutz von der kleinen Fee ist?“, überlegte Ariane laut und erklärte das unbekannte kleine Wesen kurzerhand zur Fee. Daraufhin besahen die fünf sich das ohnmächtige Geschöpf genauer. Der grazile Körper war ganz der eines kleinen Menschenmädchens von vielleicht fünf, sechs Jahren. Ihre Glieder waren so zierlich und zerbrechlich, dass Justin schon Angst hatte, ihr beim Aufheben etwas gebrochen zu haben. Hellblondes, gelocktes Haar fiel der Kleinen über die schmalen Schultern. Sie hatte ein zauberhaftes, asymmetrisch geschnittenes Kleid an, das auf der einen Seite nur bis zu ihrem Knie, auf der anderen bis zu ihrem Knöchel reichte. Ihre Füßchen steckten in kleinen Ballerinas. Und um ihren Hals trug sie eine lange Goldkette, an deren Ende auf Herzhöhe ein winziges goldenes Medaillon hing. Auf dem Medaillon war ein kleiner Schmetterling eingraviert. Sehr passend, denn die hauchzarten, durchsichtigen Flügelchen ähnelten denen von Schmetterlingen. Die Kleine war bleich und gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. „Sieht nicht so aus, als würde sie das bewirken.“, sagte Serena bedrückt. „Sieht nicht so aus, als würde sie noch irgendwas bewirken.“, gab Vitali taktlos von sich. Besorgt blickte Justin auf seine Hand hinab. „Glaubt ihr sie überlebt?“ Vivien beäugte das kleine Etwas eingehender. „Sie atmet noch.“ Die winzigen Bewegungen waren nur bei sehr genauem Hinsehen zu erkennen. Auf diese Erkenntnis hin wandelte sich Serenas Gesichtsausdruck prompt. „Wichtiger ist doch, wie wir hier rauskommen.“, entgegnete sie mit betont teilnahmsloser Stimme. Ungewohnter Weise war Vitali ihrer Meinung. Was brachte es, sich über die kleine Gestalt Gedanken zu machen, wenn die Schatthen in Kürze hier waren, um sie alle zu töten? Nichts half es! Ariane hielt dagegen. „Und wo wollt ihr hingehen? Draußen lauern sicher noch Schatthen.“ „Es kommt von den Kugeln.“, rief Vivien mit einem Mal und zunächst war den anderen nicht klar, was sie damit meinte. Dann folgten sie ihrem Blick und erkannten, dass das Licht der Wände von den runden Gebilden über ihren Köpfen ausging. Aber was hatte das zu bedeuten? „Vielleicht wollen sie uns schützen.“, kam es Ariane in den Sinn. „Einsperren und beschützen ist ja wohl nicht dasselbe!“, wetterte Serena. Ariane warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie fand es ziemlich ironisch, dass ausgerechnet Serena das sagte, die von ihrer Mutter ganz offensichtlich auf ziemlich fragwürdige Weise beschützt wurde. „Uns bleibt wohl nichts anderes übrig als zu warten, bis das kleine Mädchen wieder aufwacht.“, meinte Justin. „Vielleicht weiß sie eine Antwort.“ Vitali stöhnte entnervt. Sie fanden sich also damit ab, für unbestimmte Zeit warten zu müssen. Eine andere Wahl hatten sie ja ohnehin nicht. Nachdem der Schock langsam nachließ, spürten sie, wie klitschnass sie waren. Glücklicherweise schützten die Lichtwände sie vor dem Luftzug hier oben auf dem Heuboden, allerdings wussten sie davon nichts. Ihnen war kalt und übel. Sie konnten sich nicht länger auf den Beinen halten, daher teilten sie die Heubüschel, die mit ihnen eingeschlossen worden waren, untereinander auf und legten damit den Boden aus, auf dem sie sich niederließen. Vivien sorgte dafür, dass sie sich dicht zusammensetzten, um sich so gegenseitig etwas Wärme zu spenden. Für Minuten saßen sie einfach nur schweigend da und atmeten. Atmeten tief ein und aus, um ihre überstrapazierten Nerven zu beruhigen. Sie wollten gar nicht darüber nachdenken, was gerade passiert war, wie knapp sie ein weiteres Mal dem Tod entkommen waren. Vielleicht hätten sie niemals zu dieser Ausgrabungsstätte gehen sollen, vielleicht hätten die Schatthen sie dann in Ruhe gelassen. Wieso konnten sie sich nicht einfach irgendwo verstecken, wo die Schatthen sie nicht finden konnten? Weil es einen solchen Ort einfach nicht gab. Erneut starrten sie die funkelnden Lichtwände an. „Woher wussten sie, dass wir hierher kommen würden?“, fragte Ariane in die Stille. „Vielleicht weil ein gewisser Jemand ihrem Chef eine E-Mail geschrieben hat.“, zischte Serena. Dieses Mal konterte Ariane nicht. Getroffen sah sie Serena an. „Daran liegt es nicht.“, entgegnete Justin streng. „Sie waren nicht wegen uns hier.“ „Hä?!“, stieß Vitali aus. „Dann sind sie wohl nur zufällig in die gleiche Richtung wie wir gerannt, oder was?“ „Das meine ich nicht.“, antwortete Justin ruhig. „Ich glaube, sie haben die Ausgrabungsstelle bewacht.“ „Hä?“ „Man bewacht das, was wertvoll ist oder wovon eine Gefahr ausgeht.“, definierte Vivien. „Und was für ’ne Gefahr soll das sein?“, fragte Vitali. Vivien zog ihr Handy hervor und streckte es den anderen entgegen. „Eine, die hier drin versteckt liegt.“, prophezeite sie verschwörerisch. „Ja klar.“, spottete Vitali. Da nur Ariane die Inschriften entziffern konnte, streckte Vivien ihr das Handy hin. Anschließend versuchte Ariane zunächst für sich den Inhalt zu entschlüsseln. Derweil lehnte sich Vitali gegen die Wand hinter ihm, doch als diese durchsichtig wurde, rückte er weiter vor. Sollte tatsächlich noch ein Schatthen herumstreunen, war es ihm lieber, wenn das Monstrum nicht gleich wusste, dass sie in diesem Lichterkreis steckten. Ariane begann, den anderen vorzulesen: „Auserwählt jene, deren Weg führt durch Dunkelheit und Licht, ein mühevoller Weg ist es, den ihr beschreitet. Viele Fragen, keine Antwort. Wege, Ziele, Unwissenheit. Diese Worte, Ermutigung und Ermahnung zugleich, sollen euer Selbst befreien, das da verschüttet liegt in eurem Ich. Was ihr tut und glaubt, bestimmt das Sein. Auf der Suche nach der Bestimmung, die euch leitet, erwacht eure wahre Macht. In euch liegt der Schlüssel zur Erlösung. Ihr, die treibende Kraft, die ihr auf die Geschicke des Lebens wirkt, seid Rettung und Untergang.“ „Geht das auch noch in gut deutsch?“, beschwerte sich Vitali. „Wie soll uns das weiterbringen?“ „Es ist auf jeden Fall von Auserwählten die Rede.“, freute sich Vivien. „Und dass sie alles retten oder zerstören können.“, ergänzte Serena. „Toll.“, grummelte Vitali. „Können die nicht einfach kurz und knapp sagen, wie wir die Schatthen loskriegen?“ „Vielleicht ist der restliche Text etwas konkreter.“, sagte Ariane und wechselte mit einer Wischbewegung auf die nächste Fotografie. Wieder verging kurze Zeit bis sie fortsetzte: „Geheim vereinen sich der Wunsch zu verändern und das Schicksal und so wird Vertrauen euch leiten bis zur Ewigkeit. Finster ist, was euch erwartet, die Hoffnung, im Schatten schlummernd. Sie bringt die Entscheidung, wenn ihr den Glauben habt an das, was eure Augen nicht sehen und euer Herz allein erahnt.“ „Das ist ja noch schlimmer!“, schrie Vitali. „Das bringt überhaupt nichts!“ „Wir müssen nur genauer über den Sinn nachdenken.“, behauptete Justin. „Ja, wenn wir nur lange genug darüber nachdenken, dann steht da sicher plötzlich was Brauchbares.“, spottete Vitali. Serena war genervt. So sehr sie hasste, es zuzugeben, sie war Vitalis Meinung, und das obwohl sie sich sicher war, weit mehr von dem Inhalt verstanden zu haben, als Vitali es je können würde. „Das ist bloß eine Lobeshymne auf die tollen Auserwählten.“, stellte sie fest. „Kein Wort darüber, welchen Hintergrund das Ganze hat und wieso diese verdammten Schatthen gerade uns für diese bescheuerten Auserwählten halten.“ „Suuuperkräfteee.“, erinnerte Vivien flötend. Serena stöhnte auf. „Schwachsinn.“ Unglücklich sah sie zu Boden. „Ich wünschte, das alles würde einfach aufhören.“ „Das wünscht sich wohl jeder von uns.“, erwiderte Justin. Vivien begehrte auf: „Dann hätten wir uns vielleicht gar nicht kennen gelernt!“ Sie klang, als wäre das die schlimmste Variante, die sie sich vorstellen konnte. „Wir sind in der gleichen Klasse.“, kam es verständnislos von Vitali. „Aber zwischen ‚in der gleichen Klasse sein‘ und ‚einander kennen‘ liegt ein riiiiiesengroßer Unterschied!“, beharrte Vivien. „Jetzt tu doch nicht so, als wären wir dir wichtiger als ein normales Leben ohne ständige Angst, von Schatthen angegriffen zu werden!“, wetterte Serena. Vivien strahlte einmal mehr über das ganze Gesicht. „Also ich finde, es gleicht sich aus!“ Und das Schlimmste war, dass sie das augenscheinlich wirklich ernst meinte. Serena verdrehte demonstrativ die Augen und versuchte dadurch zu vertuschen, dass sie – wie so oft bei Viviens kitschigen Worten – einmal mehr dieses überflüssige, bescheuerte Gefühl in ihrer Brust verspürte. Da Ariane nicht davon ausging, dass die übrigen Fotos weiterhalfen, gab sie Vivien das Handy zurück. Wieder verfiel die Gruppe in Schweigen. Vivien sah hinüber zu Justin, der mit betrübtem Gesichtsausdruck die kleine Gestalt in seinen Händen betrachtete. Das kleine Etwas regte sich immer noch nicht. Vivien machte ein unzufriedenes Gesicht. Sie hasste es, wenn solch eine niedergedrückte Stimmung herrschte. Im nächsten Moment machte ein heller Blitz Justin nahezu blind. Er schreckte zusammen und blickte auf. Vivien grinste ihn über ihr Handy hinweg an. „Was machst du?“, fragte Ariane. „Ich hab noch keine Bilder von euch!“, rief Vivien fröhlich. „Also wird es mal Zeit, welche zu machen.“ „Das ist hier kein Schulausflug!“, keifte Serena. Vivien lächelte ihr bloß zu und schaute sich dann das Ergebnis ihres Schnappschusses auf dem Display an. „Ha! Ich wusste es. Die Wand und das kleine Mädchen – auf einem Foto kann man sie nicht sehen.“, verkündete sie ihre Entdeckung. „Super. Beweisfotos können wir also auch vergessen.“, grummelte Vitali. Plötzlich gab Justin ein erschrockenes Geräusch von sich, als sei er von diese Feststellung vollkommen schockiert. Vivien machte eine abwinkende Handbewegung. „Ach, das würde uns doch selbst mit Fotos keiner glauben.“ „Das ist es nicht. Sie bewegt sich!“ Sofort versammelten sich die vier um Justin und das Schmetterlingsmädchen. Serena bemerkte spöttisch: „Wahrscheinlich hat Viviens Blitz sie aus dem Schlaf gerissen.“ Langsam… ganz langsam… kam die kleine Gestalt wieder zu sich. Sie gab leise jammernde Geräusche von sich und drehte sich in Justins Hand, als wolle sie nicht erwachen oder als wehre sie sich gegen den Schmerz, der mit dem Wiedererwachen einherging. Dann öffnete sie langsam die Augen. „Kiyaaaaaaah!“ Das Mädchen kreischte mit seiner glockenhellen Stimme und wäre fast von Justins Hand gekullert, als es die riesigen Köpfe sah, die sich allesamt zu ihm herunterbeugten. „Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.“, flüsterte Justin in sanftem Ton. Offenbar realisierte das Mädchen erst jetzt, wo es sich befand und was geschehen war, daraufhin beruhigte es sich langsam wieder. „Danke, für deine Hilfe.“, sagte Justin im Namen von allen. „Kannst du uns sagen, was diese Wände zu bedeuten haben?“, fragte er vorsichtig. Gleich einem unbeholfenen Tierjungen sah sich die Kleine um. Ihr Blick wanderte nach oben und entdeckte die Kugeln. Ihre Augen wurden groß. „Die Wappen…“, hauchte sie bewundernd. Die fünf warfen sich fragende Blicke zu und starrten dann ebenfalls hinauf zu den Kugeln. Wieso nannte die Kleine sie Wappen? Sie hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den schildförmigen Zeichen, die man als solche bezeichnete. „Wieso haben die Kugeln uns eingesperrt?“, wiederholte Ariane die Frage. „Sie schützen euch vor den Schatthen.“, antwortete das Schmetterlingsmädchen. Seine großen Augen strahlten so unschuldig wie die eines Neugeborenen. „Weil ihr so schwach seid.“ Schwach! Dass er sich das von einem handgroßen Mädchen mit Flügeln anhören musste! Vitali stank das gewaltig. Wütend mischte er sich ein. „Ich hab jetzt die Schnauze voll von diesem Mist. Verdammt noch mal! Raus mit der Sprache. Was hat das alles zu bedeuten?!“ Kapitel 29: Ewigkeit -------------------- Ewigkeit „Geduld ist das Vertrauen, dass alles kommt, wenn die Zeit dafür reif ist.“ (Andreas Tenzer, dt. Pädagoge) „Was hat das alles zu bedeuten?“ Die Frage hallte in ihren Ohren. Diese Frage, die ihre gesamten Gedanken seit Tagen beherrschte. Mit Hochspannung starrten die fünf auf die seltsame Gestalt. Nun endlich würden sie mehr erfahren, würden verstehen können, was das Ganze mit ihnen zu tun hatte, was die Schatthen von ihnen wollten, woher diese seltsamen Fähigkeiten kamen und die Verwandlung. Sie würden einfach alles erfahren! Das Schmetterlingsmädchen machte eine bedeutungsschwere Pause, als wolle sie damit die Spannung der fünf ausreizen. Ihr Blick war ernst und hatte etwas Dramatisches. Dann, langsam und bedächtig, öffnete sie den kleinen Mund. „Was alles?“ Die fünf wären fast aus den Latschen gekippt. Vitali platzte der Kragen. „Sag mal willst du uns vergackeiern?!“ Zornig packte er die Kleine am Rücken ihres Kleids und hob sie hoch. „Sag, was du weißt!“ Das Mädchen zappelte wild mit den Beinen und gab ein widerwilliges Geräusch von sich. „Hör auf!“, schrie Serena und entriss Vitali die Kleine. „Du spinnst wohl!“ „Mann, so wird sie nie was sagen!“, beschwerte sich Vitali. Serenas Augen funkelten ihn böse an, dann besah sie sich das kleine Mädchen, das auf ihrer Hand kauerte. „Also, beantworte unsere Frage!“, giftete nun sie die hilflose Gestalt an. „Und sag ja nicht, dass du dein Gedächtnis verloren hast!“ Vom Regen in die Traufe… „Also wirklich!“, rief Ariane tadelnd. „Ihr beide macht ihr bloß Angst.“ Mit diesen Worten griff sie nach dem Schmetterlingsmädchen und entzog es Serenas Hand. Von dem Hin- und Hergezerre sah die Kleine schon ziemlich mitgenommen aus. Justins Blick verfinsterte sich. „Sie ist kein Spielzeug.“, mahnte er mit eindringlicher Stimme. „Seid gefälligst netter und vor allem vorsichtiger mit ihr. Sie hat ihr Leben riskiert, um uns zu helfen. Und das ist unser Dank!“ Die anderen zuckten unter seiner Strafpredigt zusammen, während die Kleine ihn dankbar anblickte. Behutsam beugte sich Justin zu ihr. „Wie ist denn dein Name?“ Die Kleine schien ihn zu mögen, denn sie lächelte beim Klang seiner Stimme, doch dann schaute sie etwas verwirrt drein. „Name?“ Justin lächelte sie warmherzig an. „Ja, wie nennt man dich denn?“ „Wie man mich nennt…“, murmelte sie nach. Ihr Blick glitt ab in eine unbekannte Ferne, während ihre Finger mit dem Medaillon um ihren Hals spielten. Sie schloss die Augen, als würde sie einer lieben Erinnerung nachsinnen. „Ewigkeit…“ „Wie?“ Justin war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. „Das ist es. Ich bin Ewigkeit!“, rief die Kleine erfreut. „Ewigkeit?“ Vitali verzog das Gesicht. „Was ist denn das für ein Name?“ „Meinst du etwa, Vitali sei besser?“, stichelte Serena. Vitali sah sie herausfordernd an. „Jaaa.“ „Mit der Ansicht stehst du aber alleine da.“, entgegnete Serena. „Und du meinst, Serena ist besser?!“ „Ruhe!“, brüllte Ariane, die die Streitereien wirklich nicht mehr aushielt. Allerdings war dieser laute Tonfall alles andere als gut für die kleine Ewigkeit. Vivien beugte sich zu dem kleinen Schmetterlingsmädchen und hielt ihm den kleinen Finger hin. „Hallo. Ich bin Vivien.“ Ewigkeit sah sie mit großen Augen an, als habe Vivien ihr einen Namen gesagt, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Vitali beäugte Ewigkeit von der Seite skeptisch. „Was bist du eigentlich für ein Ding? Und wer hat dich geschickt?“ Ewigkeit sah ihn fragend an. „Ding?“ „Was für’n Wesen.“, verbesserte Vitali. „Ne Elfe? Ne Fee?“ Ewigkeits Flügelchen bewegten sich schwach, sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Was seid ihr?“ „Na Menschen!“, gab Vitali überzeugt zurück. „Woher wisst ihr das?“ Vitalis Gesicht zeigte deutlich, dass er die Frage ziemlich bescheuert fand. „Alle Menschen sehen so aus.“ „Habt ihr schon mal jemanden wie mich gesehen?“, fragte Ewigkeit erwartungsvoll. Die fünf schüttelten die Köpfe. „Ich auch nicht.“, sagte Ewigkeit, dann kicherte sie glockenhell, als wäre das nicht weiter schlimm. Die fünf warfen sich jedoch zweifelnde Blicke zu. „Aber wo kommst du her?“, wollte Ariane wissen. Ewigkeit deutete mit dem Zeigefinger nach oben. Ariane schaute verdutzt. „Vom Himmel?“ Grinsend beugte sich Vivien zu ihr. „Kommst du von Gott?“ Verwirrt legte Ewigkeit den Kopf schräg. „Red keinen Stuss, Vivien.“, schimpfte Serena. „Also wer hat dich geschickt?“ Ewigkeit blinzelte bloß und sah so aus, als verstünde sie nichts von dem, was die fünf von sich gaben. Serena stieß ein entnervtes Geräusch aus. Justin indes war auf den Anblick des Schmetterlingsmädchens fixiert, als würden sich lose Enden in seinem Kopf zusammenfügen. „Du hast dieses Gefühl in uns ausgelöst.“, kam es ihm. „An dem Tag, als wir entführt wurden. So wie eben in der Ausgrabungsstelle. Das warst du, nicht wahr?“ Ewigkeit sah ihn kurz unwissend an, als könne sie sich nicht an eine Begegnung mit ihm erinnern und schon gar nicht daran, dass sie in irgendwem ein Gefühl ausgelöst hatte. „Gefühl. An dem Tag.“, wiederholte sie und nickte. „Ich habe etwas gesucht.“ Mit einem Mal war sie ganz gedankenversunken, als müsse sie schwer überlegen, ob sie das Gesuchte gefunden hatte oder nicht. „Ich wusste nicht was.“ „Äääääh.“, stieß Vitali plötzlich aus. „Auf der Baustelle, das komische Licht! Das war – Das war doch auch sie, oder?“ Die anderen wussten darauf nichts zu antworten. „Baustelle.“, sprach Ewigkeit nach. Noch immer hörte sich ihre Stimme halb in Trance an. „Ich habe euch gefunden.“ Wieder überlegte sie, ob das das Richtige war, ob sie nicht etwas Wichtiges vergessen hatte. „Aber!“, rief Vitali, er schaute die anderen an. „Wie soll der Winzling uns denn nach Hause geschafft haben?“ Die anderen waren ratlos und erwarteten eine Antwort von Ewigkeit. „Was ist da passiert?“, fragte Justin. Ewigkeit senkte den Blick und murmelte vor sich hin. Leise Verzweiflung lag in ihrer Stimme. „Ich musste es finden. Ich musste es ganz dringend finden. Ich habe überall gesucht. Aber ich konnte es nicht finden. Nirgends.“ Ihr Mund sah aus, als wäre sie den Tränen nahe. Sie machte eine kurze Pause und der schmerzhafte Ausdruck verschwand. „Dann war es da. Ich wusste es einfach. Es zog mich an.“ Sie blickte auf. „Ihr. Es kam von euch. Und dann... Ich weiß nicht, was passiert ist.“ Die fünf lauschten ihren Worten gebannt. „Ich habe euch wieder gesucht, dann bin bei euch geblieben, aber ihr habt mich nicht bemerkt. Bis heute.“ Die fünf warfen einander fragende Blicke zu. Unsicher betrachtete Ariane Ewigkeit. „Soll das heißen, du warst die ganze Zeit über bei uns?“ Ewigkeit nickte. „Aber wieso haben wir sie dann nicht gespürt? Das ergibt doch keinen Sinn.“, warf Serena argwöhnisch ein. „Vorher haben wir sie doch auch bemerkt. Und heute. Zumindest Vivien hätte sie sehen müssen!“ „Es kann doch sein, dass es an der Umgebung lag.“, erwiderte Vivien. Serena schien nicht überzeugt. „Viel wichtiger ist doch, wie das alles zusammenhängt.“, meinte Ariane. „Ewigkeit hat uns anscheinend gesucht. Sicher aus dem gleichen Grund, aus dem die Schatthen uns verfolgen.“ Sie hob die Hand, auf der Ewigkeit saß, weiter hoch, bis sie direkt vor ihrem Gesicht war. „Wieso uns?“ Ewigkeit drehte sich zu ihr um und hatte einen ziemlich unsicheren Gesichtsausdruck, als erschiene ihr die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, äußerst fragwürdig. Bevor sie den Mund aufmachte, musterte sie die fünf nochmals eingehend, wie um sicherzugehen, dass sie keinem Irrtum erlag. Sie schüttelte ihren weißblonden Lockenkopf. „Was soll das?!“, fauchte Serena sie an. „Raus mit der Sprache!“ Ewigkeit blickte sie unglücklich an. „Ihr kennt noch nicht einmal eure Namen.“ Serena gaffte sie an. „Was?“ „Ihr wisst überhaupt nichts!“, rief Ewigkeit bestürzt und gleichzeitig nahezu vorwurfsvoll. „Deswegen fragen wir ja!“, blaffte Vitali. Ewigkeit schien immer beunruhigter zu werden. Ihr Blick schwirrte über den Boden. Sie murmelte vor sich hin. „Seid ihr wirklich die Auserwählten?“ Vivien entfuhr ein Aufschrei. „Ha! Ich hab doch gesagt, wir sind Auserwählte! Hab ich’s gesagt oder nicht? Ich hatte Recht! Ich hatte Recht!“ Sie verfiel in einen triumphierenden Singsang. Die anderen waren zunächst perplex. Justin wandte sich an Ewigkeit. „Erklär uns das bitte.“ Ihre nächsten Worte sagte Ewigkeit, als versuche sie einem Amnesiekranken eine Erinnerung zurückzugeben. Sie sah die fünf bedeutungsvoll an. „Ihr seid die Gleichgewichtsbeschützer.“ Verwirrung machte sich auf ihren Gesichtern breit – außer auf Viviens. „Welches Gleichgewicht?!“, rief Vitali unverständig. Vivien antwortete an Ewigkeits Stelle. „Gut und Böse natürlich! Wir müssen gegen die Bösen kämpfen wie richtige Superhelden!“ Nachdem sie einmal richtig gelegen hatte, benahm Vivien sich, als wäre sie eine Eingeweihte in die Geheimnisse hinter ihren Erlebnissen. Die anderen starrten sie nur an. Anschließend wandten sie sich erwartungsvoll dem Schmetterlingsmädchen zu. Doch bevor Ewigkeit zu einer Antwort ansetzen konnte, hielt es Serena nicht mehr länger aus. „Okay, ganz ruhig.“ Serena machte eine Gestik als versuche sie, einen Anfall zu verhindern. Sie atmete tief ein, den Blick zu Boden gerichtet. „Du willst mir also sagen, dass ich, mir nichts dir nichts, einfach so, dazu bestimmt werde, gegen irgendwelche Monster zu kämpfen, mit denen ich überhaupt nichts zu tun habe, nur weil irgendwelche Vollidioten einen unverständlichen Schwachsinn an die Wände geschmiert haben?“ Sie spießte Ewigkeit mit ihren Blicken auf und begann zu kreischen. „Bist du noch ganz richtig?! Ich bin keine Fantasyfigur, ich bin keine Superheldin und ich weiß wirklich nicht, was dieser ganze Wahnsinn mit mir zu tun hat!!!“ Vivien zeigte sich von Serenas Wutausbruch vollkommen unbeeindruckt. „Wir sind doch die Auserwählten.“, sagte sie quietschfidel, als wäre das das Natürlichste auf der Welt. Serena kochte vor Wut. „Von wem sollen wir denn auserwählt sein? Hab ich etwa irgendwann an einer Verlosung teilgenommen, von der ich nichts weiß? War das eine wahllose Entscheidung? Eins ist sicher: Ich bin nicht dafür geeignet, ich hab keine Lust dazu, und das alles interessiert mich einen Dreck. Wenn sich Gut und Böse bekriegen möchten, meinetwegen! Aber ohne mich. Mich geht das nichts an! Ich will nur, dass diese Schatthen mich in Ruhe lassen!“ Ewigkeit betrachtete Serenas Reaktion mitleidig. „Dass von allen Beschützern gerade Schicksal das sagt.“ Serena blitzte das kleine Etwas erbost an. „Was soll das heißen – Schicksal?!“ „Das ist dein Name.“, enthüllte Ewigkeit. „Mein Name ist Serena!“ Ewigkeit ließ sich von ihrer Aufgebrachtheit nicht aus der Ruhe bringen. „Das ist der Name, den dir deine Eltern gegeben haben.“ „Das ist vollkommener Blödsinn!“, rief Serena. Justin versuchte sie zu beruhigen. „Es wird nicht besser, wenn du sie anschreist.“ Damit machte er es allerdings nur noch schlimmer. „Ich kann sie anschreien so viel ich will!“, brüllte Serena. „Ich habe ein Recht darauf!“ Justin klang fürsorglich, aber bestimmt. „Serena, die Situation ist für uns alle schwierig, deswegen sollten wir so viel wie möglich darüber erfahren.“ „Ich muss gar nichts mehr erfahren!“, kreischte Serena zornig. „Das ist alles verlogen… Das ist Quatsch… Das ist einfach nicht möglich!“ Serena war einem Tobsuchtsanfall nahe. „Ich will mein Leben zurück haben!“ „Serena…“, sagte Ariane in beschwichtigendem Ton. Die vier warfen Serena solch ekelhaft bedauernde Blicke zu, dass ihr vor Zorn und Hilflosigkeit übel wurde. Ihre Erregung wurde immer größer, ihre Gesichtszüge verkrampft. „Habt ihr noch nicht genug?!“ Serenas Stimme wurde schrill. „Verdammt!!! Eben wären wir fast gestorben und jetzt tut ihr alle so, als wäre das nichts!“ Während dem Sprechen kamen Tränen in ihr hoch. „Die ganze Zeit, seit dieser Nacht, hatten wir Angst. Und jetzt spielt ihr hier die Helden und wollt auf einmal die ganze Welt retten! Oder was weiß ich für einen Mist!“ Serena sprach immer gehetzter und ihre Tonlage ging ins Hysterische über. „Ich will nichts mehr hören von unserer Bestimmung! Ich will nichts hören von Auserwählten oder von dem, was wir tun sollen! Es ist mir egal! Was sie uns auch erzählt, warum wir tun sollen, was andere für uns bestimmt haben. Ich mach da nicht mit! Und es ist mir verdammt egal, was ihr davon haltet! Meinetwegen könnt ihr machen, was ihr wollt!!!!“ Bittere Tränen liefen über Serenas Wangen und erstickten ihre Worte. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte sie sich ab. Wie erstarrt saßen die anderen da. Serenas Reaktion, der Schmerz, der in ihren Worten mitschwang, ein Schmerz, der die Wahrheit widerspiegelte, schnitt ihnen erbarmungslos ins Fleisch. Sie wussten nicht, was sie entgegnen sollten, wie sie sich nun verhalten sollten. Die Tatsache, dass Serena nur das ausgesprochen hatte, was jeder von ihnen in irgendeinem Teil seines Hirns selbst gedacht hatte, war hart. Einen Trost für die Wahrheit gab es nicht. Es war Ewigkeit, die die Stille durchschnitt. Oder zumindest kam die Stimme aus Ewigkeits Richtung, denn es war nicht dieselbe wie zuvor, nicht die glockenspielartige melodische Kinderstimme. Der Ton war warm und menschlich. Immer noch hell, aber deutlich reifer als zuvor. Auch ihr Gesichtsausdruck war nicht länger der eines kleinen Kindes. Und das Medaillon um ihren Hals hatte schwach, aber im Zwielicht der Scheune doch sichtbar, begonnen zu glühen. Sie hatte Arianes Hand verlassen und schwebte nun in der Luft. „Willst du diese Rede auch vor den Schatthen halten?“, fragte Ewigkeit unverwandt mit der neuen Stimme. „Glaubst du wirklich, dass es sie interessiert, ob du eine Beschützerin sein willst oder nicht? Fragt der Vogel den Wurm, ob er ein Wurm sein will, bevor er ihn frisst?“ Serena wurde festgehalten von dem ernsten Blick, der zwar immer noch an Ewigkeit erinnerte, aber eben auch nicht. Aus ihm sprach etwas, das Ewigkeit nicht besessen hatte. Es mussten … Erinnerungen sein, Erfahrungen von … – nein, die fünf konnten nicht bestimmen, was es war. Leid? Trauer? Aber war da nicht auch etwas ganz anderes? Auf alle Fälle kam es ihnen bekannt vor, als hätten sie es schon tausende Male gesehen. „Ihr könnt verleugnen, wer ihr seid, aber das ändert nichts daran, dass ihr Beschützer seid.“, sagte die Stimme. „Das ist alles, was die Schatthen interessiert.“ Serena ballte die Hände zu Fäusten und wandte den Blick ab. Die anderen sahen, dass der innere Schmerz ihren Körper erzittern ließ. Vivien griff nach Serenas Handgelenk, darauf gefasst, dass Serena sich sofort losriss. „Du musst das nicht alleine durchstehen. Wir hängen da alle mit drin, wir gehören zusammen. Und zusammen werden wir das auch schaffen.“ Sie lächelte Serena aufmunternd an. „Ich versprech es dir. Hoch und heilig.“ Serena schüttelte bebend den Kopf und schluchzte. „Du bist so dumm... Sie werden uns töten.“ Justin mischte sich ein. „Nicht, wenn wir alle zusammenhalten.“ Auch Ariane stimmte ein. „Wir dürfen nicht die Hoffnung aufgeben.“ Vitali gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Okay. Ist die Schnulze jetzt vorbei oder kommt noch ’ne Steigerung?“ Vivien grinste ihn breit an. „Du bist doch bloß eifersüchtig, weil ich Serena umarmen darf und du nicht!“ Demonstrativ schlang sie ihre Arme um das Mädchen neben sich. „Ganz bestimmt nicht!“, schrie Vitali. „Natüüürlich, ich seh’s dir doch aaan.“, flötete Vivien, während sich Serenas Gesicht verfinsterte. „Ihr seid doch total gestört!“, schrie Serena die beiden an und versuchte Vivien abzuschütteln, was sich als ziemlich schwierig erwies. „Lass los!“ Vivien war zur Klette mutiert und Serenas Bemühungen, sie loszuwerden, erinnerten an eine Art albernes Partyspiel. Je länger ihre Versuche andauerten, desto amüsanter wirkte das Bild. Schließlich landete Vivien lachend auf dem Boden und wollte sich gar nicht mehr einkriegen. „Du… Du bist doch total verrückt!“, schimpfte Serena. Sie klang eher durcheinander als böse. Vivien lachte einfach weiter und verführte die anderen zu einem Lächeln. Anschließend sah sie zu Ewigkeit auf, ein wissbegieriges Funkeln in den Augen. „Haben wir auch andere Namen?“ Ewigkeit war überrascht über den jähen Umschwung des Gesprächs und lächelte wohlwollend. „Du bist Vereinen.“, verkündete sie Vivien. „Yay.“, machte Vivien. „Und die anderen?“ Ewigkeit sah zu Ariane. „Dein Name ist Wunsch. Und ihr“ Sie wandte sich an Justin und Vitali. „seid Vertrauen und Verändern.“ Vivien zog den Zettel mit der Prophezeiung aus ihrer Hosentasche und strahlte. Laut las sie den anderen vor. „Schicksal Verändern Vereinen Vertrauen Wunsch – Geheim Auf diese Beschützer müsst ihr bauen. Bald wird gekommen sein die Zeit Die Auserwählten geleitet Ewigkeit.“ Vivien strahlte die anderen an. „Das sind nicht irgendwelche Worte, das sind unsere Namen! Deshalb kam es uns so vor, als rufe uns die Singstimme. Das hat sie wirklich getan! Und Ewigkeit steht auch drin!“ Serena nahm ihre übliche Kontra-Position ein. „Hallo?! Sie wusste zunächst nicht einmal, was sie auf die Frage antworten sollte, wie sie heißt. Sie könnte den Namen von sich und unsere angeblichen Namen genauso gut nur auf das Gedicht abgestimmt haben!“ Ariane nahm Viviens Zettel zur Hand und sah Serena mit ernstem Blick an. „Den einen Namen konnte sie auf jeden Fall nicht erfinden.“ Sie hielt ihr den Zettel entgegen und deutete auf das Wort, das nach Wunsch folgte: Geheim. „Secret.“ „Aber den Namen haben wir ihm gegeben!“, rief Vitali verdutzt. „Schicksal.“, sagte Ariane mit eindeutigem Blick auf Serena. „Oder Wunsch-Denken.“, gab Serena zurück. „Er war genau wie wir gefangen. Er hatte auch seltsame Kräfte und dann dieser Name.“, gab Ariane zu bedenken. Vitali wandte sich an Ewigkeit. „Woher weißt du dieses Zeug?“ Das Schmetterlingsmädchen schaute getroffen, als habe Vitali einen wunden Punkt berührt. „Ich …“ Gedankenverloren spielten ihre Finger mit dem leuchtenden Medaillon. Plötzlich erlosch das Glühen um den goldenen Anhänger und Ewigkeits kindlich unschuldiger Blick erschien wieder. Freudig lächelte sie die fünf an. Es war schwer zu glauben, dass es sich um die gleiche Person handelte, die Sekunden zuvor noch so melancholisch gewirkt hatte. Heiter zuckte sie mit den Schultern. „Was soll‘n das jetzt?!“, schimpfte Vitali. „Sie weiß es einfach.“, dolmetschte Vivien. „Schließlich ist sie unser Geleit!“ „Toll. Geleit für was?“, beschwerte Vitali sich und schaute Ewigkeit an. „Du hast uns immer noch nicht gesagt, was wir eigentlich tun sollen.“ „Ich unterstütze euch!“, rief Ewigkeit begeistert. „Bei was?“, knurrte Vitali. Ewigkeit blinzelte unschuldig. „Bei allem!“ Vitalis Gesicht verzog sich. „Soll das ein Scherz sein?! Kein Aufgabenkatalog oder so was? Keine Anweisungen? Woher sollen wir denn wissen, was wir tun sollen, ohne irgendwelche Richtlinien?! Es muss doch ein Ziel geben!“ Vitali stockte mit einem Mal. Er hasste es, Anweisungen zu befolgen, und jetzt verlangte er welche? Bei dem Schatthen-Angriff musste etwas Schlimmes mit seinem Kopf passiert sein … Ewigkeit strahlte ihn fröhlich an. „Ein Ziel!“; jauchzte sie. „Das Gleichgewicht beschützen!“ Ungläubig starrten die fünf sie an. Machte die Kleine sich über sie lustig? Nichts, aber auch gar nichts von der ernsten und unergründlichen Aura von zuvor war geblieben. Jetzt kam Ewigkeit einem wieder wie ein kleines Kind vor. Ein schrecklich naives Kind, das einen mit seiner unpassenden Fröhlichkeit in den Wahnsinn treiben konnte! – zumindest war das Serenas und Vitalis Einschätzung. „Geht’s nicht noch ein bisschen genauer?!“, beschwerte sich Vitali gereizt. Ewigkeit schien einen Moment ernsthaft zu überlegen. Und schüttelte dann strahlend ihren kleinen Lockenkopf. Vitali sah sie genervt an. „Könnten wir noch mal mit deinem anderen Ich reden?“ Ewigkeit setzte ihren unschuldig ahnungslosen Blick auf. „Welches andere Ich?“ „Na, die mit der Frauenstimme. Oder hast du mehrere?!“ Ewigkeit blinzelte ein paar Mal und zuckte dann mit den Schultern. „Ich bin ich.“ Ariane lehnte sich zu den anderen. „Das ist ein klein wenig unheimlich, findet ihr nicht?“ „Also ich find sie total süß.“, lachte Vivien. Serena verdrehte die Augen. Ja, Vivien würde sich sicher blendend mit diesem identitätsgestörten Kleinkind verstehen. Wieso mussten sie eigentlich immer an gespaltene Persönlichkeiten geraten! War das noch normal? Vitali schien dasselbe zu denken, denn Serena und er tauschten vielsagende Blicke miteinander aus. Plötzlich lösten sich die Lichtwände auf. Die fünf erschraken, als die Lichtstrahlen langsam nach oben hin verschwanden, und fürchteten für einen Moment, gleich wieder einem Schatthen gegenüberzustehen, als habe dieser das Auflösen verursacht. Glücklicherweise war das nicht der Fall. Es gab nun kein Hindernis mehr zwischen ihnen und dem Dachboden und als sie den Lichtstrahlen mit den Augen folgten, sahen sie, dass auch die Wappen wie von Zauberhand wieder entschwanden. „Die Schatthen sind fort.“, verkündete Ewigkeit. „Lasst uns gehen.“, sprach Justin den Gedanken laut aus, den sie alle gehabt hatten. Kapitel 30: Ortswechsel ----------------------- Ortswechsel „Einmal Lachen hilft besser als dreimal Medizin.“ (deutsches Sprichwort) Vorsichtig stiegen sie vom Heuboden und wagten sich dann langsam aus der Scheune. Trotz Ewigkeits Aussage, die Schatthen seien nun genügend weit entfernt, spähten sie wachsam um sich. Sie horchten ängstlich nach irgendwelchen auffälligen Geräuschen und sogen die Luft um sich prüfend ein, ob sie frei war von dem ekelerregenden Gestank der Schatthen. Die Schatthen hatten der Redewendung ‚Die Luft ist rein‘ einen nie gekannten Tiefgang verliehen. Es regnete noch immer. Die fünf wurden von den großen, harten Tropfen regelrecht bombardiert. „Jetzt weiß ich wieder was wir vergessen haben – die Schirme.“, stellte Vitali fest. „Wenn du sie holen gehen willst.“, war Serenas Kommentar dazu. Justin deutete nach links. „Wenn wir diesen Weg gehen, müssten wir die Stadtmitte von Schweigen erreichen.“ Die fünf rannten los. Ewigkeit flog neben ihnen her. Die Regentropfen trafen sie um einiges härter. Justin erkannte, wie sie immer wieder ins Straucheln kam. Dann hielt er Ewigkeit die linke Hand hin. Das vollkommen erschöpfte Schmetterlingsmädchen sah Justin im ersten Moment etwas perplex an, ehe es dankbar und erschöpft auf seiner Hand landete. Justin führte seine Hand zu seiner Brust und öffnete mit der Rechten eine Tasche seines Anoraks, in der Ewigkeit Platz fand. Anschließend kontrollierte Justin, ob die Gruppe noch zusammen war. Serena war wie immer etwas abgeschlagen. Sie hatte natürlich auch noch den Fehler begangen, eine Jacke ohne Kapuze zu tragen, und versuchte sich nun mit den Armen vor dem Regen zu schützen. Ariane, die ebenso keine Kapuze hatte, trug wenigstens eine wetterfeste Ballonmütze. Serenas Ohren fühlten sich eisig an und das Tempo konnte sie auf keinen Fall noch länger durchhalten. Vor sich sah sie, dass die anderen ihr Tempo verringerten. Vivien kam zurück zu ihr. Zunächst dachte Serena, sie wolle ihr etwas sagen, aber Vivien blieb nicht vor ihr stehen, sondern lief an ihr vorbei. Im nächsten Moment spürte Serena, wie sie von hinten angeschoben wurde. „Vivien, lass das!“, rief sie nach hinten. Im gleichen Augenblick wurde ihr eine abgetrennte Kapuze aufgesetzt. Vitali, der ohnehin einen Kapuzenpulli trug und daher auf die Kapuze seiner Jacke verzichten konnte, hatte sie ihr verpasst. „Ich… brauche das nicht!“, wehrte Serena ab. „Hör auf zu meckern und mach das Ding vorne zu, sonst fliegt es noch weg.“, erwiderte Vitali mit grimmigem Ton. „Das ist wirklich nicht nötig!“, rief Serena peinlich berührt. „Mann, kannst du nicht einfach mal Danke sagen, anstatt immer zu meckern!“, beschwerte sich Vitali. Widerwillig presste Serena die Druckknöpfe der Kapuze zusammen. Sie wollte gar nicht wissen, wie das jetzt aussah. Vivien kam wieder an ihre Seite und nickte Vitali zu. Daraufhin packten die beiden jeweils einen von Serenas Armen und zogen Serena unter ihrem Gezeter mit sich. Sie schlossen zu Justin und Ariane auf, die extra langsam gemacht hatten. Den Rest des Weges fiel kein Wort mehr. Das Risiko war zu groß, dass sie dadurch doch noch von Schatthen entdeckt würden oder ein Geräusch überhörten, das sie vor einem ihnen auflauernden Schatthen hätte warnen können. Erst nach zwanzig Minuten im Eiltempo durch den Regen zeigten sich vor den fünfen und Ewigkeit die ersten Häuser. Die Straßen in diesem Randgebiet wirkten ausgestorben, keine Menschenseele war zu sehen und für einen Moment kam in den fünfen der abartige Gedanke auf, die Schatthen könnten die Bewohner allesamt ausgelöscht haben. Sie schüttelten die Wahnvorstellung ab. Es regnete noch immer in Strömen, kein normaler Mensch verließ bei solchem Wetter freiwillig das Haus. Die Fünfergruppe lief die Straßen entlang, auf der Suche nach dem Stadtzentrum. Mittlerweile waren sie zu erschöpft zum Rennen und noch nasser konnten sie ohnehin nicht mehr werden. Zum Glück hatte Justin einen guten Orientierungssinn und wusste zumindest halbwegs, in welcher Richtung sich der Bahnhof befinden musste. Nach einer weiteren Viertelstunde kamen sie endlich dort an. Trotz der geringen Größe des Ortes besaß Schweigen ein Bahnhofsgebäude, in dem sie Schutz vor Regen und Wind suchten. Hier sahen sie auch erstmals wieder Menschen und wurden von einem Gefühl der Erleichterung durchflutet. Die Nähe zu anderen gab ihnen eine gewisse Sicherheit, als wenn diese fremden Leute sie vor einem weiteren Angriff der Schatthen hätten schützen können. Einem der Fahrpläne entnahmen sie, dass sie auf den nächsten Zug noch zwölf Minuten warten mussten. Vollkommen ausgelaugt ließen sie sich auf eine Bank mitten im Gang sinken. Wasser tropfte an ihnen herab auf den Boden. Ewigkeit schlüpfte wieder aus Justins Brusttasche und schüttelte sich wie ein kleiner Welpe. Da sie die Kleine selbst nicht hatten sehen können, gingen die fünf davon aus, dass es nicht nötig war, sie vor den Blicken anderer zu verstecken. Ewigkeit machte einen Sprung und blieb vor ihnen in der Luft stehen, als sei das das Leichteste auf der Welt. Ganz offensichtlich lag es nicht an ihren Flügeln, dass sie schwebte, denn kein Schmetterling hätte sich mit durchnässten Flügeln, wie Ewigkeit sie hatte, in der Luft halten können. Plötzlich bemerkten die fünf, dass die Leute um sie herum sie komisch anstarrten und wären vor Schock fast von ihrem Platz aufgesprungen, um Ewigkeit zu packen. Aber bei einem zweiten Blick erkannten sie, dass die Leute eindeutig sie anstarrten, nicht das fliegende Etwas. Und das obwohl Serena Vitalis Kapuze schon zuvor wieder abgezogen hatte. Doch bevor sie noch länger über diesen seltsamen Umstand nachdenken konnten, drang eine aufgekratzte Kinderstimme zu ihnen. „Schau mal, Mami! Eine Fee!“ Geschockt gafften die fünf in den Weg links von ihnen, der nach hinten zu den Gleisen führte. Dort kam ihnen gerade eine Mutter mit ihrem Kind entgegen. Das kleine Mädchen riss sich von seiner Mutter los und flitzte in Windeseile auf Ewigkeit zu. Geistesgegenwärtig stieg Ewigkeit im letzten Moment weiter nach oben und entging so dem gierigen Griff des Mädchens. Die Mutter eilte mit großen Schritten ihrem Kind hinterher. Sie ergriff die wild in der Luft umherfuchtelnde Hand ihrer Tochter. „Lass den Unsinn.“ Dann fiel ihr Blick auf die fünf Jugendlichen neben ihr. Der Gesichtsausdruck der Frau änderte sich jäh. Argwöhnisch musterte sie die Teenager von oben bis unten und befahl daraufhin ihrem Kind weiterzugehen. Teils fassungslos, teils empört starrten die fünf der Frau nach. Sahen sie denn aus wie eine gemeingefährliche Straßengang? Erst dann wurde ihnen klar, warum auch die anderen Leute sie so ansahen. Sie hatten bisher nicht darüber nachgedacht, waren mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen: Nach allem was geschehen war, war ihr Anblick natürlich mehr als befremdlich! Fünf total abgehetzte, nach Luft schnappende Jugendliche in klatschnasser, verdreckter Kleidung, Schrammen in den Gesichtern und Heu und Staub im chaotischen, nassen Haar. Es war ihnen selbst nicht aufgefallen, obwohl sie sich doch lange genug gegenüber gesessen hatten. Aber wenn man nur Minuten vorher fast in Stücke gerissen worden wäre, hatte man verständlicherweise andere Dinge im Kopf. Doch die Leute schienen kein Verständnis dafür aufzubringen. Abscheu und Widerwille schlugen den fünfen entgegen. Sie fühlten sich nackt und ausgestoßen, als hätten sie seit dem ersten Angriff der Schatthen ihr Anrecht auf einen Platz in der normalen Welt verloren und seien nun nichts weiter als geächtete Eindringlinge, die nicht länger geduldet wurden. Ein so unpassend groteskes Geräusch ließ sie aus ihren Gedanken auffahren, dass sie für einen Moment glaubten, sie seien endgültig übergeschnappt – ein Gackern. „Bogog! Bogog!“ Sie rissen die Köpfe herum und stierten auf eine Person in ihrer Mitte. „Bogog! Bogooog!“, schrie Vivien so laut, dass es im gesamten Bahnhofsgebäude zu hören war. Die anderen starrten sie entsetzt an. Aber nicht halb so entsetzt und ablehnend wie die Leute um sie herum! Der Peinlichkeitsfaktor stieg in astronomische Höhe. Die anderen Leute nahmen einen großen Sicherheitsabstand zu ihnen ein. Manche standen sogar von ihren Plätzen auf. Ihre Blicke sagten den fünfen, dass vermutet wurde, dass sie aus einer psychiatrischen Anstalt oder einem Heim für Schwererziehbare entlaufen waren. „Bog..Bog..Bogooog!“ Vivien musste nun wirklich den Verstand verloren haben. Vielleicht hatte sich ihr Gehirn einfach abgeschaltet, Blackout, Stromausfall, geistiger Zusammenbruch. Mit einem Mal strahlte Vivien die anderen vier an, als würde sie sich köstlich amüsieren. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände: Wenn die Leute sie ohnehin schon für übergeschnappt hielten, warum nicht die Situation ausnutzen? Beim nächsten Atemzug konnte Vivien sich einfach nicht mehr halten. Ein lautes und ausgelassenes Lachen erfüllte ihren gesamten Körper. Das wunderbare Kribbeln ihrer Lachmuskeln löste ein ekstatisches Glückgefühl in ihr aus. Im ersten Augenblick waren die anderen einfach nur sprachlos, doch dann… Sie wussten selbst nicht warum, vielleicht war Viviens ständiges „Bogog“ in Wirklichkeit ein Zauberspruch gewesen. Ganz egal, woher es kam, sie konnten es nicht aufhalten… Ein überwältigendes Gefühl in ihrem Bauch zwang sie dazu, in das laute Gelächter miteinzustimmen. Und was sie eben noch für peinlich gehalten hatten, war jetzt nur noch allzu lächerlich. Diese ganze Situation war einfach zu komisch! Wie die anderen Leute wie aufgeschreckte Hühner umherliefen! Als würden sie auf Viviens Gegackere reagieren und nicht Vivien würde ein Huhn nachmachen, sondern alle Leute um sie herum! Das Lachen drang mit solcher Gewalt aus ihrem Inneren, dass es sie von allen beschwerenden Überlegungen und Ängsten befreite. Da war nur noch die Beanspruchung ihrer Gesichts- und Bauchmuskulatur, die Schwingung ihrer Stimmbänder und diese Erleichterung, die längst nichts mehr mit Logik zu tun hatte. Sie lachten, lachten so laut und unkontrolliert, dass es an Hysterie grenzte, dachten nicht länger darüber nach, was die anderen Leute davon hielten, ließen ihren Gefühlen einfach freien Lauf. Und was damals im Schatthenreich ihr gemeinsames Tränenmeer bewirkt hatte, das gelang nun ihrem gemeinsamen Lachen: das Verwischen all ihres Leids. Ewigkeit blickte fasziniert auf die so genannten Auserwählten. Sie verstand nichts, musste aber unwillkürlich lächeln und so landete sie auf dem Kopf des Rotschopfs und lachte mit den fünf Verrückten, die allesamt – mit Ausnahme von Justin – damit begonnen hatten, seltsame Tiergeräusche von sich zu geben, gefolgt von ausgelassenem Lachen, mit dem sie ihre gesamte Umgebung in den Wahnsinn trieben. Erst als es Zeit wurde, zum Gleis zu gehen, beruhigten die fünf sich langsam wieder und hatten eine neue Erkenntnis gewonnen: Nachdem man etwas so Grauenhaftes erlebt hatte, war es das Beste, sich einfach aufzuführen, als wäre man total übergeschnappt! Die Erklärung dafür war ganz einfach: Auf diese Weise wusste man bei sich, dass man die Verrücktheit nur spielte. Wenn man jedoch still und angepasst dasaß, mit dem Bewusstsein, dass die Schatthen da draußen waren und niemand, absolut niemand, einem das glauben würde, fühlte es sich so an, als wäre man wirklich wahnsinnig. Im Zug bestand Vivien darauf, dass sie sich alle in einen Vierer quetschten. Sie selbst wollte eigentlich auf Justins Schoss Platz nehmen, aber Justin machte einen Strich durch die Rechnung, indem er ihr Platz machte und sich in den Gang stellte. Derweil betrachtete Ewigkeit staunend das Gefährt, das die Menschen Zug nannten. „Und was jetzt?“, fragte Serena. Sie hätte es nicht freiwillig zugegeben, aber sie wollte sich nicht von den anderen trennen, zumal Ewigkeit ihnen noch einige Antworten schuldig war. „Wir könnten zu mir gehen.“, schlug Ariane vor. „Meine Eltern sind zusammen weggefahren. Vor heute Abend kommen sie nicht zurück.“ „Gut. Wenn meine Mutter uns so sehen würde, würde sie einen Anfall kriegen.“, seufzte Serena. Vitali hatte indes seinen Kopf gegen den Bereich neben dem Fenstergelehnt und döste. Um den Gang nicht zu blockieren, nahm Justin in dem gegenüberliegenden Vierer Platz. Vivien folgte ihm nach und setze sich mit der Begründung, sie wolle nicht, dass ihm kalt werde, neben ihn. Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er dieses Problem in ihrer Nähe tatsächlich nicht haben würde. Als sie sich an seinen Arm schmiegen wollte, versicherte er ihr eilig, dass das nicht nötig sei. „Aber mir ist kalt.“, klagte sie mit Schmollmund. „Du kannst dich auch zu uns setzen.“, bot Ariane an. Vivien ließ ihr einen vielsagenden Blick zukommen, den Ariane allerdings nicht zu deuten wusste. Serena ächzte: „Sie will sich doch nur an ihn kuscheln.“ Vivien lächelte begeistert. „Justin ist schön warm.“ Justin wirkte davon überfordert. „Leg einfach den Arm um sie.“, stieß Serena aus. Hilflos sah Justin zu Serena. „Sie gibt sonst eh keine Ruhe.“, erklärte Serena mit grimmigem Blick. Doch noch immer zögerte Justin. Wieder stöhnte Serena. „Ariane, setz dich da rüber.“ Ariane verstand zwar nicht, räumte aber den Platz neben Serena und setzte sich zu Vitali, der wohl eingenickt war. „Vivien, komm hierher.“, befahl Serena mit einem Ton tiefen Unwillens und hob ihren Arm in die Höhe, ohne Vivien dabei anzusehen. Da Justin noch immer keine Anstalten machte, ihre Annäherungsversuche zu honorieren, ließ sich Vivien nicht länger bitten, stand auf und ergriff die Gelegenheit, sich an Serena zu kuscheln. Sie kicherte. Serena legte den Arm um sie und schaute demonstrativ aus dem Fenster. Vivien gab ein belustigtes Geräusch von sich. „Ist dir jetzt wärmer?“ Serena antwortete nicht. Dass sie diejenige von ihnen war, die am schnellsten fror, war kein Geheimnis. Für einige Zeit herrschte Stille. Sie genossen es, ihren Rücken anlehnen zu können und fühlten sich zumindest halbwegs sicher. Solange sie sich in einem sich bewegenden Gefährt befanden, wirkten Angriffe von Schatthen unwahrscheinlicher als sonst. Auf Justins Aufforderung hin ließ sich Ewigkeit schließlich auf seiner Schulter nieder und beobachtete die fünf interessiert, ehe sie es Vitali gleich tat und, an Justins Hals gelehnt, einnickte. In Entschaithal regnete es leider nicht mehr. ‚Leider‘ deshalb, weil dadurch wieder mehr Leute unterwegs waren. Sich wie Irre aufzuführen in einem Ort, in dem keiner einen kannte, war eine Sache, aber sich in seinem Heimatort daneben zu benehmen, wo sowieso viel getratscht wurde, eine ganz andere. Auf ihrem Weg zu Arianes Haus hofften sie inständig, nicht irgendwelchen Schulkameraden zu begegnen. Endlich in den rettenden vier Wänden von Ariane angekommen, wurde ihnen erst wieder bewusst, dass Ariane erst hergezogen war. Es standen noch immer viele Umzugskartons herum. „Es ist alles noch ziemlich durcheinander. Daran habe ich gar nicht gedacht.“, entschuldigte sie sich verlegen. Sie blickte auf die vier klitschnassen Leute, die unschlüssig hinter ihr standen. „Stellt eure Schuhe einfach hier ab.“ Sie zog ihre Jacke aus und legte sie auf den Boden, um sich auch ihrer Schuhe zu entledigen. „Gebt mir die Jacken.“ Sie streckte den anderen ihre Arme hin, merkte allerdings schnell, dass fünf Jacken zu viel für sie waren. Justin nahm ihr den Großteil ab. Ariane schien kurz zu überlegen, wo sie die Sachen hintun sollte. „Ins Bad.“, sagte sie schließlich und ging Justin voraus, wobei die beiden eine Tropfspur hinterließen. Zurück kamen sie mit einem Stapel Handtücher, Decken und einem Fön. Sie reichte den anderen jeweils zwei Tücher und führte sie dann die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Gemütlich konnte man es nicht wirklich nennen – eher karg. Bisher waren ein Bett, ein Schrank, ein Sitzkissen und viele Kartons die einzige Einrichtung. „Es dauert noch eine Weile bis das wirklich mein Zimmer ist.“, sagte Ariane ein wenig verlegen. Es war ihr unangenehm, ihren durchnässten Freunden keine geeigneten Sitzgelegenheiten bieten zu können. Sie huschte hinaus und kam mit einem Stuhl zurück, den ihr Vitali abnahm. Wieder lief Ariane hinaus und blieb dieses Mal etwas länger weg. „Können wir dir irgendwie helfen?“, rief Justin in den Flur. „Ähm… ja.“, kam es stockend aus einem anderen Zimmer. Justin ging Ariane entgegen und half ihr daraufhin, einen mobilen Heizstrahler in ihr Zimmer zu schieben. Sie stellten den Strahler in die Mitte zwischen Arianes Bett, den Sitzkissen und dem Sessel. Unsicher sah Ariane auf die anderen. „Braucht ihr vielleicht trockene Sachen?“ „Ja klar, so ein rosa Kleidchen wäre jetzt genau das Richtige.“, entgegnete Vitali mit verstellter Stimme. Ariane musste schmunzeln. „Euch hätte ich Kleidung von meinem Vater gegeben.“ „Übertreib es nicht.“, meinte Serena. „Aber ihr seid ganz nass.“ Daraufhin legte Vitali eine Decke auf den Parkett-Boden und nahm darauf Platz. „Hat doch auch mal was.“, scherzte er. Er krempelte seine durchnässte Jeans hoch, legte eines seiner Handtücher auf den Boden vor sich und zog seine nassen Socken aus. Ariane seufzte leise. Sie wäre gerne in trockene Kleidung geschlüpft, aber aus Solidarität den anderen gegenüber sah sie davon ab. „Ihr könnt euch auch aufs Bett setzen.“ Nachdem Ariane ein großes Handtuch auf dem Bett ausgebreitet hatte, folgte Vivien der Aufforderung, während Justin auf dem Stuhl Platz nahm. Ariane setzte sich neben Vivien und erkannte erst im nächsten Moment, dass sie besser den Platz auf dem Sitzkissen neben Vitali eingenommen hätte, da sich Serena vermutlich nicht freiwillig neben ihn setzen würde. Sie stand wieder auf. „Du kannst hierher.“, bot sie Serena an. „Nicht nötig.“, entgegnete Serena knapp. Trotz der Wärme des Zimmers war ihr immer noch kalt, weshalb sie vor dem Heizstrahler stehen blieb. Außerdem fühlte sie sich im Stehen stärker, und um die Diskussion von zuvor wieder aufgreifen zu können, brauchte sie alle Stärke, die sie kriegen konnte. Ihr ernster Blick richtete sich auf Ewigkeit, die die ganze Zeit um die fünf herum geschwirrt war wie ein nerviges Insekt. „Also noch mal ganz langsam.“, begann sie. Kapitel 31: Endlosdiskussionen ------------------------------ Endlosdiskussionen „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ (Bertolt Brecht, dt. Dramatiker) Serena sah Ewigkeit grimmig an. „Du behauptest, wir seien irgendwelche Gleichgewichtsbeschützer. Ja?“ Ewigkeit nickte. „Und wieso gerade wir? Wieso nicht irgendwelche Spezialagenten oder so was?“ Ariane überlegte laut: „Vielleicht weil wir alle aus dem Entscheidungstal stammen.“ „Wir sind ja wohl nicht die einzigen Menschen in Entschaithal!“, wetterte Serena. „Wir sind halt was Besonderes.“, lachte Vivien. Serena funkelte sie an. „Toll! Wenn man was Besonderes ist, wird man zur Belohnung von Monstern verfolgt. Schönen Dank auch! Außerdem ist es doch total bescheuert, irgendwelche Jugendlichen zu Beschützern zu erklären, nur weil sie in Entschaithal geboren wurden. Das ist ja wohl total diskriminierend!“ Ewigkeit, die bisher noch gar nicht zu Wort gekommen war, mischte sich nun ein: „Vielleicht wurdest du ja in Entschaithal geboren, weil es deine Bestimmung ist?“ „Dann würde ich mich beschweren, dass ich nicht gefragt wurde!“, keifte Serena. „Ich bin doch kein Roboter, der für irgendeinen bestimmten Zweck gebaut wurde.“ Ewigkeit sah sie verständnislos an, als würde ihr nicht einleuchten, warum Serena sich beschwerte. „Was?“, forderte Serena zu wissen. „Ich dachte…“, begann Ewigkeit und unterbrach sich nochmals, legte den Kopf schräg. „Wollen Menschen nicht den Sinn des Lebens wissen?“ Serena biss die Zähne zusammen. „Das ist was völlig anderes!“ Ewigkeit blinzelte unwissend. Serena wurde laut: „Was soll dieser verdammte Sinn denn bitteschön sein? Von einem Ort zum anderen reisen, um überall die Schatthen auszurotten?!“ „Nicht ausrotten!“, schrie Ewigkeit entsetzt. „Nicht töten!“ „Achso, wir sollen ein ernsthaftes Gespräch mit ihnen führen, oder was?!“, stieß Serena sarkastisch aus. Ewigkeit zog einen Schmollmund. „Nicht töten.“, beharrte sie mit ihrer Kinderstimme. Ariane sah Ewigkeit fragend an. „Was sollen wir denn gegen die Schatthen tun?“ „Sie retten!“, rief Ewigkeit überzeugt. Serenas Stimme dröhnte in den Köpfen der fünf und schleuderte Ewigkeit fast schon durch die Luft. „Waaaaaaaaaaaaas!!!!!!“ Auch Vitali schimpfte: „Hey, vielleicht hast du’s ja nicht mitgekriegt, aber die wollen uns töten!“ Vivien scherzte: „Vielleicht sind sie ja nur mit dem falschen Fuß aufgestanden.“ Serena deutete mit ihrem ausgestreckten Arm auf Ewigkeit und starrte die anderen durchdringend an. „Dieses Ding ist total gestört!“ Ewigkeit blinzelte unschuldig und drehte ihren Kopf nach hinten, um auszumachen, auf was die Beschützerin zeigte, aber da war nichts. Auf die Reaktion hin, musste Vivien lachen. Justin blieb ruhig. „Wie meinst du das, Ewigkeit? Wie sollten wir die Schatthen retten? Und wieso sind sie hinter uns her?“ „Schatthen befolgen nur die Befehle ihres Schatthenmeisters.“ Serena fuhr ihr ins Wort. „Ach, und eigentlich sind Schatthen total lieb und nett!“ Ewigkeit schüttelte entschieden den Kopf. Sie lächelte freundlich. „Ihr Schatthenmeister wird nett sein.“ Die fünf gafften bloß noch fassungslos und ungläubig. Ungerührt sprach Ewigkeit weiter. „Von sich aus hätten die Schatthen euch in Stücke gerissen.“ Übelkeit überwältigte die fünf. Diese Offenbarung ließ ihre Mägen sich zu einem harten Klumpen zusammenziehen. Selbst Serena war für einen Moment unfähig, das Wort zu ergreifen. „Was will dieser Schatthenmeister von uns?“, wollte Ariane wissen. Ewigkeit zuckte mit den Schultern. Vivien setzte zu Überlegungen an: „Er wollte uns auf seine Seite ziehen. In den Texten heißt es doch, die Beschützer können auch alles zerstören.“ Vitali verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann hätte er es vielleicht besser mit Bestechung versucht. So hat er sich keine Freunde gemacht!“ „Er wollte uns ja auch nicht überreden, sondern manipulieren.“, sponn Vivien ihre Idee weiter. „Die Spiegel! Dazu waren sie da.“ „Bei Serena haben sie ja auch ganze Arbeit geleistet.“, entgegnete Vitali und grinste Serena schelmisch an. Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Ewigkeit allerdings schien die Sache ernst zu nehmen. „Was ist geschehen?“, fragte sie besorgt. Vitali antwortete mit leicht spöttischer Lockerheit. „Ach, nichts Besonderes. Serena hat bloß ein bisschen um sich geschossen und uns alle fast umgebracht. Nicht der Rede wert.“ „Ich hätte dich umbringen sollen.“, zischte Serena, worauf Ewigkeit sie ängstlich ansah, als sei sie ein außerirdisches Monster. „Wie können wir fünf so entscheidend sein?“, fragte Ariane Ewigkeit, ohne auf das Gerede von Vitali und Serena einzugehen. Ewigkeit schaute unsicher und zuckte dann mit den Schultern. „Das ist doch alles Schwachsinn.“, entfuhr es Serena. „Wie kann von einen Tag auf den anderen so etwas geschehen? Wenn wir wirklich diese bescheuerten Gleichgewichtsbeschützer sind, warum hat dann keiner von uns jemals auch nur das Geringste davon mitbekommen? Warum sind diese Fähigkeiten erst nach unserer Entführung da gewesen? Überhaupt: Alles hat an dem Tag angefangen, an dem dieses Ding aufgetaucht ist.“ Sie deutete auf Ewigkeit. „Wie kann es sein, dass wir gerade an diesem Tag entführt wurden? Wie kann es sein, dass sie behauptet, uns nicht entdeckt zu haben, aber die Schatthen wussten sofort, wo sie uns finden konnten?! Wie kann es sein, dass sie die ganzen Tage nicht zu uns gekommen ist, aber ganz plötzlich vor uns steht, sobald die Schatthen wieder da sind? Ist es nicht genauso gut möglich, dass wir durch sie erst von den Schatthen entdeckt werden konnten? Sie ist bestimmt bloß ein Spion, der unser Vertrauen erschleichen soll. Ihre Erklärungen passen einfach nicht. Und dieses kitschig unschuldige Äußere ist ja wohl mehr als verdächtig! Das typische Klischeebild von einer niedlichen Fee.“ Ariane warf ihr einen kalten Blick zu. „Ich dachte, das hätten wir endlich hinter uns. Als nächstes behauptest du wohl auch noch, dass die Steintafeln und die Schriften in der Ausgrabungsstelle Fälschungen sind, nur um uns glauben zu lassen, dass wir Auserwählte sind.“ Serena entgegnete mit verkniffenem Gesichtsausdruck. „Weißt du’s?“ Ariane stöhnte. Vitali lehnte sich grinsend gegen den Schrank hinter sich. „Ich finde Serenas Idee hat was.“ „Ihr meint, wir sind bei Verstehen Sie Spaß?!“, rief Vivien aufgeregt. „Ihr seid so bescheuert!“, rief Serena, die sich von den beiden verspottet fühlte. „Ich finde das wirklich interessant!“, erwiderte Vivien. Vitali nickte heftig. „Ich auch.“ „Halt’s Maul!“, zickte Serena ihn an. „Wieso gehst du immer nur auf mich los?“, beanstandete Vitali. Vivien antwortete an Serenas Stelle: „Von dir erwartet sie mehr. Der potentielle Partner muss bestimmte Kriterien erfüllen.“ Vitali stand auf dem Schlauch. „Hä?“ „Du bist so duuuumm!!!!“, kreischte Serena Vivien an. Vitali sah sie an und deutete mit seinem Finger fragend auf sich. Vivien hatte sofort eine Antwort parat. „Ja, weil du nicht merkst, dass sie –“ „Klappeeee!!!!!!“, brüllte Serena. „Du bist dumm, Vivien. Du bist duuuuumm!!!“ Vitali starrte die von ihrem Wutanfall heftig nach Luft schnappende Serena neben sich mit großen Augen an. „Was ist?!“, stieß Serena aus. Noch immer schaute Vitali sie an, wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Flughafen sah und sich über die riesigen Flugzeuge wunderte. „Ich bin es nicht gewöhnt, dass du jemanden dumm nennst, und nicht mich meinst.“ Serenas Mund nahm eine mimiktechnisch künstlerisch wertvolle Form der Unzufriedenheit an. „Du bist auch dumm! Geht’s dir jetzt besser?“, ächzte sie. Vitali nickte mit erleichtertem Gesichtsausdruck. „Ja. Viel.“ Dieses Mal ersparte sich Serena einen Kommentar, aber ihr Gesicht sprach Bände. „Zurück zum Thema.“, sagte Ariane. „Deine Theorie ergibt noch viel weniger Sinn als Ewigkeits.“ Gerade wollte Serena wieder etwas entgegnen, als ihr Justin zuvorkam. „Diese Streitereien bringen uns nicht weiter. Wir können bloß mit dem arbeiten, was wir haben. Also lassen wir Ewigkeit ausreden.“, schlug er vor und richtete das Wort an das Schmetterlingsmädchen. „Was wird von uns erwartet?“ Serena stöhnte bloß noch erschöpft, während die Gruppe ihre Blicke erwartungsvoll auf Ewigkeit richtete. Doch einmal mehr wurden sie enttäuscht. Verzagt erwiderte Ewigkeit ihre Blicke. „Ich weiß nicht genau.“ „Wie, du weißt es nicht genau?!“, zeterte Serena. Plötzlich verzog sich Ewigkeits kleines Gesichtchen wehleidig. „Wieso bist du immer so gemein?“, jammerte sie. „Warum soll ich immer die Antworten wissen?“ Ewigkeit schniefte, hielt sich den Kopf und schüttelte sich. „Ich weiß es doch auch nicht!“, rief sie verzweifelt. Ungläubig sahen die fünf sie an. Ariane, Justin und Vivien tat die Kleine leid. Serena biss sich wütend auf die Unterlippe, dann ging sie hinüber zu dem noch freien Sitzkissen rechts neben Vitali und nahm entnervt Platz. Ein seltener Anblick. Aber augenscheinlich war Vitali momentan der Einzige, der ihre Einstellung teilte: Diese Ewigkeit war verrückt! „Toll, echt toll.“, grummelte sie leise. „Die Bösen setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um uns zu entführen, und die Guten schicken uns das da.“ Vitali grinste sie an. „Tja, willst du nicht doch lieber die Königin der Schatthen werden? Deine Fähigkeiten dazu hast du ja schon unter Beweis gestellt.“ Er stupste sie mit seinem Ellenbogen spielerisch an. Serena schupste ihn von sich, so dass er auf die Seite kippte. „Waaah! Serena greift mich an! Sie ist zu den Schatthen übergelaufen!“, rief Vitali gekünstelt aus und konnte sich anschließend ein Lachen nicht verkneifen. Die anderen gafften die beiden an, während Ewigkeit in Windeseile auf Serena zuschoss. „Nicht!“ Serena war nahe dran, sie mit den Fingern wegzuschnippen, entschloss sich jedoch sie nur zynisch anzufunkeln, während sich Vitali nun vor Lachen gar nicht mehr halten konnte. Gereizt blitzte Serena ihn an und wandte dann den Blick zur noch offen stehenden Tür des Zimmers. Im gleichen Moment schrie sie auf. „Ein Schatthen!!!“ Die anderen sprangen panisch auf, der Schock war vor allem in Vitalis Augen deutlich zu lesen. Nur Serena hatte sich nicht vom Fleck gerührt. „Wer lacht jetzt?“, sagte sie überlegen zu Vitali, der total baff war. „Serenaaa!“, kreischte Ariane sie aufgebracht an. „Findest du das etwa witzig?!“ Vivien jedenfalls schien es ziemlich witzig zu finden, denn sie begann ausgelassen zu lachen. „Du blöde Kuh!“, brüllte Vitali Serena an. „Du hast angefangen!“, gab Serena patzig zurück. „Du hast sie doch nicht alle!“, fuhr Vitali sie an. „Über Viviens Späße regst du dich immer tierisch auf und jetzt das!“ „Scheint wohl ansteckend zu sein.“, konterte Serena ruhig. „Ansteckend?! Ich geb dir gleich ansteckend!!!“ „Ruhe!“, schrie Ariane, während Justin nur noch ungläubig den Kopf schütteln konnte. Ewigkeit blickte irritiert von einem Beschützer zum anderen. Justin atmete geräuschvoll aus und sein Gesichtsausdruck wurde streng. „Die Sache ist ernst und gerade deshalb sollten wir so viel wie möglich über das Ganze erfahren.“ Die anderen gaben Ruhe und setzten sich wieder. Vitali ergriff das Wort: „Ich hab noch ein ganz großes Problem.“, begann er. Die anderen richteten ihre Blicke auf ihn. „Also“, begann er mit ernster Miene. „Verändern, das ist doch ein blöder Name. Das kann man doch nicht als Name nehmen!“ Jäh wandelte sich der interessierte Blick der anderen in ausdrucksloses Starren, als zweifelten sie an der enormen Wichtigkeit von Vitalis Problem, allein Vivien strahlte ihn so aufgeweckt und aufmerksam an wie sie es immer tat. Vitali ließ sich nicht vom Desinteresse seiner Freunde beirren und setzte fort: „Jetzt mal ehrlich! Wie sollen wir das denn in einem Kampf machen? Ruft ihr mich dann mit 'Verändern!'“. Er machte den Ruf mit einer verzerrten Stimme nach. „Das geht doch nicht! Kann ich das auch ins Englische übersetzen? Also Change wäre ja schon mal um einiges besser.“ „Deine Probleme möcht ich haben!“, fauchte Serena ihn an. Vitali machte ungerührt weiter mit seinen Überlegungen: „Du bist dann Destiny.“, sagte er zu Serena gewandt. „Und Vivien, dich nennen wir Connect oder so.“ „Connect? Als nächstes willst du sie noch Link nennen.“, nörgelte Serena. „Außerdem heißt ‚connect‘ verbinden und nicht vereinen. Dann musst du sie schon Unite nennen.“ Auf einmal brach Serena ab und rief laut: „Was red ich da! Das alles ist vollkommener Schwachsinn! Wir haben keine zweiten Namen!“ „Aber alle Superhelden haben eine geheime Identität!“, erinnerte Vivien. „So ein Blödsinn.“, grummelte Serena. „Könntest du mal aufhören, alle zu unterbrechen.“, sagte Vitali mit gekünsteltem Ernst und schüttelte den Kopf, als sei Serena ein kleines Kind, das ständig eine äußerst wichtige Konversation störte. Serena stieß hörbar die Luft aus. „Also, wo war ich?“, begann Vitali von Neuem. „Ach ja. Justin du heißt ab jetzt Trust und Ariane Wish.“ „Wish! Wie einfallsreich!“, spottete Serena. „Du könntest sie wenigstens Desire nennen.“ Vitali streckte Serena seine linke Hand entgegen: „Sprich mit der Hand, der kluge Kopf will’s nicht hören.“ Serena schlug wütend seine Hand beiseite, doch Vitali ließ sich nicht mehr bremsen. „Ewigkeit, wenn du mit deiner anderen Stimme redest, nennen wir dich ab jetzt Eternity. Jawoll! Und Gleichgewichtsbeschützer, hmm…“, Vitali legte eine kurze Pause ein, dann rief er triumphierend aus: „Balance Defenders!“ Doch Serena wollte ihm den Triumph nicht gönnen. „Defenders heißt Verteidiger, nicht Beschützer.“, bemängelte sie. „Balance Protectors klingt ja auch bescheuert!“, konterte Vitali. Darauf konnte Serena nichts entgegnen. „Kann ich mal den Text von den Tafeln haben?“, bat Vitali. Vivien reichte ihm den durchnässten Zettel aus ihrer Hosentasche. „Also: Change Destiny Unite Trust Secret Desire.“ „Seit wann steht denn bitteschön Verändern vor Schicksal?“, beanstandete Serena. „Es hieß: Schicksal Verändern, Vereinen Vertrauen, Wunsch – Geheim!“ „Das ist aus Gründen der Gleichberechtigung.“ „Wie bitteee?!“ „Ihr könnt ja wohl nicht erwarten, dass ihr immer noch zuerst genannt werdet, nur weil ihr Frauen seid.“, meinte Vitali selbstüberzeugt und fügte hinzu: „Außerdem hört es sich so einfach besser an.“ Serena gab es auf. Justin sah sich in dem spärlich möblierten Raum um, zumindest tanzte sein Blick umher. Tatsächlich waren seine Gedanken ganz woanders. Bis mit einem Mal das Hier und Jetzt ihn wieder einholte, als sich die Sinneseindrücke, die ihm seine Augen boten, mit seinen Gedanken vermischten. „Ariane“, begann er. „Ja?“ „Wann seid ihr eigentlich hergezogen?“ „Also, so richtig hier sind wir seit Freitag, also seit dem Freitag, an dem – ihr wisst schon.“ Justin starrte sie an und auch die anderen horchten auf. „Hast du schon zuvor hier übernachtet?“ Ariane schüttelte den Kopf und schreckte auf. „Aber...“ Justin nickte. „Die Schatthen haben genau zu dem Zeitpunkt angegriffen, an dem wir alle hier in Entschaithal versammelt waren. Das kann kein Zufall sein. Überhaupt, die Schatthen wussten, wo sie uns finden konnten.“ „Meint ihr etwa, dass wir das alles bewirkt haben, also wir selbst, nur dadurch, dass wir alle zusammen hier waren?“ Ariane sah die anderen fragend an. „Vielleicht.“, antwortete Ewigkeit. „Also hat unser Schicksal uns eingeholt.“, sagte Justin. Vitali musste lachen und gab Serena einen Seitenblick. „Dabei ist Schicksal gar nicht gut im Einholen.“ Serena verdrehte die Augen. Sie wollte gar nicht wissen, wie oft nun Anspielungen auf ihren angeblichen Namen folgen würden. „Soll das heißen, das alles wäre nie passiert, wenn ich nicht nach Entschaithal gekommen wäre?“ Ariane fühlte sich mit einem Mal schuldig. „Vielleicht war es einfach eure Bestimmung zusammenzufinden.“, gab Ewigkeit zu bedenken. Vitali schaute skeptisch. „Ich raff echt nicht, was an Entschaithal so wichtig sein soll. Ist doch bloß ein Kaff.“ „Es ist das Entscheidungstal!“, rief Vivien. „Und wieso ist das hier? Hätten die nicht ’nen aufregenderen Ort aussuchen können?“, mäkelte Vitali. Ariane überlegte laut. „Wenn man die deutsche Geschichte ansieht, ist es nicht so abwegig, dass das Entscheidungstal hier liegt.“ Die anderen verstanden nicht. „Deutschland war der Aggressor in beiden Weltkriegen.“, erklärte Ariane. „Und wenn man die Gräueltaten im Dritten Reich bedenkt…“ „Ey, ich kann’s nicht mehr hören!“, fuhr Vitali ihr ins Wort. „Wenn ich mir nochmal ’ne Rede über das Dritte Reich reinziehen muss, dreh ich durch!“ Ariane schien seine Meinung nicht zu teilen. „Man sollte diese grauenhaften Taten niemals vergessen.“, plädierte sie. Serena unterbrach die beiden: „Sind wir jetzt zu einer Diskussion über die deutsche Vergangenheit übergegangen, oder was?“ Vivien mischte sich mit verschwörerischer Stimme ein. „Überlegt doch mal. Dass Hitler ständig den ganzen Attentaten entgangen ist und seine Leiche nie gefunden wurde, das ist doch schon seltsam. Sicher hatte er seine Seele an den Teufel verkauft, der ihn dann in die Hölle gezogen hat. Oder er war selbst ein Teufel, der die Weltherrschaft an sich reißen wollte.“ „Ziemlich bescheuerter Teufel, der seine Truppen im Winter nach Russland gehen lässt.“, meinte Serena. Ariane wurde nachdenklich. „Die Sütterlin-Schrift, also die Schrift von den Steintafeln, wurde in den 1940er Jahren von Hitler verboten. Sie wurde also das letzte Mal zu jener Zeit verwendet. Nach dem zweiten Weltkrieg ist sie zwar an Hochschulen noch gelehrt worden, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass die zwei Skelette aus der Zeit vor oder während des Dritten Reiches stammen.“ Vivien ergriff das Wort: „Ich weiß, was passiert ist!“ Die anderen waren gespannt und Vivien begann ihre Überlegungen herunterzurattern: „Also: Hitler war ein Böser. Und die Guten, also die zwei Skelette, wollten ihn aufhalten, aber er hat sie erwischt und eingesperrt. Aber trotzdem haben sie mit ihren Zauberkräften auch außerhalb von ihrem Verließ noch auf den Wänden ihre Prophezeiungen über die Beschützer geschrieben. Daher hat Hitler dann das gesamte Gebäude mit seinen dämonischen Kräften von einer Schlammlawine überrollen lassen, so dass niemals jemand die Inschriften entdecken würde.“ Vivien strahlte die anderen voller Stolz an. Allerdings begegnete Serena ihr eher abweisend: „Ach ja, und die Alliierten waren dann wohl die Engel, die das Böse vernichtet haben, oder was? So ein Blödsinn! Außerdem, was hätte es diesen zwei Gefangenen gebracht, Texte über irgendwelche Auserwählten an die Wände zu schreiben? Wenn man Zauberkräfte hat, mit denen man Texte in Steinwände brennen kann, warum kann man sich dann nicht selbst befreien?“ „Na, die Teufel hatten die beiden natürlich mit einem Bannspruch belegt, damit sie sich nicht befreien konnten. Und für die Guten war es vor allem wichtig, die Prophezeiung über die Auserwählten am Leben zu halten, wichtiger als ihr eigenes Leben. Ist doch ganz klar.“, begründete Vivien. Ewigkeit lauschte Viviens Ausführungen interessiert. Serena dagegen verdrehte genervt die Augen und ächzte. Dann spießte sie Ewigkeit erneut mit ihren Blicken auf. „Wieso verdammt wissen eigentlich alle von diesem bescheuerten Beschützer-Quatsch außer uns selbst!“, schimpfte sie. „Hätte man uns nicht geheim halten können? Sechzehn Jahre lang ist es vor mir geheim gehalten worden, aber die Bösen scheinen ja besser informiert zu sein!“ „Das hat die Dramatik gesteigert.“, antwortete Vivien lächelnd. „Sehr witzig!“, blaffte Serena. Vivien setzte zu weiteren Überlegungen an: „Vielleicht war es ja so geplant, dass die Beschützer erst erwachen, wenn sie alle im Entscheidungstal sind.“ In theatralischem Tonfall fuhr sie fort. „Und als Ariane hier eingetroffen ist, hat das eine Energie freigesetzt, die den Bösen die Ankunft der Auserwählten verkündete.“ „Wenn Ariane als Kind hier gewohnt hat, dann hätte das doch schon damals passieren müssen.“, wandte Serena ein. „Vielleicht waren wir da noch zu jung.“, erwiderte Vivien. Serena gab ein Grummeln von sich. „Ich weiß überhaupt nicht, was das alles soll. Welt retten. Welt zerstören. Die Menschen sind doch gut darin, die Welt auch ohne irgendwelche Auserwählten kaputt zu machen. Und ich weiß wirklich nicht, was man an dieser Welt retten sollte.“ „Miss Schwarze Weltsicht wie sie leibt und lebt.“, kommentierte Vitali in gelangweiltem Tonfall. Serena rechtfertigte sich. „Schaut euch das Ganze doch mal an. Die Bösen hab ich schon gesehen, aber wo bitteschön sind die Guten! Die schicken uns nur ein kleines fliegendes Ding, von dem nicht mal sicher ist, dass es nicht doch zu den Bösen gehört.“ „Aber du siehst die Guten doch jeden Tag.“, wandte Vivien ein. „Wo denn?“, wollte Serena wissen. Vivien strahlte über das ganze Gesicht und sprang von ihrem Platz auf. Ihre Stimme war voller Euphorie und Heldenmut. „Na, wir sind doch die Guten!“ Ihre Worte klangen so mitreißend und begeisternd, dass es sich für einen kurzen Moment tatsächlich so anfühlte, als sei es eine große Ehre und Chance, die Gleichgewichtsbeschützer zu sein, und nicht eine tödliche Gefahr. Allerdings ebbte das Gefühl so schnell wieder ab wie es gekommen war und machte der Realität Platz, in der der Kindertraum von Abenteuern und Heldenmut zu einer düsteren Bedrohung mutiert war. „Wir könnten genauso gut die Bösen sein.“, rief Serena ihnen ins Gedächtnis. „Aber das sind wir ja nicht.“, lachte Vivien. Serenas Gesichtsausdruck wurde hart, ihre Stimme wandelte sich zu einem gespenstischen Wispern. „Wenn das Gutsein uns das Leben kostet…?“ Vivien strahlte sie zuversichtlich an. „Du würdest doch nie gegen uns kämpfen!“ Serena verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer weiß...“ Vivien kicherte und setzte sich wieder auf das Bett. „Dann müssten wir dich halt wieder gut machen, so wie letztes Mal.“ Serenas Gesicht zuckte und sie wandte sich ab, damit die anderen das schwache Lächeln nicht sehen konnten, das sich auf ihre Lippen geschlichen hatte. Plötzlich wurde sie von einem Klingeln aus ihrem Rucksack neben ihr aufgeschreckt. Sie zog ihr Handy hervor. „Meine Mutter.“, informierte sie nach einem Blick auf das Display. Sie nahm den Anruf entgegen. „Hallo.“ Die anderen sahen, wie Serena der Stimme aus dem Handy lauschte. „Ja, der Stadtbummel war schön.“, sagte sie. „Wir sind jetzt bei Ariane.“ Vitali hörte, wie die Stimme von Frau Funke sagte: Hast du auch deinen Schirm nicht im Zug liegen lassen? Serenas Gesichtsausdruck entgleiste. „Den … Schirm?“ „Ja, wieso?“, drang es misstrauisch von der anderen Seite der Verbindung. Was sollte Serena jetzt nur sagen? Wenn sie behaupten würde, sie habe den Schirm einfach verloren, wäre ihre Mutter ziemlich wütend auf sie, und sie konnte sich auf eine Predigt gefasst machen. Außerdem, wie wahrscheinlich war es, bei strömendem Regen einen Schirm zu verlieren? Aber was gab es denn noch für Ausreden? In einem Geschäft liegen lassen? – Warum hatte sie das dann nicht beim Verlassen des Geschäfts bemerkt? Und gestohlen worden? – O ja, weil es so viele Taschendiebe gab, die sich auf den Diebstahl von Regenschirmen spezialisiert hatten! Plötzlich sah Serena, dass Vivien begonnen hatte, wie wild herumzuhampeln, was Serena sichtlich verwirrte. Wie bei einem pantomimischen Ratespiel machte Vivien bestimmte Bewegungen. Zunächst lief sie mit einem imaginären Schirm durch die Gegend, dann zeigte sie eine Reaktion, als würde sie von einem Windstoß erfasst werden, um dann ganz traurig auf ihren Fantasieschirm zu schauen, während sie eine Handbewegung machte, die offenbar zum Öffnen des Schirms gedacht war. „Kaputt!“, rief Serena freudig aus, als sie das Rätsel gelöst hatte. Ihre Mutter, die durch die lange Pause vermutlich bereits irritiert gewesen war, war ihrem Schweigen nach zu urteilen nun vollends in Argwohn versetzt worden. Serena war sich sicher, dass sie sich gerade unzählige Horrorszenarien ausmalte, bei denen die anderen vier zu boshaften Monstern mutierten. „In Schweigen war es sehr windig. Tut mir leid wegen dem Schirm. Da konnte man nichts mehr machen, daher hab ich ihn gleich weggeschmissen, sonst liegt er bei uns eh bloß rum und keiner kann ihn benutzen.“, versuchte Serena die Situation wenigstens halbwegs plausibel zu machen. Vitali hörte nun ein unzufriedenes Gegrummel, wagte aber nicht näher an Serena heranzurutschen, um Genaueres mitzubekommen. Serena gab anschließend nur noch zustimmende Geräusche von sich, ehe sie sich endlich von ihrer Mutter verabschiedete. Nachdem sie aufgelegt hatte, stieß sie einen langen Seufzer aus. „Mann, wir sind vorhin fast gekillt worden und du machst dich wegen deiner Mutter verrückt.“, spottete Vitali. Serena blickte auf den Boden. Vitali hatte erwartet, dass sie ihn auf seinen Kommentar hin anzicken würde, aber stattdessen lag ein trauriger Ausdruck auf ihrem Gesicht. Och nee, sie wollte doch nicht schon wieder heulen? Argh! Bei diesem Mädchen wusste man doch echt nie, ob sie gerade den Psychopathen oder die Jungfer in Nöten raushängen ließ. „Wie soll das alles gehen?“, fragte Serena tonlos. „Auserwählte!“, spie sie aus. „Sollen wir unser gesamtes bisheriges Leben hinter uns lassen? Sollen wir die Schule abbrechen und uns dem Kampf gegen die Schatthen widmen? Unsere Familien zurücklassen und nie wiedersehen, um sie nicht in Gefahr zu bringen? Soll es so sein?“ Serena sah noch immer nicht auf. „Ich kann das nicht.“ Die anderen erkannten erst durch Serenas Worte, wie schwerwiegend die Angelegenheit tatsächlich war. Sie hatten sich diese Dinge noch gar nicht überlegt, und Serenas Gedankengang brachte sie nun völlig aus der Fassung. Bisher hatten sie nur daran gedacht, sich endlich gegen die Schatthen wehren zu können, um nicht länger in dieser quälenden Angst zu leben. Aber nun… Der Gedanke alles, was man liebte, hinter sich zu lassen, war einfach zu gewaltig, zu fremd, zu bedrückend. Schlussendlich waren sie doch nur aus einem Grund auf die Suche nach Antworten für die Geschehnisse gegangen: Um danach endlich wieder ein normales Leben führen zu können! Ohne irgendwelche Monster, ohne ständige Angst, getötet zu werden! Ewigkeit blickte von einem der traurigen Gesichter zum anderen, ehe sie den Blick senkte. Sie fühlte sich schlecht, als habe sie den fünfen diese grausame Bürde auferlegt. „Niemand hat behauptet, dass ihr euer jetziges Leben aufgeben müsst.“ „Wie stellst du dir das vor?“, fragte Serena bitter. „Dieser Schatthenmeister weiß offenbar, wer wir sind. Er weiß, wo wir wohnen und kann auch alles andere über uns in Erfahrung bringen. Die Schatthen könnten uns jederzeit wieder angreifen. Und unsere Familien könnten als Druckmittel verwendet werden. Wir bringen jeden in Gefahr, in dessen Nähe wir sind.“ Ewigkeits Gesichtsausdruck wandelte sich, ihr Medaillon begann wieder zu glühen. Ihre Stimme war erneut verändert. „Dann wird es Zeit für euer Training. Um die zu schützen, die euch wichtig sind.“, sagte Eternity. „Kommt in einer Stunde in den Park.“ Im gleichen Atemzug war sie verschwunden. Ungläubig starrten die fünf auf den leeren Fleck in der Luft. „Das gibt’s doch nicht!“, wetterte Serena und sprang auf. „Was soll das?!!“ „Wir sollten tun, was sie gesagt hat.“, meinte Justin und erhob sich. „Vielleicht ist das auch eine Falle.“, hielt Serena entgegen. Vitali stand auf. „Tss...“, machte er belustigt. „Du würdest sogar noch glauben, dass ich zu den Bösen gehöre.“ Serena ließ einen zynischen Blick über seine Gestalt schweifen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein. Wenn sie jemanden wie dich auf ihre Seite nehmen würden, wäre das nur schlecht für ihr Image. Schließlich müssen die Bösen cool und gerissen sein.“, stichelte sie. Vitali war sichtlich getroffen. „Ich bin cool und gerissen!“, rief er energisch. „Um mich würden sich alle Bösen streiten!“ Sofort ging er dazu über, einen Streit zwischen zwei Bösewichten nachzuahmen, wobei er abwechselnd den Kopf in die eine und in die andere Richtung drehte. „Ich will Vitali diesen obercoolen , schlauen Mann in meinem Team haben. Ha! Nur über meine Leiche! Der gehört zu meinen Leuten! Der ist doch viel zu cool für deine Verlierertruppe.“ Sag das noch mal!“ Serena unterbrach ihn. „Bei dir würden sie sich eher darum streiten, wer dich nicht kriegt.“ „Ach ja?“ „Ja.“ „Fängt das schon wieder an.“, seufzte Ariane und wandte sich dann an Justin und Vivien: „Und was tun wir jetzt?“ „Als erstes heim uns umziehen.“, schlug Vivien vor. „In nassen Klamotten lässt sich nicht gut trainieren.“ „Hauptsache, wir machen nicht mit diesen Endlosdiskussionen weiter.“, meinte Vitali. „Davon zermatscht mein Hirn.“ Serena war gerade im Begriff etwas darauf zu entgegnen, als sie überlegen lächelnd davon abließ. Nein. Das war zu einfach… Vitali warf ihr einen mürrischen Blick zu. Kapitel 32: [Erste Schritte] Ein Hauptquartier ---------------------------------------------- Ein Hauptquartier „Was man sich vorstellen kann, ist wirklich.“ (Pablo Picasso, span. Künstler) Als Kurort war Entschaithal berühmt für seinen wunderschönen Park im Nordwesten der Stadt, nicht allzu weit von Vitalis Zuhause entfernt. Die Grünanlage strahlte eine gewisse Ruhe aus. Eine leise Harmonie, die einen in ihren Bann zog. Daher lautete ihr inoffizieller Name auch 'Hain der Sanftmut'. Saftiges Grün, majestätische Bäume und farbenprächtige Blumen schmückten die Umgebung. Durch den gesamten Park schlängelte sich ein kleiner Bach, der am südlichen Ende des Parks seinen Anfang nahm, wo ein mittelgroßes Waldgebiet begann, und in einen kleinen See mündete. Ariane war von der Schönheit bezaubert, behielt es aber für sich, da sie gerade andere Sorgen hatten und sie keinen bissigen Kommentar von Serena ernten wollte. „Und wo ist sie jetzt?“, fragte Vitali. Kaum hatte er den Satz beendet, erschien das Schmetterlingsmädchen direkt vor ihnen, sodass sie kurz zusammenzuckten. „Folgt mir.“, sagte Eternity sacht – die erwachsenere der beiden Persönlichkeiten. Eternity führte sie tiefer in den Park hinein, bis sie schließlich bei einer Baumgruppe nach links einscherte und die fünf ihr zwischen den Bäumen hindurch folgen mussten. Wie bei einem Slalom umflog Eternity geschmeidig die Baumstämme. Weniger anmutig folgten die fünf. Sie drangen tiefer in das Gestrüpp ein und erreichten eine kleine Lichtung inmitten der Bäume. Auf dieser Lichtung stand ein noch kleineres Häuschen. „Was macht das hier?“, fragte Vitali. Justin versuchte sich an einer Erklärung. „Vielleicht wurde es früher als Geräteschuppen benutzt und ist irgendwann zugewachsen.“ Diese These klang nicht besonders überzeugend. Aber es war auch nicht weiter wichtig. „Und was sollen wir jetzt hier?“, platzte Serena heraus. „Wolltest du uns bloß diesen Schuppen zeigen? Da drin können wir sicher nicht trainieren!“ Eternity blieb trotz Serenas Ton ruhig. „Wo würdest du denn lieber trainieren?“ Vitali antwortete an Serenas Stelle: „Irgendwo, wo wir mehr Platz haben.“ Eternity lächelte. Nicht das kindlich fröhliche Lächeln ihres anderen Ichs, sondern ein sanftes, beruhigendes. „Ihr werdet genug Platz haben.“ Ariane sah fragend zu den anderen. Keiner von ihnen schien besser zu verstehen, worauf das Schmetterlingsmädchen hinaus wollte. „Wie meinst du das?“, hakte sie daher nach. „Was seht ihr auf dieser Lichtung?“ Ariane antwortete: „Ein kleines Holzhäuschen.“ „Was ihr seht, ist was euer Gehirn daraus macht. Was könnte dort sein?“, fragte Eternity. „Eine Imbissbude.“, scherzte Vitali. „Ihr selbst bestimmt, was ihr dort seht.“ „Ja, wenn wir ein paar Liter Alk intus hätten, könnten wir da so einiges sehen.“, alberte Vitali. „Was sollen wir denn dort sehen?“, fragte Ariane. Auch wenn die Hoffnung, eine klare Antwort von Eternity zu bekommen, allmählich schwand. „Den Ort, an dem ihr trainieren werdet.“, eröffnete Eternity. Vivien klatschte begeistert in die Hände. „Unser ganz eigenes Hauptquartier!“, jauchzte sie. Die anderen starrten sie irritiert an. „Was ihr bisher für Grenzen des Möglichen gehalten habt, ist nichts als eine Schranke, die ihr nun durchbrechen müsst. Vergesst, was ihr bisher über die Welt wusstet, denn um eure Kräfte zu entfesseln, müsst ihr über das hinausgehen, was ihr bisher kanntet.“, sagte Eternity. War das eine Kampagne dafür, den Verstand zu verlieren?, dachte Serena missmutig. Eternity sprach weiter, als wolle sie auf Serenas ungeäußerte Kritik antworten: „Ihr könnt nur das erreichen, woran ihr glaubt. Zweifel werden es euch unmöglich machen, aus der Quelle eurer Möglichkeiten zu schöpfen.“ „So ein Schwachsinn.“, zischte Serena. „Also mal überlegen, wie soll unser Geheimversteck denn so sein?“, redete Vivien vor sich hin. Sie nahm ihren Rucksack ab und holte Block und Stift hervor. „Kommt her, wir müssen uns überlegen, wie es aussehen soll!“ „Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?“, meckerte Serena, dennoch stellte sie sich mit den anderen um Vivien herum. „Wenn wir ein ganzes Hauptquartier für uns allein hätten, wie sollte es aussehen?“, fragte Vivien. Ihr schlugen teils verwirrte, teils kritische Blicke entgegen. „Ach kommt schon!“, bat Vivien und zog einen Schmollmund. „Wir können doch erst reingehen, wenn wir wissen, wie es aussieht!“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe.“, gestand Ariane. „Eternity sagt doch, wir sollen uns überlegen, was wir dort sehen. Also was könnte in dem Inneren von dem Häuschen sein?“, erklärte Vivien. „Staub.“, alberte Vitali. „Und Spinnen.“, ergänzte Serena. Kurz schüttelte es sie. „Es geht darum, was wir darin haben wollen!“, präzisierte Vivien. Ariane und Justin sahen zu Eternity, die jedoch keine weiteren Informationen preisgab. Serena meckerte: „Das ist ein kleiner Schuppen! Egal, wie es darin aussieht, es ist viel zu klein!“ „Dann stellen wir es uns eben größer vor!“, meinte Vivien. „Geht das?“, fragte sie Eternity. Als Antwort lächelte das Schmetterlingsmädchen. „Das ist doch alles Schwachsinn.“, brummte Serena. „Also was brauchen wir?“, forderte Vivien die anderen erneut auf, mitzumachen. Da keiner darauf reagierte, sah sie Justin eindringlich an. Justin erbarmte sich: „Ein Trainingsbereich wäre sinnvoll.“ Vivien strahlte ihn an und nickte freudig. Dann wandte sie sich den anderen zu. „Was noch?“ „Ein Bereich zum Entspannen!“, rief Vitali. „Mit einem großen Sofa!“ Vivien kicherte. „Du meinst, eine Art Aufenthaltsraum?“, fragte Ariane. Vitali bestätigte dies. „Jap.“ „Das Sofa könnte eine Hufeisenform haben.“, überlegte Vivien laut. „Welche Farbe?“ „Egal.“, meinte Vitali. „Wie wäre es mit Weiß?“, schlug Ariane vor. „Ok.“, stimmte Vivien zu. „Und was noch?“ „Ein eigenes Zimmer für jeden!“, fiel es Vitali ein. Vivien nickte und begann auf den Block zu kritzeln. „Noch was für den Aufenthaltsraum?“ „Vielleicht einen großen Tisch mit genügend Stühlen?“, erwiderte Ariane. Vivien nickte und sah dann erneut Justin an, als erwarte sie einen weiteren Einfall von ihm. Er zauderte sichtlich. „Ähm, vielleicht ein Arbeitsbereich?“ Sie lächelte und kritzelte wieder auf den Block. „Noch was Wichtiges?“ Vivien sah Serena an, aber diese weigerte sich mitzumachen – obwohl sie gleichzeitig wirkte, als würde es ihr missfallen, nicht mitentscheiden zu können. Vitali dagegen hatte weitere Vorschläge: „Wie wär’s mit nem Heimkino?“ „Wozu brauchen wir das?“, fragte Ariane verwundert. „Wieso nicht?“, entgegnete Vitali. „Sollten wir uns nicht auf das Wichtigste beschränken?“, legte Ariane nahe. „Hä? Ein Arbeitsbereich ist doch auch nicht wichtig!“, beanstandete Vitali. „Natürlich, wenn wir irgendetwas recherchieren oder erarbeiten müssen.“, erklärte Ariane. „Kriegen wir dann wenigstens WLAN?“, maulte Vitali. „Das wird nicht möglich sein.“, antwortete Eternity ernüchternd. „Es tut mir leid.“ Vitali gab ein verstimmtes Grummeln von sich. Vivien war derweil immer noch mit dem Aufzeichnen beschäftigt. Schließlich hielt sie inne, rief ein lautes Tadaaaa! und präsentierte ihnen die Skizze. Sie hatte darauf einen eher ovalen als viereckigen Grundriss gezeichnet, der in drei Bereiche untergliedert war, einer oben, einer unten, einer rechts. Die Eingangstür in der unteren Hälfte links führte direkt in den geräumigen Aufenthaltsraum, der an der unteren Außenwand entlang den geplanten Arbeitsbereich beinhaltete. Auf der Seite der Innenwand waren der Tisch mit Stühlen eingezeichnet und in der rechten Ecke die große Couch. Vom rechten, hinteren Ende des Aufenthaltsraums führte eine Zwischentür in den Trainingsbereich, der die rechte Seite des Grundrisses einnahm. Oberhalb der Eingangstür ging ein Weg vom Aufenthaltsraum in den Bereich der Zimmer über. Die Räume der Jungs waren an der oberen Außenseite, die der Mädchen an der Innenseite untergebracht. Vivien hatte jeweils die Beschützernamen hineingeschrieben, die Vitali und Serena zuvor übersetzt hatten. Von diesem Bereich führte ebenfalls eine Tür rechts zum Trainingsbereich, zu dem zwei getrennte Badezimmer mit WC gehörten. Ariane stutzte. „Du hast ein Zimmer für Secret eingeplant.“ „Natürlich, sonst müssen wir ja später noch umbauen.“, sagte Vivien, als wäre es ganz selbstverständlich, dass Secret früher oder später zu ihnen stoßen würde. Ariane war von ihrer Zuversicht überwältigt. Bisher konnte der schwarzhaarige Junge sich schließlich nicht einmal an die ganze Sache erinnern. Serena sprach in betont unwilligem Ton. „Du hast einen Bereich für Ewigkeit vergessen.“ Die anderen starrten sie an. Serena verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist doch so!“ Vivien kicherte. „Hast du eine Idee?“ Serena antwortete nicht sofort. Schließlich tippte sie auf den Gang zwischen den Zimmern, der aufgrund von Viviens ovaler Form des Hauses ebenfalls in der Mitte breiter war, sodass ein kleiner Platz zwischen den Räumen entstand. „Sie ist so klein, wir könnten hier eine halbhohe ähm… so was wie ein Weinglas… Der Stiel ist mit dem Boden verschmolzen und der Kelch ist verziert und innen weich ausgepolstert und bequem, mit ganz vielen Kissen. Wie ihr eigenes kleines Schloss.“ Vitali kommentierte: „Das ist so kitschig, das musste von dir kommen.“ „Halt die Klappe.“, presste Serena hervor. Vitali lachte, woraufhin Serena wieder die Arme vor der Brust verschränkte. Vivien zeichnete den Punkt ein. „Sie wird sich bestimmt freuen!“ Wieder sah sie zu den anderen. „Noch irgendwelche Verbesserungsvorschläge?“ Keiner meldete sich. „Dann können wir jetzt reingehen.“ „Wie jetzt?“, fragte Vitali. „Na, wir haben das doch nicht umsonst gemacht.“, erwiderte Vivien, während sie Stift und Block wieder in ihrem Rucksack verstaute und nur die Zeichnung ihres Geheimverstecks in der Hand behielt. „Lasst uns gehen!“ Unschlüssig folgten sie Vivien zu der Tür des Häuschens. „Vielleicht ist sie ja abgeschlossen.“, überlegte Vitali laut. „Dann müssen wir sie eben aufmachen. Sesam öffne dich!“ Mit diesen Worten drückte Vivien die Türklinke hinunter. Für einen Moment waren sie tatsächlich gespannt. Doch hinter der knorrigen alten Tür zeigte sich – welch Wunder – genau das, was einige von ihnen erwartet hatten – ein verstaubtes, mit Spinnweben übersätes, kleines Inneres. Wie hätte dort auch etwas anderes sein können? Serena seufzte. Vivien stand mit dem Rücken zu ihnen und rührte sich einen Moment lang nicht. Irgendwie tat es den anderen leid, dass Viviens naive Hoffnungen so enttäuscht worden waren. Aber was hatte sie erwartet? Dass auf einmal hinter der Tür ihr Fantasiehaus auftauchen würde? Sie beobachteten schweigend, wie Vivien ihre Zeichnung nahm, zusammenknüllte und sie mit voller Wucht in das Häuschen warf. So hatten sie sie noch nie erlebt. Während die anderen noch überlegten, wie sie Vivien nun trösten sollten, machte diese einen entschiedenen Schritt in das Häuschen hinein. Und war schlagartig verschwunden! „Vivien!“, schrie Justin und hetzte ihr hinterher. Aber bei ihm zeigte sich nicht die gleiche Wirkung. Er spürte die Spinnweben, die beim Eintritt an ihm hängen geblieben waren. Er stand inmitten des Häuschens und sah sich einzig ein paar mit Staub bedeckten Stühlen auf einem nicht minder staubigen Tisch gegenüber. Durch die mit Holzbrettern zugenagelten Fenster drang kaum Licht und so war Justin in Finsternis getaucht. Von Vivien war keine Spur. Justin stürmte wieder hinaus, vorbei an den anderen geradewegs auf Eternity zu. „Wo ist sie?!“, fuhr er Eternity in einem für ihn untypisch ungehaltenem Ton an. Eternity sah ihn nur stumm an und hüllte sich in gespenstisches Schweigen. Vivien konnte nicht in ein Fantasiehaus entschwunden sein. Und wenn doch, warum dann nur sie? Die einzig logische Erklärung war, dass Eternity sie verraten hatte. Vielleicht war Vivien zurück ins Schatthenreich gezogen worden! Justin ballte die Fäuste. Er hätte auf Serena hören sollen. Sie hätten Ewigkeit nie vertrauen dürfen! Es war alles allein seine Schuld! „Bring sie zurück!“, befahl er. Derweil hatte auch Vitali hektisch versucht, Vivien nachzufolgen, mit genauso wenig Erfolg. Er stieß einen Fluch aus. „Warum geht das nicht?!“ Ariane trat vor ihn, schloss die Tür und öffnete sie wieder. Nichts. Sie ließ die Tür wieder zufallen und sah hilflos zu den anderen. Komischerweise wirkte Serena weit weniger aufgebracht als Justin. Ihr Blick war weiterhin auf die Tür fixiert. „Wo bleibt ihr denn?“, beschwerte sich plötzlich eine Stimme hinter Ariane. „Vivien!“ Ariane zog die Vermisste in eine Umarmung. „Ähm, hab ich irgendwas verpasst?“, fragte Vivien in einer Mischung aus Verwirrung und Erheiterung. „Hey, wo warst du?!“, schalt Vitali sie. „Ich bin doch nur reingegangen.“, rechtfertigte sich Vivien. „Aber Justin konnte dir nicht folgen!“, klärte Ariane sie auf. „Keiner von uns.“ Verwirrt blickte Vivien nun hinüber zu Justin. Er starrte sie entgeistert an, wandte sich eilig ab, als er ihren Blick wahrnahm und bedeckte das Gesicht mit seiner Linken. Er atmete schwer und brachte keinen Ton heraus. Vivien eilte zu ihm. „Justin?“ Sie versuchte, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, was ihr aber nicht gelang. Sie hörte ihn tief Luft holen, dann sah er sie schließlich mit einem gezwungenen Lächeln an, das Vivien ein schlechtes Gewissen machte. Ohne lange zu zögern, schlang sie ihre Arme um seinen Brustkorb und drückte sich an ihn. Selbst wenn ihm das unangenehm war, wusste sie sich in diesem Moment nicht anders zu helfen. Unverhofft erwiderte Justin die Umarmung kurz, ehe er wieder hastig von ihr abließ. Vivien löste sich wieder von ihm und blickte mit einem aufmunternden Lächeln zu ihm auf. Er wich ihrem Blick aus und wandte sich stattdessen Eternity zu. „Es tut mir leid.“ Nachsichtig lächelnd nickte Eternity. Vivien reimte sich zusammen, was in ihrer Abwesenheit geschehen war. Sie wollte nach Justins Hand greifen, aber er zuckte vor ihrer Berührung zurück. „Wir sollten uns bei der Hand nehmen. Damit wir alle zusammen reinkommen.“, rechtfertigte Vivien ihre Geste. Justin nickte und wirkte nun wieder verlegen. Zaghaft reichte er ihr seine Linke. Vivien führte ihn zu den anderen. „Wir gehen in einer Kette rein.“, schlug sie vor. Die anderen folgten ihrem Aufruf. Derweil wandte sich Ariane an Serena. „Wusstest du, –“ „Nein.“, unterbrach Serena sie. „Aber wenn jemand so verrückt ist in einem Fantasiehaus zu verschwinden, dann Vivien.“ Vivien, die ihre Worte gehört hatte, kicherte vergnügt. „Stellt euch hintereinander und haltet euch fest.“ Es war seltsam, Vivien reden zu hören, als würden sie gleich in eine unbekannte Dimension eintreten. „Ihr müsst genau das Bild von unserem Versteck im Kopf haben. Und fest daran glauben! Klar?“, erklärte sie. „Bist du Peter Pan?“, scherzte Vitali. Vivien lachte: „Eternity, wir brauchen etwas Feenstaub!“ Tatsächlich kam das Schmetterlingsmädchen zu ihnen und schwebte gekonnt über ihre Köpfe, als wolle sie ihnen etwas von ihrem Leuchten abgeben. Viviens heiteres Lachen ertönte. „Macht am besten die Augen zu. Ich führe.“, verkündete sie. Die vier taten wie geheißen. Als sie alle die Augen geschlossen hatten, konnte sich Vivien das breite Grinsen nicht verkneifen. Der Anblick der schlafwandlerisch wirkenden Kette aus Justin, Vitali, Ariane und Serena gefiel ihr. Schließlich drehte sie sich zurück nach vorne und setzte sich in Bewegung. Justin, der den Zug an seiner Hand spürte, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Stück für Stück kam Leben in die menschliche Kette. Die vier Blinden fühlten das Gras unter ihren Füßen, rochen den Duft, der von den Bäumen um sie herum ausging und hörten das Zwitschern von Vögeln. Sie versuchten, sich auf das Bild ihres Hauptquartiers in ihrem Kopf zu konzentrieren und dabei ihre zweiflerischen Gedanken zu ignorieren, die sie Träumer und Beleidigenderes schimpften. Sie taten Schritt um Schritt und fragten sich langsam, ob sie nicht schon längst in dem staubigen Inneren der alten Hütte stehen und gegen die dort aufgetürmten Tische und Stühle prallen mussten. Aber dem war nicht so. Sie wagten nicht die Augen zu öffnen, folgten weiter Viviens Führung. Mit einem flauen Gefühl im Magen bemerkten sie das Verstimmen der Vögel um sie herum. Auch die Luft schien mit einem Mal wärmer als zuvor, und der Boden … Das konnte doch kein Gras mehr sein! Kurz verspürten sie den ängstlichen Wunsch, die Augen aufzureißen, getrauten es sich im gleichen Moment aber nicht, aus Furcht vor dem Ergebnis. Schließlich liefen sie aufeinander auf, als ihr jeweiliger Vordermann stehen blieb. „Wir sind da. Ihr könnt die Augen wieder aufmachen.“, verkündete Viviens fröhliche Stimme. Die Herzen der anderen pochten vor Aufregung. Zwei, drei Sekunden rangen sie mit sich, ehe sie unsicher die Augen öffneten und auseinanderstoben, um etwas sehen zu können. Der Anblick verschlug ihnen den Atem. Der Tisch mit sechs Stühlen. Das Riesensofa in der einen Ecke, die Schreibtische entlang der Wand. Sie standen inmitten ihres fantasierten Aufenthaltsraums! Eine seltsame Schwäche machte sich in ihnen breit, ihre Beine fühlten sich wie Wackelpudding an, sie waren kurz davor in sich zusammenzusacken. Ihre Augen blinzelten wild, als würden sie gegen das Bild, das sie zu verarbeiten hatten, ankämpfen wollen. Es war schlimm genug gewesen, es als Realität zu akzeptieren, als sie im Schatthenreich gelandet waren. Aber es war nicht ihrer Fantasie entsprungen gewesen. Sie hatten keine andere Wahl gehabt, als es als echt anzusehen. Aber nun… Wie konnten sie das hier als Wirklichkeit annehmen, ohne dabei ihren gesunden Menschenverstand zu verlieren?!! „Ihr könnt auch das Unmögliche möglich machen, wenn ihr daran glaubt! Erst wenn ihr das versteht, werdet ihr euch gegen die Schatthen wehren können.“, sprach Eternity andächtig. Der hektische Atem der vier sprach nicht gerade dafür, dass sie das so einfach akzeptieren konnten. „Die Welt ist voller Wunder. Ein Samenkorn verwandelt sich in ine Pflanze, eine Raupe in einen Schmetterling. Und ihr euch in Beschützer.“ Eternitys Stimme klang angenehm. Wie ein heilsamer Gesang, der den quälenden Zweifel in ihrem Kopf zerstreute. Die vier holten tief Luft. Weitere Momente dauerte es, bis sie bereit waren, sich dem unfassbaren Anblick wieder zu stellen. „Ist das nicht toll!“, rief Vivien und lief rückwärts mit zur Seite erhobenen Armen weiter in den Raum hinein. Die anderen folgten ihr. Zuerst waren ihre Bewegungen zaghaft und sie getrauten sich nicht, die Möbelstücke anzufassen, doch nachdem sich Vivien kichernd auf die große Couch hatte plumpsen lassen, fielen ihre Hemmungen langsam ab. Schließlich erschien ein leicht verlegenes Lächeln auf ihren Lippen, dann ein nicht zu übersehendes Augenfunkeln wie Kinder es beim Anblick ihrer Weihnachtsgeschenke hatten. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürten sie die wilde Hoffnung, die verrücktesten Ideen verwirklichen zu können. Ariane lachte leise. Vitali gab einen Siegesschrei von sich. Vivien sprang wieder von der Couch auf. „Es gibt noch mehr!“ Sie machte eine einladende Bewegung. Eifrig übernahm sie die Rolle eines Fremdenführers. Sie lotste die anderen durch den Gang zu ihren Zimmern und des für Ewigkeit angelegten Konstruktion, dann weiter zu ihrem Trainingsbereich, der noch ziemlich leer war – schließlich hatten sie sich noch nichts Genaueres zu ihm überlegt. Bisher sah er einfach wie eine große Halle aus. Wieder im Aufenthaltsraum angekommen, wagten sie es nun endlich, sich ebenfalls auf das Sofa zu setzen. Dann brachen sie in Gelächter aus, als würden sie damit ihre überkommene Besorgnis aus ihrem Körper schleudern müssen. Eternity beobachtete die Beschützer und gab ihnen die Zeit, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Bedächtig schwebte sie in ihr Blickfeld. Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll über sie schweifen und verlieh dem Moment eine Ehrfurcht gebietende Stimmung. „Um mit dem Training anfangen zu können, ist es an der Zeit, euch über die Hintergründe aufzuklären.“ Ihre Worte wirkten fast feierlich und gaben den fünf das Gefühl, nun endlich in etwas wirklich Brauchbares eingeweiht zu werden. Begierig darauf, Eternitys Eröffnungen in sich aufzunehmen, fixierten sie das kleine Schmetterlingsmädchen und fühlten wie Spannung in ihnen wach wurde. Mit eindringlicher Stimme begann Eternity zu sprechen, ihre Augen hielten die fünf fest. „Schatthen sind nicht das, für das ihr sie vielleicht haltet.“ „Monster?“, warf Vitali ein. Eternity nickte und sah kurz in die Ferne. Ihre Hand umfasste das Medaillon ihrer Kette. „Sagt mir, wie würdet ihr jemandem erklären, was Gefühle sind?“ Die fünf sahen sie verwirrt an. Ariane versuchte sich an einer Antwort. „Etwas, das man im Körper spürt, aber nicht unbedingt im Körper seinen Ursprung nimmt, bzw. nicht an der Stelle.“ Eternity nickte. „Wie würdest du jemandem erklären, was eine Seele ist?“ Vitali warf ein: „Was hat das mit den Schatthen zu tun?“ „In der Seele sind die Gefühle.“, nahm Ariane aufgrund von Eternitys Fragenfolge an. Wieder nickte Eternity. „Gefühle sind nicht die Seele, aber die Seele hat Gefühle. Wenn ihr nun Gefühle aus eurer Seele nehmt und sie abtrennt, was passiert dann?“ Besonders Vitali machte den Eindruck, als wisse er beim besten Willen nicht, wovon sie da sprach. „Entschuldigt. Es ist nicht einfach, das zu erklären und ich möchte euch die Antworten nicht vorgeben. Ihr sollt selbst darauf kommen.“ Vitali stöhnte. „Ihr müsst verstehen, es gibt nicht nur eine Wahrheit.“, versuchte Eternity es nochmals begreiflich zu machen. Doch dieser Satz schien die fünf noch mehr zu irritieren. Vivien lächelte. „Heißt das, es gibt keine falschen Antworten?“ Eternity nickte. „Das ergibt doch voll keinen Sinn!“, beschwerte sich Vitali. Eternity suchte nach passenden Worten. Es fiel ihr sichtlich schwer. „Es gibt Gefühle, die unangenehm sind. Man möchte sie vielleicht nicht haben, aber man kann sie nicht einfach abstellen. Genausowenig kann man sie von sich abtrennen. Sie sind Teil von einem. Und erst wenn man sie annimmt, können sie wieder gehen. Wenn man sie aber festhält, wird man nie frei von ihnen.“ Vitali starrte sie nur noch dümmlich an. „Schatthen sind nicht einfach irgendwelche Monster. Sie sind wie Seelenteile ihres Erschaffers, die in eine Form gezwängt wurden. Sie sind in diesem Körper gefangen. Sie haben keine eigene Seele im Gegensatz zu allem anderen Leben, sondern sind Teil der Seele des Schatthenmeisters.“ „Hä?“, stieß Vitali aus. „Wie jetzt? Die Schatthen sind die Seele des Schatthenmeisters?“ Eternity schüttelte den Kopf. „Nein, sie … Es ist nicht so, dass sie seine Seele sind, sie sind seiner Seele entsprungen und haben keine eigene. Deshalb können sie auch nicht sterben.“ Jäher Schock zeichnete sich auf den Gesichtern der fünf ab. „Soll das heißen, wir sollen gegen unsterbliche Monster kämpfen?“, kreischte Serena. Wieder schüttelte Eternity den Kopf. „Was ist mit den Schatthen in der Scheune geschehen?“ Die fünf wussten kurz nichts darauf zu antworten. „Sie sind verschwunden.“, antwortete Ariane. „Wie in den Unendlichen Ebenen.“, fiel es Justin ein. Vivien erkannte ein Muster. „Immer wenn die Kugeln auftauchen!“ „Die Wappen.“, bestätigte Eternity. „Wieso Wappen?“, rief Vitali. „Was sind das für Dinger?“ „Die Wappen sind das Tor zu eurer Seele.“, erklärte Eternity. „Hä?“, stieß Vitali aus. „Wie kann das Tor zu meiner Seele außerhalb von meinem Körper sein? Und wieso ist das eine Kugel? Eine Kugel ist doch kein Tor! Und ein Tor bringt einen doch irgendwo hin. Aber ich kann doch nicht zu meiner Seele laufen, weil meine Seele doch in mir ist, und ich kann ja nicht in mich laufen! Huuääh?!“ „Das ist wohl metaphorisch gemeint.“, versuchte Ariane seine Verwirrung zu lindern. „Und wieso nennt man die Wappen? Die sehen doch ganz anders aus.“, beschwerte sich Vitali. „Vielleicht sind sie einfach die Erkennungszeichen der Beschützer.“, vermutete Vivien. Ariane schaute nachdenklich. „Das Wort Wappen bezeichnete ursprünglich nicht nur ein Abzeichen. Früher bedeutete Wappen auch Waffen.“ „Wir haben blöde verzierte Kugeln als Waffen?!“, rief Vitali fassungslos. „Wie erbärmlich ist das denn?! Und wie sollen die komischen Kugeln, denn die Schatthen weggezaubert haben?“ „Das haben sie nicht.“, antwortete Eternity. „Sie haben die Schatthen erlöst. Von ihren Leiden.“ „Sehr leidend sahen die nicht aus.“, grummelte Vitali. „Wieso sprichst du von den Schatthen immer, als wären sie Opfer?“, fragte Ariane. „Schatthen werden aus Emotionen geschaffen, unter denen der Mensch leidet. In den Schatthen bleibt dieses Leid konserviert. Es bleibt bestehen, selbst wenn ihr Schatthenmeister stirbt. Ja, selbst wenn ihr Körper zerstört wird, findet es keinen Frieden. Selbst in ihren kleinsten Partikeln bleibt es bestehen.“ Vitali verschränkte die Arme vor der Brust. „Soll das heißen, der Schatthenmeister ist ne ganz arme Sau und wir sollen Mitleid mit ihm haben?“ „Schatthenmeister haben nicht mehr oder weniger quälende Gefühle als andere. Sie besitzen nur die Fähigkeit, diesen einen Körper zu geben und dadurch Schatthen zu erschaffen.“ „Und was sollen wir jetzt machen?“, wollte Serena wissen. „Es geht nicht darum, was ihr machen sollt, sondern was ihr machen könnt.“, berichtigte Eternity. „Auch Beschützer können die Gefühle ihrer Seele nutzen. Ihr besitzt die Gabe, sie in eine Energiewelle nach außen zu verwandeln.“ „Wir sollen mit Gefühlen um uns schießen?!“, schrie Vitali. Vivien kicherte. Ariane war beeindruckt, dass Vitali das so schnell verstanden hatte, sie selbst hatte im ersten Moment nicht begriffen, was Eternity damit hatte andeuten wollen. „Die Schatthen selbst wurden aus Gefühlen geschaffen.“, wiederholte Eternity. „Durch ihre Form als Schatthen sind sie abgeschnitten von ihrer Quelle. Ihnen fehlt die Verbindung zum Leben, die jedes andere Wesen besitzt. Leben ist Veränderung, alles entsteht, entwickelt sich und vergeht. Das ist ein ewiges Fließen. Aber die Schatthen sind in ihrer statischen Existenz gefangen. Dennoch ist ihr Kern ein Stück Seele. Wenn ihr dieses Stück Seele mit eurer Energiewelle berühren könnt, befreit es sich und seine Energie verschmilzt wieder mit dem Ursprung.“ „Also wenn wir sie abtreffen?“, hakte Vitali nach. „Wenn ihr sie nicht nur trefft, sondern mit dem Gefühl eurer Welle den Seelen-Kern berührt.“, entgegnete Eternity. „Hä?“ , machte Vitali. „Wie meinst du das?“, wollte auch Ariane wissen. „Jede Seele ist willkommen und ist Teil des Ganzen. Wenn ihr dieses Wissen im Seelen-Kern des Schatthens wiedererweckt, nimmt er wieder seinen ihm zugedachten Platz im Universum ein und der Schatthen löst sich auf.“ „Alter! Wie sollen wir denn das machen?!“, schimpfte Vitali. „Ich kapier nur die Hälfte!“ „Das geht nicht nur dir so.“, gab Ariane zu. „Woher sollen wir wissen, welche Welle die ist, die den Schatthen auflöst?“, forderte Serena zu wissen. Eternity lächelte sanft. „Wenn es ein Gefühl ist, das euch selbst daran erinnert, dass ihr Teil des Ganzen seid, dann wird es das auch bei den Schatthen tun.“ Es herrschte kurzes, verwirrtes Schweigen. „Ich denke, es wird euch mehr bringen, wenn ihr praktisch erlebt, wovon ich spreche.“, sagte Eternity. „Gehen wir dazu in den Meditationsraum.“ Die fünf stockten. „Wir haben keinen Meditationsraum.“, sagte Ariane. Eternity lächelte. „Jetzt schon.“ Kapitel 33: Training -------------------- Training „Die Welt ist in zwei Klassen geteilt, in diejenigen, die das Unglaubliche glauben und diejenigen, die das Unglaubliche tun.“ (Oscar Wilde, irischer Schriftsteller) Die fünf folgten Eternity aus dem Aufenthaltsraum in Richtung Trainingsbereich. Wo zuvor ein nahtloser Übergang in die Trainingshalle gewesen war, befand sich nun eine Art Zwischenbereich. An der vormaligen rechten Außenwand befand sich eine Einkerbung, die eine Tür vermuten ließ, die nicht in ihren Überlegungen enthalten gewesen war. Wie von Zauberhand tat sich die Schiebetür auch schon auf und ihnen wurde klar, dass dieser Raum ihnen wohl nicht so einfach eingefallen wäre. Der Boden bestand aus metallisch glänzendem silbrig-schwarzem Stein – Hämatit – der mit einem weißen Muster übersäht war, das regelrecht glühte. Die Decke des Raums war nicht wie die des übrigen Gebäudes. Das Zimmer befand sich unter einer Kuppel. Schneeweiße Streben, trafen an der aus schwarzem Turmalin gefertigten Decke zusammen, die sie irgendwie an den Sternenhimmel bei Nacht erinnerte. In der Mitte des Raums befand sich eine Mulde im Boden, deren Zweck den fünfen nicht klar war. Wie im Rest des Gebäudes gab es keine Fenster. Obwohl die silber-schwarze Farbe des Raumes – von den Pfeilern einmal abgesehen – vermuten ließ, dass im Inneren eine unheimliche Dunkelheit herrschen würde, handelte es sich vielmehr um eine geheimnisvolle Ausstrahlung. Diese kam nicht zuletzt durch die wie von feiner Feder schwungvoll getuschten Symbole zustande, die den Raum zierten und sanft leuchteten. „Es ist wunderschön.“, hauchte Ariane. „Ich hoffe, es wird euch helfen, eurem Selbst auf den Grund zu gehen.“, sprach Eternity. Sie schwebte in die Mitte des Raums zu der Mulde im Boden. Daraufhin strömte aus der Einbuchtung sanftes Licht hervor, begleitet von einer ganz zarten Musik wie aus einer Spieluhr. Das Licht, in dem kleine kristallene Figuren andächtig tanzten und dabei ständig ihre Form zu ändern schienen, wurde auf die Kuppel geworfen und zeigte dort sanfte Pastellfarben. Das Licht drehte sich langsam zur Musik und erinnerte die fünf an eine Mischung aus einem Kaleidoskop und einem Spielzeug für Babys, das Bilder an die Decke projiziert. Zauberhaft. Anders konnten sie es nicht beschreiben. Auf seltsame Art und Weise fühlten sie sich zurück in ihre Kindheit versetzt, in der sie noch behütet gewesen waren. Vielleicht war auch genau das Eternitys Absicht, schließlich war ein Kind sehr viel offener für alles Neue und Fantastische. Und laut dem, was sie zuvor angedeutet hatte, mussten sie sich nun auf so einiges gefasst machen, das über die Grenzen ihres Verständnisses hinausgehen würde. „Kommt doch näher.“, bat Eternity die fünf, die noch wie angewurzelt in der Tür standen. Vorsichtig betraten sie den Raum, während sich hinter ihnen die Tür geräuschlos schloss. Nun erkannten sie, dass um die Mulde fünf Kissen lagen, auf denen sie offensichtlich Platz nehmen sollten. Sie kamen der unausgesprochenen Aufforderung nach. „Um den Weg zu euren Kräften zu finden, müsst ihr euch auf euch selbst konzentrieren.“, erklärte Eternity. „Ha! Das kann ich!“, rief Vitali stolz. „Klar.“, spottete Serena. „Ist ja auch das einzige, mit dem du dich beschäftigst. Vitali grinste breit. „Einer muss sich ja mit den wirklich wichtigen Dingen beschäftigen!“ Serena lächelte schräg. „Seit wann bist du wichtig?“ Ariane mischte sich ein. „Spätestens seit du es als nötig erachtet hast, ein Gespräch darüber anzufangen, ob er es ist.“ Sie wandte sich an Eternity. „Was müssen wir tun?“ „Nehmt eine würdevolle Haltung ein, die zeigt, dass ihr Respekt vor euch selbst habt.“, antwortete Eternity. Serena funkelte sie auf diesen Satz hin böse an. Eternity präzisierte ihre Aussage daraufhin: „Gebt eurem Körper den Raum, den er braucht, um frei zu atmen. Richtet eure Wirbelsäule auf, als würde sie an einem Faden nach oben gezogen. Findet eine Position, in der ihr euch wohlfühlt, und schließt die Augen.“ Im ersten Moment kamen sie sich wie bei einer Meditationsstunde vor – was bei dem Namen Meditationsraum wohl auch naheliegend war – dennoch versuchten sie Eternitys Anweisungen zu folgen und bemerkten gleichzeitig, dass die Musik verstummt war. „Atmet einmal ganz tief aus, drückt mit aller Kraft so viel Luft aus euren Lungen wie ihr nur könnt und dann noch ein bisschen. Bis nichts mehr geht. Haltet die Spannung für eine Sekunde und lasst dann los.“ Eternity legte eine kurze Pause ein, in der die fünf taten wie sie ihnen geheißen hatte. „Eure Lunge füllt sich automatisch wieder mit Luft. Ihr müsst nichts dafür tun. Immer wenn ihr merkt, dass ihr euch anspannt, könnt ihr das wiederholen. Konzentriert euch jetzt auf euren Atem. Nehmt einfach wahr, wie sich euer Oberkörper bei der Einatmung weitet… und bei der Ausatmung zusammenzieht… Ihr müsst nichts dafür tun.“ Eternitys Stimme hatte einen so besänftigenden Klang, dass ihre Anspannung tatsächlich langsam nachließ. „Euer Atem kommt und geht, ohne euer Zutun. Ihr könnt ihn einfach wahrnehmen.“ Momente lang waren nur ihre Atemzüge zu hören. „Alle Gedanken dürfen jetzt gehen. Sie ziehen einfach an euch vorbei wie Wolken am Firmament. Konzentriert euch einfach weiter auf euren Körper.“ Als Eternity erkannte, dass auf den Gesichtern von ein paar von ihnen Anspannung zu lesen war, sprach sie langsam weiter: „Es ist okay. Ihr müsst nichts erzwingen. Es kommt von alleine zu euch. Und egal was in euch ist oder nicht ist, es darf sein. Wirklich...“ Weitere Momente des Schweigens folgten. „Nun sagt still zu euch selbst: Bitte, zeig mir den Weg.“ Eingelullt von Eternitys sanfter Stimme folgten sie der Anweisung. Eine angenehme Ruhe hüllte sie ein, und auch wenn ein paar von ihnen noch unruhig waren, glaubten sie tatsächlich etwas zu fühlen. Jeder von ihnen folgte in seiner Geschwindigkeit dem jeweiligen Gefühl in sein Inneres, oder vielleicht trat auch ihr Inneres immer mehr an die Oberfläche. Je weiter sie kamen, in desto weitere Ferne rückte ihre Umgebung und umso mehr füllte die Empfindung ihr Inneres aus. Es war nicht möglich, dieses Gefühl in Worte zu fassen, da keine Worte der Welt sein wahres Wesen fassen konnten. Doch es hier vorzufinden, überwältigte sie. Sie waren so davon überzeugt gewesen, dass Ewigkeit es in ihnen ausgelöst hatte, an dem Tag, an dem die Schatthen sie entführt hatten, nur um jetzt zu erkennen, dass es in ihnen selbst seinen Ursprung nahm. Es war angenehm und intensiv, es erfüllte ihren gesamten Körper, Sie fühlten sich geborgen und ließen los, öffneten sich dieser Empfindung vollständig. Sämtliche Gedanken waren verstummt. Ein Kribbeln jagte durch sie hindurch wie ein Lachen des Lebens, ein Kichern des Glücks, das ihr ganzes Wesen erfasste. In diesem Moment riss es ihnen die Augen auf, sie schnappten nach Luft. Und da waren sie – die Wappen… Die fünf wagten nicht, ihre Augen von den runden Gebilden zu lösen. Zu groß war die Furcht, dass diese im gleichen Moment wieder verschwinden könnten. Es war zu unglaublich, dass sie selbst bewirkt haben sollten, dass diese vermeintlichen Tore zu ihrer Seele nun vor ihnen in der Luft schwebten. Vorsichtig standen sie von ihren Plätzen auf. Die Wappen waren nun direkt vor ihnen. Zaghaft streckten sie dem ihrigen die Hand entgegen, wie sie es damals schon in den Unendlichen Ebenen getan hatten. Es kam der Moment der Berührung. Wie ein aus ihrem Herzen emporloderndes Schicksalsfeuer, lebensspendend und wärmend, wie ein Wind der Veränderung, befreiend und leicht, zart und betörend wie eine ihre Eindrücke vereinende Blume, wie ein Fels des Vertrauens, festigend und stärkend, erfrischend und lindernd wie ein übersprudelnder Wunschquell, elektrisierend und durchdringend wie ein Blitzgewitter ihrer geheimen Kräfte erfüllte es ihr ganzes Wesen. Die Intensität der Empfindung erfasste sie. Wie von einem Rausch überwältigt, wurden sie sanft mitgerissen. Wie ein zarter Hauch, ein sanfter Regenschauer oder die Liebkosung von Sonnenstrahlen weitete sich etwas über ihre Haut aus, als würde es dort erblühen und erhärten. Sie atmeten ein und aus, immer noch mit geschlossenen Augen, spürten den Boden unter ihren Füßen und mussten erst das unglaubliche Gefühl verarbeiten, Langsam öffneten sie ihre Augen und sahen einander an. Ein eigentümlicher Glanz ging von ihrer Kleidung aus. Diese war mit unterschiedlichen Edelsteinen und Verzierungen geschmückt. Jede Uniform – wenn man sie überhaupt so bezeichnen konnte, denn jede hatte ihren eigenen Stil – besaß ihren eigenen zu einer speziellen Form geschliffenen Edelstein, der an unterschiedlicher Stelle angebracht war. Für eine Sekunde hatte ihre jeweilige Kleidung die Farbe ihres Edelsteins, dann nahm sie eine andere Farbe an, die sie anschließend beibehielt. Change, beziehungsweise Vitali, betrachtete sein Outfit. Zwar hätte man sich damit auf der Straße nicht zeigen dürfen, aber so als Superheld… Ein begeistertes Grinsen nahm sein Gesicht ein. Als ihm das klar wurde, bemühte er sich sofort wieder um einen ernsteren Ausdruck. Brauchte ja nicht jeder gleich wissen, dass er die Klamotten toll fand. Eternity strahlte vor Freude und wäre fast zurück in ihr kindlichen Ich gefallen, hätte sie sich nicht rechtzeitig wieder gesammelt. Sie räusperte sich. „Diese Kleidung scheint ein Schutz zu sein. Die Energie der Wappen bildet sie aus. Ganz nach euren Wünschen.“ Desire alias Ariane sah Eternity fragend an. „Nach unseren Wünschen?“ Eternity nickte. „Die Energie der Wappen hat die Kleidung gebildet, das heißt, ihr müsstet sie steuern können.“ Verwirrung herrschte. Wie sollte man Kleidung steuern können? Experimentierfreudig streckte Unite, sprich Vivien, ihren rechten Arm vor sich. Die anderen betrachteten sie interessiert. Für einige Sekunden passierte nichts, dann mit einem Mal schien der Stoff ihrer Kleidung zu reagieren, sodass die anderen ein erschrockenes Keuchen von sich gaben. Ihre Hand wurde von einem zauberhaften Funkeln und Glitzern eingehüllt und war im gleichen Atemzug plötzlich behandschuht, genauer gesagt, ihre Hand und ihr gesamter Arm waren vom gleichen Stoff überzogen, doch nur für einen Augenblick. Wieder konzentrierte sich Unite und schon löste sich der Stoff in Schimmern auf. Nun war ihre Uniform rechts kurzärmlig, besaß aber an ihrem Unterarm einen Extrastoffteil, der ein wenig an einen rein dekorativen Gelenkschützer erinnerte oder eine eng anliegende Armstulpe. Unite lachte vergnügt und strahlte die anderen mit leuchtenden Augen an. „Unser ganz eigenes Hauptquartier! Unser ganz eigenes Team-Outfit! Jetzt sind wir eine richtig professionelle Heldentruppe!“ Kein Kind hätte begeisterter schauen können. In wahrem Freudentaumel bewegte sie ihren Oberkörper hin und her. „Wie die Power Rangers oder die Sailor Krieger!“ Changes Gesicht wurde finster. Mit einer Grabesstimme begann er zu sprechen. „Hast du mich gerade mit…“ Er begann zu brüllen. „…Sailor Moon verglicheeeeeen?!!!!“ Anstatt zu antworten grinste Unite unschuldig. „Wehe du kommst noch mal mit diesem Vergleich!!!“, schnaubte Change sie so laut an, dass Unite ihren Kopf gekünstelt nach hinten fallen ließ, als habe der Windstoß von Changes Schrei das bewirkt. „Na wegen den verschiedenen Farben und Elementen.“, entgegnete Unite arglos. „Schau doch!“ Sie deutete auf die Edelsteine an ihren Kostümen. „Desire ist orange. Ich gelb. Destiny rot. Trust grün. Und du bist blau!“ „Das erklärt einiges.“, kommentierte Destiny, Serenas verwandelte Form, mit einem Seitenblick auf Change. „Ja, zum Beispiel warum du immer gleich rot siehst.“, konterte Change. Trust, zuvor Justin, ging über die Streitereien der beiden hinweg. „Was meinst du mit den Elementen?“, fragte er Unite. „Jeder von uns steht für ein Element!“, verkündete Unite. Change schien nicht zu verstehen. „Wie jetzt? Eisen? Silber? Kadmium?“ „Feuer, Wasser, Erde, Luft! Du Dumpfbacke.“, zickte Destiny ihn an. „Das sind aber keine Elemente, du Besserwisserin!“, gab Change zurück. Desire wandte sich an Unite: „Wie meinst du das?“ Unite kicherte vergnügt. „Ist euch das noch nicht aufgefallen? Vitali Luft. Serena Funke, wie Feuer. Ariane Bach, also Wasser. Und Justin Boden, sprich Erde.“ Den anderen war das tatsächlich noch nicht aufgefallen. „Ihr habt doch sicher euer Element bei der Verwandlung gespürt!“, rief Unite. Ihre Beschützer-Kollegen wirkten unsicher. Sie hatten zuvor nicht darüber nachgedacht, ob sie ein Element gespürt hatten. „Ja halt mal!“, rief Change. „Was bitteschön soll Vivien Baum sein?“ „Na Pflanzen!“, antwortete Unite ohne jeden Zweifel. „Ich habe bei der Verwandlung ganz deutlich Pflanzen gespürt.“ Change zog eine zweifelnde Miene. „Wie kann man denn Pflanzen spüren?“ Unite überging seine Frage. „Wisst ihr, was die Sache jetzt noch komplett machen würde?“ Die Antwort hieß eindeutig Nein. „Ein Team-Ruf!!“, jubelte Unite. „Ein was?!“, spie Destiny aus. „Ein Team-Ruf.“, wiederholte Unite, als habe sie den Spott in Destinys Stimme nicht wahrgenommen. „So ein Blödsinn!“, keifte Destiny. „Das dient der Motivation!“, erklärte Unite. „Im Sport wird das oft gemacht. Das steigert das Teamgefühl.“ „Das steigert die Genervtheit!“, blaffte Destiny. „Danach wird es dir viel besser gehen!“, propagierte Unite. Blanker Unwille sprach aus Destinys Gesicht. Unite neben ihr schmiss sich flehentlich an ihren Arm. „Lass es uns doch wenigstens versuchen!“ Destiny drehte zwanghaft den Kopf weg, um Unites treuem Hundeblick zu entgehen. „Lass mich los.“, gab sie versteift von sich, immer noch darum bemüht, Unite auf keinen Fall anzusehen. „Bitteeeeee!“, flehte Unite. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und geschlossenen Augen, ließ Destiny den Kopf sinken und stöhnte sehr lange und sehr genervt. Im gleichen Moment spürte sie Unite sie umarmen. „Danke!“ Unite begab sich wieder auf ihren Platz und strahlte die anderen voller Vorfreude an. Sie hielt die Rechte zu einer Faust geballt an ihrer Seite knapp unterhalb der Gesichtshöhe. Dann rief sie lange und gedehnt. „Balaaaaaaance….“ Sie riss ihren Arm triumphierend in die Höhe. „Defenders!!!“ Sie grinste. „Und jetzt alle zusammen!“ Weit weniger leidenschaftlich folgten die anderen ihrem Beispiel. Der Ruf klang aus ihren Mündern ziemlich unbeholfen. Und ihre Armbewegung war noch ziemlich lasch. Nur Change war mit vollem Eifer dabei. Unite schüttelte den Kopf. „Da muss mehr Euphorie rein!“, sagte sie im Tonfall eines Filmregisseurs. „Ich will eure Emotionen sehen!“ Destiny knurrte leise. Unite winkte Change von der gegenüberliegenden Seite zu sich. „Change, komm, wir zeigen‘s ihnen noch mal.“ Change ging um die Mulde zwischen ihnen herum und trat zwischen Unite und Desire. Mit einem Nicken sprachen er und Unite sich ab. Beide Stimmen erklangen voller Begeisterung und Willenskraft. „Balaaaaaaance…. Defenders!!“ Ihre Arme schossen synchron in die Höhe. Die anderen mussten zugeben: bei den beiden sah das schon ein wenig beeindruckend aus. „Super!“, lobte Unite. Daraufhin konnte es Change nicht lassen, Destiny ein triumphierendes Grinsen zuzuwerfen, das diese mit einem grollenden Blick belohnte. „Noch mal!“, forderte Unite. Sie nötigte die anderen dazu, ihren Gruppenruf solange zu wiederholen, bis er sich tatsächlich enthusiastisch und kampfbereit anhörte. Die anderen Beschützer hatten gar keine Wahl, als sich Unites guter Laune anzupassen, wenn sie nicht riskieren wollten, diese Prozedur bis in alle Ewigkeit fortführen zu müssen. Und so erschallten ihre Stimmen schließlich zeitgleich und energisch: „Balaaaaaaaaance…“ Ihre Arme flogen in die Höhe. „Defenders!!“ Eternity beobachtete ihr Treiben lächelnd. Unite hüpfte begeistert. „Jetzt sind wir bereit fürs Training!“, verkündete sie. „Das freut mich.“, sagte Eternity schmunzelnd. Gemeinsam begaben sie sich in den Trainingsraum und stellten sich nebeneinander. Eternity schwebte vor sie. „Was sollen wir tun?“, fragte Desire. Eternity erklärte: „Konzentriert euch wie eben. Öffnet euer Herz und lasst eure Gefühle als Energie daraus fließen.“ „Das ist alles?“, hakte Change nach, als klänge das zu einfach. Destiny ließ ihm einen strafenden Blick zukommen. „Du wirst dich auch besonders gut konzentrieren können, wenn dir ein Schatthen gegenübersteht.“ „Hey, mittlerweile bin ich deine Wutausbrüche gewöhnt! Was soll mir da ein Schatthen noch ausmachen?“ Auf seinen Lippen zeigte sich ein schelmisches Grinsen, das durch eine flüchtige Bewegung seiner Augenbrauen noch unterstrichen wurde. Wie Destiny dieses Grinsen hasste! Wie ein kleiner frecher Junge sah er damit aus. Dass ein Teil von ihr das niedlich fand, konnte sie einfach nicht akzeptieren! Es machte sie wütend. „Also einfach konzentrieren.“, wiederholte Desire. Sie und die anderen schlossen erneut die Augen. Schweigend standen sie da. Angestrengt horchten sie auf die Stille. Ihre Gedanken waren auf das Finden eines besonderen Zugangs, eines außergewöhnlichen Gefühls fixiert, das ihre Fähigkeiten versteckt hielt. Aber je länger und intensiver sie suchten, je ehrgeiziger sie sich darum bemühten, desto weniger schien es ihnen zu gelingen. Nach über fünf Minuten erfolglosen Schweigens gaben sie es auf. „Es klappt nicht.“, sagte Desire kleinlaut, und klang wie ein Mädchen, dessen sprechende Barbiepuppe plötzlich nicht mehr funktionierte, weil die Batterien alle waren. Hilfesuchend sahen die fünf zu Eternity. Diese schien allerdings auch kein Patentrezept für diesen Fall parat zu haben. „In den Zeichentrickserien rufen sie immer irgendwelche Bezeichnungen für ihre Attacken!“, kam es Unite. „Aber das ist keine Zeichentrickserie.“, klärte Destiny sie auf. „Vielleicht funktioniert es mit einem Spruch ja besser!“, plädierte Unite. Wieder schauten die Beschützer auf Eternity, als habe das Schmetterlingsmädchen auf alle Fragen die passende Antwort. Eternitys Mimik legte nahe, dass sie mit ihrer eigenen Unwissenheit kämpfte, aber die fünf nicht enttäuschen wollte. Dann begann sie zu reden, als würde sie improvisieren. „Ähm, also… Worte… haben eine eigene Magie… Wenn man etwas in Worte fasst, dann gibt man dem Gedanken eine Form.“ Sie stockte kurz, dann setzte sie mit einem Mal erstaunlich flüssig fort, als würde sie ihre Worte aus einer unbekannten Wissensquelle zapfen. „Früher glaubte man, dass man Macht über einen Menschen hat, wenn man seinen Namen kennt, also sein Wesen in Worte fassen kann. Dieses Prinzip ist zum Beispiel noch in dem Märchen Rumpelstilzchen zu finden. Und in der christlichen Bibel heißt es: ‚Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‘ Das Wort besitzt demnach schöpferische Kraft. Im Judentum durfte der Name Gottes nicht ausgesprochen werden. Im Islam wird der Koran nur im Original-Wortlaut also in Arabisch vorgelesen, damit die Worte nicht verfälscht werden. Und dass früher Zauberformeln wie Abrakadabra verwendet wurden, ist wohl allgemein bekannt. Ihr kennt vielleicht die Redewendung: Jemandem sein Wort geben. Das Wort bindet den Menschen. Es ist das älteste Pfand, das man einem anderen geben kann.“ Eternity hielt kurz inne, als sei sie über ihren eigenen Wortschwall überrascht. Langsam atmete sie aus wie nach einer anstrengenden Erfahrung. Anschließend sah sie die fünf wieder direkt an und fuhr, nun anscheinend wieder auf ihr eigenes Wissen zurückgreifend, fort. „Vielleicht fällt es euch leichter, eure Kräfte zu steuern, wenn ihr sie mit einem bestimmten Wort koppelt. Wenn ihr eure Kräfte darauf einstimmt, könnte das Wort wie ein Signal wirken, auf das euer Körper reagiert. Aber das ist reine Theorie. Möglicherweise ist das auch abhängig von dem Begriff, den ihr wählt. Er sollte dem Wesen eurer Kraft entsprechen. Das denke ich zumindest.“ „Hab ich’s nicht gesagt!“, triumphierte Unite. Die anderen sahen einander fragend an. „Was sollen wir jetzt tun?“, erkundigte sich Trust im Namen von allen. „Jeder soll sich einen Namen für seine Kraft überlegen!“, erklärte Unite. Langsam kam sie den anderen wie ein heimlicher Insider vor. Allerdings half ihre Erläuterung ihnen nicht wirklich weiter. Change starrte Eternity und Unite verständnislos an. „Wie jetzt, ein Name? Elfriede oder was!?“ „Eine Bezeichnung, die den Kern deiner Kraft einfängt.“, drückte es Eternity nicht hilfreicher aber dafür poetischer aus. „Zum Beispiel etwas, das zu unseren Namen passt. Schicksal, Verändern, Vertrauen, Wunsch.“, versuchte Unite es verständlicher zu machen. Als die anderen weiterhin mit planlosen Gesichtsausdrücken reagierten, entschloss sich Unite schließlich zu einer Demonstration: „Ich zeig’s euch!“ Unite stellte sich vor die Gruppe. Sie schloss die Augen, legte die Hände auf die Mitte ihres Brustkorbs und versank in sich selbst. Gedanklich sammelte sie sich in ihrem Herzen bis sie eine angenehme Wärme darin spürte wie beim Herbeirufen ihres Wappens. „Vereinte Kräfte!“, befahl sie energisch. Dabei riss sie ihre Augen auf und ließ ihre Arme zur Seite schnellen, um einen spektakulären Effekt zu erzielen… Wahrscheinlich hätte es schon spektakulär gewirkt… wenn es irgendeine Wirkung gezeigt hätte. Unite gab ein verlegenes Kichern von sich und lächelte arglos. „Ist vielleicht doch nicht so einfach.“ Destiny sah sie zynisch an. Gedankenversunken schürzte Unite die Lippen und betrachtet die anderen. Ihr Blick blieb an Trust haften und ein verstohlenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie trat hinüber zu Justins verwandelter Form und ergriff seine Hand. „Vereinte Kräfte!“ Was eben so kläglich fehlgeschlagen war, war nun umso effektvoller. Das Ergebnis von Unites Ausruf riss die anderen fast von den Füßen. Okay, es handelte sich nicht um eine wirklich gewaltige Energiewelle, sie war eher klein und niedlich. Aber allein der Umstand, dass auf Unites Befehl eine Reaktion folgte, war einfach überwältigend. Die Energie, die sich aus Unites Körper gelöst hatte, verteilte sich wie ein feiner Nebel im Raum. Sie streifte dabei auch die anderen Beschützer. Die Berührung ließ die vier mit einem Mal ein Gefühl von Geborgenheit und Freiheit zugleich empfinden. Unwillkürlich schlossen sie kurzzeitig die Augen und genossen diese Wahrnehmung. Das Schmetterlingsmädchen flog auf einmal hektisch hin und her, hoch und runter, seine Flügel flatterten aufgeregt. „Du hast es geschafft! Du hast es geschaaaafft!!“ Seine Aufregung hatte es wohl wieder in seine kindlich unschuldige Gestalt verwandelt. Ewigkeits Begeisterung ließ sich gar nicht mehr bremsen. Übermütig schwirrte sie an Unites Backe und umarmte sie glückselig. Desire sah Unite entgeistert an. „Wie hast du das gemacht?“ „Bei Vereinen hab ich an ‚mit vereinten Kräften‘ gedacht. Aber dann ist mir eingefallen, dass man ja zum Vereinen etwas Zweites braucht.“ Noch immer hielt sie Trusts Hand. Trust wagte es nicht, ihr seine Hand zu entziehen und hoffte verzweifelt, dass niemand seinen Herzschlag hören konnte. „Und dann hat’s geklappt!“, freute Unite sich. Sie schien nicht vorzuhaben, ihn wieder loszulassen. Nach Unites Erfolg hatten die anderen nun einen Ansporn, ihre eigenen Kräfte zu erwecken, und so rätselten sie, welcher Begriff passend sein könnte. Besonders Change schien die Wahl äußerst ernst zu nehmen. Es musste ein cooler Name sein, davon war er überzeugt. Allein der Gedanke schüttelte ihn, irgendeinen zuckersüßen Angriffsnamen zu rufen, bei dem man sich jedes Mal in Grund und Boden schämen musste und bei dem sich die Schatthen zu Tode gelacht hatten, bevor die Attacke sie überhaupt erreichen konnte! Wobei das auch eine interessante Art der Schatthenbekämpfung gewesen wäre … Es musste also etwas Männliches sein! Wie Todesblizzard oder Vernichtungswirbel oder Spirale des Verderbens! Daher begann er eben jene Namen zu rufen in einem vergeblichen Versuch, seine Kräfte auszulösen. Ewigkeit sah Change entsetzt an. „Mit solchen Namen kannst du eher Schatthen erschaffen als sie erlösen.“ „Was soll ich denn rufen?!“ Change setzte den Blick einer kleinen naiven Person auf, nahm eine feminine Pose ein und sprach mit künstlich hoher Stimme: „Rosarote Wolke der Zufriedenheit und des Einklangs!“ Dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck wieder zu dem eines genervten Jugendlichen. „Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!!“ Ewigkeit nickte begeistert. Offenbar verstand sie Sarkasmus nicht. „Ganz sicher nicht!“, rief Change. Ewigkeit zog einen Schmollmund. „Aber das andere hört sich so düster und bedrohlich an.“ „Das ist ja grade das, was die Namen so toll macht! Düster und bedrohlich!“ Ewigkeit zog einen Schmollmund. „Ihr sollt gegen die antreten, die düster und bedrohlich sind. Ihr sollt nicht mit deren Waffen arbeiten.“ Ihr Gesicht sah aus, als würde sie gleich losheulen. „Sollen wir jetzt etwa in pinken Tütüs durch die Gegend rennen und den Schatthen ein Tänzchen vorführen!?“, rief Change angeekelt. „Krieg dich mal wieder ein.“, schimpfte Destiny. „Wie wär’s einfach mit Wind der Veränderung? Schlicht und einprägsam.“ Change sah sie einen Moment skeptisch an, dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn du dir schon die Mühe gemacht hast, dir extra was für mich auszudenken, kann ich wohl schlecht ablehnen.“ „Es war keine Mühe!“, zischte Destiny. Change grinste sie an und beugte sich zu ihr vor. „Gib doch zu, dass du mich insgeheim magst.“ Er richtete sich wieder auf und machte seltsame Bewegungen mit seinem Oberkörper, während er in einen noch seltsameren Sprechgesang verfiel: „Duuu maagst mich, gib’s dooch zuuu! Du kannst mich leiden! Ja ja ja!“ Es war offensichtlich, dass er sie damit bloß provozieren wollte und das gelang ihm auch verdammt gut. In Destinys Gesicht zogen immer schwärzere Gewitterwolken auf. „Halt die Klappe!“ Sie stieß Change grob von sich. Da der Angriff für ihn unerwartet kam, schwankte er zunächst nach hinten, um schließlich ganz das Gleichgewicht zu verlieren. Unsanft landete er auf seinem Hosenboden. Doch sein Mundwerk funktionierte noch immer einwandfrei. „Das war ein schwerer Schicksalsschlag!“ Destiny starrte ihn an. „Schicksalsschlag…“ „Ja, wortwörtlich!“, beschwerte sich Change und begab sich auf dem Boden in einen halben Schneidersitz und wartete auf eine Entschuldigung von Destiny. Allerdings konnte er darauf lange warten. „Schicksals Schlag!“, freute sich Unite und wandte sich zu Desire und Trust, den sie tatsächlich kurz losgelassen hatte. „Und wie heißen eure Attacken?“ Trust fuhr sich mit der Rechten, die Unite zuvor gehalten hatte, unsicher durch das braune Haar. „Was hältst du von Vertrauensband?“ Unite hielt ihren Zeigefinger drohend in die Höhe. „Es geht hier nicht darum, was jemand anderes davon hält. Es ist schließlich deine Attacke!“ Dann lächelte sie. „Außerdem find ich das ’nen tollen Namen!“ Trust zeigte ein verlegenes Lächeln, was seine übliche Reaktion auf Vivien beziehungsweise Unite war. Unite indes erkundigte sich nach Desires Attackennamen. „Wunschkraft.“, verkündete Desire. „Dann können wir ja loslegen!“, freute sich Unite. Allerdings zeigte sich schnell, dass eine Bezeichnung für ihre Kraft allein nicht ausreichte, um eine Wirkung zu erzielen. Die ersten Versuche blieben erfolglos. Selbst Unite hatte mit Fehlschlägen zu kämpfen. Wieder und wieder bemühten sie sich, ihre Attacken heraufzubeschwören und riefen die zugehörigen Bezeichnungen. Dann allmählich zeigten sich kleine Reaktionen. Zunächst war es nur ein kleines Funkeln, das Desire zu sehen geglaubt hatte. Von neuer Zuversicht gestärkt, wuchs ihre Kraft schnell zu einem feinen Nebel heran. Unite hielt Trust noch immer an der Hand, unter dem Vorwand, sie könne nur so ihre Kräfte einsetzen – dabei wusste sie längst, dass dem nicht so war. Allerdings hinderte das Trust eher an seiner Kräfteentfaltung, da er sich dadurch auf überhaupt nichts anderes mehr konzentrieren konnte als auf die Nähe zu ihr, ganz egal wie sehr er sich anstrengte. Als auch Unite das bewusst wurde, ließ sie schließlich von ihm ab. Von da an machte er schnell Fortschritte. Nur zwei von ihnen standen vollkommen nutzlos herum… „Das funktioniert einfach nicht!!“, schimpfte Change lauthals, als zum x-ten Mal rein gar nichts geschah. Er hatte es mittlerweile schon mit den verschiedensten Attackennamen probiert, nachdem der Wind der Veränderung wieder und wieder versagt hatte. Unite, die sich – nachdem sie mit Trust ohnehin nicht mehr Händchenhalten konnte – kurzerhand zur Gruppenleiterin aufgeschwungen hatte, ging zu Change hinüber. „Was hast du denn?“, fragte sie wie eine verständige Betreuerin. „Es geht einfach nicht!!“, brüllte Change sie an. „Schrei nicht so rum!!!“, mischte sich Destiny ebenso gereizt ein. „Du kriegst es ja selbst nicht auf die Reihe!“, gab Change wütend zurück. „Ja! Weil du mich mit deinem blöden Geschrei ständig rausbringst!“, schrie Destiny ihrerseits. „Als du uns alle umbringen wolltest, hast du’s doch auch gekonnt!“, stichelte Change. „Da hatte ich auch einen anderen Ansporn!“, keifte Destiny. „Und der wäre?“ „Dich umzubringen!“ Feindselig funkelten die beiden einander an. „Kinder, Kinder, so geht das aber nicht.“, sagte Unite in der Stimmlage einer Erzieherin und ging zwischen die beiden. „So… Jetzt macht mir mal alles nach!“ Change und Destiny schauten auf Unite. Unite atmete tief ein. Change und Destiny atmeten tief ein. Unite atmete durch den Mund wieder aus. Change und Destiny atmeten durch den Mund wieder aus. Unite legte ihre Hände auf ihre Brustmitte. Change und Destiny legten ihre Hände auf ihre Brustmitte. Unite fing an, auf einem Bein zu hüpfen. Bissig starrten Change und Destiny sie an. „Was ist?“, fragte Unite unschuldig, noch immer auf einem Bein hüpfend. „Bist du bescheuert?!“, geiferte Destiny. „Was soll das?!“, fauchte Change. Unite hörte auf zu hüpfen und drehte sich zu Destiny und Change um. „Jetzt weiß ich, wo euer Problem liegt!“, rief sie. „Ihr seid zu verkrampft!“ Zwei gereizte Gesichter blickten ihr entgegen. „Ihr müsst locker bleiben!“, riet sie ihnen. „Wenn ihr etwas erzwingen wollt, dann zieht sich alles in euch zusammen. Spürt ihr das nicht? Sogar eure Gesichtsmuskeln sind total angespannt vom ganzen Bösegucken!“ Mit ihren beiden Zeigefingern verzog sie ihr Gesicht zu einer Teufelsmaske, die den Gesichtsausdrücken von Destiny und Change nachempfunden war. „Toll und wie soll es dann gehen?!“, schnauzte Destiny sie an. „Ihr solltet Spaß daran haben.“, erklärte Unite und erntete erneut miesepetrige Blicke. „He, das ist doch keine Prüfung, ihr braucht euch nicht so reinbeißen. Spielt ein bisschen damit. Und macht euch nicht so verrückt!“ Unite schenkte ihnen ein aufbauendes Lächeln. Destiny und Change stöhnten genervt. Unites blöde Ratschläge brachten sie auch nicht weiter. Ewigkeit, die die Unterhaltung mitangehört hatte, wandte sich an die beiden Sorgenkinder. „Wenn ihr die ganze Zeit die Fortschritte der anderen beobachtet, setzt ihr euch bloß unter Druck.“ Change und Destiny seufzten. Ewigkeit hatte Recht. Es machte sie ganz krank, mitansehen zu müssen, wie die Energiewellen von Desire, Trust und Unite immer größer wurden, während sie so gar nichts zustande brachten! „Ihr könnt dort rübergehen!“ Das Schmetterlingsmädchen deutete zum anderen Ende des Raums. Mit lustlosen Bewegungen folgten die beiden Ewigkeits Rat. Resigniert sanken sie an einer der Wände zu Boden. „Das klappt nie.“, murmelte Destiny verstimmt. „Das kannst du laut sagen.“, stimmte ihr Change zu. Wieder seufzten die beiden. Change lehnte sich gegen die Wand hinter ihnen, während Destiny, die Beine an sich gezogen, ihr Gesicht in ihren Armen versinken ließ. „Ich komm mir vor wie im Sportunterricht.“ Change sah sie fragend an. „Hä?“ Destiny hob den Kopf leicht. „Da hab ich auch nie was auf die Reihe gekriegt.“ „Ist doch egal.“, meinte Change. Destiny schaute ihn mit großen Augen an, als habe er sie gerade zur Weltrevolution aufgerufen. „Was ist?“ Sie drehte den Kopf wieder weg. „Naja, bisher haben sich immer alle darüber lustig gemacht.“ „Hä? Über was?“ Change stand auf dem Schlauch. „Dass ich so schlecht in Sport bin.“ Changes Gesicht verzog sich in übertriebenem Schrecken. „Du bist…“ Er hielt seine Hände ans Gesicht und kreischte das nächste Wort in gespieltem Entsetzen. „un-sport-liiiich???“ Ganz offensichtlich fand Destiny den Scherz nicht komisch. Change lachte trotzdem und stupste sie freundschaftlich an. „Hey, sei doch nicht so.“ Er hob die Schultern. „Dass du dir über so was Gedanken machst!“ „Sich wie der letzte Idiot vorzukommen, ist nun mal nicht grad schön.“ Destinys Gemurmel hörte sich an wie das unzufriedene Murren einer Katze. Sie sah Change nicht an. Changes Augenbrauen gingen in die Höhe. „Man ist doch kein Idiot, nur weil man in Sport schlecht ist…“ Seinem Tonfall war anzumerken, dass er Destinys Sichtweise überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Destiny sah ihn mit einem Blick an, den Change nicht die Bohne deuten konnte, daher sprach er einfach weiter. „Außerdem ist das hier doch was ganz anderes.“ Etwas Gruseliges ging in Destinys Gesicht vor. Fast wäre Change vor Schreck aufgesprungen. Destiny… lächelte!!! Zwar nur ganz schwach. Aber doch waren ihre Mundwinkel nach oben gezogen! Das konnte nicht normal sein! Sie hatte doch absolut keinen Grund dazu. Überhaupt: Destiny lächelte nicht! Nie!! Und schon gar nicht in seiner Nähe! Ein Schauder lief über Changes Rücken. Was hatte das bloß zu bedeuten? Destiny stand mit einem Mal auf und nahm einen tiefen Luftzug. Weiterhin lag ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen, ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre. Die Beschützerin schloss die Augen. Es war egal, ob es funktionierte oder nicht. Das Lächeln auf ihren Lippen wurde bei dem Gedanken automatisch etwas breiter. Keiner würde sie verurteilen oder über sie lachen. Das Bild der anderen vier schoss ihr durch den Kopf. Destiny spürte, wie sich in ihren Augen Tränen bilden wollten, und holte noch einmal tief Luft. Dann öffnete sie wieder ihre Augen. Es war nicht mehr als ein Flüstern als ihre Lippen ‚Schicksalsschlag‘ formten. Ein Flüstern mit gewaltiger Wirkung! Eine Welle an goldenem Schimmer erfüllte die Atmosphäre. Change sprang schockiert auf. Auch die anderen hatten das Schauspiel nicht übersehen. Freudenrufe drangen zu ihnen. „Wie hast du das gemacht?!“, schrie Change. Destiny, die im ersten Moment selbst vollkommen baff war, strahlte nun über das ganze Gesicht. So hatte Change sie wirklich noch nie gesehen! Es war ein extremer Kontrast zu ihrer ständigen Sieben-Tage-Regenwetter-Miene. Destiny wusste zunächst nicht, was sie auf Changes Frage antworten sollte. Sie konnte ihm ja schlecht sagen, dass es an seinen Worten lag, dass sie es jetzt endlich geschafft hatte. Destinys Mund schien etwas sagen zu wollen, tat es dann aber doch nicht, holte anschließend jedoch zu einem weiteren Versuch aus. „Du musst dich einfach freuen.“ Change musste darauf nicht antworten, sein Gesichtsausdruck allein reichte schon aus, um zu verdeutlichen, dass er nur Bahnhof verstand. „Du musst an etwas Schönes denken und dann ist es, als würdest du deine Freude durch deinen Körper nach außen fliegen lassen.“, erklärte Destiny, dabei lächelte sie weiterhin. Change fragte sich, ob sie davon später nicht Muskelkater in ihren Mundwinkeln bekommen würde, immerhin waren diese nicht an eine solche Beanspruchung gewöhnt! „Freuen also.“, wiederholte Change nachdenklich. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie er Erik beim Armdrücken besiegte. Ein breites Grinsen erschien auf seinen Lippen. „Wind der Veränderung!“ Und tatsächlich! Eine Energie löste sich aus seinem Körper und hinterließ ein seltsames Gefühl in ihm. So als wenn man auf einer Schaukel für einen Moment abhebt, dieses komische flaue Gefühl im Bauch, nur dass es hier im ganzen Körper so war. Change glaubte sogar eine Gänsehaut zu spüren. „Woohooooo!!“, grölte er so laut er konnte und riss die Arme dabei in die Höhe. „JA! JAAA!“, johlte er und wollte sich gar nicht mehr einkriegen. „Ich hab’s geschafft!!! Ich bin der Größte! Ich bin toll! Woohoooo!!“ Sonst hätte Destiny ihn für diesen Ausbruch wohl böse angefunkelt, aber dieses Mal konnte sie nur selbst strahlen und sich über Changes Freudentaumel mitfreuen. Change wiederum ergriff kurzerhand Destinys Hände und sang auf und ab hüpfend. „Wir hams geschaaafft!! Wir hams geschaaaafft!!“ Erst im nächsten Moment begriff er, dass er mit Destiny Händchen hielt und ließ sofort wieder los. Sein Grinsen verschwand für einen Moment, in dem er zunächst nicht wusste, was er mit seinen Händen machen sollte, ehe er sie behelfsweise in die Seiten stemmte und ein seltsames Lächeln aufsetzte. Im gleichen Moment war auch schon Unite zu ihnen gesprungen und umarmte Destiny freudig. „Das habt ihr toll gemacht!“ Auch Ewigkeit schwirrte frohlockend um sie, während Desire und Trust ebenfalls zu ihnen traten. Change konnte nicht anders als mit seiner Leistung zu prahlen und euphorisch zu demonstrieren, wie toll er das konnte, und ihnen zu beschreiben, wie sie es machen sollten, obwohl Desire und Trust ihre Attacken schon vor ihm hatten einsetzen können. Da er dabei jedoch so eine unschuldige Begeisterung an den Tag legte, ließen sie ihm die Freude. „Gib nicht so an.“, sagte schließlich Destiny, um seine Hochstimmung zu bremsen. Aber Change schaute sie daraufhin so glückstrahlend an, dass sie sich abwenden musste, um ihm nicht zu zeigen, wie ansteckend sein Lächeln auf sie wirkte. Unite entging Destinys Lächeln allerdings nicht. Sie kicherte vergnügt. „Lasst uns weitermachen!“ Die Beschützer übten – jetzt wieder gemeinsam – noch eine ganze Weile, ihre Kräfte heraufzubeschwören. Es würde sie wohl noch viel Training kosten, sie auf Anhieb auslösen zu können, denn auch jetzt, wo jeder von ihnen es gemeistert hatte, seine Attacke einzusetzen, zeigte sich der gewünschte Effekt mitunter erst nach mehreren Versuchen. Aber das war nicht weiter schlimm, denn sie hatten gesehen, dass sie es konnten, und das war fürs Erste das Wichtigste. Kapitel 34: Was zum Donner! --------------------------- Was zum Donner! „Sage nicht alles, was du weißt, aber wisse alles, was du sagst.“ (Matthias Claudius, dt. Journalist u. Dichter) Der Blick in den mannshohen Spiegel in seinem Zimmer brachte Erik keine neuen Erkenntnisse. Sein Oberarm sah völlig gesund aus. Keine Wunde, kein Kratzer, kein gar nichts. Und Schmerzen hatte er auch keine, nicht mal ansatzweise. Sich über sich selbst ärgernd schüttelte er den Kopf und zog sich ein Sweatshirt über. Was hätte dort auch sein sollen? Nichtsdestotrotz überkamen ihn einmal mehr die Fragen, auf die er keine zufriedenstellende Antwort fand. Warum hatten Ariane und die anderen die Ausgrabungsstätte besuchen wollen? Was steckte dahinter? Erik seufzte. Vermutlich steckte gar nichts dahinter! Wieso suchte er überhaupt einen tieferen Sinn darin? Er war doch noch nie ein Freund von Verschwörungstheorien gewesen. Dennoch... Das Ganze war zu seltsam. Sein Blick schweifte zum Schreibtisch, auf dem sein Smartphone lag. Für einen Moment überkam ihn das Verlangen, einen der fünf anzurufen, aber das Unterfangen scheiterte bereits an dem Umstand, dass er von keinem von ihnen die Telefonnummer kannte. Dann fiel ihm Viviens SMS von heute Morgen ein. Natürlich. Die fünf verließen den Park. Es war spät geworden und nur noch ein schwaches Dämmerlicht erhellte die Umgebung. Da Ewigkeit in ihrem Hauptquartier zurückgeblieben war, mussten sie auf ihr richtungweisendes Leuchten auf dem Weg zurück zum offiziellen Teil des Kurparks verzichten. Serena beschwerte sich lautstark über die Dunkelheit und die unpraktische Route zu ihrem Geheimversteck. Um sich nicht länger ihr Genörgel anzuhören, hatte Ariane sie an der Hand genommen und geführt. Nach allem, was heute geschehen war, waren sie alle restlos erschöpft, Als sie den gepflasterten Weg erreicht hatten und im Schein der Laternen zum Eingang des Parks liefen, wandte sich Ariane an die anderen. „Zumindest wissen wir jetzt, was das alles zu bedeuten hat.“ „Wenn du das so bezeichnest.“, entgegnete Serena kritisch. Vitali stimmte mit ein. „Was wir jetzt genau machen sollen, wissen wir immer noch nicht.“ „Ach, das wird sich schon so ergeben.“, sagte Vivien optimistisch wie immer. Ein Nachrichtenton ließ sie aufhorchen. Vivien blieb stehen und holte ihr Handy aus dem Rucksack. Nach einem Blick auf den Bildschirm rief sie freudig aus: „Erik!“ Die anderen starrten gespannt über Viviens Schultern, was bei Viviens Größe nicht besonders schwierig war. Morgen 10:30 Treffen bei mir Erik Justin wandte sich an die anderen. „Er hat uns eh schon im Verdacht. Wir sollten vorsichtig sein.“ Vitali sah das locker. „Was soll schon passieren? Wenn er die Wahrheit rauskriegt, fällt ihm höchstens wieder alles ein.“ Er zuckte mit den Achseln. „Das wäre doch eher ein Vorteil.“ Justin war weniger zuversichtlich. „Wenn er unter dem Einfluss der Feinde steht, dann können wir nicht sicher sein, ob es nicht eine Falle ist.“ Vitali musste lachen und legte seinen Arm um Justin. „Hey Mann, hat dich Tiny etwa mit ihrer Hysterie angesteckt?“ Serena starrte ihn argwöhnisch an. „Tiny?“ Vitali grinste. „Na Tiny von Destiny. Sonst bist du doch immer so kirre und glaubst an irgendeinen Hinterhalt.“ Serenas Blick verfinsterte sich. „Erstens: Nenn mich nie wieder Tiny! Und zweitens, bringt uns deine Unbesonnenheit viel mehr in Schwierigkeiten als mein Misstrauen.“ „Unbesonnenheit.“, äffte Vitali sie nach. „Wie äußerst wohlklingend du dich immer artikulierst.“, flötete er mit nasaler Stimmlage, dass Vivien in ein Lachen ausbrach. „Entschuldige, ich wollte nicht Dummheit sagen!“, blaffte Serena. Vitali verdrehte die Augen. „Meine Fresse, musst du immer alles gleich persönlich nehmen?“ „Wir kommen vom Thema ab.“, wich Serena aus. „Ja, wegen dir.“, merkte Vitali an. Justin griff seinen Gedankengang wieder auf. „Auf alle Fälle wissen wir nicht, was mit ihm passiert ist und warum er sich nicht erinnert.“ „Die Diskussion hatten wir schon einmal.“, sagte Ariane. Vivien hatte einen anderen Vorschlag: „Wie wär’s wenn wir einfach mal von der Opfer-Rolle rauskommen und selbst was in die Hand nehmen.“ „Ganz meine Meinung!“, rief Vitali. „Schließlich können wir uns jetzt wehren. Also warum drehen wir nicht einfach den Spieß um?“, setzte Vivien fort. Und wieder erklang Vitalis Stimme: „Yeah, gib’s ihnen, Kleine!“ Vivien sprach weiter. „Wir werden die Situation einfach nutzen, um herauszufinden, was mit Erik passiert ist und was der Schatthenmeister vorhat.“ „Woohoo. So ist’s richtig!“ Vitali riss jubelnd seinen rechten Arm in die Höhe, als hielte Vivien eine Ansprache als Kandidatin für das Kanzleramt. Serena durchbohrte Vitali mit ihren Blicken: „Kannst du einfach mal die Klappe halten?“ „Kommt ganz drauf an.“ Vitali grinste. „Was krieg ich dafür?“ „Und was ist mit unserem Training?“, wandte Ariane ein. Sie hatten vorgehabt, am nächsten Tag nochmals zu trainieren. Vivien winkte ab. „Ach, wir haben sicher noch genug Gelegenheit zum Trainieren.“ Sie begann, eine Nachricht zurückzuschreiben. Sonntag halb elf in Deutschland. Die fünf standen in der Kaiserstraße. Standen da und gafften. Ariane konnte es immer noch nicht fassen. „Und ihr seid sicher, dass es dieses Haus ist?“ Ein dunkel gepflasterter Weg, der links und rechts von prächtigen Rosenbeeten flankiert wurde, führte durch den ordentlich gemähten und sonst unbepflanzten Vorgarten zu einem Eingang, dessen Überbau – eine Art zur Straße hin gelegener Balkon – von weißen Säulen getragen wurde. Die dunklen Ziegel des Daches und die dunklen Fensterrahmen unterstrichen das ehrwürdige und stolze Aussehen des symmetrisch geschnittenen Anwesens. Als Ariane gesagt bekommen hatte, dass Erik nicht weit entfernt von ihr wohnte, hatte sie mit allem gerechnet, aber ganz sicher nicht damit, dass sie sich nun vor dieser luxuriösen Villa wiederfinden würde. Schon bei ihrer Ankunft in Entschaithal hatte sie das edle Gebäude, das eine stoische Würde ausstrahlte, vom Auto aus bewundert und war der Überzeugung gewesen, dass es sich bei den Bewohnern um Adlige handeln musste. Also: Erik von Donner? Nein, das passte nun gar nicht! Andererseits wies die Fassade mit ihrer kalt-strengen, aber ästhetisch formvollendeten Eleganz eine geradezu bestürzende Ähnlichkeit zu Erik auf. „Die Familie Donner gehört zu den reichsten in Entschaithal.“, erklärte Justin. „Ehrlich?“, rief Vitali aus. „Bei der Bude hätte ich jetzt auf Sozialhilfeempfänger getippt!“, scherzte er. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust. „Dass die dümmsten Bauern aber auch immer die größten Kartoffeln haben müssen.“ Serena nutzte die Gelegenheit natürlich wieder für Sticheleien. „Ich wusste gar nicht, dass du der Alleinerbe von Bill Gates bist.“ Vitali blieb diesmal jedoch vollkommen locker. „Muss ich wohl vergessen haben zu erwähnen.“ Er grinste entwaffnend. Plötzlich schmiss sich Vivien an Vitalis Arm: „Also Vitali, so als langjährige Freundin von dir werde ich doch sicher etwas von dem Erbe abbekommen.“ „Langjährig?“, kritisierte Serena. Vitali jedoch spielte mit. „Da wird sich schon was machen lassen.“ Er hatte mit einem Mal den Gesichtsausdruck und den nasalen Tonfall eines reichen Schnösels. „Wenn ihr euch mit mir gut stellt, werdet ihr vielleicht auch mal in mein Wochenendhaus auf Hawaii eingeladen.“ Im nächsten Moment lachten Vivien und Vitali laut los. Dann öffnete sich mit einem Ruck die dunkle, mächtige Haustür vor ihnen, ohne dass sie auch nur geklingelt hatten. Erik stand mit einem leicht amüsierten und gleichzeitig genauso überlegen wie immer wirkenden Lächeln vor ihnen. „Wenn ihr schon wegen der Fassade erstarrt seid, sollte ich euch vielleicht besser erst gar nicht reinbitten.“ „Wir sind nicht erstarrt.“, meinte Vitali, erneut einen affektiert sprechenden Multimilliardär gebend, „Wir hatten bloß Angst, dass die alte Bude zusammenbricht, sobald wir die Klingel betätigen. Diese alten Gemäuer, denen kann man einfach nicht trauen! Mir erging es nämlich so mit meinem Feriendomizil in Irland, musst du wissen. Ein schönes kleines Landhäuschen. Aber als mein Butler, der sich während meiner Abwesenheit um alles kümmert, eines Tages eintreten wollte, ist das ganze Gebäude in sich zusammengestürzt! Das muss man sich mal vorstellen!“ „Ich hoffe, die Versicherung ist zumindest dafür aufgekommen.“, entgegnete Erik mit künstlichem Ernst, aber kritisch erhobener linker Augenbraue. „Ach Versicherungen!“ Vitali winkte ab. „Bei all dem Geld, das ich hab, bin ich ja froh, wenn mal was kaputtgeht!“ Vitali grinste breit. Erik konnte daraufhin wohl nicht umhin, selbst zu lächeln. Dann streckte er Vitali die Faust entgegen, Vitali schlug mit seiner eigenen dagegen. Es handelte sich offensichtlich um ein Begrüßungsritual zwischen den beiden. Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf Eriks Züge. „Du bist echt gestört.“ Vitali nahm dies offensichtlich als Kompliment. „Ich sage nur: harte Arbeit und jahrelanges Training.“ Erik machte eine einladende Kopfbewegung. „Kommt rein.“ Sie folgten ihm ins Innere und Ariane musste Erik Recht geben. Das Innere war noch beeindruckender als die Fassade. Sie traten in eine Halle, von der aus eine große Treppe aus edlem Holz in den ersten Stock führte. Dies tat sie nicht auf direktem Weg. Stattdessen befand sich auf halber Höhe ein Absatz, von dem zwei Läufe abgingen. So etwas hatte Ariane bisher nur in Schlössern gesehen oder in Filmen. Die Wände waren holzvertäfelt und die Inneneinrichtung bestand nur aus erlesensten Möbelstücken, die allesamt wertvolle Antiquitäten sein mussten. Und das war nur der Eingangsbereich. Vitali lief einfach an Erik vorbei und lugte durch den Durchgang an der linken Seite. Ariane erkannte an Eriks Blick, dass ihm das nicht zusagte. Dennoch sagte er nichts. „Ist das euer Wohnzimmer?“, rief Vitali. Er hatte wohl etwas entdeckt, das ihn beeindruckte. Vielleicht hatte Eriks Familie ja das Heimkino, das sich Vitali für ihr Hauptquartier gewünscht hatte. Erik erachtete es offenbar nicht für nötig, darauf zu antworten. Vitali drehte sich zu ihm um. „Hast du ne Schwester?“, fragte er mit großen Augen. Erik verstand offensichtlich nicht, wie Vitali jetzt auf diese Frage kam. „Nein. Ich bin Einzelkind.“ Vitali sah ihn bedeutungsvoll an und grinste breit. „Dann muss ich wohl dich heiraten.“ Erik schnaubte belustigt. „Das sagst dann aber du meinem Vater.“ Vitali ließ sich nicht beirren. „Glaubst du etwa, er würde mich nicht mögen?“ Eriks Antwort klang ernster als Ariane es erwartet hätte. „Er würde mich nur enterben.“ Vitali maß dem offenbar weniger Bedeutung bei. „Ha dann brauche ich dich auch nicht mehr heiraten!“, alberte er. Ariane wandte sich an Erik. Sein Tonfall eben hatte sie nachdenklich gestimmt. „Du verstehst dich nicht so gut mit deinem Vater?“ Erik starrte sie an, als habe sie ihm gerade mitgeteilt, dass er nur noch zwei Monate zu leben hatte. Für einen Moment schwieg er. Ariane schämte sich den Gedanken so leichtfertig ausgesprochen zu haben. Damit hatte sie wohl einen wunden Punkt getroffen. Wieso musste sie was ihn anging immer in jedes Fettnäpfchen treten? Eilig bemühte sie sich, den Schaden zu begrenzen. „Tut mir leid, das war sehr unhöflich!“ Er wich ihrem Blick aus. „Wir haben unterschiedliche Ansichten.“ Mit diesem Satz beendete er gleichzeitig das Thema. Vitali war noch immer bester Laune. Scheinbar hatte er die drückende Stimmung nicht mitbekommen. „Wie wär’s wenn wir in euren privaten Swimmingpool gehen?“ Soweit Ariane das sehen konnte, fand Erik das weniger witzig. Er schaute zumindest zu ernst für Witze. „Habt ihr Badeanzüge dabei?“ Sie und die anderen stockten. Serena konnte nicht an sich halten. „Soll das heißen, ihr habt wirklich einen Swimmingpool?“ Erik seufzte. „Im Keller.“ Vitali kam zu ihnen zurück gelaufen und legte seinen Arm um Eriks Schultern. „Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“ Erik machte nicht den Eindruck, als wäre er der gleichen Meinung. Andererseits hatte Ariane das Gefühl, ihn nicht wirklich einschätzen zu können. Hatte sie immer noch Vorbehalte ihm gegenüber? „Ich will dein Zimmer sehen!“, rief Vivien übermütig. „Wenn ihr meint.“, war Eriks einziger Kommentar dazu. Ariane fragte sich, ob er nicht ohnehin vorgehabt hatte, sie in sein Zimmer zu führen. Er ging auf die große Treppe zu. „Es ist aber nichts Besonderes.“ „Nichts Besonderes!“, spottete Vitali. „Du hast als kleiner Junge wahrscheinlich in einem Ferrari-Bett geschlafen!“, lachte er. „Es war ein Porsche.“, gab Erik unerwartet trocken zurück. Ariane und die anderen waren erneut überrumpelt und starrten Erik ungläubig an. „Das war nur ein Scherz.“, sagte er gefühlsneutral. „Bei Scherzen ändert man die Stimmlage!“, ermahnte Vitali ihn, als wäre es dringend notwendig, Erik über wichtige soziale Konventionen aufzuklären. Ariane konnte sich angesichts dessen ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Du klingst immer gleich bescheuert.“, stichelte daraufhin Serena. Vitali sah Erik an. „Hast du gehört?“ „Ich hab dich gemeint!“, kreischte Serena. Vitali ignorierte es, was Ariane ein Lächeln entlockte. Im ersten Stock führte Erik sie zu einem Zimmer, das eindeutig größer war als die Kinderzimmer, die Ariane gewöhnt war. Es schien sogar in verschiedene Bereiche eingeteilt zu sein. Das war kein Zimmer, das war schon eine Wohnung! Die Blicke der anderen ließen Erik erkennen, wie unbesonnen er diese Einladung ausgesprochen hatte. Seine Neugierde, welches Geheimnis die fünf verbargen, war größer gewesen als seine Vorsicht. Dabei hatte er doch genug Lebenserfahrung gesammelt, um zu wissen, dass fehlende Vorausschau nur Probleme mit sich brachte. „Ich lade nicht so gerne Leute zu mir ein.“, sagte er, „An Platzmangel wird’s wohl nicht liegen.“, meinte Vitali spaßig. Erik wandte seinen Blick ab. „Sollen wir wieder gehen?“, fragte Justin. Er klang, als würde er das wirklich in Erwägung ziehen. Erik ließ Justin einen vielsagenden Blick zukommen. Die Frage war ja wohl zu bescheuert. Außerdem war er Erik Donner. Es durfte nichts geben, das ihn aus der Fassung brachte. „Nehmt Platz.“, sagte er strenger als beabsichtigt und verwies die anderen auf die Couch, den Sessel und den Stuhl, den er bereitgestellt hatte. Doch anstatt sich zu setzen, sah Ariane ihn auf ekelhaft besorgte Weise an. „Hat es einen bestimmten Grund, dass du keine Leute einlädst?“ Er bedachte sie mit einem finsteren Blick, um sie davon abzubringen, ihn auf so bemitleidende Weise anzusehen. Betreten entzogen sich ihre Augen seinem Anblick. Zu spät fiel ihm ein, dass sie das wohl wieder auf sein vermeintlich negatives Bild von ihr zurückführen würde. Er seufzte. Es war nicht seine Absicht, sie erneut zu dieser falschen Annahme zu verleiten. In Anbetracht ihres bisherigen Verhaltens war es kein Meisterstück darauf zu schließen, dass sie unschöne Erfahrungen damit gemacht hatte, falsch eingeschätzt zu werden. Es lag ihm fern, diesem Thema noch mehr Nahrung zu geben. „Äußere Umstände machen nicht den Charakter aus.“, sagte er und konnte nicht fassen, dass er das für sie so formuliert hatte. Irgendwie verärgerte ihn das. Warum waren Menschen bloß so anstrengend? „Wie meinst du das?“, hakte Justin nach. „Ich kann es nicht leiden, wenn Leute vorschnelle Schlüsse ziehen und dann irgendwelche Geschichten rumerzählen.“, antwortete er abweisend. Vivien sagte ihm unbekümmert auf den Kopf zu: „Wie dass du ein reicher Angeber bist?“ Sie hatte als einzige bereits Platz genommen und lächelte ihn an. War das Spott? Erik konnte es nicht sagen. Vivien kicherte. „Wir mögen dich so oder so.“ Sie strahlte ihn so freudig an, dass er nur den Schluss ziehen konnte, dass sie eindeutig zu naiv für ihr Alter war. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, ohne sie ihrer kindlichen Vorstellungen zu berauben. Seine Augenbrauen hatten sich automatisch zu einem kritischen Gesichtsausdruck gesenkt. „Es würde dir mehr Freunde bringen, wenn du offener damit wärst.“, meinte Ariane. Eriks verächtlicher Blick durchbohrte Ariane auf brutale Art und Weise. „Und du meinst, ich würde mich über solche Freunde freuen?“ Seine Stimme war zu einem Grollen geworden. „So hab ich das nicht gemeint!“, rief sie lauter und hilfloser als beabsichtigt. Sie hatte doch damit ausdrücken wollen, dass Freundschaften nur entstanden, wenn man sich einander öffnete und Vertrauen schenkte. „Du brauchst auch nicht immer alles gleich falsch verstehen!“ Vitali musste lachen. „Du bist genau wie Serena!“ Sein Lachen schwoll weiter an. „Geschwister!“ Als er daraufhin sowohl von Serena als auch von Erik böse angefunkelt wurde, hätte man wirklich meinen können, die beiden seien verwandt. Vivien klatschte begeistert in die Hände. „Dann kannst du ja doch Eriks Schwester heiraten.“ „Hä?“, machte Vitali. „Halt die Fresse, Vivien!“, kreischte Serena. Vivien lachte. Auch Erik schien davon amüsiert. Erleichtert über die Ablenkung atmete Ariane auf. In Eriks Nähe fühlte sie sich ohnehin schon wie auf glühenden Kohlen. Dass sie auch noch ständig mit ihm aneinandergeriet, machte das nicht besser. Sie ließ sich auf den Stuhl direkt neben ihr sinken, auch weil er am weitesten von dem Schemel entfernt stand, auf dem Erik soeben Platz nahm, „Ich wollte was mit euch bereden.“, sagte Erik wieder todernst. Ariane bekam ein ungutes Gefühl, während die anderen sich nun auch setzen. „Es geht um die Sache am ersten Schultag.“ Ariane schnellte von ihrem Platz auf. „Äh, meine Mutter, wenn sie mich anruft, ist es ein Notfall!“ Sie hatte noch nie eine Ausrede für irgendetwas finden müssen, daher merkte sie zu spät, dass sie irgendwie die Hälfte der Erklärung weg gelassen hatte. Sie drehte sich gerade zur Tür, als ihr Eriks Stimme in einem bedrohlichen Tonfall in den Rücken fuhr. „Du setzt dich.“ Und ehe sie sich versah, saß sie auch schon wieder. Das war so ungerecht! „Ihr verheimlicht mir da was.“, sprach Erik weiter. „Raus mit der Sprache!“ Mit diesem autoritären Ton wirkte er unheimlich. Wie Ariane zuvor sprang nun Vivien von der Mitte der Couch auf, wo sie zwischen Justin und Serena gesessen hatte. Dabei machte sie nicht den Eindruck, davonrennen zu wollen. Stattdessen drehte sie sich zu Erik, salutierte wie beim Militär und stieß mit harten Worten aus: „Sir, jawoll, Sir!“ Es bewirkte tatsächlich, dass Erik schmunzelte und die bedrückende Stimmung, die von ihm ausgegangen war, aufgelockert wurde. Doch was sollten sie Erik nun sagen? Justin ärgerte sich. Er hatte doch gewusst, dass es eine blöde Idee war, zu Erik zu gehen. Hier in Eriks Haus war es schwieriger, seinen Fragen auszuweichen, obwohl sie doch in der Überzahl waren. Wären sie in der Stadt gewesen oder dergleichen, hätten sie seine Frage einfach als Scherz abtun und das Thema auf etwas anderes lenken können, aber hier waren sie wie gefangen in der Höhle des Löwen. Erik würde auch bei einem Ablenkungsmanöver zurück auf die Frage kommen, schließlich hatte er hier Heimvorteil. Was sollten sie tun? Bevor Justin noch viel nachdenken konnte, hatte Vivien bereits angefangen, wie ein Wasserfall zu reden. „Also, das war so: Wir wollten es dir nicht sagen, weil sich Ariane deswegen so schämt.“ Vivien grinste schadenfroh. Ariane starrte Vivien verzagt an. „Weißt du wir hatten eine Wette abgeschlossen. Erst wollte Ariane gar nicht mitmachen. Es war ihr nämlich schon viel zu peinlich. Aber ich hab sie dann doch überredet gekriegt. Und sie war sogar damit einverstanden gewesen, dass sie, wenn sie die Letzte wäre, das machen müsste, was wir uns für sie ausdenken würden. Aber zurück zur Wette. Also, es ging darum, wer von uns dreien – also Ariane, Vitali und ich – wer von uns am schnellsten ein Kondom aufblasen könnte.“ Vitali, der auf dem Sessel neben Ariane saß, prustete auf einmal los und versuchte mit der Hand sein Lachen zu unterdrücken, was ihm allerdings kein bisschen gelang. Immer wenn er gerade dabei war, sich zu beruhigen und er wieder zu Vivien sah, die mit dieser vollkommen unschuldigen Miene eine solch bescheuerte Lügengeschichte erzählte, fing er sofort wieder an loszulachen. Damit verführte er auch Vivien zu einem breiten Grinsen. Doch sie fing sich eindeutig schneller wieder. Wobei sie von Glück reden konnte, dass sie sich keine von Ariane fing. Arianes entsetztem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wäre es ihr deutlich lieber gewesen, wenn sie Erik die Wahrheit gesagt hätte. Vivien setzte fort: „Wie es der Zufall so wollte, war Ariane die Langsamste und musste deshalb eine Pflicht erfüllen. Sie hatte natürlich gehofft, etwas Einfaches machen zu müssen. Zum Beispiel eine ganze Schokoladentorte essen oder so was. Aber Vitali und ich waren da knallhart!“ Leicht skeptisch sah Erik zu Vitali hinüber, der daraufhin, Viviens Worte bestätigend, heftig nickte. „Aber so was von knallhart!“ „Wir sagten zu Ariane: Ariane, am Montag ist unser erster Schultag und dem ersten schwarzhaarigen Jungen, dem du begegnest, dem musst du um den Hals fallen. Ja! Aber das war noch nicht alles!“ Vivien machte eine ausladende Armgestik. „Denn sie sollte sich dabei so verhalten wie eine der Hauptpersonen aus der Geschichte ‚Balance Defenders‘, die gerade einen totgeglaubten anderen Charakter wiedertrifft. Das ist nämlich eine ihrer Lieblingsszenen, musst du wissen. Und deshalb musste es auch ein Schwarzhaariger sein!“ „Aha.“ Erik schien noch nicht so ganz überzeugt. „Und was war das mit Vitalis Reaktion auf mich?“, bohrte er weiter. Vivien musste prusten und es war fraglich, ob sie dieses Lachen tatsächlich geschauspielert hatte oder ob sie die Situation zum Lachen fand. „Du kennst doch Vitali! Der hat das Ganze natürlich mitbekommen, schließlich hatten wir nur darauf gewartet, bis Ariane endlich einen Schwarzhaarigen trifft, damit wir was zum Lachen haben.“ Sie wirkte wirklich amüsiert. „Leider musste ich natürlich genau an dem Tag verschlafen!“ Vivien machte ein schrecklich unzufriedenes Gesicht, das sich gleich wieder in ein Grinsen wandelte. „Ich hätte echt zu gern gesehen, wie sie sich zum Idioten gemacht hat!“ Sie ließ ein gehässiges Lachen erschallen. Dann drehte sie sich entschuldigend zu Ariane, die einem Ohnmachtsanfall nahe war. „Tut mir leid Ariane, nicht böse sein, ja?“ Anschließend fuhr sie fort: „Vitali hat sich dann natürlich einen Spaß daraus gemacht, Ariane damit aufzuziehen, und hat dich kurzerhand auch wie eben diese Figur aus ‚Balance Defenders‘ behandelt. Ja, und so kam diese tolle Situation zustande. Ich hab mich echt geärgert, dass die Speicherkarte meines Handys voll ist und ich keine Videos aufnehmen konnte! Das war einfach viel zu genial! Ich könnt mich jetzt noch totlachen! Nicht wahr, Vitali?“ Vitali nickte hektisch und grinste dabei übers ganze Gesicht. Eriks skeptischer Blick wanderte von Vivien zu Vitali, hinüber zu Ariane, die daraufhin ihr Gesicht in den Handflächen verbarg. Justin konnte nachvollziehen, dass ihr diese Geschichte entsetzlich peinlich war. Auf einmal musste Erik leise lachen und schüttelte unwillkürlich den Kopf, als fände er die Gedanken, die er sich zuvor gemacht hatte, plötzlich absurd. „Ihr seid total verrückt!“ „Danke!“ Vivien verbeugte sich. „Endlich mal jemand, der unsere harte Arbeit zu schätzen weiß!“ Dann sah Erik wieder auf und wandte sich an Ariane. „Warum hast du mir das nicht einfach gesagt?“ Vivien konnte in diesem Moment nicht einschreiten. Hätte sie an Arianes Stelle geantwortet, hätte die ganze Geschichte an Glaubwürdigkeit verloren. Nun hing alles von Ariane ab. Sie wirkte nicht gerade so, als könne sie in ihrem momentanen seelischen Zustand in das Lügenspiel miteinsteigen. Das bereitete Justin reichlich Sorgen. Doch mit einem Mal sprach Ariane in lebhaftem Ton: „Wie denn? Du hast mir doch gar nicht die Chance für Erklärungen gegeben! Du hast mich gleich abgestempelt. Und danach…“ Ariane zog ein leicht gekränktes Gesicht. „Du hättest dich bloß darüber lustig gemacht. Da war eines so schlimm wie das andere.“ Obwohl Schauspiel nicht gerade Arianes Stärke zu sein schien – dazu hatte sie etwas zu Wahrheitsliebendes und Stolzes an sich – hatte ihre Reaktion vollkommen authentisch gewirkt. Dass sie in dem beschriebenen Fall tatsächlich so gefühlt hätte, glaubte Justin ihr. Auch Erik machte den Eindruck, dass Arianes Worte ihn von der Echtheit dieser Lügengeschichte überzeugt hatten. Schlussendlich hörte sie sich ja auch um einiges glaubhafter an als die Wahrheit – so lächerlich das auch klingen mochte. „Ich hab noch nie so bekloppte Leute wie euch kennengelernt.“, eröffnete Erik ihnen. „Und ich war auf einem Jungeninternat.“ Dann schnaubte er belustigt. „Wir geben uns auch die größte Mühe.“, erwiderte Vivien strahlend. Justin lächelte unwillkürlich. Sein Blick ruhte auf Vivien. Es war unglaublich, dass sie es mit einer solchen Leichtigkeit geschafft hatte, Erik von seinen Verdächtigungen abzubringen. Sie musste das von Anfang an geplant haben. Aber wieso hatte sie ihn und die anderen nicht vorgewarnt? Schließlich hätte ein falscher Zug der anderen sie verraten können. Viviens Blick begegnete dem seinen. Sie lächelte ihn wissend an. Und als habe er ihre Gedanken gelesen, wusste er, warum sie es so und nicht anders gemacht hatte: Die Reaktionen durften nicht einstudiert wirken! Erik war schlau und vor allem hatte er einen Blick für Details, für Gesten und den Sprachrhythmus, immerhin war er derjenige, der ihnen im Schatthenreich mit seinem sechsten Sinn weitergeholfen hatte. Hätten sie von Viviens Plan gewusst, dann wären all die spontanen Reaktionen wie Arianes Entsetzen und ihr leidender Blick schlichtweg weggefallen. Damit wäre auch die Überzeugungskraft geschwunden, schließlich hatte Vivien die Verschwiegenheit der fünf mit Arianes Beschämung begründet, und diese Beschämung ließ sich nicht so leicht vortäuschen. Es war perfekt! Vivien war – Plötzlich fiel Justin auf, dass er sie immer noch anstarrte! Und Vivien antwortete mit einem koketten Augenaufschlag, den er nicht richtig deuten konnte und für ein kritisches Begutachten seiner Person hielt. Beschämt sprang er auf – offensichtlich veranlasste die Umgebung die Leute hier ständig zu dieser ruckartigen Bewegung. Er warf seinen Kopf regelrecht in Eriks Richtung. „Ähm, Erik? Wo ist denn die Toilette?“, fragte er hastig. „Wenn du aus dem Zimmer rausgehst rechts, ganz hinten, das letzte Zimmer des Gangs. Soll ich’s dir zeigen?“ „Nein, nein, schon okay.“ Mit diesen Worten begab er sich auch schon aus dem Zimmer. Vor der Tür atmete Justin geräuschvoll aus. Von Viviens Blick war ihm noch ganz heiß. Wo er jetzt schon mal nach dem Weg zur Toilette gefragt hatte, konnte er sich dort auch gleich mit etwas Wasser abkühlen. Mist! Er wusste einfach nicht, wie man sich einem Mädchen gegenüber verhielt! Er seufzte. Ganz so stimmte das auch wieder nicht. Bei Serena und Ariane hatte er keinerlei Probleme. Er wusste bloß nicht, wie er sich Vivien gegenüber verhalten sollte. Nochmals seufzend schlug er den Weg nach rechts ein. Er war nur einige Schritte gekommen, als er links von sich etwas zu spüren glaubte. Justin blieb stehen. Sicher bildete er sich nur etwas ein. Was sollte er denn hier ganz plötzlich spüren? Er setzte seinen Weg fort, hielt aber nach dem nächsten Schritt bereits wieder inne. Vielleicht sollte er auf sein Gefühl hören. Vielleicht steckte doch etwas dahinter. Justin sah sich um. Woher sollte dieses Gefühl stammen? Er stand hier inmitten eines Flurs! Dann wandte er sich nach links, er stand direkt neben einer Zimmertür. Aber er konnte doch nicht einfach so mir nichts dir nichts im Haus fremder Leute in irgendwelche Zimmer eindringen! Das gehörte sich einfach nicht. Justin schaute zurück zu Eriks Zimmertür. Soweit er verstanden hatte, waren Eriks Eltern nicht zu Hause. Keiner würde es merken, wenn er nur einen kurzen Blick in das Zimmer hineinwerfen würde. Ja, er würde nur kurz hineinsehen und da dort sicher nichts war, könnte er beruhigt weitergehen. Noch einen Augenblick rang er mit sich. Er befand sich im Hause Donner, Erik war einer der Beschützer, auch wenn er nichts davon wusste – wie er auch von allem anderen nichts mehr wusste. Erik war anders. Er war nicht wie sie gefangen worden, zumindest sprach einiges dagegen. Warum war es bei ihm anders gewesen? Vielleicht – Geräuschlos öffnete Justin die Zimmertür. Es fühlte sich komisch an. Noch nie zuvor hatte er gegen irgendwelche Regeln verstoßen. Aber einmal war ja immer das erste Mal! Justin fragte sich, ob dieser Satz in seinem Kopf wohl durch den Einfluss von Vitali und Vivien entstanden war. Vor sich sah er ein geräumiges Zimmer mit einem gewaltigen Mahagonischreibtisch. Direkt daneben stand ein Computer mit Flachbildschirm. An der linken Wand stand ein riesiges, mit zahllosen Gesetzesbüchern ausgestattetes Regal, daneben ein Aktenschrank. Auch ein Multifunktionsgerät mit Drucker, Scanner, Fax und Kopierer gehörte zu der Zimmereinrichtung. Natürlich fehlte auch nicht das gute alte Telefon. Ganz eindeutig handelte es sich hierbei um Herrn Donners privates Arbeitszimmer. Justin bekam ein schlechtes Gefühl. Erneut schaute er zurück in den Gang. Dann war es wieder da, dieses seltsame Ziehen in seiner Brust, als würde ihn etwas hereinrufen. Das Ganze machte Justin Angst. Was hatte das zu bedeuten? Justin biss die Zähne zusammen. Dieses Gefühl kam nicht aus dem Nichts. Es wollte ihm etwas sagen, zeigen. Etwas Wichtiges. Lautlos huschte Justin in das Arbeitszimmer und schloss die Türe hinter sich. Da stand er nun. Und was jetzt? Zunächst ratlos schaute Justin sich um, dann schloss er kurzerhand die Augen und versuchte in sich hineinzuhören. Wovon ging das Rufen aus? Er öffnete wieder die Augen und ging wie von Geisterhand getrieben hinter den Schreibtisch. Instinktiv suchte er den Boden ab. Neben dem Schreibtisch stand ein Papierkorb. Der Papierkorb! Er nahm ihn genauer unter die Lupe. Auch wenn der Gedanke, in einem Mülleimer nach etwas zu suchen, im ersten Moment etwas absurd klang, Justin wusste, dass er das Richtige tat. Ein zerknüllter Zettel stach ihm ins Auge. Im gleichen Moment wusste er, dass er dieses Zettels wegen hier herein gekommen war. Er nahm ihn zur Hand und entfaltete ihn eilig. Seine Augen flogen über die Zeilen des beschriebenen Papierstücks, dann steckte er den Zettel in eine der Taschen seiner Cargohose und verließ den Raum eilig wieder. Kapitel 35: Ein Rätsel ---------------------- Ein Rätsel „Wie vieles bleibt uns ein dunkles Rätsel im Leben, weil es seinen Ursprung nimmt in der unergründlichen Tiefe des Menschenherzens.“ (Karl Gustav von Berneck, Novellist) Den restlichen Mittag verbrachten sie in ausgelassener Stimmung, lachten, machten Späße mit Erik und unterhielten sich. Erst als es kurz vor vier war, fiel ihnen wieder ein, dass Ewigkeit darauf bestanden hatte, dass sie – wenn auch nur kurz – noch in ihrem Hauptquartier vorbeischauen sollten. Und auch ihre Eltern hatten den Wunsch geäußert, wenigstens am Wochenende etwas Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können. Von den Hausaufgaben, die noch anstanden, ganz zu schweigen… Und so verabschiedeten sie sich schließlich von Erik, heilfroh, dass sie sich nun, da er ihnen kein Misstrauen mehr entgegenbrachte, ganz ungezwungen ihm gegenüber verhalten konnten. Als sie einige Meter von Eriks Haus entfernt waren und Ariane sich sicher war, dass nichts, was sie jetzt sagen würde, noch irgendwie an Eriks Ohr dringen konnte, fuhr sie Vivien an: „Ein Kondom aufblasen?!!“ Sie funkelte Vivien empört an. „Was Blöderes ist dir nicht eingefallen?!“ Vivien sah sie erwartungsvoll an. „Weißt du etwa noch was Blöderes?“ Ariane riss entsetzt die Augen auf. „Nein, natürlich nicht!“ Vivien lächelte sie an. „Da bin ich aber beruhigt.“ „Was soll das jetzt heißen?“, forderte Ariane zu wissen. „Na, ansonsten hätte ich mich geärgert, dass es noch was Besseres gegeben hätte.“, entgegnete Vivien lässig. Ariane glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „Das war schrecklich peinlich!“ Vivien schien den Aufruhr nicht zu verstehen. „Das sollte es ja auch sein.“ „Vivien!“ „So ’ne billige Ausrede à la ‚Wir haben Wahrheit oder Pflicht gespielt‘ hätte er uns doch nie abgekauft. Außerdem hätte das nicht begründet, warum wir es ihm nicht gleich erklärt haben. Es musste was richtig Bescheuertes sein!“, erklärte Vivien grinsend. Die Pein der Erniedrigung ließ Arianes Mund sich verformen. Anschließend nickte sie einsichtig. Trotzdem war es peinlich! „Sei froh, dass er Vivien geglaubt hat.“, meinte Serena nicht sonderlich mitfühlend. Ariane warf ihr einen missmutigen Blick zu. Serena konnte gut reden, ihr Name war schließlich nicht durch den Schmutz gezogen worden. Derweil hatte Justin den gefundenen Zettel aus seiner Hosentasche hervorgeholt, hatte dann aber nicht das Gespräch der Mädchen unterbrechen wollen. Vivien bemerkte das Papier in seiner Hand und sah es neugierig an. „Was ist das?“ Justin setzte zu einer Erklärung an: „Ähm, ich …“ Er verzog verlegen das Gesicht. „Das klingt sicher verrückt, aber ich hatte vorhin, als ich draußen war, das Gefühl, mich würde etwas rufen. Aus einem der Zimmer.“ Sein Blick wanderte zu Boden. „Ich weiß, man geht nicht in fremde Zimmer. Ich dachte nur… Vielleicht ist es wichtig. Und … Also bin ich doch reingegangen. Ich denke, es war das Arbeitszimmer von Eriks Vater... Und im Papierkorb lag dieser Zettel.“ Vitali grinste ihn belustigt an. „Du bist in das Arbeitszimmer gegangen, um dort im Müll zu wühlen!?“ Leicht beschämt begehrte Justin auf. „Glaubt mir, es war wirklich ein komisches Gefühl. Ich bin sicher, es ging von diesem Zettel aus.“ „Und was steht da drauf?“, wollte Serena wissen. Justin las den Inhalt, der nur aus einem einzigen langen Satz bestand, laut vor: „Beim Erscheinen Lucifers am Himmel, wenn die Schatten die Welt einhüllen, auf dem Ursprung der Seelenquelle stehend, werden der Auserwählten Kräfte erweckt werden, sobald, umgeben von den Elementen, des Himmels Tränen sie berühren.“ Vitali wurde laut. „Ach neeeee! Nicht schon wieder so ne Gedichtinterpretation! Ich hab echt die Schnauze voll davon!“, schimpfte er. Ariane sah sich den Text genauer an. „Glaubt ihr, das ist nur wieder eine Legende oder steckt mehr dahinter?“ „Irgendein Depp hat das zusammengeschrieben, um uns zu ärgern.“, grummelte Vitali. „Vitali.“, tadelte Ariane. „Wenn Justin das Gefühl hatte, das es wichtig ist, dann wird es das auch sein.“ Vitali setzte einen beleidigten Blick auf. „Serena darf sich immer über alles und jeden aufregen, aber sobald ich den Mund aufmache, heißt es gleich: Vitali sei still!“ „Wir haben dich doch alle lieb!“, versuchte Vivien ihn in zuckersüßem Tonfall wieder gnädig zu stimmen. „Halt mich da raus!“, beschwerte sich Serena, die nicht zu 'Wir' gerechnet werden wollte. „Siehst du, was ich meine!“, klagte Vitali und sah Hilfe suchend zu Vivien. „Och.“, Vivien strich ihm beruhigend über den Rücken, wie man es bei kleinen Kindern tut. „Sie versucht doch nur, ihre wahren Gefühle für dich zu verstecken.“ „Welche wahren Gefühle!?“, schrie Serena erbost. „Meine Mordgedanken?!“ Vivien sah sie mit ungerührter Miene an. „Wir wissen doch alle, was du im tiefsten Innern für Vitali empfindest.“ „Was soll denn das jetzt wieder heißen!“ Serena war mal wieder einem Tobsuchtsanfall nahe. Justin unterbrach die Streitereien. „Vielleicht wäre es besser, wenn wir wieder zum Thema kommen würden.“ Ariane überlegte laut. „Wieso sollte dieser Text bei Eriks Vater im Papierkorb liegen?“ „Ganz einfach.“, sagte Serena. „Herr Donner wird auch einer von den Bösen sein.“ Vitali stellte sich absichtlich dumm. „Nur weil er sich mit Erik nicht versteht?“ Justin schien Serenas Meinung zu sein. „Es ist wahrscheinlich, dass Erik länger als wir im Schatthenreich war. Er wurde also vorher gefangen. Und wenn Herr Donner zu den Feinden gehört, dann ist auch verständlich, wieso. Es war einfacher Erik dorthin zu schaffen als uns.“ „Eriks Vater ist doch auch der Anwalt von Finster.“, erinnerte sich Vitali, offenbar wieder bei der Sache. „Das stimmt.“, bestätigte Ariane und dachte kurz nach. „Ist Herr Donner auch Notar? Wenn ja, dann ist er höchstwahrscheinlich sowohl beim Kauf des Baugrunds als auch bei dem der Ausgrabungsstätte beteiligt gewesen. Für beides braucht man eine notarielle Beurkundung, und da Herr Donner Nathans Anwalt ist, liegt wohl nichts näher als ihn als Notar zu engagieren.“ Die anderen vier fanden es noch immer seltsam, dass Ariane ihren potentiellen Feind beim Vornamen nannte. Justin überlegte laut. „Aber wieso sollte Herr Donner den Zettel wegwerfen, wenn er ihn für wichtig halten würde? Und wenn er ihn schon wegwerfen will, warum zerreißt er ihn dann nicht, damit ihn keiner mehr lesen kann?“ Vivien gab nun auch ihre Meinung ab. „Ariane hat doch gesagt, Finster ist ein Fan von Legenden und so was. Kann doch sein, dass der Zettel versehentlich zwischen Finsters Unterlagen war und Eriks Vater hat ihn dann einfach weggeworfen, weil er nichts damit anfangen konnte.“ „Wenn Nathan aber der Böse wäre, für den ihr ihn haltet, dann hätte er doch besser auf diesen Zettel aufgepasst.“, hielt Ariane entgegen. Erstmals unterstützte Serena Arianes Meinung. „Ein kompetenter Anwalt würde auch nicht einfach etwas von seinem Mandanten in den Mülleimer werfen.“ Sie wusste von ihren Eltern, dass man so etwas nicht tat. Vitali machte eine lockere Armgestik. „Vielleicht hat Donner sich gedacht: 'Hey! Ich hab keinen Bock mehr, die Beschützer zu verfolgen. Ich häng meinen Bösewichter-Job an den Nagel!'" „Klar doch.“, spottete Serena. „Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, wie der Text dort hinkam, sondern was er zu bedeuten hat.“, beendete Justin das Thema. „Beim Erscheinen Lucifers am Himmel.“, wiederholte Ariane. „Lucifer ist der Name des gefallenen Engels, des Teufels. In der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament erscheint der Teufel am Himmel.“ „Du meinst der Text beschreibt die Apokalypse?“, fragte Justin. „Naja, in der Bibel kämpfen die Engel gegen den Drachen und sein Gefolge. In diesem Text sind es die Auserwählten.“, antwortete Ariane. „Aber hier ist auch die Rede vom Erwachen der Kräfte der Beschützer.“, warf Serena ein. „Wahrscheinlich erwachen ihre Kräfte, um den Kampf mit dem Teufel aufzunehmen.“, mutmaßte Ariane. „Durch die Tränen des Himmels.“ Serena stöhnte. „Dann ist das auch nur wieder ein Text, der über die unheimliche Wichtigkeit der Auserwählten spricht. Super.“ Justin hatte eine Idee. „Könnte es sich nicht auch um eine Anleitung handeln?“ Fragend sahen die anderen ihn an. „Vielleicht ist es eine Anleitung, wie die Auserwählten ihre Kräfte erwecken können. Die Worte könnten für etwas anderes stehen, zum Beispiel 'Des Himmels Tränen' für Regen!“ Vitali mischte sich ein. „Woher wollt ihr überhaupt wissen, dass wir mit diesen Auserwählten gemeint sind?! Es gibt doch tausend verschiedene Auserwählte. In jedem zweiten RPG kommen irgendwelche Auserwählte vor!“ Die anderen gingen erst gar nicht auf seinen Kommentar ein. „Aber wenn das eine Anleitung ist, wie passt dann Lucifer hinein? Und was soll die Seelenquelle sein?“, wollte Ariane wissen. „Die Seelenquelle ist die Quelle, aus der der Bach im Kurpark von Entschaithal entspringt.“, klärte Vivien sie auf. Ariane machte große Augen. „Das ergibt natürlich Sinn.“ Plötzlich hatte sie eine Idee. „Was haltet ihr davon, wenn ich Nathan die Zeilen schicke? Vielleicht weiß er, was mit Lucifer sonst noch gemeint sein könnte.“ „Hast du sie noch alle?!“, schrie Serena sie an. „Der Typ ist unser Feind! Und du willst ihn um seine Hilfe bitten! Wie wär’s wenn wir gleich die Schatthen befragen!“ „Es ist überhaupt nicht geklärt, ob Nathan einer der Feinde ist.“, verteidigte Ariane ihn. „Ihr solltet ihn erst einmal kennenlernen.“ „Kenne deinen Feind wie dich selbst!“, spottete Serena. „Du solltest nicht so blauäugig sein!“ „Entschuldige!“, gab Ariane empört zurück. „Liegt wohl daran, dass ich blond bin!“ „Gehen wir doch zu Ewigkeit!“, rief Vivien. „Sie weiß sicher Rat.“ Serena schien anderer Meinung zu sein. Dennoch war die Diskussion damit beendet. Ewigkeit begrüßte sie bereits vor ihrem Hauptquartier überschwänglich und umschwirrte sie überfreudig, als habe sie den ganzen Tag nur auf das Erscheinen der fünf gewartet. „Da seid ihr endlich!“, kicherte sie mit ihrer glockenhellen Stimme. „Wie geht’s euch? Wie geht’s euch?“ Hatte sie sie etwa vermisst? Vielleicht war das der Grund, warum das außergewöhnliche fliegende Objekt, das AFO, darauf bestanden hatte, dass die fünf heute nochmals vorbeikamen. „Wenn du aufhören würdest so hektisch herumzufliegen, ginge es mir um einiges besser. Mir wird davon schwindlig.“, entgegnete Serena trocken. „O, das tut mir leid.“, sagte Ewigkeit kleinlaut und blieb vor ihnen in der Luft stehen. Vivien beugte sich strahlend zu ihr vor. „O Ewigkeit, du bist ja so süß!“, flötete sie. „Wirklich?“, gab Ewigkeit in einem noch viel zuckersüßerem Ton zurück und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Serena wusste nicht, wie lange sie das noch aushalten konnte. Sie wartete nur darauf, dass im nächsten Moment irgendwelche Leute in Plüschkostümen aus dem Gebüsch gesprungen kamen und ein Tänzchen mit dazugehörigem Gesang aufführen würden. Währenddessen war Ewigkeit auch noch an Viviens Wange gesprungen und hatte schließlich auf Viviens Kopf Platz genommen. Nachdem sie ihr Geheimversteck betreten hatten, erzählten die fünf Ewigkeit zunächst, was geschehen war. Die Kleine lauschte gespannt. Schließlich las Justin den Zettel laut vor. Die Blicke aller waren auf Ewigkeit fixiert. „Das kapier ich nicht.“ Serena war nahe dran, Ewigkeit solange zu schütteln bis ihr Zweites Ich auftauchte. Ehe Serena jedoch tatsächlich dazu kam, einen solchen Versuch durchzuführen, streckte Justin Ewigkeit den Zettel hin. „Vielleicht kannst du ja etwas fühlen.“ Ewigkeit sah ihn einen Moment verständnislos an, so als würde sie ein stummes ‚Hä?‘ von sich geben. Schließlich schwebte sie näher an das Schriftstück heran. Sie begutachtete die Worte auf dem Papier. Die schlanken Buchstaben waren mit schwarzem Kuli geschrieben. Ewigkeit blickte noch einmal fragend zu Justin auf. Dann legte sie ihre kleine Hand auf die Notiz – und erstarrte. Ein herzzerreißendes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Ihr schmächtiger Körper krümmte sich gequält. „Ewigkeit! Was ist?“, fragte Justin besorgt. Als die Kleine aufblickte, erkannte er, dass es sich nun um Eternity handelte. Ihre Augen schwammen in Tränen. „Ich weiß nicht. Ich…“ Sie stockte. „Es macht mich so traurig.“ Sie wich vor dem Zettel zurück und umklammerte das Medaillon auf ihrer Brust. Die fünf warfen einander besorgte Blicke zu. Nachdem sie sich in der Kunst der Konzentration geübt hatten, um so ihre Kräfte zum richtigen Zeitpunkt ohne Verzögerung einsetzen zu können, entließ Eternity sie und blieb auch dieses Mal allein in dem Häuschen zurück. Noch immer spukte den fünfen ihre Reaktion im Kopf herum. Was hatte das zu bedeuten? War es der Inhalt gewesen, der das Schmetterlingsmädchen so aus der Bahn geworfen hatte? Aber wieso hatte sie dann nicht schon beim Klang der Worte so reagiert? Andererseits: War es nicht Eternity gewesen, die in Tränen ausgebrochen war? Hatte es damit etwas zu tun? Vielleicht hatte bloß die kindlich naive Ewigkeit nicht auf den Vers reagiert, während Eternity einfach feinfühliger war. Dennoch erklärte das nicht dieses Verhalten, schließlich hatte Eternity selbst nicht sagen können, was sie zu ihrem Gefühlsausbruch bewegt hatte. Oder verschwieg sie ihnen etwas? Wusste sie vielleicht doch mehr als sie zugab? Die Kleine hatte nicht so ausgesehen, als wenn sie die fünf belügen würde. Auf jeden Fall hatte dieser Vorfall den ominösen Text noch unheimlicher gemacht. „Vielleicht sollten wir uns zuerst auf die anderen Texte konzentrieren. Die von der Ausgrabungsstelle meine ich.“, brachte Ariane vor. „Das ist doch alles Wischiwaschi-Gelabere. Da rafft man gar nichts.“, beschwerte sich Vitali. Wie üblich sprach Vivien eindeutig zuversichtlichere Worte. „Jetzt, wo wir mehr über das Ganze wissen, ergibt es sicher mehr Sinn!“ Vitali nahm die Pose eines Moderators ein und täuschte vor, ein Mikrofon in der Hand zu halten. „Und heute sehen Sie in unserer Reihe ‘Wie interpretiere ich den weltgrößten Schwachsinn‘ wie aus Blablabla Bliblablu wird. Das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen!“ „Wir haben doch noch gar nicht alle Texte angeschaut, vielleicht ist irgendetwas Nützliches dabei.“, versuchte Ariane, ihn zu überzeugen. Justin schreckte auf. „Vielleicht ist auch der Text von dem Zettel dabei!“ Er sah die anderen durchdringend an. „Wir haben die versteckte Tür geöffnet, jetzt kann jeder an die Stellen ran, an denen die Schriften stehen.“ „Aber das war erst gestern.“, wandte Serena ein. „Eben! Dass ein Ausgrabungsmitarbeiter ausgerechnet an diesem Wochenende dorthin gegangen ist und die Texte an den Wänden gefunden hat, und diese dann auch noch an die Öffentlichkeit weitergegeben hat, ist extrem unwahrscheinlich. Das heißt, nur einer kann die Schriften schon jetzt haben, weil er von den Schatthen über uns Bescheid wusste – der Schatthenmeister! Das würde bedeuten, wir sind ihm schon viel näher als gedacht.“ „Und Eriks Vater steckt auf alle Fälle mit drin.“, ergänzte Serena. Ariane bremste die Euphorie. „Das müssen wir erst noch prüfen.“ Vivien nickte. „Also treffen wir uns morgen nach der Schule bei Vitali und schauen uns das mal genauer an.“, beschloss sie über Vitalis Kopf hinweg. „Bei mir? Wieso das denn?“ Vitali war wenig begeistert. Vivien holte zu einer Begründung aus: „Bei Ariane ist noch Umzugschaos, bei Serena stehen die Computer alle oben im Büro und da würden wir ihre Eltern stören. Bei mir würden die ganze Zeit meine lieben Geschwister um uns herum wuseln und mit euch spielen wollen und bei Justin im Zimmer würden wir nicht mal einen Platz zum Sitzen finden.“ Justin sah sie verblüfft an. Wie konnte Vivien das denn wissen? Vivien grinste ihn an. „Glaubst du, von deinem Zimmer kann man nur in meines sehen?“ Sie zwinkerte ihm zu und Justin fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Vitali stimmte widerwillig zu. „Wenn es unbedingt sein muss!“ Kapitel 36: Hilfe! ------------------ Hilfe! „Leichter erträgt man das, was einen ärgert, als das, was einen beschämt.“ (Titus Maccius Plautus, röm. Dichter) Am nächsten Tag, kurz nach drei, standen Justin und die Mädchen vor Vitalis Haus und betätigten die Klingel. Daraufhin hörten sie eilige Schritte im Inneren, ehe Vitali die Haustür aufriss. „Gehen wir hoch!“, rief er hastig, ohne sie überhaupt begrüßt zu haben. Die anderen sahen ihn verwirrt an. Und genau dieses Zögern seiner Freunde vermasselte Vitalis Fluchtplan. Aus einem der Zimmer kam bereits seine Mutter. „Ah! Wen haben wir denn da!“ Seine Mutter - eine dunkelhaarige Frau mit ihrem Alter entsprechend üppigen Hüften und Oberweite - schnellte auf sie zu. „Sag mal, Vitali, du wolltest mir doch deine Freunde nicht etwa vorenthalten?“ Sie warf ihm einen strafenden Blick zu, während er innerlich fluchte. „Also jetzt kommt doch erst mal alle rein.“, forderte Vitalis Mutter sie auf. „Ma, äh..“, Vitali hielt kurz inne, er suchte nach einer Ausrede. „Wir müssen noch Hausaufgaben machen! Schwierig, schwierig. Da dürfen wir keine Zeit verlieren!“ Seine Mutter ließ sich jedoch nicht beirren. „Papperlapapp! Hast du vorhin nicht noch gesagt, ihr müsstet an den Computer? Was soll denn das mit Schule zu tun haben?“ „Wir müssen im Internet was recherchieren.“, gab Vitali prompt zurück. „Ach, das wird ja wohl noch warten können, bis ich deine Freunde besser kennengelernt habe. Überhaupt sitzt Vicki noch am PC, also müsst ihr sowieso noch warten.“ „Waaas?!“ Vitali wurde laut. „Dann soll er eben vom PC verschwinden! Ich hab vorher schon gesagt, dass ich dran muss!“ „Vitali Donald Luft! Könntest du aufhören, hier herumzuschreien! Du hast hier nicht zu entscheiden, wer hier wann was zu machen hat!“ Vitali hatte einen hysterischen Blick drauf. Ob seine verzweifelte Wut mehr auf die Aussage seiner Mutter zurückzuführen war oder auf die Tatsache, dass sie ihn vor seinen Freunden 'Donald' genannt hatte, konnte er selbst nicht sagen. Die Wallungen in seinem Magen vermischten sich so ziemlich. Einen kurzen Moment brauchte sein Gehirn, um sich zu überlegen, ob er nun schreien oder aus dem Fenster springen sollte. Seine Mutter zu erschlagen, wäre natürlich eine weitere Alternative gewesen. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie er alleine den ganzen Haushalt schmeißen sollte, und war somit auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen. Frau Luft wandte sich wieder an die Gäste. „Findet ihr es nicht auch ganz unmöglich wie er sich mir, seiner eigenen Mutter, gegenüber benimmt? Könnt ihr ihm nicht sagen, dass es so nicht geht? Auf mich hört er ja nicht!“ „Ma!“, schrie Vitali. „Kannst du meine Freunde da rauslassen!“ „Ach, ich soll sie da rauslassen? Du bist es doch, der hier ’ne große Schau abzieht!“ Wieder drehte sie sich zu den vieren: „Das tut er immer. Er ist einfach unmöglich! Manchmal frage ich mich wirklich, was ich bei seiner Erziehung falsch gemacht habe. Sein Bruder ist da ganz anders. Aber vielleicht liegt es auch nur an der Pubertät. Was meint ihr: Liegt es nur an der Pubertät?“ „Ma!“ Vitalis höher werdende Stimme erschallte durch das ganze Haus „Ja!“, gab seine Mutter mit kräftigem Stimmvolumen zurück. „Ich kann dich gut hören! Ich bin ja nicht taub! Auch wenn ich von deinem ständigen Geschreie mittlerweile taub sein müsste! Weißt du eigentlich, wie peinlich das für mich ist, wenn du dich vor anderen Leuten so aufführst? Denkst du eigentlich mal darüber nach, wie du da rüberkommst?“ Sie deutete auf die anderen. „Die Serena zum Beispiel, die dich angerufen hat – das ist die Brünette, nicht wahr? – Was soll die von dir denken? Da versaust du dir doch jede Chance bei ihr, wenn du dich von Anfang an nicht beherrschen kannst! So erobert man nicht das Herz einer Frau! Auch wenn man schon von Weitem sieht, dass sie auf dich steht. Wenn du dich nicht zusammenreißt, rennt sie dir noch fort!“ Justin, Vivien und Ariane hätten in diesem Moment nicht sagen können, wer von den beiden, Vitali oder Serena, das fassungslosere Gesicht machte. Bei Vitali glaubten sie, noch einen Schuss mehr Entsetzen zu erkennen – was aber auch auf Vitalis Wunsch hindeuten konnte, dass das alles nur ein böser Traum war – während sie bei Serena befürchteten, dass sie sogleich explodieren und sowohl Vitali als auch seine Mutter in Grund und Boden brüllen würde, dass es selbst noch die Anwohner der Nachbarorte hörten. „Ich dachte, wir wollten hineingehen…?“, sagte Ariane in ungewohnt hohem, vorsichtigem Ton und unterbrach damit das Schweigen, das ihnen wie die letzte Ruhe vor dem Abwurf einer Bombe vorkam. „Aber natürlich!“, freute sich Frau Luft und ging voraus. Langsam folgte ihr Ariane und warf noch einmal einen ängstlichen Blick auf Serena und Vitali. Vitali bewegte sich als letzter, er ging neben Justin her und wiederholte am laufenden Band den einen Satz: „Ich bring sie um… Ich bring sie um...“ Als er aufsah, wurde er sogleich von Serenas mörderischem Blick traktiert. „Was!?“, Vitali zuckte erbost mit den Schultern. Seiner Stimme gelang es nur mit Mühe gedämpft zu bleiben „Ist doch nicht meine Schuld! Das hat sie gesagt!“ Ohne auch nur zu antworten wandte sich Serena ab und Vitali hörte sie regelrecht denken: ‚Von irgendwem muss sie das ja haben!‘ Dabei war Gedankenlesen doch Justins Ding. Vitali wollte gar nicht wissen, was er sich später wieder von ihr anhören durfte. Oh Mann! Warum immer er?! Frau Luft führte sie in das Wohnzimmer und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Der Tisch vor dem Sofa lag voller Fotos, die Vitalis Mutter wohl gerade in ein Album einsortieren wollte. „Das darf jetzt nicht wahr sein!“, knurrte Vitali in sich hinein. Warum mussten gerade ihm Dinge passieren, die sonst schon im Fernsehen überzogen wirkten? Seine Mutter bemerkte seinen auf die Fotos fixierten Blick. „Ach, ich hab dir noch gar nicht gesagt: Großtante Frieda hat noch alte Fotos gehabt, die sie uns jetzt geschickt hat.“ „Schön.“, stieß Vitali zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und zwang seine Gesichtsmuskeln zu einem verkrampften Lächeln. „Kannst du sie bitte wegtun?“ Frau Luft sah ihn verständnislos an. „Nein, natürlich nicht! Ich bin gerade am Einsortieren!“ Dann setzte sie einen Blick auf, der Vitali kalte Schauer über den Rücken jagte. „Außerdem: Vielleicht sind deine Freunde ja daran interessiert sie anzusehen.“ Erwartungsvoll lächelte sie den vieren zu. „Haben Sie auch Babyfotos?“, rief Vivien freudig aus. Vitali erstarrte. „Nein, die müsste ich erst raussuchen. Aber das wird kein Problem sein. Einen Moment!“ Und schon schnellte Vitalis Mutter los in ein anderes Zimmer. Vitali drehte sich zu Vivien. „Das verzeih ich dir nie!“ Vivien streckte ihm keck die Zunge raus und grinste dann von einem Ohr zum anderen. „Ich weiß gar nicht, was du hast, du warst sicher ein super super süßes Babylein!“ „Das zahl ich dir noch heim.“, knurrte Vitali. Vivien beugte sich herausfordernd zu ihm vor. „Versuch’s doch!“ Vitalis Augen verengten sich zu zwei Schlitzen. Derweil hatte eines der Fotos auf dem Tisch Serenas Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es zeigte ein etwa vierjähriges Kind mit einem blonden Wuschelkopf. Das Kind trug eine jeansfarbene Latzhose und saß in einem Garten auf der Wiese. Seine Augen strahlten vor Freude und man konnte schon vom Gesichtsausdruck und dem Grinsen her sagen, dass es sich um ein sehr lebhaftes, keckes Exemplar handelte. Serena nahm das Bild in die Hand. Ariane, die neben ihr saß, begutachtete es ebenfalls. „Die Kleine ist ja süß.“ Serena stimmte ihr zu, dann hielt sie Vitali das Foto entgegen. „Wer ist sie?“ Beim Anblick des Bildes entgleisten Vitalis Gesichtszüge für einen Augenblick. „Meine Kusine.“, antwortete er, nachdem er seinen Gesichtsausdruck wieder in Ordnung gebracht hatte. Schon kam Frau Luft mit einem ganzen Karton Fotos zurück. Als sie das Foto in Serenas Hand sah, machte sie einen Freudenseufzer. „Ach, der kleine Vitali! Ist er nicht zu süß? Wie lieb und unschuldig er da aussieht! Die meisten Leute haben ihn immer für ein Mädchen gehalten, weil er so hübsch aussah. Dabei hatte er es da schon faustdick hinter den Ohren!" Vitali versteckte seine Augen hinter seiner Hand und bemühte sich, sein Gehirn auf Durchzug zu schalten. "Aber dass du ihn gleich wiedererkannt hast!“ Frau Luft nickte Serena anerkennend zu. „Das muss wirklich Liebe sein!“, flötete sie in einem zuckersüßen Ton. „Wenn du es haben willst, gehört es natürlich dir.“ Ariane und Justin fragten sich, ob das wirklich Frau Lufts Ernst war. So falsch konnte man die Mimik eines Menschen doch gar nicht deuten! Also aus Serenas momentanem Gesichtsausdruck war ja so einiges herauszulesen – Schock, Entrüstung, Widerstreben – aber sicher keine Freude über dieses Angebot! Vitali indes bat bloß noch stumm um das Ende dieses Albtraums. Es kam früher als erwartet. Das Telefon klingelte. Vitali bekam es schon gar nicht mehr mit. Seine Mutter spurtete zum Telefon und an ihrer Reaktion konnten die fünf ablesen, dass es sich wohl um eine gute Bekannte handeln musste, die gerade an der Strippe hing. Vitali schoss mit einem Mal wieder zu voller Größe auf und war sich jetzt sicher: Es gab einen Gott! Seine Mutter telefonierte für gewöhnlich stundenlang mit ihren Freundinnen. Das hieß: Er war gerettet! „Hopp, wir verschwinden!“, zischte er den anderen zu und war sogleich an der Tür. Er drehte sich noch einmal zu seiner gerade in schallendes Gelächter ausgebrochenen Mutter um: „Ma, wir geh’n hoch.“ Seine Mutter nickte und winkte ihn mit der einen Hand nach draußen. Darauf hatte Vitali nur gewartet, er riss die Tür auf und stürzte in die Freiheit! „Aber ich wollte doch deine Baby-Fotos sehen!“, rief ihm Vivien in tiefster Enttäuschung nach. „Ich hab doch gesagt, wir sollten nicht zu mir gehen.“, grollte Vitali. Der Raum, in dem der PC stand, war entgegen der Behauptung seiner Mutter leer gewesen. Wahrscheinlich hatte sich Vicki schon längst wieder in das gemeinsame Zimmer von sich und Vitali verzogen. „Also ich find’s hier ganz nett.“, frohlockte Vivien und streckte sich genüsslich. „Halt’s Maul!“, giftete Vitali sie an, doch Vivien brachte das nur zum Lachen. „Das kriegst du alles zurück, das versprech ich dir!“, meckerte er weiter. „Dann kannst du dich mit meinen Geschwistern zusammentun. Die arbeiten schon jahrelang an ihrer Rache. Bis jetzt ist allerdings noch nichts dabei rausgekommen.“, sagte Vivien gelassen. Vitali rümpfte die Nase, als würde er sagen wollen: ‚Du wirst schon noch sehen.‘ Währenddessen zog Vivien einen USB-Stick hervor, auf den sie die Fotos übertragen hatte, und überreichte ihn Vitali. Er steckte den Speicher-Stick in die dafür vorgesehene Buchse und wählte in dem sich kurz darauf öffnenden Pop-up-Fenster die Option, die Dateien anzuzeigen. Nach einem weiteren Mausklick hatten die fünf die Filmstreifen-Ansicht der Fotos vor sich. Daraufhin übertrug Vitali die Herrschaft über die Maus an Ariane. Ariane öffnete Word und verschob und verkleinerte die beiden Fenster so, dass sie den Text abtippen konnte. Dieser Prozess nahm einige Zeit in Anspruch. Vom Warten wurde Vitalis Stimmung noch schlechter als sie es eh schon war. „Das bringt doch sowieso nichts.“, maulte er. Vivien strahlte ihn fröhlich an. „Wir können ja auch wieder runter zu deiner Mutter gehen.“ „Da werf’ ich mich doch eher vor ’nen Zug!“ „Ich schreib schon so schnell ich kann.“, versicherte Ariane. Ihre Finger flogen nur so über die Tastatur. Immer weitere Worte wurden für die anderen lesbar, was allerdings nicht bedeutete, dass sie irgendeinen Sinnzusammenhang ergaben. Zunächst waren es die Zeilen, die sie schon zwei Tage zuvor gehört hatten, dann gesellten sich weitere Texte hinzu. Glücklicherweise waren diese nicht so umfangreich wie die ersten. Es waren nur kurze Zeilen, die Ariane durch Absätze voneinander trennte. Ariane klickte auf das nächste Foto und tippte eifrig weiter ab. Als sie das letzte Foto der Strecke anklickte, erschrak nicht nur sie. „Warum hast du die Skelette fotografiert!“, schimpfte Serena mit Vivien. „Ich mag die beiden.“, sagte Vivien unschuldig. „Das sind Skelette!“, schrie Serena. Vivien sah sie tadelnd an. „Geh doch nicht nur nach dem Äußeren.“ „Vivien!“, tobte Serena. „Das war das letzte Foto.“, verkündete Ariane. „Der Text aus Herrn Donners Arbeitszimmer ist nicht dabei.“, erkannte Justin enttäuscht. „Er muss woanders herkommen.“ „Vielleicht haben wir einen Text übersehen.“, überlegte Ariane laut. Vivien schüttelte den Kopf. „Ich hab alles in dem Raum fotografiert.“ Justin war Arianes Meinung: „Wir sind in dem Gang einfach der Stimme gefolgt und haben sonst nicht auf den Weg geachtet, vielleicht gab es dort noch mehr Inschriften, die wir übersehen haben, schließlich waren die Steinplatten mit den ersten Texten auch außerhalb des Geheimgangs.“ „Hast du den Zettel dabei?“, fragte Vivien Justin. Er nickte und hielt ihr das zerknitterte Papierstück hin. Vivien selbst kramte zusätzlich den Zettel, auf dem die Texte der Steintafeln standen, hervor und hielt beide Papiere Ariane hin. „Die gehören auch noch dazu.“ Ariane nahm sie ihr aus der Hand und tippte sie nochmals ab. „Fertig!“, verkündete sie und druckte ihre Arbeit schließlich aus. Kurz darauf hatten die fünf die Texte in der Hand. „Und was jetzt?“, wollte Vitali ungeduldig wissen. „Wir versuchen, sie zu interpretieren.“, antwortete Ariane. Kapitel 37: Interpretationsfehler --------------------------------- Interpretationsfehler „Erwarte das Unerwartete, sonst wirst du es nicht finden.“ (Heraklit, gr. Philosoph) Finster ward es beim Einbruch der Nacht der da verdrängt des Lichtes Wacht Das Eine gespalten nun entzweit brachte statt Liebe nur Schmerz und Leid Entstandenes Leben drohet zu wanken überschreitet die Schöpfung des Gleichgewichts Schranken Schicksal Verändern Vereinen Vertrauen Wunsch Geheim Auf diese Beschützer müsst ihr bauen Bald wird gekommen sein die Zeit Die Auserwählten geleitet Ewigkeit In einer Ära, da das Gleichgewicht gestört durch die eine Lebensform, die wider die Natur zu verhalten befähigt, der Kampf von Gut und Böse entflammt und das Chaos ziehet herauf. Leben zu Tod, Tod zu Leben. Dies Geschick den Beschützern gegeben. Jenseits von Licht und Finsternis erschaffen, müssen ihren Weg sie wählen, der da führt zu Rettung oder Untergang. Auserwählt jene, deren Weg führt durch Dunkelheit und Licht, ein mühevoller Weg ist es, den ihr beschreitet. Viele Fragen, keine Antwort. Wege, Ziele, Unwissenheit. Diese Worte, Ermutigung und Ermahnung zugleich, sollen euer Selbst befreien, das da verschüttet liegt in eurem Ich. In eurer Brust ruht die Erlösung. Was ihr tut und glaubt, bestimmt das Sein. Auf der Suche nach der Bestimmung, die euch leitet, erwacht eure wahre Macht. In euch liegt der Schlüssel zur Erlösung. Ihr, die treibende Kraft, die ihr auf die Geschicke des Lebens wirkt, seid Rettung und Untergang. Als Wappen verborgen in ungeahnter Tiefe, das Tor zu eurem wahren Wesen. Hier ist es, wo eure wohlverwahrten Fähigkeiten werden erweckt, wo Beschützer und Hoffnungsträger liegen versteckt. Eure Begabung sei die Harmonie, die allein wandelt Chaos zum Kosmos und führet zurück zu dem Einen, dem alles Leben entspringt. Doch das Eine ist nicht immer das Gleiche und die Lösung nicht immer klar, denn die eine Wahrheit wandelt sich. Geheim vereinen sich der Wunsch zu verändern und das Schicksal und so wird Vertrauen euch leiten bis zur Ewigkeit. Finster ist, was euch erwartet, die Hoffnung, im Schatten schlummernd. Sie bringt die Entscheidung, wenn ihr den Glauben habt an das, was eure Augen nicht sehen und euer Herz allein erahnt. Träger der Hoffnung, auf dir ruhet das Vertrauen der Welt. Deines Schicksals Bürde ist schwer. Zu verändern ist dir aufgegeben und zu vereinen in dir die Gabe des Seins. Du leitest die Entscheidung ein. Ob sie dich führt zur Erfüllung deines Wunsches, bleibt geheim. Grün sind deine Augen, Grau des Menschen Schmerz. In Finsternis geboren, im Leid der Welt, Hoffnungsträger, bist du der Lichtbringer. Es bleibt die Seele in Ewigkeit. Beim Erscheinen Lucifers am Himmel, wenn die Schatten die Welt einhüllen, auf dem Ursprung der Seelenquelle stehend, werden der Auserwählten Kräfte erweckt werden, sobald, umgeben von den Elementen, des Himmels Tränen sie berühren. Die fünf hatten sich auf den Boden vor dem PC gesetzt und lasen sich mit einiger Verwirrung die Texte durch. „Ich raff überhaupt nix!“, schimpfte Vitali. „Das ist ja nichts Neues.“, höhnte Serena. Justin wirkte ebenfalls nicht sehr begeistert. „Die Texte sind sehr … symbolisch.“ „Bescheuert wäre das richtige Wort.“, knurrte Vitali. „Das ist voll das Psycho-Gelaber!“ Mit fester Stimme sprach Serena: „Zusammengefasst sagen alle Texte, bis auf den letzten und den, den Justin bei Erik gefunden hat, dass die Beschützer eine enorm wichtige Rolle spielen, ihre Aufgabe äußerst schwierig und verwirrend ist und sie weder gut noch böse sind; sie können die Welt entweder retten oder zerstören. Wie Eternity uns schon gesagt hat, sind die Wappen der Schlüssel zu unseren Kräften.“ Vitali gaffte sie an. Wie konnte man bloß irgendwas aus diesem Poesiegeschwafel rauslesen? „Aber was genau ist die Bedrohung, vor der wir die Welt beschützen sollen?“, fragte Justin. „Es ist zweimal von Chaos die Rede.“, entdeckte Ariane. „Also bedroht das Chaos die Welt?“ Justins Worte waren nicht eindeutig als Feststellung oder als Frage zu identifizieren. Ariane zögerte. „Hm, in vielen Mythen ist das Chaos aber auch der Urstoff des Universums, aus dem alles entstanden ist.“ „Chaostheorie?“, warf Vitali ein. Ariane blickte Vitali interessiert an. „Kennst du dich damit aus?“ Vitali schien überrascht, dass sie ihn ernsthaft nach seiner Meinung fragte. Dann grinste er und plusterte sich stolz auf. „Also Chaostheorie heißt, dass ganz kleine Sachen ne große Wirkung haben können. Man kann nichts genau vorhersagen. Das ist dieses, dass ein Schmetterling nen Wirbelsturm verursacht.“ „Das heißt, Ewigkeit kann Wirbelstürme erzeugen?“, rief Vivien begeistert. „Nein!“, schimpfte Vitali, ehe ihm wieder einfiel, dass Vivien sich ja bloß absichtlich dumm stellte. „Ich glaube kaum, dass das damit gemeint ist.“, entgegnete Serena. „Moment!“, rief Vivien freudig, stand auf und setzte sich an den Computer. Unter den neugierigen Blicken der anderen öffnete sie die Startseite von Wikipedia und tippte in das Suchfeld Chaos ein. „Ja klar, Wikipedia kennt die Antwort auf all unsere Fragen.“, kommentierte Vitali leicht spöttisch. „Wieso nicht?“, meinte Vivien und drückte die Entertaste. Sie las vor. „Das Chaos (griechisch cháos) ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für Ordnung.“ Triumphierend grinsend drehte sie sich zu den anderen. Verblüfft sah Ariane auf die Texte. „Stimmt, im Zusammenhang mit Chaos ist auch von Kosmos die Rede. Das muss es sein.“ „Das heißt, unsere Aufgabe ist es, die Unordnung in Ordnung zu verwandeln.“, leitete Justin ab. „Wir sind die Putzen?“, rief Vitali im Spaß. Justin lächelte. „So etwa.“ Währenddessen durchsuchte Ariane die Texte nach der zweiten Stelle, in der die Begriffe Chaos und Kosmos vorkamen. „'Eure Begabung sei die Harmonie, die allein wandelt Chaos zum Kosmos.' Vivien, könntest du auch Harmonie-“ Ehe Ariane weiterreden konnte, hörte sie Vivien schon tippen. „Harmonie kommt aus dem griechischen harmonia und bedeutet Zusammenfügung. Die Silbe ar oder har ist indogermanischer Herkunft und bedeutet: Vereinigung von Entgegengesetztem zu einem Ganzen.“, informierte Vivien. „Und was genau hilft uns das jetzt?“, mäkelte Serena. Vivien drehte sich in dem Bürostuhl zu den anderen um. „Ok, was hat Eternity über unsere Kräfte gesagt?“ „Die hat nur gesagt, dass wir damit Schatthen auflösen können.“, meinte Vitali. „Und wie machen wir das?“, fragte Vivien. Justin antwortete. „Wir benutzen unsere Gefühle und finden die passende Welle, um die Gefühle zu neutralisieren, aus denen die Schatthen bestehen.“ Ariane ergänzte: „Eternity meinte, dass die Schatthen mit dem Ursprung wieder verschmelzen. Das habe ich nicht so ganz verstanden, aber es könnte mit dem, was der Text sagt, in Verbindung stehen.“ Serena verschränkte die Arme vor der Brust und schaute, als würde ihr etwas nicht passen. „Eternity meinte, dass wir alle Teil eines Ganzen sind. Das Gefühl, das kommt, wenn wir uns daran erinnern, führt dazu, dass die Energie der Schatthen sich auch wieder daran erinnert und wieder mit dem Ganzen verschmilzt.“ Ariane sah sie beeindruckt an. „Was?!“, blaffte Serena. „Nur weil ich das für Schwachsinn halte, heißt das nicht, dass ich zu blöd bin, es zu verstehen.“ Arianes Gesichtsausdruck änderte sich. Hatte Serena ihr gerade vorgeworfen, zu blöd dafür zu sein? „Und was hat das mit dem Chaos und dem Kosmos zu tun?“ „Vivien hat doch grade vorgelesen, Harmonie ist das Zusammenfügen von Gegensätzen zu einem Ganzen. Der Text beschreibt unsere Kräfte so, weil wir die Unordnung, in der sich die Schatthen befinden, auflösen und wieder mit dem Ursprung verbinden, also der Ordnung.“ Vivien setzte sich zurück zu ihnen auf den Boden und sah Serena kichernd an. „Du hast viel zu solchen Themen gelesen, nicht?“ Sie hatte ein paar Esoterik-Bücher in Serenas Bücherregal vorgefunden, als sie bei ihr übernachtet hatten. „Gar nicht!“, schrie Serena. Vivien ging nicht darauf ein und wandte sich an die anderen. „Was gibt’s sonst noch?“ „Die Namen der Beschützer werden oft genannt, aber eher wie Wortspiele.“, fiel Ariane auf. „Im ersten, im vierten und auch im fünften Abschnitt. Der, der mit 'Träger der Hoffnung' beginnt.“ „Meint ihr mit Hoffnungsträger sind auch wir gemeint?“, fragte Justin. Serena schüttelte den Kopf. „Von diesem Hoffnungsträger wird immer nur in Einzahl gesprochen.“ „Aber es ist vorher auch die Rede davon, dass in den Wappen der Hoffnungsträger versteckt liegt.“, wandte Ariane ein. „Trotzdem.“, beharrte Serena. „Er scheint eine Sonderrolle einzunehmen. Ansonsten müsste in diesem Satz: 'wo Beschützer und Hoffnungsträger liegen versteckt', der Hoffnungsträger nicht extra genannt werden.“ „Aber vielleicht ist er einer der Beschützer.“, gab Ariane zu bedenken. „Oder sie.“, ergänzte Vivien. „Es könnte Erik sein.“, überlegte Justin laut. Ariane war der gleichen Meinung. „Das habe ich auch schon gedacht.“ „Aber hier steht doch, dass der Hoffnungsträger grüne Augen hat!“, beanstandete Vitali. „Also kann es Erik doch gar nicht sein.“ „Erik hat grünblaue Augen.“, sagte Ariane. Vivien kicherte daraufhin vielsagend. Ariane machte ein verkniffenes Gesicht. „Das fällt einem doch auf.“, murrte sie. „Ich weiß schließlich auch, dass Vitali blaue Augen hat und Justin braune.“ Plötzlich hielt sie inne. Ihr Blick glitt nachdenklich zu Boden. „Nathan hat grüne Augen.“ „Ariane, wir wollen hier nicht über deinen Männergeschmack streiten.“, lästerte Serena. „So habe ich es nicht gemeint!“, rief Ariane empört. „Der Mann ist fast doppelt so alt wie ich!“ „Und trotzdem schwärmst du immer von ihm.“, erwiderte Serena trocken. „Weil er ein beeindruckender Mensch ist und ihr ihn ständig für den Bösewicht haltet, obwohl ihr ihn nicht kennt!“, wehrte Ariane sich. Serena verdrehte die Augen. „Wie viele Beweise brauchst du denn noch?“ „Bisher haben wir nur Hinweise und keine Beweise. Im Zweifel für den Angeklagten!“, konterte Ariane. „Du meinst wahrscheinlich noch, dass dein Nathan der Hoffnungsträger ist, immerhin hat er ja grüne Augen!“, höhnte Serena. „Und wenn es so wäre?“ Die anderen starrten Ariane verdutzt an. „Nathan interessiert sich für die Ausgrabungsstelle, genau wie wir! Er ist fasziniert von den Inschriften, genau wie wir!“ Justin blieb skeptisch. „Es ist schon sehr merkwürdig, dass er sowohl der Eigentümer der Ausgrabungsstelle als auch des Baugrunds ist.“ „Der Grund liegt direkt neben der Finster GmbH.“, wandte Ariane ein. „Es ist nur logisch, das Unternehmen durch einen Bau auf dem Nachbargrundstück zu erweitern. Außerdem haben wir doch herausgefunden, dass der Punkt die Mitte Entschaithals darstellt und die Leute früher dort Feste gefeiert haben. Das spricht nicht gerade für eine böse Energie, die er für sich nutzen will.“ „Zu viele Zufälle!“, fand Serena. „Und was ist mit Secret?“, plädierte Ariane. „Du hast zuerst auch nicht glauben wollen, dass er sein Gedächtnis einfach so verloren hat. Und jetzt, wo wir ihn als Erik wiedergetroffen haben, hat er keinerlei Erinnerungen mehr an das Ganze! Aber jeder von uns weiß, dass er und Secret die gleiche Person sind! Das ist genauso unwahrscheinlich. Aber mit Wahrscheinlichkeit hat das alles nichts zu tun!“ „Aber dass er sich gerade für diese Ausgrabungsstelle interessiert hat, obwohl seine Firma mit so etwas nichts zu tun hat?“, betonte Justin nochmals. Ariane zeigte auf den Text. „Auf der Jubiläumsfeier hat Nathan es mir selbst gesagt. Sein Name befindet sich in dieser Prophezeiung: 'Finster war es'. Wenn Schicksal, Verändern und so weiter gleichzeitig unsere Namen darstellen, wieso sollte es so unwahrscheinlich sein, dass das Wort 'finster' gleichzeitig auf Nathan Finster hinweist? Vielleicht ist er deshalb so von der Ausgrabungsstätte angezogen gewesen, weil er auch in diese Prophezeiung gehört!“ „Aber die Zeilen, in denen 'Finster' steht, sind immer negativ!“, hielt Serena lautstark entgegen. „Da steht nie was Gutes in Zusammenhang mit 'Finster'. Vielleicht hat er einfach die Rolle des Bösen in dieser Prophezeiung!“ „Nicht jede.“, protestierte Ariane. „'Finster ist, was euch erwartet, die Hoffnung, im Schatten schlummernd.'“ „Das kannst du jetzt wohl kaum als Verteidigung bringen. Der Satz ist so undurchsichtig, dass man alles daraus deuten könnte!“, schimpfte Serena. Vitali stöhnte genervt auf. „Findet ihr nicht, dass ihr in das Ganze etwas zu viel hineininterpretiert? Wenn es wirklich noch einen extra Hoffnungsträger gibt, dann heißt das noch lange nicht, dass wir ihn irgendwie kennen müssen!“ Vivien stimmte ihm zu. „Außerdem ist Grün die Farbe der Hoffnung. Also muss damit nicht zwangsläufig die wirkliche Augenfarbe vom Hoffnungsträger gemeint sein.“ Justin wirkte nachdenklich. „Was denkst du?“, fragte Vivien ihn. „Ach nichts.“, antwortete er ausweichend. „Nicht wichtig.“ „Hey, mir ist wichtig, was du denkst!“, rief Vivien. „Wir sammeln hier doch alle Gedanken, die uns zu dem Ganzen kommen und vielleicht bringt es uns dein Gedanke weiter.“ Sie lächelte in ermutigend an. „Es ist… wirklich nicht wichtig. Mir war nur gerade eingefallen, dass – ähm wegen der Hoffnung. Sie wird hier immer mit Finsternis in Verbindung gebracht. Und… Als Kind hatte ich eine Geschichtensammlung, in der auch eine Erzählung über die Büchse der Pandora war.“, druckste Justin. „Ja und?“, wollte Vitali wissen. „Nun ja, Die Geschichte ist, dass Pandora die Büchse, die ihr von den Göttern gegeben wurde, öffnet. In dieser Büchse sind aber nur schlechte Dinge wie Krankheiten und Leid, die sich dann über die ganze Welt verteilen. Aber als Pandora die Büchse wieder schließt, hört sie eine leise Stimme, die ihr sagt, dass sie sie herauslassen soll, weil nur sie die Welt retten kann. Und als Pandora die Büchse dann noch mal öffnet, kommt ein weißer Schmetterling heraus und sagt, dass er die Hoffnung ist. Ich musste daran denken, als Ariane die Stelle mit der im Schatten schlummernden Hoffnung vorgelesen hat. Und auch diese Stelle hier: 'In Finsternis geboren, im Leid der Welt, Hoffnungsträger, bist du der Lichtbringer.' So wie die Hoffnung mit all den Plagen in der gleichen Büchse war. Es ist doch irgendwie ungewöhnlich, dass die Hoffnung zwischen den Plagen ist.“ „Das heißt, wir sollen dort suchen, wo man es am wenigsten erwartet!“, deutete Vivien. Vitali alberte: „Hey, wenn die Hoffnung in Justins Märchen ein Schmetterling war, dann könnte es doch auch Ewigkeit sein.“ „Genau!“, lachte Vivien. „Klar doch…“, spottete Serena. Vitali streckte die Glieder. „Mir reicht's mit Interpretieren für heute.“ Auf seine indirekte Aufforderung hin stand Ariane auf. „Ich schick jedem von euch die Datei noch per Mail.“ Sie setzte sich an den PC. Als sie ihr E-Mail-Postfach öffnete, wurden mehrere ungelesene E-Mails angezeigt, vor allem Werbemails. Dann stach ihr der Absender Nathan Finster ins Auge. „Der wird ja zum richtigen Stalker!“, kommentierte Vitali, der neben siegetreten war und die Mail ebenfalls sofort entdeckt hatte. Neugierig schauten nun auch die anderen auf den Bildschirm. „Finster?“, stieß Serena aus. „Wenn man vom Teufel spricht!“ Ariane ignorierte sie und öffnete voller Vorfreude die E-Mail. Da kein Betreff angegeben war, zeigte sich der Sinn und Zweck der Mail erst beim Lesen. Ohne Erlaubnis las Vitali den anderen laut vor: „Liebe Ariane, am nächsten Freitag, den 14. September, findet im Kursaal von Entschaithal eine Ausstellung zu altertümlichen Mythen statt, an der ich nicht ganz unschuldig bin. ;-) Ich dachte, das würde dich vielleicht interessieren. Die Ausstellung beginnt um 18 Uhr. Vielleicht finden sich noch ein paar Freunde, die dich dorthin begleiten. Ich würde mich freuen, dich (und natürlich deine Freunde) dort begrüßen zu dürfen. Vielleicht kann man sich auch über deine Errungenschaften, was die Interpretation der Inschriften angeht, austauschen. :-) Falls du an diesem Abend allerdings keine Zeit hast, ist das kein Problem, die Ausstellung wird bis Anfang Oktober zu besichtigen sein. Liebe Grüße. Nathan” „Das ist doch die Gelegenheit!“, rief Ariane freudig aus. So freudig, dass die anderen überhaupt nicht wussten, was sie meinte. „Da könnt ihr ihn endlich einmal kennenlernen! Dann werdet ihr ihn nicht mehr für den Feind halten. Außerdem können wir ihn nach der Bedeutung von Lucifer fragen!“ „Ganz sicher nicht! Dann weiß er doch sofort, dass wir den Text haben!“, keifte Serena. „Aber an seiner Reaktion könnten wir auch sehen, ob er den Text kennt.“, konterte Ariane. „Ich bin dagegen!“, beharrte Serena. „Vielleicht sollten wir Ewigkeit nach ihrer Meinung fragen.“, war Justins Gedanke. Vitali sah Justin skeptisch an. „Sollen wir extra deswegen in den Park gehen?“ „Vielleicht können wir sie einfach herwünschen wie einen Dschinni!“, rief Vivien überschwänglich. „Ja klar.“, nörgelte Vitali. Vivien war von der Idee allerdings nicht mehr abzubringen. „Ewigkeit, ich rufe dich! Komm bitte her.“ Vivien wiederholte die Worte wieder und wieder wie einen Sprechgesang. „Ewigkeit, ich rufe dich!“ Das Ganze machte den Anschein einer Geisterbeschwörung. „So ein Schwachsinn.“, zischte Serena genervt. „Du hast mich gerufen?“ Die vier anderen zuckten vor Schreck zusammen. Das war doch nicht möglich! Sie starrten auf das Schmetterlingsmädchen, das soeben vor Vivien aufgetaucht war. „Wie.. wie bist du..?“, stammelte Ariane. „Wenn ihr mich ruft, bin ich sofort da.“, antwortete Ewigkeit, als wäre das das Natürlichste auf der Welt. „Habe ich euch das nicht gesagt?“ „Das musst du ausgelassen haben.“, entgegnete Justin immer noch entgeistert. „O, Verzeihung.“ Die Kleine sah die fünf voller Vorfreude an. „Was kann ich für euch tun?“ Vivien kicherte, dann setzte sie zu einer Antwort an. „Wir wollten fragen, ob du schon mal was von Nathan Finster gehört hast!“ Ewigkeit sah sie einen Moment verwundert an. „Nathan Finster?“ Vivien nickte. „Nathan… Finster.“, wiederholte Ewigkeit. Ihre Stimme war nur noch ein Säuseln. Gedankenversunken begann sie, an dem Medaillon um ihren Hals zu spielen. Ihr Blick schien in eine weite Ferne zu versinken. „Nathan…“ Sie blickte wieder auf, in die Gesichter der Beschützer. „Das… Das hab ich schon mal gehört!!“, rief sie heftig. Dann war sie wieder ganz ruhig und schaute auf das Medaillon zwischen ihren Fingern. „Meinst du vielleicht 'Nathan der Weise'?“, entgegnete Vitali spöttisch. Sie hatten gerade angefangen, in der Schule dieses Drama von Gotthold Ephraim Lessing zu lesen und es hing ihm jetzt schon zum Hals raus! „Nathan… Wei-se…“, plapperte Ewigkeit nach. Plötzlich riss sie die Augen auf und kreischte. „Ja! Nathan! Nathan ist Wai-se!!!“ Sie strahlte nun über das ganze Gesicht, als habe sie damit die Weltformel gefunden oder könne damit Krankheiten heilen. Serena und Vitali gaben ein entnervtes Stöhnen von sich. Wie hatten sie nur davon ausgehen können, dass dieses Kleinkind ihnen eine Hilfe sein würde! Ewigkeit sah sie unsicher an. „Hab ich was Falsches gesagt?“ Ariane zeigte ihr ein gequältes Lächeln. „Nein, nein, ist schon in Ordnung.“ So kam das Ewigkeit aber nicht vor. Das Schmetterlingsmädchen zog einen Schmollmund. Es hatte doch nur helfen wollen! Die Kleine konnte überhaupt nicht verstehen, warum die Beschützer so seltsam reagiert hatten. War dieser Nathan für sie denn weniger wert, weil er Waise war? Es war doch traurig, wenn man keine Eltern mehr hatte… Als sie sich von Vitali verabschiedeten, war Ewigkeit bereits zurück in das Häuschen gekehrt. Offensichtlich hatte die Reaktion der fünf auf ihre Antwort sie so gekränkt, dass sie alsbald wieder verschwunden war. Was das Problem bezüglich des Treffens mit Finster anging, waren die fünf zu der Einigung gekommen, alle zusammen zu dieser Ausstellung zu gehen. Da der Schatthenmeister nach den Geschehnissen auf der Ausgrabungsstelle ohnehin darüber im Bilde sein würde, dass sie zusammenarbeiteten, brauchten sie diesen Umstand vor Nathan Finster auch nicht vertuschen. Bei einem Zusammentreffen würden sie sich zumindest ihr eigenes Bild von Finster machen können und vielleicht mehr über ihren potentiellen Feind erfahren. Während sie von Vitalis Haus wegschlenderten, begann Vivien die Melodie von ‚Diese Welt ist klein‘ vor sich hin zu pfeifen und zog etwas aus ihrer Tasche, das sie zuvor eingesteckt hatte, als die anderen bereits auf den Weg in Vitalis Zimmer gewesen waren. Sie betrachtete den Gegenstand grinsend, ehe dieser Serena ins Auge fiel. „Vivieeeen!!!“ Serenas Stimme brach fast. Mit einer hektischen Bewegung wollte sie Vivien das Objekt aus der Hand reißen. Aber Vivien war schneller. „Du dumme Kuh!!!! Warum hast du es mitgenommen?!!!“, schrie Serena. „Gib es sofort her! Aaarh! Vitalis Mutter wird denken, dass ich es genommen hab!!!“ „War doch viel zu schade, als dass man es liegen lässt, wenn sie es einem schon anbietet.“, meinte Vivien leichthin. Serena konnte sich vor Wut kaum noch halten. „Gib es her!!“ Ohne Widerworte reichte Vivien ihr Vitalis Kinderfoto. Ein diabolisches Grinsen erschien auf ihren Zügen. „Und was willst du jetzt machen? Zurückgehen und ihr sagen: ‚Hallo Frau Luft, hier ist das Foto. Ich hab es nicht genommen, Vivien war’s!‘ Da würd ich zu gern ihr Gesicht sehen!“, Vivien brach in schallendes Gelächter aus. „Du bist so eine dumme Kuh!!!“, kreischte Serena und hätte Vivien am liebsten geohrfeigt. Jetzt glaubte Vitalis Mutter erst recht, dass sie in ihn verknallt war!! Das war der pure Horror!! Plötzlich fiel es Serena wie Schuppen von den Augen: Vitali wusste auch nicht, dass Vivien das Bild eingesteckt hatte, also würde er, sobald seine Mutter ihm vom Verschwinden des Fotos erzählte, ebenso davon ausgehen, dass sie es eingesteckt hatte! Neeeeiiiiiinn!!!!!!!!! Serena wirkte wie ins Delirium gefallen, denn wie angewurzelt war sie stehen geblieben und starrte entsetzt auf den Boden. Das war einfach zu peinlich! Mit einem Mal erwachte Serena wieder und packte Vivien am Kragen. „Du wirst jetzt sofort Vitali anrufen und ihm sagen, dass du das Foto genommen hast und nicht ich!“ Vivien schien auch von Serenas Körpereinsatz nicht beeindruckt. „Wenn du meinst, dass er mir das glaubt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Also mir würde es eher wie eine billige Ausrede vorkommen.“ Serenas Augen funkelten sie beängstigend an. „Es ist die Wahrheit!!!“ „Ach, das hat nicht viel zu heißen. Wenn man jemanden etwas ganz direkt sagt, auch wenn es die Wahrheit ist, dann wird einem meistens nicht geglaubt.“, erklärte Vivien. Allerdings traf ihre These bei Serena nicht auf Gegenliebe. „So ein Schwachsinn!“ „Es stimmt aber.“, beharrte Vivien. Mittlerweile hatte Serena sie wieder losgelassen. „Ich beweis es dir!“ Vivien drehte sich zu den beiden anderen. Ariane und Justin waren weiter vorne stehen geblieben, um auf sie zu warten, und hatten das Gespräch bis hierher verfolgt. „Justin!“ Justin schaute fragend und kam mit Ariane zu ihr gelaufen. Vivien strahlte ihn so freudig an, dass allein davon schon Hitze in seine Wangen stieg. Dann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, rief sie euphorisch aus: „Ich liebe dich!“ Die Worte trafen Justin wie der Amboss eine Zeichentrickfigur. Fassungslos stand er da, starrte Vivien an. Noch immer lächelte sie glückselig. Reflexartig flüchteten Justins Augen vor ihrem bestrickend lieblichen Anblick, suchten irgendwo nach einem Rat, was er jetzt tun sollte. Hatte sie das wirklich gesagt? Halluzinierte er? Das… das war doch unmöglich! Im nächsten Moment stand er plötzlich stramm wie ein Zinnsoldat und brachte in einem roboterähnlichen Ton heraus: „Wir- soll-ten weiter-ge-hen…“ Prompt machte er eine Kehrtwende und marschierte mit ungelenken Bewegungen davon. Sie hatte ganz sicher einen Scherz gemacht! Jawohl. Einen Scherz! Ja! Ganz sicher! Mit leicht verdutztem Gesicht sah Vivien ihm nach. So einfach war es also wirklich nicht… „Häääh?!“ Schockiert gaffte Serena von Vivien auf Justins Rückenansicht und wieder zurück. „Das gibt’s doch nicht! Er hat doch gehört, wie du gesagt hast…! Wiesooo?!“ Triumphierend grinste Vivien sie an. „Ich hab doch gesagt: Wenn man zu direkt ist, glaubt einem keiner!“ „Ich fand das jetzt echt fies!“, tobte Ariane. „Du kannst doch nicht so mit seinen Gefühlen umspringen!“ Vivien blinzelte Ariane ein paar Mal an und wandte sich dann wieder an Serena. „Siehst du!“ Serena war sprachlos, dann verschränkte sie abwehrend die Arme vor der Brust. „Das war nur Zufall! Schließlich ist es Justin! Und Ariane…“ „Ach ja?“, Vivien zog ihr Handy hervor und suchte Vitalis Nummer heraus. Sie musste nur kurz warten, offenbar hatte Vitalis Mutter mittlerweile fertig telefoniert. „Hallo, ist Vitali da?“ „Was tust du da?!“, zischte Serena ihr zu. „Es dir beweisen.“, antwortete Vivien locker. „Ah! Hi Vitali! Serena hat dein Foto mitgenommen, unglaublich nicht wahr?“ „Haha!“, kam es genervt vom anderen Ende der Verbindung. „Wenn du mir das Foto nicht morgen wieder gibst, bring ich dich um!!!“ Viviens Grinsen war auch in ihrem Tonfall erkennbar. „Du meinst also, ich soll es in die Schule mitbringen?“ Im nächsten Moment musste Vivien das Handy kurz von sich weghalten, um nicht taub zu werden. „NEIN!!!“ „Also das besprechen wir dann morgen. Ich wollt jetzt eigentlich nur Serena beweisen, dass du es nicht glauben würdest, wenn ich es dir erzähle.“ „Was?! Was soll denn das jetzt heißen?!!“, rief Vitalis Stimme. „Bis morgen!“ „Vivieee-“ Und schon hatte Vivien aufgelegt. Sie grinste Serena überlegen an. „Na, was hab ich gesagt?“ „Du.. du..“, Serena bekam einen irren Blick. „Jetzt denkt er wirklich, dass ich es genommen habe!!!“, schrie sie Vivien an. Vivien lachte. Serena spießte sie mit ihren Blicken auf. Doch Vivien ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Du bist viel zu leicht zu durchschauen.“ „Wie bitte?!“, schnaubte Serena. „Na, wie bei Vitalis Mutter. Wenn du dich nicht gleich so aufgeregt hättest, hättest du gemerkt, dass sie zuerst gar nicht gedacht hat, dass du in ihn verknallt bist. Damit wollte sie nur Vitali ärgern. Aber als sie dann deine Reaktion gesehen hat, ist sie extra drauf rumgeritten.“, klärte Vivien sie auf. „Das ist doch sadistisch.“, gab Ariane entsetzt von sich. Vivien zuckte mit den Schultern. „Wenn du nicht willst, dass man es merkt, darfst du dich nicht so aufregen. Sonst denkt gleich jeder, dass du an ihm interessiert bist.“ „Es stimmt aber nicht!!!“, kreischte Serena. Vivien prustete los. „Was soll denn das jetzt!“, schimpfte Serena. Vivien fing sich wieder und grinste Serena vielsagend an. „Na, du regst dich schon wieder auf!“ Sie zwinkerte ihr mit ausgestreckter Zunge zu und rannte dann Justin hinterher, der an der nächsten Ecke stehen geblieben war und immer noch nichts von seiner Umgebung wahrzunehmen schien. „Was soll das heißen?!“, schrie Serena ihr nach und rannte ihr mitsamt Ariane hinterher. Kapitel 38: Gruppenzugehörigkeit -------------------------------- Gruppenzugehörigkeit „Am tiefsten schmerzen Wunden uns geschlagen von Menschen, die der Freundschaft Maske tragen.“ (Friedrich von Bodenstedt, dt. Schriftsteller) Dienstag. Einer der schlimmsten Schultage! Zumindest für Vitali. Deutsch – und das zwei ewig lange Stunden... Schulstunden zwar, aber für Vitali konnten zwei 60-Minuten-Stunden auch nicht länger sein. Nein, um genau zu sein, hätte er sogar lieber drei Stunden damit zugebracht, eine weiße Wand anzustarren. Demotiviert hatte er seine Bank zur Kopfablage umfunktioniert, doch schon betrat die Deutschlehrerin das Klassenzimmer. Ihre Stöckelschuhe hatten ihr Kommen schon zuvor angekündigt. Vitali seufzte und setzte sich widerwillig wieder auf. Erik musste angesichts seiner expressiven Mimik schmunzeln. Nach der Begrüßung eröffnete ihnen Frau Müller, dass sie über die nächsten drei bis vier Wochen eine Gruppenarbeit zu der Lektüre ‚Nathan der Weise‘ vorbereiten sollten. Zwei große Arbeitsthemen gab es. Also zwei Gruppen, die sich auf der Fenster- beziehungsweise der Wandseite zusammenfinden sollten. Und dazu hatte Frau Müller die absolut grandiose Idee, die Gruppen gleich persönlich einzuteilen! Schließlich müssten sich die Leute in der Klasse erst richtig kennenlernen und dies sei doch die perfekte Gelegenheit dazu. Daher sollten jeweils die Banknachbarn voneinander getrennt werden. Dieses Vorhaben weckte die gewohnte Begeisterung bei den Schülern. Oder war genervtes Stöhnen etwa kein Zeichen für Begeisterung? Wen interessierte das schon? Frau Müller zumindest nicht… Serenas Blick huschte auf die Fensterseite des Zimmers, wo sich die erste Gruppe versammeln sollte. Amanda machte nicht den Anschein, aufstehen zu wollen. „Du kannst ruhig hier bleiben.“, hörte Serena Ariane sagen. Ariane lächelte sie an und erhob sich von ihrem Platz. Ob sie bemerkt hatte, warum Serena nicht auf die andere Seite wollte? Vivien tat es Ariane gleich und stand auf. Sie zwinkerte Justin und Serena zu. „Keine Angst, wir kommen wieder!“, lachte sie. Vitali wollte gerade aufstehen und zur Wandseite gehen, als er Eriks Hand auf seiner Schulter spürte. Fragend sah Vitali ihn an. „Könntest du vielleicht auf die Seite gehen?“, bat Erik mit seltsam ernster Miene. „Hä?“, Vitali verzog das Gesicht. Mit dem Daumen seiner linken Hand deutete Erik nach links hinten. Vitalis Gesichtsausdruck wurde noch verständnisloser. Skeptisch schaute er in die Richtung, die Erik ihm gewiesen hatte. Um den Tisch von Amanda hatte sich eine Schar an Mädchen versammelt, die miteinander kicherten und weibliche Gesten machten, von denen Vitali nichts verstand. Vitali begriff nicht, worauf Erik hinaus wollte. „Du hast ne Mädchenphobie?“ Erik zog ein gequältes Gesicht. „Echt jetzt?!“ rief Vitali entsetzt. Entnervt verdrehte Erik die Augen und schüttelte den Kopf. „Pass auf.“ Langsam drehte er sich nach hinten und sah die Mädchenclique für einen kurzen Moment stumm an. Seine Mimik war in keinster Weise freundlich, doch in der Kombi mit seinen geheimnisvollen grünblauen Augen hatte sein durchdringender Blick zur Folge, dass die ganzen Mädchen plötzlich auf ihn fixiert waren. Erik wandte sich langsam wieder ab. Zeitgleich breitete sich ein Kichern und Tuscheln in der Gruppe aus. Baff starrte Vitali auf das Geschehen, dann zu Erik. „Wie machst du das?“ Erik sah ihn grimmig an. „Was weiß ich. Verstehst du jetzt, was ich meine?“ Vitali spottete: „Ja, echt schlimm, alle Mädchen stehen auf dich.“ Gram legte sich auf Eriks Züge. „Sobald ich nur ein Wort mit einem Mädchen wechsle, heißt es, ich würde mit ihr flirten.“ Das war ihm sowohl bei der Schwester eines Schulkameraden und der festen Freundin eines anderen passiert. Bei ersterem Vorfall wurde ihm danach vorgeworfen, er habe der Schwester falsche Hoffnungen gemacht, beim zweitem, dass er dem Jungen die Freundin hätte ausspannen wollen. „Der Fluch der Gutaussehenden.“, höhnte Vitali. Erik bedachte ihn kurz mit einem Blick, als verstünde er nicht, warum Vitali das so sagte, als zähle er nicht zu dieser Gruppe. „Bringt dir auch nichts, wenn du da rübergehst.“, meinte Vitali. „Serena ist da drüben.“, entgegnete Erik. Ein leiser Argwohn erschien auf Vitalis Gesicht. „Ja und?“ „Wegen dem ersten Schultag geht das Gerücht rum, wir wären zusammen.“ Ehe Erik weitersprechen konnte, wurde er von Vitalis aufgebrachter Stimme unterbrochen: „Was war am ersten Schultag!“ Erik erklärte nüchtern: „Damit Amanda sie in Ruhe lässt, hab ich gesagt, Serena würde zu mir gehören. Wenn ich das aufrechterhalte, bleibe ich vielleicht von den Modezeitschrift-Anhängerinnen verschont.“ Vitalis Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er von der Idee nicht begeistert. Ein neckisches Lächeln erschien auf Eriks Lippen. „Das würde dich nicht rein zufällig stören?“ „Nicht die Bohne.“, zischte Vitali. Mit gespielter Gleichgültigkeit stand er auf und stapfte hinüber zu Vivien und Ariane in die erste Gruppe. Noch einen Moment grinste Erik amüsiert, dann ging er zur Wandseite hinüber und setzte sich neben Serena. Die anderen Gruppenmitglieder hatten bereits die Tische verrückt, sodass alle Platz fanden. Schließlich erklärte Frau Müller die Aufgaben und es konnte mit der Besprechung innerhalb der Gruppen begonnen werden. Zu ihrem Leidwesen musste Serena erkennen, dass sie äußerst ungünstig saß. Zwar hatte sie direkten Blick zu Vivien, Vitali und Ariane – Vivien hatte ihr sofort überschwänglich zugewunken, als sie ihren Blick bemerkt hatte – aber das Grauen war, dass die drei aus irgendwelchen Gründen direkt bei Amanda saßen. Serena biss sich auf die Unterlippe. Aus diesem Winkel war sie geradezu gezwungen, ständig auf Amanda zu schauen. Sie würde es einfach ignorieren. Jawohl. Ignorieren! Das ging auch eine Zeit lang gut. Nur nicht allzu lange… Schlimm genug, dass das gezierte Lachen Amandas über jeden Sicherheitsabstand hinweg zu Serena vordrang und in ihren Ohren dröhnte wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schiefertafel. Doch als sich ein weiteres Geräusch hinzumischte, glaubte Serena ersticken zu müssen. Ihr Brustkorb verkrampfte sich. Entsetzt starrte sie hinüber zu Amanda. Nein, zu Vivien, Vitali und Ariane! Die drei lachten... Lachten gemeinsam mit dieser Person! …Als wären sie jahrelange Freunde…Als würden die drei sie gemeinsam mit Amanda heimlich auslachen. Vom Rest der Welt unbemerkt stürzte Serena in ein schwarzes Loch. Dieses Lachen – es wollte einfach nicht verschwinden! Es hallte in Serenas Kopf. Wie damals in dem Spiegelsaal. Dieses schreckliche, schreckliche Lachen! „Serena?“ Justins Stimme riss den finsteren Schleier, der sich um Serena aufgebaut hatte, entzwei. „Alles in Ordnung?“ Noch wie abwesend sah Serena ihn an. „Geht’s dir nicht gut?“, erkundigte sich nun auch Erik, der auf der anderen Seite neben ihr saß. Serena schüttelte den Kopf. Ihr Blick streifte nochmals die vierköpfige Gruppe, die mittlerweile aufgehört hatte zu lachen, und heftete sich dann auf das Aufgabenblatt. Erik versuchte den Anlass für Serenas Schockzustand auf der anderen Seite auszumachen. Großer Fehler! Scheue Blicke, hohes Kichern und Getuschel. Fluchtartig rückte Erik näher an Serena heran und legte seinen Arm auf die Rückenlehne ihres Stuhls. Immer noch halb abwesend sah sie ihn skeptisch an. „Selbstschutz.“, entgegnete Erik, was Serena eher verwirrte. „Was…?“, fragte sie. „Es wird getuschelt, wir beide wären zusammen. Wenn das so bleibt, kann ich vielleicht die Tussis von mir fern halten.“, erklärte er. Der ungläubige Ausdruck in Serenas Gesicht steigerte sich nochmals und bekam etwas bitter Bissiges. „So ein Quatsch. Niemand würde jemals glauben, dass du mit mir zusammen bist.“ Sie schüttelte den Kopf, als wäre das das Dümmste, das sie jemals gehört hatte. Nun war es Erik, der sie verständnislos anblickte. „Wieso denn nicht?“ Serena warf ihm einen zynischen Blick zu. „Warum wohl!“ Erik war mit dieser Antwort eindeutig unzufrieden. Er beugte sich herausfordernd zu ihr vor. „Also ich finde das nicht so abwegig.“ Serena schien es dieses Mal nicht einmal für nötig zu erachten, darauf zu antworten. „Du solltest mehr Selbstvertrauen haben.“, tadelte Erik sie. Serena rollte mit den Augen. Dann fühlte sie, wie Erik den Arm um ihre Schultern legte. „Hey, wenn du so schrecklich wärst, würde ich wohl kaum darauf bestehen, dass das Gerücht, dass wir zusammen sind, weiterbesteht!“ Serena stieß belustigt die Luft zwischen den Zähnen hindurch aus und lächelte spöttisch. „Du solltest aufpassen, sonst bild ich mir noch was drauf ein.“ Erik grinste zurück. „Ach, mir würde das weniger ausmachen, als jemand anderem.“ Seine Augen glitten kurz hinüber zu der Gruppe an der Fensterseite. Serena konnte nicht umhin, es ihm gleichzutun, und obwohl Amanda schnellstmöglich ihren Blick wieder abgewendet hatte, war ihrem Gesichtsausdruck doch noch deutlich die Wut über den Anblick von Serena und Erik anzusehen. Allerdings übersah Serena dabei etwas, das nun Ariane befremdet feststellen musste: Vitali hatte mit einem gruseligen Gesichtsausdruck begonnen, seinen Block in hektischen Bewegungen vollzukritzeln, dass der Abdruck sicher auf sämtlichen verbleibenden Blättern sichtbar sein musste, wobei er wie ein Irrer auf die Gruppe auf der anderen Zimmerseite fixiert war. Oder besser gesagt, zwei ganz bestimmte Personen dieser Gruppe. Vivien konnte sich daraufhin ein belustigtes Kichern nicht verkneifen. Serena ließ sich ausgestreckt auf ihr Bett fallen und starrte die Decke an. Sie hob noch einmal kurz den Arm, um an ihrer Armbanduhr die Uhrzeit zu überprüfen. Heute war erneut ein Training angesetzt. Dabei war sie gerade überhaupt nicht in der Stimmung, das Haus nochmals zu verlassen. Schon gar nicht um die anderen zu sehen. Ja. Sie wusste, dass es dumm war. Sogar sehr dumm. Aber sie konnte es nicht abstellen. All diese Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum! Serena begab sich in eine Sitzposition. Ihr Blick schweifte zur Seite, wo in einem Regal noch ihr altes Lieblingskuscheltier stand: Gizmo. Ein Mogwai genanntes plüschiges Wesen aus dem Film ‚Gremlins‘, dessen große Ohren entfernt an Fledermäuse erinnerten, und das sich bei falscher Pflege in einen grässlichen Gremlin verwandelte. Ihre Schwester hatte ihr Gizmo geschenkt, als sie noch nicht mal in der Schule gewesen war. Sie stand auf, ergriff Gizmo und setzte sich dann erneut auf das Bett, drückte den treuen Begleiter an sich. Das Lachen von Vitali, Vivien und Ariane kam ihr erneut in den Sinn. Auch ein Kopfschütteln half da nichts. Aber was hatte sie sich denn gedacht? Dass die anderen Amanda meiden würden wie die Pest, nur weil sie Probleme mit ihr hatte? Das hatte doch überhaupt nichts mit ihnen zu tun! Serena schaute zu Boden. Ihr gesamtes Leben hatte nichts mit ihnen zu tun. Sie waren Fremde. Es waren Personen, deren Gefühle und Gedanken sie nicht kannte, und die ihre Gefühle und Gedanken nicht kannten. Dass sie nett zu ihr gewesen waren, dass sie sie als Freundin bezeichnet hatten, war doch nur ihrem Pflichtgefühl entsprungen gewesen, weil auch sie zu den Beschützern gehörte. Nicht mehr und nicht weniger. Genau wie sie heute nett zu Amanda gewesen waren, weil sie eine gemeinsame Aufgabe bekommen hatten. Serena drückte Gizmo fester an sich und unterdrückte ein Schluchzen. Freundschaft war etwas, von dem sie nicht länger träumen durfte. Nie mehr. „Heute bilden wir Teams.“, verkündete Ewigkeit ihnen freudestrahlend. „Bild ich mir das ein oder hab ich das heute schon mal gehört?“, kommentierte Change. Unite lachte: „Es muss wohl gerade die ‚Bilden wir Gruppen’ – Saison angefangen haben!“ „Ja, man nennt es auch Gruppenzwang.“, scherzte Change. „Mit euren Kräften könnt ihr zwar langsam umgehen. Aber ihr solltet auf alles vorbereitet sein.“, erklärte Ewigkeit. Die fünf schienen ihr nur mit halbem Ohr zuzuhören. „Also: Wer mit wem?“, fragte Unite. „Bei fünf Leuten gibt es nicht so viele Möglichkeiten.“, antwortete Desire. Trust schlussfolgerte: „Eine Zweier- und eine Dreier-Gruppe.“ Unite überlegte kurz. „Dann bilden Change und Destiny ein Team!“ „Wieso das?“, beschwerte sich Destiny. „Wegen unseren Elementen!“, rechtfertigte sich Unite. „Wasser löscht Feuer, also kannst du nicht mit Desire in ein Team. Erde erstickt Feuer und Pflanzen verbrennen von Feuer, also scheiden Trust und ich auch aus. Aber Feuer braucht Luft zum Weiterleben. Also ist Change dein Partner!“ „Schicksal und Veränderung sind doch wohl Gegensätze!“, warf Destiny ein. Unite ignorierte schlichtweg ihren Einwand. „Hey, hör mir gefälligst zu!“, schimpfte Destiny. Unite drehte sich zu Ewigkeit. „Also, was müssen wir machen?“ Ewigkeit führte die Beschützer in den Trainingsbereich, wo nun ein großes viereckiges Spielfeld vorzufinden war und eine riesige Anzeigetafel, die aber nicht für einen Punktestand oder Ähnliches gedacht war, sondern eher wie eine Projektionsfläche aussah. „Ausweichtraining!“, rief Ewigkeit. „Was?“, Destiny schaute unwillig: „Es ist wichtig, dass ihr den Angriffen der Feinde ausweichen könnt. Also beschieße ich euch mit Energiekugeln.“ „Das klingt gefährlich.“, sagte Trust. Ewigkeit schaute verwundert. Trust erklärte: „Es soll keiner verletzt werden.“ Ewigkeit nickte. „Keine Angst. Man sieht den Schaden nur auf der Tafel.“ Sie deutete auf die Anzeigetafel über dem Spielfeld. Desire lächelte ihr Team an. „Klingt interessant.“ „Dann mal los!“, freute sich Unite. Unite, Desire und Trust stellten sich auf dem Spielfeld auf, unwissend was genau sie jetzt erwarten würde. Destiny und Change standen derweil am Rand und begutachteten, was auch ihnen in Kürze bevorstand. Ewigkeit war mit einem Mal für keinen der fünf mehr sichtbar und sie fragten sich schon, wo die Kleine abgeblieben war, als schlagartig eine handgroße Energiekugel aus dem Nichts geschossen kam. Die drei Spieler wichen ihr eilig aus, doch schon folgten zwei weitere Schüsse aus zwei anderen Richtungen, denen sie geschickt entgingen. Es zeigte sich, dass Trust, Unite und Desire äußerst wendig waren und somit den immer schneller und häufiger auftretenden Angriffen auf gekonnte Weise entronnen und einander halfen, wenn es notwendig war. Ihre Bewegungsabläufe waren kein bisschen tollpatschig oder ungelenk. Destiny bewunderte sie. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie sich schrecklich blamieren würde, wenn sie erst an der Reihe war. Die anderen waren so sportlich und begabt. Alles, was sie so gar nicht war. Traurig schlug sie die Augen nieder. Sie passte hier nicht dazu. Nach ein paar Minuten erklang ein Signalton, der das Ende des Durchgangs anzeigte. Erschöpft rangen die drei Beschützer nach Atem. „Das hat Spaß gemacht!“, lachte Unite überschwänglich. Desire stimmte in ihr Lachen mit ein und nickte Trust anerkennend zu. Ewigkeit erschien nun auch wieder auf der Bildfläche. Sie kicherte vergnügt und wies dann auf die Anzeigetafel. Diese zeigte das Bild von drei Körpern. Manche Stellen waren mit roter Farbe gekennzeichnet. „Je dunkler das Rot desto schwerer der Treffer und umso gefährlicher die Verletzung.“, erklärte Ewigkeit. Bei allen drei Figuren waren nur hellrote Stellen und somit leichte Blessuren zu erkennen. Ganz hatten die drei den Angriffen dann doch nicht entkommen können. Die drei lächelten einander an und verließen das Feld. „Super Leute!“, rief Change und hielt ihnen die Hand hin, die alle drei nacheinander abklatschten, sogar Trust, wenn auch zögerlich. Anschließend drehte sich Change kampflustig zu Destiny um. „Ha! Jetzt zeigen wir’s denen mal!“ Allerdings beunruhigte ihn Destinys entsetzter Gesichtsausdruck ein wenig. Die beiden stellten sich in die Mitte des Feldes. Change spähte in alle Richtungen, um den nahenden Angriff rechtzeitig zu entdecken. Mit weitaus weniger Elan ging Destiny an die Sache heran. Unsicher ließ sie ihren Blick umherschweifen und hoffte inständig auf ein rasches Ende dieses Horrortrips. Sie würde sich sowieso nur blamieren. „Vorsicht!“, rief Change, als die erste Energiekugel auf sie zukam. Destiny machte gerade noch im letzten Moment einen Schritt zur Seite. Doch schon folgte der zweite Angriff. Ehe Destiny noch begriff, was vorging, hatte Change sie am Arm grob zur Seite gerissen. „Hey!“, beschwerte sie sich. „Pass gefälligst besser auf!“, gab Change zurück. Destiny funkelte ihn böse an und wurde im gleichen Moment mit aller Kraft von ihm weggestoßen, sodass sie zu Boden fiel. Zwar hatte er sie dadurch vor einer weiteren Energiekugel bewahrt, aber Destiny empfand nicht gerade Dankbarkeit dafür. „Spinnst du?“, schrie sie. „Hinter dir!“, rief Change zurück. Die Attacke traf Destiny an der Schulter. „Steh auf!“, befahl Change ihr, doch das bewirkte eher das Gegenteil. Wütend blieb sie sitzen, was wiederum Change ärgerte. Weiteren Schüssen ausweichend, rannte er zu ihr und zog sie zurück auf die Beine, um sogleich ihren Kopf nach unten zu drücken, als eine Energiekugel über ihre Köpfe hinweg ging. Destiny reichte es. „Lass mich los!“, brüllte sie ihn an. „Dann streng dich halt mal an und beweg dich nicht wie ne Schildkröte!“, schimpfte Change und ließ von ihr ab. Sauer biss sich Destiny auf die Unterlippe. Konnte ihm doch egal sein! Bei den nächsten paar Angriffen bekam Destiny stets etwas ab. In einem echten Kampf wären ihre Glieder wohl schon abgetrennt worden. Und den Umstand, dass sie nicht schon vollkommen aus dem Spiel ausgeschieden war, hatte sie Changes ständigen Rufen, aus welcher Richtung die Angriffe kamen, zu verdanken. Er schien regelrecht davon besessen, dieses Spiel zu gewinnen – was auch immer das bedeutete. Seine Bemühungen machten Destiny einerseits schrecklich wütend, andererseits fühlte sie sich durch sie noch elender und nutzloser. Für Change war sie nur ein Klotz am Bein. Sie war einfach nur unfähig. Der Gedanke zog sie immer weiter runter und ihre Glieder fühlten sich noch schwerer an als zuvor. „Pass auf!“, erklang erneut Changes Rufen. Dieses Mal kam die Attacke direkt auf Destiny zu, aber sie registrierte es zu spät, als dass sie noch hätte ausweichen können. Im letzten Moment prallte etwas mit voller Wucht gegen ihre Seite und katapultierte sie aus der Schussbahn. Destiny landete unsanft auf dem Boden und erkannte, dass dieses Etwas Change gewesen war, der sich gegen sie geschmissen hatte. Noch bevor sie ihn anschreien konnte, ertönte eine Sirene. Das war nicht das Geräusch, das zuvor das Ende der Runde eingeleitet hatte. Eine metallene Stimme machte eine Durchsage: „Tödlicher Treffer.“ Als Destiny einen hastigen Blick auf die Anzeigetafel warf, erkannte sie, dass es nicht sie erwischt hatte, sondern Change. Als er sich gegen sie geworfen hatte, war er direkt in den Angriff gelaufen. Change stieß einen Fluch aus und kam wieder auf die Beine. Auch Destiny stand wieder auf und wandte sich dann ruckartig an Change. „Bist du bescheuert?!!“, kreischte sie ihn lauthals an. „Waaas?!“ Change fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Bescheuert bist doch wohl du! Kannst du nicht mal einem Angriff aus dem Weg gehen, der direkt auf dich zukommt!“ „Ist doch nicht dein Problem!“ „Du bist doch gestört! Wir üben für den Ernstfall!“, fuhr Change sie an. „Ja! Und dann wärst du tot!“, brüllte Destiny. „Wegen wem denn!“, donnerte Change. „Du stehst ja die ganze Zeit nur da und guckst dumm in der Gegend rum!“ Destiny ballte die Hände zu Fäusten. Erst glaubte Change, sie würde im nächsten Moment versuchen, ihm die Augen auszukratzen, dann bemerkte er, dass ihre Unterlippe zitterte, und war nun vollkommen verwirrt. „Ich kann es nicht! Okay?!“, schrie Destiny völlig aufgelöst. „Ich kann nicht gegen die Schatthen kämpfen! Ich kann keine Beschützerin sein!“ Sie rannte vom Spielfeld in Richtung der Zimmer, bis keiner sie mehr sehen konnte. „Verfluchte Scheiße!“, tobte Change und starrte zu den anderen, die das Ganze wortlos mitangesehen hatten. Dann rannte er mit einem Mal Destiny hinterher. Die anderen wollten ihnen nach, als Ewigkeit sich vor sie stellte. „Wenn sie ein Team sind, dann müssen sie das als Team klären.“ „Change und Destiny?“ Desire starrte sie entsetzt an. „Wir müssen sie eher davon abhalten, sich gegenseitig umzubringen!“ Trust sah fragend zu Unite. Diese schien im ersten Moment von Ewigkeits Idee genauso wenig überzeugt zu sein wie er und Desire. Sie atmete aus, als hätte sie die Luft angehalten. Dann hob sie locker die Schultern. „Irgendwann müssen sie wohl lernen, ihre Probleme selbst zu lösen.“ Desires Gesicht spiegelte ihre Fassungslosigkeit wider. Lächelnd fügte Unite daraufhin hinzu: „Wenn sie in zehn Minuten nicht zurück sind, sollten wir den Notarzt rufen.“ Destiny verließ eilig das Geheimversteck der Beschützer und wurde gleichzeitig wieder zu Serena. Sie wollte nur noch weg. Ganz weit weg. Ein wütender Aufschrei fuhr ihr in den Rücken: „Serena!“ Serena drehte sich nicht um. Sie wollte gerade wieder losrennen, aber im gleichen Moment wurde sie am Handgelenk gepackt und gewaltsam umgedreht. Schmerzerfüllt kreischte sie auf, aber Vitali ließ nicht von ihr ab. „Verdammt! Was sollte das heißen?“ Serena riss sich los, schwieg aber. „Was soll das heißen!“, schrie Vitali noch lauter als zuvor. Serena kämpfte auf einmal mit den Tränen. „Ich bin nicht so wie ihr! Ich bin nicht geschickt. Ich kann nicht irgendwelchen Angriffen ausweichen. Ich kann es einfach nicht! Ich kann keine Beschützerin sein!“ Vitali ließen die Worte ungerührt, als würde er auf eine bessere Erklärung warten. „Ich bin euch doch nur ein Klotz am Bein! Ich bin eine Versagerin!“, sprach Serena weiter. Vitalis Miene wurde noch finsterer als zuvor. „Ja! Du bist ein Klotz am Bein und du bist eine Versagerin! Weil du aufgibst, bevor du’s überhaupt versucht hast!“ Serena riss zornesentbrannt die Augen auf. „Was hast du schon für eine Ahnung, ob ich es versucht habe! Mein ganzes Leben war ich eine Niete in Sport! Niemand wollte mich in seinem Team haben! Egal wie sehr ich mich angestrengt habe, es ist einfach nie etwas dabei rausgekommen! Ich hab mich immer nur zum Idioten gemacht!“ In ihren Augen glitzerten Tränen auf. „Hast du es jemals wirklich versucht oder dir nur eingeredet, dass du es eh nicht kannst?“, spottete Vitali. Serena wurde nahezu hysterisch. „Mach dich nicht über mich lustig! Ich bin einfach ungeschickt! Ich bewege mich wie ein Trampel und falle bei jeder erdenklichen Gelegenheit hin! Und das hat nichts, rein gar nichts mit meiner Einstellung zu tun!“ „Na und?“, gab Vitali gereizt zurück. „Du tust gerade so, als wäre das dein Schicksal, an dem du nichts ändern kannst!“ „So ist es eben! Die einen werden sportlich geboren, die anderen sind einfach ungeschickt!“ „Du machst es dir ja sehr einfach! Dann brauchst du es gar nicht erst versuchen, nicht wahr?“ „Halt’s Maul!“, fauchte Serena. „Was verstehst du schon davon!“ „Ich weiß nur, dass du viel zu schnell aufgibst!“ „Verdammt, Vitali, es geht hier nicht um ein Spiel! Bald geht es um unser Leben! Und ich bringe dabei nicht nur mich, sondern euch alle in Gefahr! Das will ich nicht!“ Serena wandte den Blick ab. „Das will ich nicht…“ Vitali atmete geräuschvoll aus. „Ich blick’s nicht! Sonst bist du so dickköpfig und glaubst, alles besser zu wissen. Aber jetzt benimmst du dich wie ein verängstigtes Tier. Wo ist die Serena, die laut rumschreit und sich von niemandem etwas sagen lässt?“ „Das hat nichts miteinander zu tun!“, schimpfte Serena. „Das hat sehr viel miteinander zu tun! Nur weil das mal eine Sache ist, die du nicht sofort drauf hast, wirfst du gleich das Handtuch! Wovor hast du eigentlich Angst? Wir trainieren ja gerade weil es um unser Leben geht!“ „Hast du mir eigentlich zugehört? Das bringt bei mir nichts! Ganz egal wie viel ich trainiere!“ „Achso!“, höhnte Vitali. „Und jetzt willst du dich wahrscheinlich in eine Ecke verkriechen und dich selbst bemitleiden: ‚O ich Arme kann ja nichts‘. Heul, heul. Glaubst du das bringt dich weiter?!“ Mit aller Kraft stieß Serena ihn von sich. „Halt endlich die Klappe!“ „Du kannst nicht immer davonrennen, wenn dir etwas zu schwierig wird!“ Serena war mit einem Mal wie erstarrt. Der Satz hallte in ihrem Kopf: Du kannst nicht immer davonrennen! Die Worte hatte sie schon einmal gehört. Sie war auch davongerannt, als sie es in ihrer Klasse nicht mehr ausgehalten hatte. Damals hatte sie sich zuerst krank gestellt. Sie wollte nur noch weg, hatte schließlich die Schule gar nicht mehr besucht, sie war weggerannt. Tränen brachen sich Bahn, mit schriller Stimme schrie sie Vitali an: „Was weißt du schon! Was weißt du? Du weißt nichts über mich! Du weißt nicht, wie ich fühle! Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe! Es ging nicht mehr! Ich konnte nicht mehr!“ Ihre Beine gaben unter ihr nach. Verständnislos kniete Vitali zu ihr. „Findest du das nicht etwas übertrieben, nur wegen diesem blöden Simulationskampf?“ Verstört riss Serena die Augen auf und starrte Vitali leer an. Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst, dass er gar nicht das hatte meinen können, woran sie gedacht hatte! Ihr Gesichtsausdruck sprach so deutlich für sich, dass sogar Vitali es verstand. „Es geht gar nicht um die Simulation…“, hauchte er langsam. „Serena, was ist los?“ Serena stand schleunigst wieder auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Nichts!“ Sie wich Vitalis Blick aus. „Nichts... Ich habe nur zu wenig geschlafen. Das ist alles! Meine Nerven. Das ist alles.“ Vitali sprang auf. „Serena, wenn dir irgendwer was antut -“ „Nein!“, brüllte Serena ihn an. „Das ist es nicht!“ Er würde es nicht verstehen. Er konnte es nicht verstehen. Und Serena hatte auch nicht die geringste Lust, es ihm zu erklären! Gerade ihm! Es würde ihn ohnehin nicht interessieren. Niemanden würde es interessieren. Und jetzt glaubte Vitali wohl noch sonst was! „Es ist nichts!“, betonte Serena nochmals. „Ich habe bloß Kopfweh! Also denk dir verdammt noch mal nicht irgendwelche Horrorgeschichten aus!“ Vitali atmete geräuschvoll aus. Er warf den Kopf in den Nacken und gab ein Zischen von sich. „Tth. Vivien sagt immer, wir wären Freunde. Aber Freunde vertrauen einander.“ Serena wurde erneut aufbrausend. „Was willst du? Ich werde nicht geschlagen oder sonst was! Mir geht es fantastisch!“ Nun wurde auch Vitali wieder laut. „Hey!“, stieß er aus. „Ich hab keine Ahnung, was mit dir los ist! Aber wie denn auch? Du kapselst dich doch immer von allen ab! Keiner weiß, was du wirklich denkst!“ Serena kreischte. „Als würde euch das interessieren!“ Vitalis Augen wurden zu zwei Schlitzen, seine Züge hart. Giftig zischte er Serena an. „Du hast keine Ahnung von Freundschaft!“ Augenblicklich holte Serena zu einer Ohrfeige aus, aber Vitali wich problemlos aus. Als er in Serenas Augen sah, blitzten ihm Hass und Abscheu entgegen, getränkt in Tränen. Halb erstickte Worte drangen aus ihrer Kehle: „Was soll ich über etwas wissen, das es nicht gibt!“ Schockiert sah Vitali sie an. Diese Worte. Diese Reaktion… Die beiden standen sich schweigend gegenüber. Mit auf den Boden fixierten Augen verharrte Serena. Sie wollte weg. Aber wohin? Sie wartete darauf, dass Vitali sie endlich alleine ließ, aber der rührte sich genauso wenig von der Stelle. Serena wollte nichts mehr zu ihm sagen. Sie wollte nicht einmal mehr wegrennen. Sie wollte nur wie versteinert dastehen, ohne zu denken, ohne irgendetwas zu fühlen. Vitali wusste nicht, was er tun sollte, was er sagen sollte. Er war so wütend über Serenas Worte! Oder vielleicht vielmehr gekränkt? „Glaubst du das wirklich?“, wollte er wissen. Serena schwieg. Vitali biss die Zähne zusammen. „Warum hast du immer darauf gewartet, dass jemand dich in sein Team aufnimmt?! Warum hast du nicht dein eigenes gegründet? Man kann nicht immer darauf warten, dass andere den ersten Schritt machen!“ Serena ignorierte ihn. „Hey! Verdammt! Hörst du mir zu?“ Wieder kamen Serena Tränen und ein unheimliches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Freunden kann man nicht vertrauen.“ Vitali ballte seine Hände zu Fäusten. Vivien hätte Serena vermutlich irgendwie aufgeheitert. Ariane hätte sie getröstet, Justin hätte ihr gut zugesprochen und ihr wieder Hoffnung gemacht. Aber er… Er war so stinkwütend über Serenas Verhalten! Er konnte kein Mitgefühl für sie aufbringen! Doch ebenso wenig war er dazu fähig, sie alleine zu lassen. Aus diesem Grund ging er auch nicht die anderen holen. Aber wenn er nur daran dachte, wie bescheuert es doch von Serena war, noch immer nicht auf ihre Freundschaft zu vertrauen! Diese egoistische, dickköpfige, schwarzseherische Zicke! Sie vier hatten doch viel mehr Grund dazu, an Serenas Freundschaft zu zweifeln, als Serena Grund hatte, ihnen zu misstrauen! Wie bescheuert! „Serena, du bist ’ne blöde Kuh!“, rief er unüberlegt aus. „Du denkst immer nur an dich und deine Gefühle und überlegst gar nicht, was andere fühlen!“ Serena fuhr auf. „Das stimmt nicht!“ Sie funkelte ihn böse an, voller Bitterkeit. „Aber was bringt es, sich darüber Gedanken zu machen? Am Schluss wird man doch nur ausgenutzt.“ „Das ist das, was du denkst! Nur deine festgefahrene Einstellung! Und wenn du wirklich über die Gefühle von anderen nachdenken würdest, dann würdest du hier nicht so eine Schau abziehen!“ Serena bekam einen irren Blick. Der schrille Klang ihrer Stimme schmerzte in den Ohren. „Verschwinde doch endlich! Es geht dich doch einen feuchten Dreck an, wie ich mich fühle! Ich hab dich nicht drum gebeten, hier zu stehen! Ich will überhaupt nicht, dass du bei mir bist! Ich will auch nicht deine Partnerin sein! Ich will überhaupt nichts mit dir zu tun haben! Ich hasse dich! Hau ab!“ „Musst du mich immer unterbrechen?“, brüllte Vitali zurück. „Du dumme Ziege! Du kannst mich so viel hassen wie du willst! Ist mir doch egal! Alle reißen sich ’nen Arm für dich aus, damit es endlich in deinen sturen Dickschädel reingeht, dass sie deine Freunde sind, und du jammerst immer bloß, wie schrecklich die Welt ist, und dass man niemandem vertrauen kann, anstatt dass du einfach mal die Augen aufmachst! Hast du eigentlich schon mal drüber nachgedacht, wie es den anderen dabei geht, wenn du dich von allen abkapselst? Sie wissen nicht, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollen! Wenn sie dir zu nahe kommen, dann lässt du gleich die Kratzbürste raushängen! Und wenn sie dir Freiraum lassen, dann beschwerst du dich, dass sie sich nicht für dich interessieren! Mann, wie sollen sie dir denn zeigen, dass sie dich mögen? Du gibst ihnen ja nicht die kleinste Chance dazu! Weil du so auf deine schwarze Weltsicht fixiert bist, in der jeder ein potentieller Feind für dich ist!“ Sein Geschrei wurde zu einem grimmigen Grollen. „Aber eigentlich hast du Recht! Jemand, der sich so benimmt, der verdient gar keine Freunde. Denn zu einer Freundschaft gehören immer zwei. Aber du denkst nur daran, dass du verletzt werden könntest und nicht daran, dass du mit deinem Verhalten andere genauso verletzt. Aber das verstehst du ja nicht, weil du viel zu egoistisch dazu bist.“ Serena glaubte ersticken zu müssen. Der Druck auf ihre Kehle war zu groß! Sie rang panisch nach Luft, aber es nützte nichts! Dann erbrach sie die hysterischen, kurzen Schluchzer wie etwas, das ihre Luftröhre blockiert hatte. Vitalis Mund verformte sich zu einem dünnen Strich. Er schaute kurz von Serena weg. Schließlich sprach er in kapitulierendem Ton weiter: „Sie alle wollen mit dir befreundet sein. Du musst ihnen nur die Chance dazu geben.“ Doch Serenas Reaktion war anders als er es erhofft hatte. Mit einem Mal gab sie ein tränenersticktes zynisches Lachen von sich. „Du hast es doch gerade eben selbst gesagt! Ich verdiene keine Freunde. Ich bin keine liebenswerte, nette Person. Und ich kann niemand anderes sein als ich bin.“ Vitali konterte knallhart: „Du weißt doch gar nicht, wer du bist!“ Es herrschte kurze Stille. Seine Stimme wurde wieder ruhiger. „Hast du denn nie Freunde gehabt?“ Es war das Thema über das Serena nie mehr sprechen wollte. Nie mehr! Schon gar nicht mit Vitali. „Freunde…“, Sie hatte einen Kloß im Hals. „..lassen einen nur im Stich.“ Sie wusste nicht, warum sie das überhaupt sagte. Sie musste sich vor Vitali nicht rechtfertigen. Es ging ihn nichts an! Und Verständnis würde er ohnehin keines für sie haben. Wieder wurde es ruhig. Zunächst war Vitali ein weiteres Mal erzürnt über Serenas Antwort. Dann verstand er erst, dass sie damit nicht ihn und die anderen meinte, sondern die Freunde, die sie früher gehabt hatte. Und diese ‚Freunde‘ mussten die Ursache für ihr Verhalten sein. „Serena.“, begann er ungewohnt sachte. „Was ist passiert? Was haben die gemacht, deine ‚Freunde‘?“ Ein Zittern ging über Serenas Körper. Sie schwieg. In diesem Moment fiel es Vitali wieder ein: Amanda! Serena hatte gesagt, dass sie beste Freundinnen gewesen waren. „Amanda. Was hat Amanda dir getan?“ Schlagartig riss Serena ihre Hände hoch, bedeckte ihren Mund damit, aber auch so konnte sie das herzzerreißende Schluchzen nicht unterbinden, das sich seinen Weg aus den Tiefen ihres Herzens bahnte und Vitali in der Seele wehtat. Sie wollte sich gar nicht mehr beruhigen und Vitali musste hilflos zusehen, wie ihr ganzes Gesicht von Tränen benetzt wurde und die Pein ihren gesamten Körper zum Beben brachte. „Serena.“ Sie reagierte nicht. Was sollte Vitali jetzt bloß tun?! Er war ja schon als Kind damit überfordert gewesen, wenn sein kleiner Bruder geweint hatte! Nervös blickte er sich um. Verdammt! Warum kamen denn die anderen nicht, um nach ihnen zu suchen? Wieso ließen sie ihn hiermit alleine? Das ging doch nicht! Einen weiteren Moment wusste Vitali nicht, wie er reagieren sollte, starrte hilflos auf das Häufchen Elend vor ihm. Sein Gesicht verzog sich widerwillig, als ihm bewusst wurde, was das einzige Mittel war, das ihm einfiel. Das, was er als Kind schon bei Vicki eingesetzt hatte, wenn sämtliche sonstigen Versuche gescheitert waren, den Kleinen zu beruhigen. Das, was er Vicki verboten hatte zu erzählen, weil es ihm zu peinlich gewesen war. Noch einen letzten Atemzug brauchte Vitali, ehe er dazu bereit war. Er umarmte Serena. „Es.. Es tut mir leid. Ich wollte nicht…“ Vitali stockte und schluckte schwer. Unsicher drückte er Serena ein wenig fester an sich und fragte sich gleichzeitig, ob das auch wirklich eine gute Idee war. Er spürte Serenas Zittern, hörte ihr unkontrolliertes Schluchzen und verharrte in der Umarmung. Erst Augenblicke später wagte er, wieder das Wort zu ergreifen. „Ich bin bei dir… Ich bleib bei dir.“, flüsterte er ihr zu, wie er es schon bei Vicki getan hatte, als der Kleine wegen einem Albtraum zu ihm ins Bett geflüchtet war. Seine Stimme bekam einen belustigten Unterton. „Da kannst du noch so sehr wollen, dass ich verschwinde!“ Plötzlich spürte er, wie Serena seine Umarmung erwiderte. Davon zunächst etwas verdutzt, sprach er erst nach einem weiteren Moment weiter. „Tja, das hast du nun davon. Uns kriegt man nicht mehr so schnell los. Nicht mal mit deinem ständigen Rumgezicke.“ Langsam gewöhnte er sich an den Umstand, Serena in Armen zu halten. „Das haben echte Freunde nun mal so an sich. Und Vivien hat sowieso schon die Adoptionspapiere für dich beantragt.“ Das Geräusch, das Serena von sich gab, war nicht ganz klar als Lachen oder Schluchzen zu definieren, Vitali ging davon aus, dass es sich um eine Mischung aus beidem handelte. Nach und nach legte sich nun Serenas Zittern und Schluchzen. Als Stille eingetreten war, wusste Vitali nicht, was als nächstes zu tun war. Unfähig zu reagieren, verblieb er weitere Momente in dieser Stellung. Dann, ganz langsam und zögerlich lösten er und sie sich wieder voneinander. Mit einem Schlag war die ganze Situation noch viel peinlicher als sie es eben noch gewesen war, als sie sich mittendrin befunden hatten. Total verlegen vermieden die beiden es, den anderen anzublicken. Schweigend standen sie einander gegenüber und getrauten sich nicht, etwas zu sagen. Schließlich streckte Vitali Serena eine Packung Taschentücher hin. Ohne Kommentar nahm sie das Angebot an und putzte sich mehrmals lautstark die Nase. Weiterhin sahen sie einander nicht an. Das Schnupfkonzert endete und Serena füllte die mittlerweile leere Taschentuchpackung mit den benutzten Taschentüchern und stopfte sie in ihre Jackentasche. „Danke.“, flüsterte sie so leise, dass man es nicht verstand. Vitali machte ein paar Versuche, einen Ton herauszubekommen, brach dann aber jedes Mal kurz vorher ab. Immerhin gelang es ihm, Serena für einen Moment anzusehen, ehe er sich wieder abwendete. Er schnappte nach Luft. „Die anderen machen sich sicher schon Sorgen.“, fing er endlich an und versuchte besonders unbekümmert zu klingen. „Wer weiß, was sich Vivien in der Zwischenzeit mal wieder für Geschichten ausgedacht hat!“, lachte er, auch wenn es furchtbar aufgesetzt klang. Serena nickte. Stockend brachte sie erste Worte hervor. „Ich werd’s versuchen.“ Vitali sah sie verständnislos an. „…zu vertrauen.“ Mit diesen Worten machte sie sich auf den Weg zurück in das Hauptquartier der Gleichgewichtsbeschützer. „Serena?“ Sie stoppte. „Wirst du es mir irgendwann erzählen? Was zwischen euch passiert ist?“ Für einen kurzen Moment drehte sie sich zu ihm um und sah ihn an, dann wandte sie sich wieder ab. „Wer weiß.“ Daraufhin kam Vitali zu ihr gejoggt und hielt ihr seine Faust hin, wie er es sonst bei Erik und Justin tat. „Freunde?“ Unsicher betrachtete Serena die Geste, blickte ungläubig in Vitalis Gesicht und zurück auf die ihr entgegengestreckte Faust. Langsam erhob sie ihre Rechte und ballte sie ebenfalls. Noch einen Moment zögerte sie, ehe sie ganz sachte ihre Faust gegen die seine schlug. „...Freunde.“ Vitali strahlte sie nun über das ganze Gesicht an: „Willkommen im Team!“ Kapitel 39: Drei Tage, eine Ewigkeit ------------------------------------ Drei Tage, eine Ewigkeit „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ (Antoine de Saint-Exupéry in Der kleine Prinz, franz. Schriftsteller u. Flieger) Noch drei Tage bis zur Kunstausstellung, auf der die fünf auf Finster treffen und vielleicht Informationen erhalten würden, die sie des Rätsels Lösung näher brachten. Aber was noch viel wichtiger war: Noch drei Tage bis zum Wochenende! Obwohl eigentlich ausgemacht gewesen war, dass sie täglich trainierten, mussten sie diese Idee bald verwerfen. Zum einen aufgrund der Flut an Hausaufgaben, mit denen die Lehrer sie bombardiert hatten, und zum anderen, weil ihre Eltern teilweise alles andere als begeistert waren, dass ihre Kinder kaum noch zu Hause waren, genauer gesagt Serenas Mutter. Mit dieser Entwicklung wiederum war Ewigkeit unzufrieden. Das Schmetterlingsmädchen konnte beim besten Willen nicht verstehen, wieso die mathematische Mengenlehre bedeutender sein sollte als die Zukunft der Welt! Als die Beschützer mittwochs nicht zum Training erschienen – wie sie es Ewigkeit auch zuvor mitgeteilt hatten – machte die Kleine sich also auf, die Auserwählten erneut auf die Wichtigkeit ihrer Mission hinzuweisen. Nacheinander erschien sie bei jedem von ihnen und mahnte, dass konsequentes Training unerlässlich sei. Die fünf vertrösteten sie damit, dass sie immerhin zu Hause an ihrer Konzentration üben würden und versuchten, ihr die Problematik klar zu machen. Schließlich mussten sie Familie, Schule und ihr Training unter einen Hut bringen. Von Freizeit konnten sie nur noch träumen. Ewigkeit war empört. Das hörte sich ja an wie eine Verschwörung der Feinde gegen sie! Eindeutig! Das musste ein Komplott sein! Die Lehrer der fünf standen sicher unter dem Einfluss der Schatthenmeister! Vitali pflichtete ihr zwar voll und ganz bei, aber schien nichts dagegen unternehmen zu wollen. Und so entschied sich Ewigkeit – ohne das Wissen der Auserwählten – Nachforschungen anzustellen. Es war am Donnerstagmorgen in der Pause. Justin betrachtete gerade den Stundenplan, als ihn ein unterdrückter Schreckenslaut von Ariane aufhorchen ließ. Nachdem er ihrem Blick gefolgt war, konnte er nachfühlen, was sie dazu bewegt hatte. Direkt vor der ganzen Klasse, oberhalb des Lehrerpults war mit einem Mal Ewigkeit erschienen. Ebenfalls von Arianes seltsamem Laut aufgeschreckt sah Erik verwirrt zu ihr hinüber. Ariane bedeckte mit der Hand ihren Mund und stierte wie die anderen fünf gebannt nach vorne. Daraufhin blickte Erik auf die Tafel, als habe dort jemand eine geheime Botschaft hinterlassen, die er bisher übersehen hatte. Doch zwischen dem Matheaufschrieb konnte er beim besten Willen keine Besonderheit feststellen. Da war nur die altbekannte Aneinanderreihung an Zahlen und mathematischen Symbolen. Justin war der erste, der es wagte, seine Augen von Ewigkeit abzuwenden. Vorsichtig machte er einen Rundumblick, um die Reaktionen seiner Klassenkameraden zu prüfen. Glücklicherweise hatte die Mehrzahl am Anfang der Pause das Klassenzimmer verlassen und die Verbliebenen schienen die Anwesenheit des Schmetterlingsmädchens nicht wahrzunehmen, zumindest bisher nicht. Dann schnellte sein Blick zu Erik. Zu Justins Schrecken war Erik genauso wie sie auf das kleine Mädchen fixiert! Plötzlich sprang Vivien auf und spurtete an die Tafel. Sie stellte sich direkt vor Ewigkeit, wodurch sie sie mit ihrem Körper verdeckte, und rief dann freudig aus: „Wer hilft mir die Tafel zu putzen!“ „Du hast nicht Tafeldienst.“, entgegnete Erik argwöhnisch. Stand dort vielleicht doch etwas, das niemand sehen sollte? „Ach, man kann seinen Klassenkameraden doch mal einen Gefallen tun!“, erwiderte Vivien. Sie drehte sich auf den Zehenspitzen zur Tafel hin und für Erik sah es einen Moment danach aus, als schnappe sie nach etwas in der Luft,. Dabei war dort nichts. Die Hände so gehoben, als umschließe sie etwas, drehte Vivien dann den Oberkörper halb zurück zu Erik und lächelte ihn an. „Aber alleine macht es keinen Spaß!“ „Spaß?“ Erik gab seiner Stimme einen zweiflerischen Klang. Plötzlich hörte er ganz leise etwas wie ein Glockenspiel und sah sich suchend um. „Tja, dann eben nicht.“, sagte Vivien und wandte sich zur Tür. „Ich geh auf die Toilette!“ „Wir gehen mit!“, stimmte Ariane ein. Sie und Serena sprangen auf und wollten gerade mit Vivien hinausstürmen, als auch Vitali und Justin von ihren Plätzen auffuhren. „Wir auch!“ Die fünf stoppten in ihrer Bewegung. Entgeistert drehten sich Ariane und Serena zu Vitali. Hatte er da gerade gesagt, dass Justin und er mit ihnen auf die Toilette gehen wollten? Vitali zog den Kopf ein. Verdammt! Das hatte man davon, wenn man losredete, bevor man nachgedacht hatte. Wie in Zeitlupe drehte er sich zu Erik um. Dessen Gesichtsausdruck gab ihm deutlich zu verstehen, dass er das Ganze mehr als verdächtig fand. „Er meint, wir gehen auch raus.“, versuchte Justin zu korrigieren. Zaghaft schlichen die Jungs von ihren Plätzen, doch schon hörten sie einen weiteren Stuhl sich verschieben und mussten mit Entsetzen feststellen, dass auch Erik sich erhoben hatte. „Ich komme mit.“ Mit hinterhältigem Lächeln fügte er hinzu: „Oder wollt ihr lieber alleine sein?“ Gerade wollte Vitali etwas erwidern, als Justin zu ihm gesprungen kam und ihm zuvor kam. „Wieso sollten wir?“ Hinter seinem Rücken gab Justin den Mädchen das Zeichen zu verschwinden, dem diese auch sofort Folge leisteten. Eriks Augen glitten zu den sich wegstehlenden Mädchen. In diesem Moment erklang die Pausenglocke. „Jetzt müsst ihr wohl doch warten.“, meinte Erik leicht gehässig. „Geht nicht! Es ist dringend!“, rief Vivien und stürmte davon, Serena und Ariane hinterher. Im nächsten Moment ließ sich Erik wieder auf seinen Stuhl sinken. Dabei behielt er Vitali und Justin im Auge. Gezwungenermaßen setzten die beiden Jungs sich wieder. Doch immer noch durchbohrte Eriks Blick sie. So als wolle er sie damit psychisch zermürben bis sie ihm freiwillig ihr Geheimnis verrieten. Justin und Vitali vermieden es, Erik in die Augen zu sehen. Selbst wenn sie sich dadurch noch verdächtiger machen sollten, Erik direkt anzublicken, ohne dass er bemerkte, dass etwas im Busch war, war ganz unmöglich. Also unterließ man es besser. Bisher hatte nur Vivien es geschafft, ihm etwas vorzugaukeln. Aber dieses Mal würde es wohl auch ihr nicht gelingen, sein Misstrauen so einfach zu zerstreuen. „Herr Mayer kommt oft etwas später.“, äußerte sich Justin, um die Stimmung wieder etwas zu lockern. „Hm.“, gab Erik von sich, und obwohl Vitali und Justin ihn noch immer nicht ansahen, wussten sie genau, dass er sein selbstsicheres und rätselhaftes Lächeln aufgesetzt hatte. Mit einem Mal kam ihnen Erik vor wie ein Jagdtier, das nur auf den Moment wartete, in dem seine Beute einen falschen Schritt machte. Und diese Beute waren sie! Aber das Schlimmste war, dass Erik offensichtlich nicht den geringsten Zweifel daran hatte, dass er seine Beute bekommen würde. „Was tust du hier?!“ Ariane bemühte sich, ihren aufgebrachten Ton zu drosseln. Die drei Mädchen hatten sich samt Ewigkeit in eine dunkle Ecke des Aufenthaltsraums im Keller verzogen. Auf der Mädchentoilette war das Risiko, von jemandem gehört zu werden, zu groß. „Ich muss eure Lehrer überprüfen!“, entgegnete Ewigkeit freimütig. Sie schien den Tumult, den die fünf um ihr Auftauchen machten, keineswegs zu verstehen. „Wenn dich jemand sieht!“, fauchte Serena sie an. „Es ist wichtig!“, beharrte Ewigkeit wie ein kleines Kind – was sie, wenn man es genau besah, auch war. „Was soll das heißen: Unsere Lehrer überprüfen?“, wollte Ariane wissen. „Sie sind sicher von den Lichtlosen besessen! Verändern hat mir schlimme Dinge von ihnen erzählt! Er ist der gleichen Meinung wie ich.“ Lichtlose? Noch immer waren sie nicht daran gewöhnt, dass die kindliche Ewigkeit sie mit ihren deutschen Beschützernamen ansprach. Nie rief die Kleine sie bei ihren normalen Namen und auch das englische Äquivalent für ihre verwandelte Form mochte sie nicht verwenden. Eisern hielt sie an Schicksal, Verändern, Vereinen, Vertrauen und Wunsch fest. Serena ballte die Hände zu Fäusten. „Vitali!“, knurrte sie. „Ich bring ihn um!“ Vivien kicherte fröhlich und sah Ewigkeit liebevoll an. „Lehrer sind nicht wirklich böse, sie tun nur so. Dass ist damit die Schüler nicht über sie herfallen.“ Ewigkeit schürzte ungläubig die Lippen. „Sie sind gar nicht alle so schlimm.“, stimmte Ariane zu. „Manche sind auch richtig nett.“ Nach diesem Kommentar funkelte Ewigkeit sie an. „Das heißt also, dass manche unnormal garstig sind!“ Ariane gestikulierte wild mit den Armen. „Nein! So habe ich das nicht gemeint!“ Plötzlich lächelte Ewigkeit versöhnlich. „Wenn ihr meint, dass sie nichts zu verbergen haben, dann wird es euch nichts ausmachen, wenn ich sie mir näher anschaue.“ Ehe die drei noch etwas antworten konnten, war Ewigkeit aus Viviens Händen verschwunden. Herr Mayer betrat das Klassenzimmer, begrüßte die Klasse mit einem kurzen „Morgen!“ und legte seine Aktentasche auf dem Lehrerpult ab. Anschließend sah er missbilligend auf die drei leeren Plätze an der Wandseite. „Was ist denn da los? Sind die zusammen auf Shoppingtour oder was ist das?“ „Sie kommen gleich.“, versicherte Justin, dann riss er entsetzt die Augen auf. Verwundert über die Reaktion des Jungen, drehte sich Herr Mayer um und erkannte, dass die Tafel nicht gewischt worden war. „Du bist Klassenordner?“, vermutete er. Justin schüttelte, immer noch halb abwesend, den Kopf. „Auf alle Fälle muss die Tafel gewischt werden. Wenn so was noch mal vorkommt, wird eine Woche drangehängt. Also wer ist Klassenordner?“ Als Herr Mayer sich umsehen wollte, erkannte er, dass auch der Junge neben Donner Junior, einen schockierten Gesichtsausdruck hatte. Daraufhin wandte der Wirtschaftslehrer sich erneut der Tafel zu und erwartete, eine Beleidigung gegen einen Kollegen oder ihn selbst oder eine schweinische Zeichnung vorzufinden. Dem war aber nicht so. Verwirrt drehte er sich wieder um. „Also wer ist Klassenordner?“ Die Mädchen in der vierten Reihe an der Fensterseite meldeten sich. „Dann macht mal.“, forderte Herr Mayer sie auf. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und drei fehlenden Mädchen kamen hereingestürmt, die im gleichen Moment wie angewurzelt stehen blieben und ihn fassungslos anstarrten. „Zu spät gekommen wird nicht! Klar?“ Immer noch mit aufgerissenen Augen nickten die drei, machten aber nicht den Anschein, sich setzen zu wollen. Langsam wurde das Herrn Mayer unheimlich. Unwillkürlich blickte er an sich herab, um sicherzustellen, ob er nicht einen riesigen Fleck auf dem Hemd oder – noch schlimmer – versehentlich den Hosenladen offen stehen hatte. Nichts dergleichen war der Fall. Herr Mayer sah wieder auf. „Na wird’s bald! Auf eure Plätze!“, befahl er. Die drei folgten langsam der Anweisung, ließen ihn dabei aber nicht aus den Augen. Diese Jugendlichen heutzutage… Wie die Jungs zuvor mussten Vivien und die anderen beiden nun hilflos mitansehen, wie Ewigkeit hektisch um Herrn Mayer schwirrte, um vielleicht irgendeine Auffälligkeit auszumachen. Als dies alles kein Ergebnis brachte, ging die Kleine zu härteren Maßnahmen über, während sich Erik ernsthaft fragte, ob ein Pfeifen im Ohr sich ebenso gut als ein Klingeln äußern konnte. Erneut musste sich Ariane den Mund zuhalten, um nicht aufzuschreien, als Ewigkeit im nächsten Moment gegen Herrn Mayers Nase schlug. „Au!“ Reflexartig schnellte Herrn Mayers Hand zu seiner Nase, womit er unwissentlich Ewigkeit verscheuchte, zumindest kurzzeitig. Seine Schüler warfen ihm skeptische Blicke zu. Peinlich berührt räusperte sich der Lehrer, setzte sich hin und schlug sein Wirtschaftsbuch auf. „Heute machen wir ein paar Übungsaufgaben.“, kündigte er an. „Seite siebenundsechzig.“ Den Moment, in dem nun alle ihre Bücher hervorholten und aufschlugen, nutzte Justin, um Vivien etwas zuzuflüstern: „Wir müssen sie irgendwie aufhalten!“ Vivien lächelte ihn entspannt an. „Wir sollten sie einfach ignorieren.“ Ohne weiteren Kommentar wandte sie sich dem Wirtschaftsbuch zu, das Justin in die Mitte zwischen ihnen gelegt hatte. Verständnislos sah Justin sie an. Und er hatte geglaubt, dass zumindest ihr irgendeine Idee kommen würde, wie sie Ewigkeit von weiteren Dummheiten abhalten konnten! Dann sah er, wie Vivien ein Papierstück von ihrem Collegeblock abriss und beschriftete. Sie formte daraus eine Papierkugel und schnipste sie nach vorne auf den Tisch der Mädchen. Heimlich entknüllte Ariane den Zettel und zeigte ihn Serena. Es standen nur zwei Worte darauf. Ignoriert sie! Zweifelnd schaute Serena nach hinten zu Vivien. Wie immer lächelte diese nur. „Gibt es irgendwelche Probleme, Serena?“, sprach Herr Mayer sie an. Schnurstracks drehte sich Serena wieder nach vorne. „Nein, nein.“ Als sie Ewigkeit abermals um Herrn Mayer schwirren sah, senkte sie eilig den Blick. „Dann fang mal an.“, forderte Herr Mayer sie auf. Ehe Serena dem nachkommen konnte, musste sie erst einmal schauen, worum es überhaupt ging. Sie sollte zu einem angegebenen Geschäftsvorfall den Buchungssatz bilden. „Wieso habt ihr nur ein Buch?“, beschwerte sich Herr Mayer, als es ihm zu lange dauerte. „Es ist doch unnötig, dass zwei das gleiche Buch mitschleppen.“, antwortete Vivien an Serenas Stelle. „Man macht einfach aus, wer an welchem Tag welches Buch mitbringt.“, erklärte sie. Dabei sah sie den Wirtschaftslehrer direkt an, und verzog, trotz Ewigkeits Attacke auf dessen Haarschopf, keine Miene. Herr Mayer gab ein tolerierendes Geräusch von sich und wartete dann auf Serenas Lösung, die auch prompt kam. Nachfolgend versuchten sie ihr Bestes, sich nicht von Ewigkeit aus der Ruhe bringen zu lassen. Auch Vitali, dem niemand Bescheid gegeben hatte, passte sich schnell der Verhaltensweise der anderen an und schenkte Ewigkeit keine weitere Beachtung mehr. Nur Erik konnte das Glockengeräusch einfach nicht aus dem Kopf kriegen und Herr Mayer fragte sich, warum er heute bloß so oft ein Pieksen verspürte. So ging das eine ganze Weile, in der die fünf nicht aufblickten und Ewigkeit somit keine Zuschauer mehr hatte. Bald war das Schmetterlingsmädchen es leid, diesen Lehrer zu testen. Wäre er ein Lichtloser, so hätte sie es gleich gespürt. Wäre er besessen, so hätte zumindest der Hautkontakt mit ihm bei ihr eine Reaktion hervorrufen müssen, aber auch das trat nicht ein. Und zu allem Überfluss zeigten die Auserwählten keinerlei Interesse an ihren Bemühungen! Ewigkeit seufzte und schwebte hinauf zur Tafel, wo eine Halterung für Karten angebracht war. Auf dieser ließ sie sich nieder und beobachtete die fünf Beschützer, wie sie eifrig seltsame T-förmige Gebilde aufzeichneten, in die sie irgendwelche Zahlen eintrugen. Wie albern! Beleidigt zog Ewigkeit ihre Beine an sich. Die Beschützer hätten zumindest dankbar sein können, dass sie sich Sorgen um sie machte! Aber sie war ihnen völlig egal… Noch eine Weile saß Ewigkeit unglücklich da und beobachtete die Auserwählten. Dann erst bemerkte sie den schwarzhaarigen Jungen, der neben Verändern, sprich Vitali, saß. Sie ließ ihre Beine wieder von der Kartenhalterung baumeln und betrachtete ihn genauer. Interessiert beugte sie sich weiter vor und wäre fast heruntergefallen – was, aufgrund ihrer Fähigkeit zu schweben, auch keinen Weltuntergang dargestellt hätte. Die Erscheinung des Jungen ließ ihr keine Ruhe. Sie musste näher heran! Ewigkeit stieß sich von der Kartenhalterung ab und schwebte vorsichtig hinüber zu dem Schwarzhaarigen. Sie schlug nicht den direkten Weg ein, sondern umflog in einer weiten Bahn Vitali, um dann hintenherum zu Erik zu gelangen. Erik horchte auf, als sie hinter ihm war, woraufhin sie kurz inne hielt. Anschließend tänzelte sie grazil durch die Lüfte, nahm einen Sicherheitsabstand zu ihm ein und betrachtete ihn eingehender. Als ihr Blick langsam an seiner Gestalt hinabglitt, durchfuhr ihren Körper plötzlich ein Schlag. Es war nur ein Moment, in dem ihr Herzschlag ihren ganzen Körper erfasst hatte und durchschüttelte. Für diesen Augenblick war ihr schwarz vor Augen geworden. Dann klärte sich ihr Blick wieder und sie sah erneut Eriks linken Oberarm vor sich. Erschrocken wich Ewigkeit zurück und wäre dabei fast an einen anderen Schüler gestoßen. Was hatte das zu bedeuten?! Sie riss sich zusammen und näherte sich erneut der verdächtigen Person. In der nötigen Entfernung schwebte sie um die Bank. Ein Sonnenstrahl, der durch eines der Fenster fiel, badete ihre Gestalt in goldenes Licht. Von dem erneuten Glockenspiel irritiert, schaute Erik auf. Im gleichen Moment blieb Ewigkeit in der Luft stehen, noch immer in den Schein der Sonne gehüllt. Eriks Blick fiel direkt auf die Stelle, an der Ewigkeit verharrte. Das Schmetterlingsmädchen hielt den Atem an, dabei hatte es doch die Erfahrung gemacht, dass es von niemandem gesehen wurde. Aber die grünblauen Augen des Jungen machten den Eindruck, als könnten sie alles durchdringen, wenn sie nur wollten. Plötzlich spiegelte sich Unglaube auf seinem Gesicht wider. Erschrocken schlug Ewigkeit unwillkürlich mit ihren Flügeln. Und schon weiteten sich Eriks Augen. Erik blinzelte ein paar Mal. Er musste fantasieren! Hatte er nicht eben etwas im Sonnenlicht schimmern gesehen? Etwas, das ihn ungewollt an eine Elfe oder Fee erinnerte. Er schloss die Augen und fuhr mit Daumen und Mittelfinger seine Augenhöhlen nach. Anschließend zwang er sich, wieder auf seinen Block zu sehen. Ewigkeit atmete erleichtert auf, getraute sich nun aber doch nicht mehr näher an den Jungen heran. In einem weiten Bogen flog sie hinüber zu Vereinens alias Viviens Tisch. Zögernd landete sie auf diesem und tapste unschlüssig zum Schreibblock der Beschützerin. Vivien blickte noch immer nicht zu ihr. Alsdann hüpfte Ewigkeit auf den Collegeblock, legte ihren Kopf zur Seite und sah Vivien mit großen Kulleraugen an. Doch auch das nützte nichts. Ewigkeit ließ die Flügel hängen und seufzte bekümmert. Plötzlich schreckte sie auf. War es möglich, dass die Auserwählten sie tatsächlich nicht mehr sehen konnten? Ja! Vielleicht lag es an diesem seltsamen Jungen! Oder an dieser Schule! Aber vorher hatten sie sie doch gesehen! Ewigkeit hielt sich verwirrt den Kopf. Was sollte sie nur tun, um die Beschützer von diesem schrecklichen Fluch zu befreien! Im nächsten Moment blätterte Vivien mit einer raschen Bewegung die Blockseite um, auf der Ewigkeit immer noch stand. Das Schmetterlingsmädchen wurde dadurch nach links auf die Tischkante geschleudert, ohne dass Vivien dem auch nur die geringste Beachtung geschenkt hätte. Ungerührt ging sie weiter ihrer Aufgabe nach. Ewigkeit rappelte sich wieder auf. Mit weit nach vorne geschobener Unterlippe saß sie da und war den Tränen nahe. In stillem Elend schlug sie ihre Augen nieder. Wenn die Beschützer sie nicht mehr sehen konnten, dann war sie jetzt vollkommen allein. Dabei entging ihr, dass Justin einen kurzen Moment mitleidig auf sie blickte. Justin fragte sich, ob Vivien nicht zu weit ging. Andererseits hatte Ewigkeit tatsächlich damit aufgehört, Herrn Mayer zu attackieren und wie es schien, hatte sie nun auch keine große Lust mehr, weitere ihrer Lehrer zu belästigen. Aber irgendwie tat sie ihm trotzdem leid, wie sie so da saß. Erst jetzt kam ihm in den Sinn, wie einsam sich die Kleine fühlen musste, wenn sie den ganzen Tag alleine im Hauptquartier der Beschützer saß. In seinem Augenwinkel sah er, wie Vivien mit Bleistift etwas auf das Blatt des Blockes schrieb, von dem sie schon zuvor eine Ecke abgerissen hatte. Er beugte sich ein wenig zur Seite und las: Wirst du jetzt auch schön brav sein? Vivien riss das Stück des Blattes ab und ließ es dann wie beiläufig vor das Schmetterlingsmädchen fallen, wobei Justin sich fragte, wie Vivien auf die Idee kam, dass die Kleine lesen konnte. Ewigkeit sah überrascht auf. Aber Vivien schaute weiterhin nicht zu ihm. Infolgedessen begutachtete Ewigkeit unsicher das Stück Papier vor sich. Tatsächlich verstand sie die Worte darauf, auch wenn sie nicht sagen konnte, wo sie das Lesen gelernt hatte. Mit Tränen in den Augen schaute sie nochmals auf. Konnten die Beschützer sie doch noch sehen? Was für ein warmes Lächeln es war, das Vereinen (Vivien) ihr jetzt endlich wieder zeigte! Ewigkeit konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Vivien legte sich den Zeigefinger auf die Lippen und ließ ein weiteres Stück Papier vor Ewigkeit fallen: Wir reden später. Mit einer flüchtigen Bewegung zeigte Vivien dem Schmetterlingsmädchen an, es solle auf ihren Kopf fliegen. Noch immer mit den Tränen kämpfend, tat Ewigkeit wie ihr geheißen worden war und vergrub sich in das orangefarbene Haar, das links und rechts von zwei schmetterlingsförmigen Spangen gehalten wurde. Anschließend bemerkte sie, dass auch Vertrauen (Justin) sie liebevoll anblickte und ein warmes Gefühl kam in ihrem Inneren auf. Bis zum Ende der Wirtschaftsdoppelstunde blieb Ewigkeit friedlich auf Viviens Kopf sitzen. Beinahe wäre sie eingeschlafen, als ein seltsames Geräusch sie auffahren ließ. Die Menschenkinder allerdings mochten diesen Laut offensichtlich, denn sie entspannten sich mit einem Mal. Herr Mayer gab denjenigen, die mit den Aufgaben nicht fertig geworden waren, auf, diese zu Hause zu erledigen. Schließlich verließ er das Klassenzimmer. Die anderen drehten sich nun wissbegierig zu Vivien. Sie hatten schon während der Stunde entdeckt, dass Ewigkeit sich bei ihr befand und offensichtlich nicht vorhatte, ihnen weitere Scherereien zu machen. Aber wie war es nun dazu gekommen? Aufgrund von Eriks Anwesenheit konnten sie keine Fragen stellen. Zwar hatten sie nach der Pause Religion, beziehungsweise Ethik, was bedeutete, dass sie von Erik getrennt waren, aber bis die Pause vorbei war, würde er sich nicht von der Stelle rühren und dann mussten sich auch die fünf voneinander trennen. Endlich ergriff Vivien das Wort: „Wisst ihr was meine kleinste Schwester angestellt hat?“ Die anderen sahen Vivien verwundert an. Sie waren in dieser Situation nicht wirklich an irgendeiner Familiengeschichte interessiert. Nur Justin ließ der Satz von Vivien aufhorchen. Vivien hatte nur eine kleine Schwester. Also wieso ‚kleinste‘? „Als wir allein zuhause waren, hat sie ständig irgendwas angestellt und mich von allem abgehalten. Ich konnte nicht lernen, ich konnte nicht lesen, nicht fernsehen, gar nichts! Ihr ist immer was Neues eingefallen, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bis es mir zu bunt wurde und ich sie einfach ignoriert habe. Zuerst hat sie dann weiter versucht, mich auf die Palme zu bringen, aber als das nichts genützt hat, wurde es ihr zu langweilig. Dann ist sie auf einmal zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich nicht mit ihr spielen will. Aber ich war sauer und hab sie weiter ignoriert. Also ist sie traurig abgezogen. Dann hab ich sie noch ein bisschen schmoren lassen und bin schließlich zu ihr ins Zimmer gegangen. Sie hatte mittlerweile angefangen zu heulen, denn eigentlich hatte sie nur gewollt, dass ich für sie da bin. Ich bin dann zu ihr hin und meinte: ‚Du hättest einfach sagen müssen, dass ich mich um dich kümmern soll, anstatt so einen Zirkus zu machen.‘ Und plötzlich entschuldigte sie sich und fiel mir um den Hals.“ Vitali sah Vivien ungläubig an. Er war der einzige, der nicht verstanden hatte, dass Vivien mit dieser Geschichte Bezug auf Ewigkeits Verhalten genommen hatte. Allerdings konnten auch die anderen nicht sagen, ob es sich dabei nun um eine bloße Erfindung Viviens handelte oder ob sich etwas Entsprechendes wirklich zugetragen hatte. „Es ist ja wohl eine bescheuerte Idee, durch so etwas Aufmerksamkeit erregen zu wollen.“, kommentierte Erik. Vitali sah ihn daraufhin geradezu beleidigt an. Offensichtlich hatte er sich auch schon solche Ausrutscher geleistet. „Manchmal geht es halt nicht anders.“, murrte er. „Es ist doch wirklich so, dass die Leute einen meistens nur dann beachten, wenn man was Dummes macht.“ Erik ließ ihm einen ungläubigen Blick zukommen. „Toll.“, höhnte er. „Dann schreien sie dich an.“ „Dann bemerken sie einen wenigstens!“, maulte Vitali. „Aber das versteht so ein verwöhntes Einzelkind wie du eben nicht.“ Als hätte Vitali die jähe Veränderung in Eriks Ausstrahlung gespürt, nahm er ihn nochmals in Augenschein und wurde von einem brutalen Blick erbarmungslos aufgespießt. Das kalte Grausen überkam ihn. Erik wandte sich ab, griff schroff nach seiner Kuriertasche und packte seine Sachen. Ohne Vitali noch einmal anzusehen, verließ er seinen Platz. Vitali wollte noch etwas sagen, getraute sich aber nicht, da er fürchtete, nochmals Eriks Blick zu spüren zu bekommen. Schon war Erik aus der Tür. Vitali starrte ihm, wie die anderen auch, ungläubig nach, dann verzog er den Mund. „Serena in männlich!“, grummelte er. Was musste Erik auch so überempfindlich sein? Im gleichen Moment traf ihn ein Radiergummi am Kopf – zumindest hätte er ihn treffen sollen. In Wirklichkeit ging der Wurf jedoch komplett daneben. Vitali sah auf den am Boden liegenden Radierer und dann auf Serena. „Du solltest Zielen üben.“ „Halt die Klappe!“, zischte Serena. „Und gib mir meinen Radierer wieder.“ Währenddessen holte Vivien Ewigkeit von ihrem Kopf. Der Streit zwischen Erik und Vitali hatte zumindest den Vorteil, dass Erik kurzzeitig nicht im Raum war. Vivien blickte auf das Schmetterlingsmädchen. „Hast du’s verstanden?“ Ewigkeit schien allerdings etwa genauso wenig Sinn für hintergründige Gedanken zu haben wie Vitali. „Du hättest uns einfach sagen sollen, dass du einsam bist. Wenn du nämlich extra etwas machst, das andere ärgert, dann sind alle bloß böse auf dich.“, erklärte Vivien. Dank ihren Worten hatte nun endlich auch Vitali wieder den Durchblick. Schuldbewusst nickte Ewigkeit. „Verzeihung.“ „Schon in Ordnung. Aber du musst aufpassen wegen Erik.“, meinte Vivien. Ewigkeit machte große Augen. „Der Junge, der neben Verändern sitzt?“ Vivien nickte. „Ja, das ist er.“ Ewigkeit machte ein verzagtes Gesicht. „Er ist unheimlich.“ Die fünf tauschten rasche Blicke aus. „Wie meinst du das?“, fragte Justin ernst. „Etwas stimmt nicht mit ihm.“, antwortete Ewigkeit kleinlaut. Nun mischte sich auch Ariane ein. „Er ist einer der Beschützer!“ Die Überraschung war Ewigkeits Gesicht deutlich anzusehen. „Sicher?“ Daraufhin waren die fünf noch irritierter als vorher. Sollte ihre Vermutung doch nicht stimmen? War Erik doch keiner von ihnen? Aber der Name Geheim stand doch ebenso wie die ihrigen in der Prophezeiung. Das Schmetterlingsmädchen verstand nicht. „Wieso trainiert er denn dann nicht mit uns?“ Für einen Moment schwiegen die fünf. Obwohl sie sich ziemlich sicher waren, dass Erik auch ein Beschützer war, hatten sie bisher alles versucht, um ihn aus dieser Angelegenheit herauszuhalten. Aber schließlich hatten sie dafür ihre Gründe. Trotzdem … „Wir wollen ihn überraschen, deshalb darf er dich nicht jetzt schon versehentlich sehen.“, schwindelte Vivien und sah Ewigkeit verschwörerisch an. „Also, hilfst du uns bei der Überraschung?“ Ewigkeit nickte hastig. Die restlichen Stunden verbrachte Ewigkeit in Justins Schlampermäppchen, das er extra für sie ausgeleert und mit Taschentüchern ausgelegt hatte. Seine Stifte waren von Ariane mit einem Haargummi zusammengebunden worden. Glücklicherweise war Eriks Zorn auf Vitali nach den Ethikstunden wieder verflogen gewesen, so dass in Physik alles ruhig verlaufen war. Als sie nach Unterrichtsende nach draußen gingen, verabschiedete sich Erik. Zwar wohnten er und Ariane in der gleichen Richtung, aber Ariane ging wegen Serena stets einen Umweg, indem sie zunächst Serena nach Hause begleitete, ehe sie sich selbst auf den Heimweg begab. Als Erik außer Hörweite war, wandten die fünf sich an Ewigkeit, die wieder den Platz auf Viviens Kopf eingenommen hatte. „Du kannst jetzt wieder runterkommen.“, sagte Vivien, woraufhin sich Ewigkeit streckte und in die Mitte der fünf schwebte. „Wie wär’s, wenn du jeden Tag in der Woche zu einem von uns nach Hause kommst?“, schlug Vivien vor. „Montags zu Serena, dienstags zu Vitali, mittwochs zu Ariane, donnerstags zu Justin und freitags zu mir. Und am Wochenende treffen wir uns sowieso.“ Ewigkeit sah sie verständnislos an, als spräche Vivien eine fremde Sprache. Erst war Vivien über diese Reaktion verwundert, ehe ihr klar wurde, dass Ewigkeit wohl mit den Namen, die sie benutzt hatte, nichts anzufangen wusste. Also wiederholte sie die Aufzählung erneut mit den Beschützernamen. Und mit einem Mal strahlte Ewigkeit über das ganze Gesicht. Dann sah sie plötzlich mit traurigem Blick zu Boden und spielte verlegen mit ihren Fingern. „Ich störe euch doch.“, meinte sie kleinlaut. Überraschenderweise war es Serena, die sich daraufhin zu ihr beugte, kurz den Kopf schüttelte und das Schmetterlingsmädchen unerwartet freundlich anlächelte. „Willkommen im Team.“ Vitali sah Serena schockiert an. Immerhin waren das genau dieselben Worte, die er zu ihr nur zwei Tage zuvor gesagt hatte! Irgendwie war ihm das jetzt ziemlich peinlich. Andererseits konnte es ebenso gut ein Zufall sein, sagte er sich, vermied aber dennoch Serena in die Augen zu sehen. Unterdessen sprang Ewigkeit freudig an Serenas Wange, wie sie es sonst bei Vivien tat. Serena war darüber zunächst sprachlos, dann lächelte sie. Und so verging die Woche, die so lange gewirkt hatte, viel schneller als erwartet. Kapitel 40: Symbolik -------------------- Symbolik „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lässt.“ (Pablo Picasso, span. Künstler) „Meine Fresse! Hier ist so viel Kultur. Ich fürchte fast, mein IQ ist grade gestiegen!“, rief Vitali aus, als sie den Kursaal betreten hatten. Im ganzen Raum standen zahlreiche Skulpturen und Kunstgegenstände. An den Wänden hingen Gemälde unterschiedlicher Größe und zahlreiche Glasvitrinen präsentierten den Besuchern stolz ihr Inneres. „Keine Angst, das wird nicht passieren.“, stichelte Serena. Vitali ließ sich davon nicht beirren. „Stimmt, noch schlauer kann ich ja gar nicht werden!“ Keck grinste er sie an. Serena antwortete mit einem höhnischen Lächeln. „Du sprichst mir aus der Seele.“ Vivien kicherte. „Es ist so süß, wenn ihr miteinander flirtet!“ „Wir flirten nicht!“, schimpfte Serena und musste mit einiger Bestürzung feststellen, dass Vitali ihr nicht lautstark beipflichtete, sondern sich bereits wieder der Umgebung widmete. Irgendwie war das peinlich. Justin ignorierte Serenas und Vitalis Gezanke wie immer gekonnt und wandte sich an Ariane. „Siehst du Herrn Finster irgendwo?“ Arianes Blick schweifte über die Leute. „Bisher nicht.“ Dann erschien ein Lächeln auf ihren Lippen. Mit vor Vorfreude glänzenden Augen drehte sie sich zu den anderen. „Wir können uns doch erst einmal umsehen!“ Die Begeisterung darüber, auf einer Kunstausstellung zu sein, war ihr so überdeutlich anzusehen, dass die anderen ihr den Gefallen taten und mit ihr durch die Reihen der Ausstellungsgegenstände schritten. Alte, aber auch neue Interpretationen von Sagen aus der griechischen, römischen, sowie germanischen Mythologie lenkten Arianes Aufmerksamkeit auf sich, wobei ihr auffiel, dass die Namen der griechischen und römischen Gestalten ihr vertrauter waren als die germanischen. Vitali blieb vor einem Bild stehen, auf dem ein Hüne mit wallendem Haar abgebildet war. In der Hand hielt dieser einen großen Hammer, auf den Blitze niederprasselten. Auf dem Schildchen daneben stand: Thor/Donar, ‚der Donnerer‘ Vitali begann zu lachen. „Schaut mal! Das ist Erik auf Drogen!“ Sofort musste er noch lauter lachen und hielt sich den Bauch. Außer Vivien lachte aber keiner der anderen mit. Serena verdrehte die Augen und ging weiter, um nicht mit diesem Trottel gesehen zu werden. Ariane folgte ihr. Auch wenn sie gerne zu ihrem Freund gestanden wäre, war es ihr unangenehm, dass Vitali mit seiner Lautstärke die Aufmerksamkeit der anderen Besucher auf sich zog. Serena blieb vor einem weiteren Gemälde stehen. Auf diesem war ein gelockter Jüngling mit Engelsschwingen abgebildet. In seinen Armen hielt er eine junge Frau mit Schmetterlingsflügeln, die er verliebt anblickte. „Was ist denn das?“, fragte Vitali, der sich anscheinend wieder beruhigt hatte und mit den anderen beiden zu Serena und Ariane trat. „Ein Engel und ’ne Fee?“ „Die Frau erinnert mich an Ewigkeit.“, stellte Justin fest. Serena sah ihn vorwurfsvoll an. „Sag bloß nicht ihren Namen, sonst taucht sie womöglich noch auf!“ Dann wandte sie sich an Vivien. „Wie hast du es überhaupt geschafft, dass sie nicht mitgekommen ist?“ „Meine Geschwister haben sie auf Trab gehalten, da war sie so müde, dass sie eingeschlafen ist.“, erzählte Vivien. „Ich hab ihr einen Zettel hingelegt, dass sie zu Hause warten soll.“ Besorgt äußerte Ariane ihre Bedenken: „Was ist, wenn deine Geschwister deinen Eltern von Ewigkeit erzählen?“ Vivien sah das locker. „Ich hab ihnen gesagt, dass es ein Geheimnis ist.“ „Und du meinst, das reicht?“, fragte Ariane. Vivien zuckte lässig mit den Schultern. „Wenn sie es trotzdem erzählen, glaubt ihnen doch sowieso keiner.“ Damit hatte sie wohl Recht. Vivien sah sich die Informationstafel genauer an. „Hier steht, das sind Eros und Psyche.“ „Achso!“, rief Ariane mit einem Mal aus, den anderen schien die Information allerdings nicht weiterzuhelfen. Ariane versuchte ihnen auf die Sprünge zu helfen. „Eros ist der griechische Name für Amor.“ „Der mit den Liebespfeilen?“, erkundigte sich Justin. Ariane nickte. „Er ist der Sohn der Aphrodite beziehungsweise Venus. Amor und Psyche ist eine bekannte Geschichte.“ Sie lächelte die anderen an, wohl abwartend, ob sie ihnen davon erzählen durfte. „Eine Liebesgeschichte?“, fragte Vivien freudig. „Ja, schon.“, meinte Ariane. Dieser Aspekt schien sie weniger zu interessieren. Vivien klatschte freudig in die Hände. „Erzähl.“ „Also.“, begann Ariane. „Weil Psyche Aphrodite den Rang als die Schönste der Schönen streitig macht, beauftragt sie ihren Sohn, Psyche in einen hässlichen Mann verliebt zu machen. Aber anstatt den Befehl auszuführen, verliebt Amor sich selbst in sie. Psyches Vater wird daraufhin vom Orakel aufgetragen, seine Tochter auf einen hohen Berg zu führen. Von dort bringt der Westwind sie in ein Schloss. Wenn es dunkel ist, kommt Amor zu ihr, doch am Morgen verschwindet er wieder. Er warnt sie, dass sie nie versuchen darf, seine Identität herauszufinden. Erst ist Psyche damit einverstanden, weder zu wissen wer er ist oder wie er aussieht. Als aber ihre eifersüchtigen Schwestern zu Besuch ins Schloss kommen, reden sie ihr ein, der nächtliche Besucher sei ein Ungeheuer, das Psyche verschlingen werde. Also versucht Psyche doch herauszufinden, wer ihr Liebster ist. Als Amor schläft, holt sie eine Öllampe und ein Messer. Doch als sie erkennt, dass sie den Schönsten der Götter vor sich hat, ist sie so schockiert und von Liebe überwältigt, dass aus der Lampe heißes Öl auf Amors Schulter spritzt. Amor erwacht, erkennt den Verrat der Liebsten und flüchtet. Psyche versucht daraufhin verzweifelt, wieder zu ihm zu gelangen und gerät in die Fänge von Aphrodite. Aphrodite stellt ihr mehrere schwierige Aufgaben. Als Psyche eine Dummheit begeht und in einen todesähnlichen Schlaf verfällt, kommt Amor ihr zu Hilfe. Er rettet sie und bittet den Göttervater Zeus um Erlaubnis, sie zu heiraten. Zeus willigt ein und macht Psyche unsterblich. Die gemeinsame Tochter nennen sie Glückseligkeit.“ „Und wieso hat die jetzt Schmetterlingsflügel?“, drängte Vitali zu erfahren. „Das weiß ich leider auch nicht.“, gestand Ariane. „Ich kenne nur die Skulptur im Louvre. Da hat Psyche keine Schmetterlingsflügel. Vielleicht hat das eine bestimmte Bedeutung“ Eine sanfte, jedoch bestimmte Männerstimme erklang hinter ihnen: „Im Griechischen bedeutet das Wort Psyche Seele oder Geist. Aber gleichzeitig heißt es auch Schmetterling.“ Überrascht drehte Ariane sich um. Hinter ihr stand Nathan Finster. Offenbar hatte er die Gabe, aus dem Nichts aufzutauchen. Oder war er etwa eben schon da gestanden und hatte ihren Ausführungen zu der Geschichte von Amor und Psyche gelauscht? Heute Abend trug er einen schmal geschnittenen dunkelblauen Anzug, dazu eine königsblaue Krawatte mit einem verspielten cyanblau-silbernen Barockmuster. Eindeutig war er kein Fan von schlichten gestreiften Schlipsen. Anstatt auf ihren fragenden Blick zu antworten, sprach Nathan weiter: „Die Geschichte von Eros und Psyche wird mitunter auch als Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Gott und der menschlichen Seele gesehen. Psyche ist die Personifikation der Seele und Eros die göttliche Liebe. Die Schmetterlingsflügel sind dabei ein gebräuchliches Sinnbild für die Seele. Bereits im alten Ägypten gab es den Glauben, dass die Seelen der Menschen die Gestalt von Schmetterlingen annehmen könnten. Bestimmte Schmetterlingsarten wurden sogar verehrt, weil man in ihnen die Geister Verstorbener sah. Im Hellenismus, zur Zeit Alexanders des Großen, wurde die Seele in der griechischen und römischen Kunst als zartes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln dargestellt, so wie Psyche hier. Das Christentum verwendet den Schmetterling ebenfalls als Symbol für die Auferstehung. Die Puppe steht in diesem Sinne für den Tod und der Schmetterling für die vom Körper befreite ewige Seele und die Unsterblichkeit.“ Nathan war am Ende seines Vortrags angekommen und lächelte Ariane an. „Ich freue mich, dass du es einrichten konntest, zu kommen, und auch noch so nette Unterstützung mitgebracht hast“ Sein anerkennender Blick schweifte über die anderen, er lächelte und nickte ihnen zu, dann reichte er zunächst Vivien die Hand. „Nathan.“ Vivien nannte ihm ihren Namen. Ganz Gentleman wollte Nathan als nächstes Serena die Hand geben, doch diese ging grob über seine Geste hinweg und sah ihn feindselig an. Zunächst verwundert, zögerte Nathan einen Augenblick und ging dann dazu über, sich den beiden Jungen vorzustellen. „Es ist eine besondere Freude, wenn ich auch einmal junge Gesichter auf so einer Ausstellung sehe. Meistens treffen sich hier nur altkluge Kenner, die einander beweisen wollen, wer mehr dicke Wälzer über das Thema gelesen hat.“ Er lächelte amüsiert und wandte sich wieder an Ariane. „Habt ihr euch schon umgesehen?“ „Noch nicht viel.“, antwortete Ariane. „Wir sind gerade erst gekommen.“ „Ich hoffe, ich störe euch dann nicht.“, meinte Nathan schelmisch. Ariane strahlte. Serenas Blick dagegen wurde noch finsterer. „Wieso interessiert sich der Geschäftsführer eines Softwareunternehmens für antike Gegenstände? Oder Ausgrabungsstätten…“ Das Misstrauen in ihrer Stimme war unüberhörbar. Im ersten Moment runzelte Nathan überrascht die Stirn, doch dann… Sein Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer todverheißenden Miene. Seine Augenfarbe schien von geheimnisvollem Grüngrau zu einem unerbittlichen Grau zu wechseln. Das kalte Lächeln auf seinen Lippen ließ sie frösteln. Geschockt stierten sie ihn an. Mit einem Mal schnaubte er belustigt und hob entschuldigend die Hände in die Höhe. „Entschuldigt. So heftig hat noch keiner darauf reagiert.“ Er grinste. „Eure Freundin klang gerade so, als würde ich Drogen an Grundschulkinder verkaufen. Ich dachte, das wäre die passende Reaktion darauf.“ Er senkte die Arme wieder und sprach in ruhigem Ton weiter. „Als Geschäftsführer muss man manchmal etwas strenger schauen können, sonst nimmt einen keiner ernst. Vor allem wenn die meisten Mitarbeiter älter sind als man selbst.“ Vitali verzog übellaunig das Gesicht. „Alles still, einer lacht, Finster hat nen Witz gemacht.“ Ariane warf ihm einen entsetzten Blick zu. Nathans bösem Blick im Scherz ausgesetzt zu sein, hatte ihr mehr als gereicht. Sie wollte ihn nicht erleben müssen, wenn er es ernst meinte. Nathan jedoch reagierte anders als befürchtet. Er lachte ausgelassen und schaute dann wieder auf seine hoheitsvolle Art. „Das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt.“ Ariane konnte nicht fassen, dass es jemals jemand gewagt haben sollte, ihm so etwas zu sagen. Mit Ausnahme von Vitali natürlich. Zu ihrem Leidwesen ergriff Vitali erneut in grimmigem Tonfall das Wort. „Jetzt mal ehrlich, was interessiert Sie an diesem Zeug?“ Er machte eine ausladende Armgestik, mit der er auf sämtliche Ausstellungsstücke verwies. „Ist doch bescheuert, sich mit irgendwelchen blödsinnigen Geschichten zu beschäftigen, die die Leute früher mal erfunden haben. Was bringt es denn zu wissen, wie viele uneheliche Kinder Zeus hatte oder welcher Gott für was zuständig war? Wir sind im 21. Jahrhundert! Da gibt es wichtigere Dinge!“ Ariane seufzte innerlich. Vitali hatte einfach gar kein Verständnis für Kultur. „Das stimmt.“, bestätigte Herr Finster unverhofft. Ariane horchte auf. „Das Wichtigste ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Aber man darf nicht übersehen, dass jede Legende, jeder Mythos durch Menschen entstanden ist. Und in all den Jahrhunderten hat sich die Menschheit kaum verändert. Es sind die immergleichen Triebkräfte, die Tragödien heraufbeschwören. Machtgier, Eifersucht, falscher Stolz und dergleichen. Obwohl das schon so lange bekannt ist, ändert sich nichts. Das ist eine interessante und erschreckende Erkenntnis.“ Ein erhabenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber du hast Recht, man sollte bei so einer Ausstellung den Bezug zur Gegenwart klarer machen. Ich werde in Zukunft daran denken!“ Hieß das, Nathan war Vitali für seine vorlauten Worte jetzt auch noch dankbar? Arianes Verwunderung wandelte sich in Bewunderung. Einen solchen Großmut hatte sie noch nie erlebt. Jemanden nicht einfach nur so zu tolerieren, wie er war, sondern darin auch noch etwas Wertvolles zu erkennen, das beeindruckte sie und weckte in ihr den Wunsch, eine solche Stärke auch in sich zu finden. Nathan wandte sich an Serena. „Noch mal zu deiner Frage, warum ich mich dafür interessiere. Es ist leider nicht immer so, dass ein Beruf jedes Interessengebiet einer Person abdeckt. Manchmal muss man sich dafür entscheiden, was man beruflich macht und welchen Dingen man in seiner Freizeit nachgeht. Und manchmal versucht man, dann doch beides unter einen Hut zu bringen, wie mit der Ausgrabungsstelle. Leider geht das nicht immer gut.“ Ariane fragte sich, worauf er damit Bezug nahm, doch ehe sie danach fragen konnte, richtete Nathan das Wort an sie. „Wollte Erik dich nicht begleiten?“ Verdutzt starrte Ariane ihn an. Nathan lächelte nachsichtig. „Entschuldige. Ich dachte nur: Für Erik wird es nicht leicht sein, Personen zu finden, die ihm intellektuell ebenbürtig sind. Daher war ich davon überzeugt, dass er den Kontakt zu dir halten würde.“ Ariane war zu perplex über diese Äußerung, um darauf zu reagieren. Tatsächlich hatten sie sich bewusst gegen Eriks Anwesenheit entschieden, weil sie ansonsten die ganze Zeit darauf hätten achten müssen, was sie sagten. „Sie scheinen Erik gut zu kennen.“, sagte Serena in einem argwöhnischen Ton. „Das würde ich nicht behaupten.“, dementierte Nathan lächelnd. „Aber es ist nicht schwer zu erkennen, dass er für sein Alter ungewöhnlich erwachsen ist.“ Ein schelmisches Grinsen trat auf seine Lippen. „So wie es unschwer zu erkennen ist, dass du dich deutlich abweisender gibst als du wirklich bist.“ Serena verzog erbost das Gesicht, während Ariane einmal mehr beeindruckt war. Vitali kommentierte: „Nee, die ist wirklich so abweisend.“ Nathan musste lachen. „Wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass du das selbst nicht glaubst, würde ich dir widersprechen.“ „Können Sie Gedanken lesen?“, fragte Vivien vergnügt. Nathan beugte sich verschwörerisch zu ihr. „Kannst du es?“ Vivien kicherte. Justins Blick ruhte daraufhin auf Vivien, als verunsichere ihr Verhalten ihn. Nathan wandte sich ihm zu. „Du scheinst in eurer Gruppe der Ruhepol zu sein. Hab ich Recht?“ Justin sah ihn nur wortlos an. „Das ist er.“, antwortete Vivien an seiner Stelle und griff dabei nach Justins Arm, als gehöre er zu ihr. Nathan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Ariane. „Und?“ Ein Hauch von jungenhafter Neugier trat in seine Züge. „Hast du dir die Inschriften noch mal angeschaut?“ Für einen winzigen Moment wanderten Arianes Augen zu den anderen. Die Frage, ob und wie viel sie Nathan erzählen durfte, war immer noch nicht geklärt worden. Aber nachdem sie ihn extra um die Texte gebeten hatte, konnte sie schlecht behaupten, sich nicht mit den Inschriften beschäftigt zu haben. Ansonsten hätte sie vielleicht jede Möglichkeit, weiter mit ihm in Kontakt zu bleiben, verspielt. „Ja…“, antwortete sie schließlich zaghaft. „Willst du mich an deinen Gedanken teilhaben lassen?“, fragte er freundschaftlich. Ariane konnte nicht anders als zu lächeln. Nathan hatte einfach etwas an sich, das in ihr Vertrauen weckte. „Die Texte sprechen von Chaos, einer Unordnung, die entsteht, wenn etwas, das vorher eins war, voneinander getrennt wird. Die Auserwählten, von denen die Rede ist, sollen diese Trennung wohl aufheben können, indem -“ Vivien rief dazwischen. „Ist das der Teufel dahinten?“ Nathan und die anderen schauten in die Richtung, in die Viviens ausgestreckter Arm deutete. „Ah, das ist Pan, der griechische Hirtengott.“, erkannte Finster. „Die Christen haben sich tatsächlich das Aussehen ihres Teufels bei ihm abgeschaut: Die Bocksfüße, die Hörner und den Bart.“ „Gibt es denn nur in der christlichen Mythologie einen Teufel?“, fragte Vivien weiter wie ein neugieriges Kind. Herr Finster holte zu einer detaillierten Antwort aus: „Im jüdischen Glauben ist es so, dass der Satan im Auftrag Gottes handelt und keinen freien Willen hat. Satan ist auch keine eigenständige Person, sondern eher ein Titel oder eine Berufsbezeichnung für jeweils den Engel, der als Ankläger gegen die Menschen fungiert. Satan heißt übersetzt auch so viel wie Ankläger. Im Islam war der Teufel – Schaitan oder Iblis – ein Dschinn und Anführer der Engel. Er weigerte sich, vor Adam niederzuknien. Als Strafe sollte er verbannt werden, aber Iblis bat um eine Frist bis zum jüngsten Tag. Bis dahin darf er versuchen, die Menschen vom rechten Weg abzubringen. Und diejenigen, die auf ihn reinfallen, werden am Weltenende gemeinsam mit ihm in die Hölle geworfen. In der griechischen und römischen Mythologie gibt es keine richtige Entsprechung für den Teufel. Aber, wie gesagt, wurde das typische Aussehen aus diesen Quellen gewonnen. In anderen Religionen existiert allerdings die Vorstellung von einem bösen Gott, der den guten bekämpft, zum Beispiel im Parsismus Ahriman, im alten Ägypten Seth, in gewisser Weise auch der germanische Loki.“ „Also gibt es dort keinen gefallenen Engel?“, bohrte Vivien weiter nach. Ariane verstand endlich. Auf diese Weise konnte Vivien Nathan womöglich einen Hinweis auf des Rätsels Lösung entlocken. „Du meinst die Idee vom rebellierenden Engel Luzifer, der von den himmlischen Heerscharen besiegt und mitsamt den anderen Aufrührern in die Hölle hinabgestoßen wurde?“, vermutete Herr Finster. „Warum hat man den Luzifer genannt?“, wollte Vivien wissen. „Luzifer kommt aus dem Lateinischen. Lux: das Licht, und ferre: bringen oder tragen. Also bedeutet Luzifer Lichtbringer oder Lichtträger.“, klärte Nathan sie auf. „Hört sich nicht gerade nach dem passenden Namen für den grausigen Höllenfürsten an, nicht wahr?“ Vivien schüttelte den Kopf, als hätte sie das bei Ewigkeit abgeschaut. Nathan setzt mit seinen Ausführungen fort. „Eigentlich entstand der Name Luzifer durch die Übersetzung aus dem Hebräischen. In der Bibel war von einem gefallenen Morgenstern die Rede. Die griechische Bezeichnung für den Morgenstern ist Phosphoros. Die lateinische Übersetzung von Phosphoros ist Lucifer.“ Vivien stellte sich dumm. „Also ist der Teufel ein Stern?“ Nathan schmunzelte. „Ursprünglich war Lucifer nicht der Name für den Teufel, sondern der lateinische Name für den Morgenstern, das hellste sternartige Objekt am Himmel. Erst in der Renaissance setzte sich der Name Venus für diesen Planeten durch.“ „Lucifer ist die Venus?“, fragte Justin ungläubig. „Es ist eine alte Bezeichnung für die Venus, ja.“, bestätigte Nathan. „Wobei die Venus, soweit ich weiß, mal Morgen- und mal Abendstern genannt wird. Ich kann euch aber nicht erklären, woran genau das liegt.“ „Danke!“, rief Vivien. „Gerne.“, antwortete Nathan. „Ich sollte euch wohl nicht länger aufhalten. Ihr wollt schließlich noch was von der Ausstellung haben.“ „Nicht wirklich.“, meinte Vitali. Nathan musste angesichts seiner Ehrlichkeit lachen. Anerkennend lächelte er Vitali an. „Schön, dass du deine Freunde dennoch begleitet hast. Das ist nicht selbstverständlich.“ Vitali starrte ihn an. „Vitali lässt einen nie im Stich.“, pflichtete Vivien ihm bei. Nun schien Vitali vollends überfordert zu sein, als sei er es nicht gewohnt, gelobt zu werden und traue dem Ganzen nicht. „Es hat mich sehr gefreut, dass du und deine Freunde gekommen seid.“, sagte Nathan zu Ariane. „Ich sollte jetzt noch ein paar andere Leute begrüßen gehen. Ich wünsche euch noch viel Spaß und hoffe, dass ihr noch öfter das verstaubte Kulturleben von Entschaithal auflockern werdet.“ Nochmals lächelte er Ariane an und nickte den anderen freundlich zu, ehe er sich entfernte. „Lucifer, die Venus.“, wiederholte Justin, als Finster außer Hörweite war. Ariane drehte sich zu ihm. ‚Beim Erscheinen Lucifers am Himmel‘. Also wenn die Venus aufging! Noch eine Weile waren die fünf auf der Ausstellung geblieben, es hätte sonst möglicherweise verdächtig gewirkt, wären sie sofort nach Herrn Finsters Äußerung gegangen. Ariane hatte sich über diesen Umstand gefreut. Als sie den Kursaal verließen, entschieden sie sich, noch zu Vivien zu gehen, um schnellstmöglich herauszufinden, wann die Venus am Himmel zu sehen war. Auf ihren Smartphones danach zu suchen, wäre zwar eine Option gewesen, doch Serena wollte nicht in der Kälte stehen. Ewigkeit erwartete Vivien schon sehnsüchtig und war umso erfreuter, als sie auch die anderen Beschützer zu Gesicht bekam. Allerdings nahmen sich die Auserwählten dieses Mal nicht viel Zeit für sie. Vivien setzte sich direkt an den Computer, während Ariane auf ihrem Smartphone nach den Aufgangszeiten der Venus suchte. Das stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Erst als Justin einfiel, dass sie nach dem Begriff ‚Astronomiekalender‘ suchen konnten, wurden sie endlich fündig. Wie Nathan Finster angedeutet hatte, konnte die Venus sowohl als Morgen- als auch als Abendstern auftreten. Je nachdem, ob sie sich östlich oder westlich der Sonne befand, war sie der erste oder der letzte ‚Stern‘ am Himmel. Sie hatten Glück, denn in der zweiten Jahreshälfte, in der sie sich befanden, war die Venus als Morgenstern zu sehen, während sie Ende Juli bis Ende August gar nicht sichtbar gewesen wäre. Sie brauchten ein bisschen, bis sie sich auf der Webseite zurechtgefunden hatten und die ganzen seltsamen Kürzel, die dort verwendet wurden, verstanden. Schließlich führte sie ein interner Link mit dem fremdartigen Namen ‚Ephemeriden‘ zu einer Seite, auf der sie die Aufgangszeiten für einen bestimmten Tag berechnen lassen konnten. Und endlich stand sie da, die Aufgangszeit für morgen! 04:13 Uhr. Die fünf sahen einander an, während Ewigkeit ihnen interessiert zusah. Dann öffnete Vivien das Worddokument, in dem das Rätsel stand. Beim Erscheinen Lucifers am Himmel, wenn die Schatten die Welt einhüllen, auf dem Ursprung der Seelenquelle stehend, werden der Auserwählten Kräfte erweckt werden, sobald, umgeben von den Elementen, des Himmels Tränen sie berühren. Serena übersetzte: „Also morgen um vier Uhr dreizehn, sobald die Venus am Himmel erscheint, wenn alles noch im Dunkeln liegt und wir auf der Quelle im Kurpark stehen, werden unsere Kräfte erweckt, sobald Regen auf uns fällt.“ „Wie wahrscheinlich ist es, dass es gerade heute Nacht regnet?“, überlegte Justin laut. Vivien kicherte und sprang von ihrem Stuhl auf. „Ich hab da schon was vorbereitet!“, verkündete sie wie ein Fernsehkoch und stürmte aus dem Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einem Behälter voll Wasser zurück. „Am Mittwoch hat es doch geregnet.“, begann sie. „Und ich hatte die ganze Woche den Becher draußen, um den Regen zu sammeln. Da steht schließlich nichts davon, dass der Regen ganz frisch vom Himmel kommen muss!“ Sie strahlte. „Wir füllen das Wasser einfach in eine Sprühflasche und benutzen das.“ Baff starrten die anderen sie an. „Du bist ein Genie!“, rief schließlich Ariane. „Hat das irgendjemand bezweifelt?“, lachte Vivien. „Aber hier ist auch noch von den Elementen die Rede.“, wandte Justin ein. „Wahrscheinlich sind wieder die vier Elemente gemeint: Feuer, Wasser, Erde, Luft.“, mutmaßte Serena. „Andererseits haben die Chinesen fünf Elemente: Feuer, Wasser, Erde, Metall und Holz.“, gab Justin zu bedenken. „Oder es sind die Elemente der Beschützer.“, warf Vivien ein. „Wir haben doch gesagt, dass Vitali Luft, Serena Feuer, Ariane Wasser, Justin Erde und ich Pflanzen als Element habe.“ „Du meinst also wir selbst sind die Elemente?“, fragte Justin. „Wenn das so wäre, dann würde hier doch nicht stehen: ‚umgeben von‘.“, hielt Serena dagegen. „Naja, wenn ich bei euch stehe, bin ich doch von euch umgeben.“, erwiderte Vivien. „Äh Leute. Fehlt uns dann nicht Erik?“, wollte Vitali wissen. „Vielleicht sind ja doch unsere Elemente gemeint und nicht wir selbst.“, hoffte Justin. Vivien blieb optimistisch. „Wenn wir im Kurpark stehen, ist die Luft ohnehin um uns herum, auf der Erde werden wir stehen, das Wasser haben wir hier und die Pflanzen sind auch kein Problem. Wir bräuchten noch Feuer.“ „Feuerzeug.“, schlug Vitali vor. „Aber wir kennen Eriks Element nicht.“, fiel es Ariane auf. „Natürlich!“, rief Vitali amüsiert. „Er ist doch der Donnerer!“ Erneut lachte er los. „Genau!“, stimmte Vivien freudig zu. „Blitz und Donner.“ „Und wo sollen wir bitte Blitze herkriegen?“, wollte Serena wissen. Dieses Mal hatte Vitali einen Einfall. „Blitze sind elektrische Entladungen, also so was wie Strom. Unsere Taschenlampen und unsere Handys haben Strom.“ Er grinste stolz. Serena machte ein unwilliges Gesicht, als missfiele es ihr, dass Vitali zur Abwechslung mal etwas Schlaues gesagt hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Schön und gut. Aber wie kommen wir nachts aus dem Haus, ohne dass es jemand bemerkt?“ Vivien war zuversichtlich. „Wir schleichen uns einfach raus. Um die Uhrzeit schlafen doch eh alle.“ „Wo treffen wir uns?“, fragte Ariane. „Am besten auf der Baustelle.“, zischte Serena. Ihrem Gesichtsausdruck war deutlich anzusehen, dass es ihr missfiel, alleine in der Finsternis herumzulaufen. „Justin und ich holen euch nacheinander ab.“, bot Vivien an. „Zuerst Serena, dann Ariane und am Schluss Vitali, dann muss niemand alleine laufen.“ „Ich will auch mit!“, meldete sich Ewigkeit zu Wort. „Dann sparen wir uns schon eine Taschenlampe.“, scherzte Vitali. „Klar kommst du mit.“, stimmte Vivien zu. „Was wollt ihr überhaupt machen?“, wollte Ewigkeit nun endlich wissen. „Wir wollen unsere Kräfte erwecken.“, klärte Ariane sie auf. Das Schmetterlingsmädchen hob die Augenbrauen. „Aber dafür trainieren wir doch.“ „So geht’s schneller.“, sagte Vitali taktlos. Ewigkeit schaute besorgt drein. „Keine Angst.“, versuchte Vivien sie zu beruhigen. „Wir werden trotzdem weiter fleißig mit dir trainieren. Versprochen!“ Kapitel 41: Kraftzuwachs ------------------------ Kraftzuwachs „Nichts geschieht ohne Risiko, aber ohne Risiko geschieht auch nichts.“ (Walter Scheel, ehemaliger Bundespräsident) Die gesamte Blumenallee ruhte in friedlichem Schlummer. Auch im Hause Boden war Stille eingekehrt. Einzig die Straßenlaternen waren noch geschäftig und ließen ihren blassen Schein in Justins Zimmer fallen, um dort geisterhafte Schatten auf Wände, Schreibtisch und die zahllosen aufeinander gestapelten Bücher zu werfen. Am Kopfende von Justins Bett glühten bläuliche Ziffern wie Phantome in der Dunkelheit– 03:08. Jäh wurde das Zimmer von einer weiteren Lichtquelle erhellt. Ein Leuchten, dessen Konturen sich in feenhaftem Nebel verloren, begleitet von einem Glöckchenklang, so zart und flüchtig wie das Spiel einer Geisterharfe. Der Wartende gab ein sachtes „Hallo“ von sich, ergriff den olivgrünen Anorak neben sich, dessen Farbe im Grau der Nacht unterging, und erhob sich von seinem Bett. Ewigkeit kam auf ihn zugeschwebt, so dass Justin zunächst leicht geblendet wurde, dann lächelte er freundlich und nahm die große Taschenlampe von der Tischkante. Das Schmetterlingsmädchen gab ein Geräusch von sich, das sich wie die Mischung aus einem Kichern und dem sanften Klingeln von Glöckchen anhörte. Es flog Justin voraus, auf seine Zimmertür zu und leuchtete ihm den Weg. Nahezu lautlos verließ Justin das Zimmer, allein Ewigkeits sachte Klänge waren zu vernehmen. Von Ewigkeit geleitet schlich er hinunter in die Diele, schwer darauf bedacht, ja niemanden zu wecken. Einmal knarrte eine Diele, so dass er ängstlich innehielt, aber es blieb still. Erleichtert huschte er weiter Ewigkeits Licht hinterher. Der Haustürschlüssel steckte. Justin zog seine Jacke an, schloss auf und schlüpfte nach Ewigkeit hinaus ins Freie. Durch die kleinen Fenster in der Haustür lugte Vivien nach draußen. Noch bevor Ewigkeit hinüber zu Justin gegangen war, hatte die Kleine ihr geholfen, sich davonzustehlen. Nun sah Vivien, wie aus dem gegenüberliegenden Haus ein kleines rundes Licht schwebte, in Begleitung einer größeren Person. Das Warten hatte ein Ende. Justin musste im ersten Moment die Augen schließen, als die automatische Beleuchtung von Viviens Haus ohne Vorwarnung anging. Erst danach sah er Vivien. Sie trug einen fliederfarbenen Blouson und hatte einen Rucksack aufgezogen. Hastig kam sie ihm entgegengerannt, blieb aber nicht vor ihm stehen. Übermütig sprang sie an seine Brust und schlang ihre Arme um ihn. „Mir ist kalt!“ Justin versuchte einen Ton herauszubekommen, scheiterte aber kläglich. Ihm war alles andere als kalt! „Eh, … du.. du kannst dir auch noch eine wärmere Jacke holen.“, gab er schließlich stockend von sich. Noch immer die Arme um seine Taille geschlungen, meinte Vivien in heiterem Tonfall: „So ist es schon gut.“, und schmiegte sich noch ein wenig enger an Justin, dem für einen Moment die Luft wegblieb. Mit ihren großen indigofarbenen Augen, die aufgrund der Lichtverhältnisse dunkel wirkten, strahlte sie ihn erwartungsvoll an. „Du kannst mich doch wärmen!“ Justin fühlte, dass sein Gesicht so intensiv rot glühen musste, dass er jeder Straßenlaterne damit Konkurrenz machen konnte. Und sein Herzschlag musste nicht nur kilometerweit zu hören sein, sondern sicher demnächst ein Erdbeben hervorrufen! „Eh.. uh …“, mehr brachte er nicht heraus. „Wir..“, Justin schluckte. „Wir müssen die anderen holen gehen!“, rief er dann mit einem Mal und drehte sich zum Gehen, woraufhin Vivien zwangsläufig von ihm ablassen musste. Annäherungsversuch Nr. Soundsoviel gescheitert, protokollierte Vivien. Sie hätte es sich ja denken können… Dennoch hatte sie nicht vor, deshalb ihre gute Laune zu verlieren! „Na dann los!“, stimmte sie fröhlich zu und ergriff kurzerhand Justins linken Arm. Justin, Vivien und Ewigkeit schlugen den Weg nach Süden ein. Um diese Uhrzeit waren die Straßen verlassen. Als erstes holten sie Serena ab, von dort aus liefen sie in Richtung Osten, wo Ariane wohnte, um schließlich im Norden Entschaithals Vitali einzusammeln. Von Vitalis Haus aus waren es nur noch ein paar Meter bis zum Park. Blasse Lichter beleuchteten den Eingang der Anlage. Der Hauptweg, dem sie folgten, war mit kleinen Lampen abgesteckt, die tagsüber Sonnenenergie speicherten und diese im Dunkeln als Licht wieder abgaben. Allerdings schienen ihre Reserven bereits aufgebraucht zu sein. Nur die wenigsten der Lampen schimmerten noch schwächlich. Die fünf versuchten, einen Lichtpfad in die Schwärze zu schneiden, doch die Dunkelheit verwässerte den Schein ihrer Taschenlampen. Einzig Ewigkeits Licht konnte sie nichts anhaben. Nach einigen Metern blieb der schwache Schein der Weglampen schließlich ganz aus. Nun tränkte die Nacht die gesamte Umgebung in tintenschwarze Finsternis. Jeder Versuch, diesem Würgegriff zu entkommen, war vergeblich. Unheimliche Geräusche drangen an ihre Ohren. Der Wind heulte in einem gespenstischen Ton und verstummte wieder, um ohne Vorwarnung erneut aufzujaulen wie ein hungriger Wolf. Ein alarmierendes Rascheln kam aus den Büschen neben ihnen. Ganz leise wisperte Justin den anderen zu: „Das… sind nur Tiere.“ Die anderen wurden davon wenig beruhigt. Ein Gefühl der Bedrohung plagte sie, als sei an diesem tagsüber so beschaulichen Ort jetzt in der Nacht etwas erwacht, das sich ihnen langsam näherte, um sich im richtigen Moment auf sie zu stürzen. Sie beschleunigten ihren Lauf. Schnellstmöglich wollten sie bei der Seelenquelle ankommen. Doch als der jähe Schrei einer Eule ertönte, blieben sie abrupt stehen. Für einen Moment blickten sie sich ängstlich um. In ihren Köpfen konnten sie schon das unmenschliche Brüllen der Schatthen hören. Aber es war ein anderer Klang, der die Stille durchschnitt. „Will jemand Tee?“ Viviens quietschfidele Stimme wirkte in diesem Moment, in dieser Umgebung so unangebracht wie ein knallgelbes Outfit auf einer Grufti-Party. Vitali zog eine ungläubige Grimasse. „Tee?“ Vivien strahlte über das ganze Gesicht. „Ja! Ich hab extra welchen mitgenommen!“ Im gleichen Moment kramte Vivien eine Thermoskanne hervor und hielt sie den anderen entgegen. „Tadaaa!!“ Die anderen waren baff. „Ich hoffe, du hast darüber nicht das Regenwasser vergessen.“, meckerte Serena. „Nein, nein!“, versicherte Vivien und sah erneut in den Rucksack. Ihre Hand fuhr ein wenig darin herum, dann verharrte sie plötzlich bewegungslos. Mit entsetztem Gesichtsausdruck hob Vivien wieder den Kopf und starrte Serena an. Im nächsten Moment sah sie aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Doch Serena hatte kein Mitleid mit ihr. „Wir haben keine Zeit noch mal zurückzugehen!“, schimpfte sie. „Das hast du echt toll gemacht!“ Vivien strahlte sie schlagartig wieder an. „Ja, nicht wahr?“ Schon hielt sie Serena die Sprühflasche grinsend vor die Nase und zwinkerte ihr keck zu. „Also, will jetzt jemand Tee oder nicht?“ „Sehr witzig.“, grummelte Serena. Vivien zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht.“ Sie zog ihren Rucksack wieder auf. „Ist es noch weit bis zur Seelenquelle?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort genau kannte. Wieder in Schweigen zu verfallen, hätte bedeutet, zu riskieren, dass sich erneut eine gruselige Atmosphäre aufbaute. Aber nicht mit ihr! Justin setzte zu einer Antwort an. „Die Seelenquelle entspringt am südlichen Rand des Parks.“ Er deutet nach links. „Dort stoßen Wald und Park zusammen. Und im Westen beginnen ein paar Anhöhen. Es ist eine kleine Lichtung. Seht ihr den Bach?“ Er zeigte auf den Wasserlauf, der die ganze Zeit links von ihnen verlief. „Er führt durch den ganzen Park und wird von der Seelenquelle gespeist. Es gibt noch einen zweiten Ablauf von der Seelenquelle, also einen zweiten Bach, der in den hinteren Teil des Parks läuft und dort in einen kleinen See fließt. In Heimat- und Sachkunde haben wir mal gelernt, dass die Seelenquelle wegen diesem See ihren Namen trägt. See-len ist eine Verniedlichungsform von See, wie See-lein, nur eben im Dialekt.“ Vivien freute sich, dass Justin ihren Gedanken wohl sofort durchschaut hatte, ansonsten hätte er niemals zu solch einer ausschweifenden Erklärung ausgeholt, sondern sie vermutlich mit einem kurzen ‚Nur noch ein Stück‘. abgespeist. Komisch, dass er bei so etwas immer sofort wusste, worauf sie hinauswollte. „Also ich bin immer noch der Überzeugung, dass die Seelenquelle was mit der Seele zu tun hat.“, setzte sie die Unterhaltung fort. Justin lächelte bei Viviens Worten, ohne dass es jemand gesehen hätte. Als Kind hatte er fest daran geglaubt, dass die Quelle seine Seele aufladen konnte, weil er sich immer viel besser gefühlt hatte, wenn er dort gewesen war. „Wer weiß.“, sagte er. Sie kamen an eine kurze Holzbrücke über das Bächlein. „Gehen wir hier rüber.“, schlug Justin vor. Die anderen folgten. Wieder versuchte Vivien eine Konversation in Gang zu bringen. „Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass das Entschaithaler Wappen einen sechszackigen Stern hat?“ Serena antwortete zynisch. „Ach, und wusstest du, dass die Deutschlandflagge Schwarz-Rot-Gold ist?“ Vivien machte große Augen und schaute Serena freudig an. „Wirkliiiiiich?“ Serena schaffte es nicht, ihre von Viviens Strahlen angesteckte Miene rechtzeitig zu unterdrücken. „Du meinst wegen den sechs Beschützern.“, vermutete Ariane. „Genau!“, stimmte Vivien zu. Justin verließ den regulären Weg und lief nun auf dem Rasen weiter nach Süden. „Wir nehmen den direkten Weg. Das ist schneller.“, erklärte er. Das Gras unter ihren Füßen war leicht feucht und raschelte sachte. Sie spürten, dass der Boden nicht mehr ganz eben war, sondern sich nach Süden hin anhob. „Wusstet ihr, dass Eiskristalle immer sechseckig aufgebaut sind?“, redete Vivien weiter. „Wie kommst du jetzt darauf?“, fragte Vitali ungläubig. „Entschaithal. Sechszackiger Stern. Sechszackige Eiskristalle. Eis gleich Wasser. Wasser gleich Seelenquelle.“, ratterte Vivien herunter. Sie sah nach vorne. „Jetzt ist es nicht mehr weit!“ Sie drehte sich zu den anderen. „Weniger reden, schneller laufen!“ „Hä? Du quasselst doch die ganze Zeit.“, merkte Vitali an. Sie liefen jetzt direkt nach Süden, hier ging es nach oben, so dass Serena ins Schnaufen kam. Links neben ihnen standen die Bäume des Waldes, rechts von ihnen verlief der Quellenablauf, der sich weiter unten in die zwei Bäche spaltete, von denen Justin gesprochen hatte. Nach einem Stück aufwärts wurde der Weg wieder eben und die fünf konnten ihr Ziel ausmachen. Wie Justin gesagt hatte, handelte es sich um eine Lichtung. Im Osten und Süden umrahmt vom Wald, im Westen auslaufend in eine Anhöhe. „Endlich.“, keuchte Serena. Die Gruppe lief weiter bis zu dem Punkt, an dem das Grundwasser an die Oberfläche trat. Glücklicherweise stand direkt neben diesem Punkt ein Stein, der ihnen das Auffinden erleichterte. Sie leuchteten den Stein ab. Es war eine weiße Tafel an ihm befestigt. ‚Seelenquelle‘ stand darauf und ein sechszackiger Stern mit einer weiteren Gravur befanden sich darunter. „Seht ihr! Schon wieder!“, triumphierte Vivien. Vitali spottete: „Ah ja, und die Juden wurden jahrhundertelang nur deshalb verfolgt, weil der Davidstern sechs Zacken hat.“ „Darauf wäre ich gar nicht gekommen!“, rief Vivien mit überzogener Überraschung, als hätte Vitali ihr gerade ein Geheimnis enthüllt. Ariane betrachtete den Spruch, der unterhalb des Sterns eingraviert war und las ihn den anderen vor. „Ewig wie das Leben, so fließe diese Quelle. Stetig wie das Streben, so sprieße diese Stelle.“ „Wir sollten uns bereit machen.“, sagte Justin. „Es ist gleich soweit.“ Die anderen nickten, wussten aber nicht genau, was sie nun machen sollten. „Stellen wir uns in einen Kreis!“, schlug Vivien vor. „Um den Stein herum.“ Ohne Widerworte gehorchten die anderen. „4:09 Uhr.“, verkündete Vitali nach einem Knopfdruck an seiner Armbanduhr. „So genau wird die Angabe sowieso nicht sein.“, entgegnete Serena. „Immer musst du meckern.“ Er holte das automatische Feuerzeug hervor, das er mitgenommen hatte. Ewigkeit schaute sich derweil skeptisch um. Sie war von der Idee der Auserwählten noch immer nicht überzeugt. Justin indes suchte den Himmel ab nach dem hellsten ‚Stern‘, dann sah er zu Vivien hinüber, die bereits die Sprühflasche bereithielt. Ob es wirklich funktionieren würde? „Sollen wir noch irgendeinen Spruch aufsagen?“, fragte Ariane scherzhaft. „Wir können ja im Kreis tanzen.“, alberte Vivien. „Aber auf alle Fälle müssen wir uns an den Händen halten!“ „Und wie soll ich das mit dem Feuerzeug machen?“, beschwerte sich Vitali. „Ich halte einfach deinen Arm fest.“, erwiderte Ariane, die sich zu seiner Rechten befand. „Du solltest es Serena geben.“, meinte Vivien. „Und du“, sie reichte die Sprühflasche Ariane, „bist für das Wasser zuständig. Damit alles seine Richtigkeit hat.“ Sie kicherte und Serena stöhnte genervt und nahm das Feuerzeug von Vitali entgegen, woraufhin er sie am Arm festhielt. In diesem Kreis stehend verharrten die fünf und schauten in den Nachthimmel, ehe sie einen besonders hellen Stern entdeckten und Vitali mit einem Blick auf seine Armbanduhr bestätigte: „4.13 Uhr.“ Im gleichen Moment betätigte Serena das Feuerzeug. Justin hielt die angeschaltete Taschenlampe in seiner Linken fest umschlossen und Ariane löste sich kurz von Justin, um sie alle mit dem Regenwasser einzunebeln, ohne das Feuerzeug zum Erlöschen zu bringen, während Ewigkeit von außerhalb des Kreises die Beschützer beobachtete. Für einen kurzen Moment kamen sie sich ziemlich lächerlich vor. Wie sollte man auf diese Weise Kräfte erwecken können? Wachsam schauten sie sich um, ob irgendwo ein helles Licht auftauchte oder etwas sonstwie Spektakuläres. Was nur Sekundenbruchteile später geschah, war durchaus spektakulär, doch keiner von ihnen hätte damit gerechnet. Ein starker Windstoß sauste über sie hinweg. Oder etwas, das sie für einen Windstoß hielten. Die fremde Energie sammelte sich in der kreisförmigen Mitte zwischen ihnen. Sie rotierte auf dem Boden um den Stein herum und wirbelte dabei Staub auf, riss die fünf in ein Gewirr aus Luftströmungen, die an ihrer Kleidung und an ihren Haaren zerrten. Die Wirbel jagten wieder nach außen und hätten Ewigkeit beinahe aus dem Park gefegt. Dann leuchtete ein dunkelroter Kreis um die fünf auf, dessen Licht sogleich intensiver wurde und aus dem Boden schoss, als würde die Hölle selbst sich aus den Tiefen der Unterwelt an die Oberfläche erheben. „Geht da weg!“, kreischte Ewigkeit gegen den Wind an, doch ihre helle Stimme hatte keine Chance. Die fünf spürten mit einem Mal den Boden unter ihren Füßen beben. Ängstlich ließen sie voneinander ab und stolperten nach hinten, um den roten Kreis zu verlassen. Der Kreis bäumte sich im nächsten Moment auf, als ob darunter ein bisher unentdeckter Geysir die Erde in die Luft hebe oder als ob aus dem Boden eine schlafende Kreatur auferstünde. Die fünf zuckten zusammen. Schon im nächsten Moment sackte der Erdhügel, der nun entstanden war, wieder in sich zusammen. Allerdings um einiges tiefer als zuvor. Ein regelrechtes Loch tat sich im Boden auf. Im gleichen Moment waren sowohl der Wind, als auch jegliche andere Bewegung und Leuchtkraft verschwunden. Sprachlos und unsicher näherten sich die fünf dem Loch. Ariane leuchtete hinein. „Eine Treppe.“, entdeckte sie. Aus Erde geformte Stufen führten hinab in die Tiefe. Ariane konnte es nicht fassen. „Aber wenn das hier die Quelle ist, müsste da drin doch alles unter Wasser stehen!“ „Und wenn es so wie unser Hauptquartier ist?“, wandte Vivien ein. „Auf einer anderen Ebene oder so.“ „Das ist unheimlich!“, wimmerte Ewigkeit, die nun endlich wieder näher an sie herankommen konnte, und hielt einen Sicherheitsabstand zu dem Loch im Boden. „Spürst du etwas?“, erkundigte sich Justin besorgt. Ewigkeit sah ihn kurz an, dann zog sie den Kopf ein, als wäre ihr unwohl in ihrer Haut. „Sind hier Schatthen?“, fragte Ariane alarmiert. Ewigkeit schüttelte den Kopf. „Das … nicht.“ „Was ist es dann?“, forderte Vitali ungeduldig. Ewigkeit blickte zu Boden, als könne sie darauf nicht antworten. „Uns passiert schon nichts!“, entgegnete Vivien überzeugt und machte dann den ersten Schritt auf die Treppe zu. Unsicher folgten ihr die anderen und besahen sich den wenig Vertrauen erweckenden Abgang. Der Schein ihrer Taschenlampen reichte nicht aus, um das Ende der Treppe sichtbar zu machen. „Hey Ewigkeit, willst du nicht voraus fliegen?“, fragte Vitali mit einem breiten Grinsen. Ewigkeit schüttelte heftig den Kopf und versteckte sich hinter Serena, die am weitesten von dem Abgang entfernt stand. Vivien ging noch ein Stück näher an die Treppe heran. Vorsichtig kontrollierte sie mit dem rechten Fuß die Festigkeit der Stufe. Die aus Erde geformten Stufen waren hart wie Stein. Sie würden ihr Gewicht locker tragen können. Gerade wollte sie die ersten beiden Stufen nehmen, um den anderen die Angst zu nehmen, als eine Hand auf ihrer Schulter sie zurückhielt. „Warte.“, Justin sah sie ernst an. „Ich gehe zuerst.“ Er konnte nicht zulassen, dass Vivien noch einmal vor seinen Augen verschwand wie damals in dem Holzhäuschen. Vivien lächelte ihn sanft an. Dann drehte sie sich zu den anderen und rief laut aus: „Wir machen eine Polonaise! Jeder hält sich an den Schultern des anderen fest.“ Und begann dann zu singen: „Das hebt die Stimmung, ja da kommt Freude auf!“ Serena seufzte. Sie und die anderen sahen einander noch einmal an, wie um stumm abzusprechen, ob sie das wirklich wagen wollten. Das Rätsel hatte sie bis hierher geführt. Es hatte tatsächlich funktioniert. Das hieß doch, dass auch der Rest stimmen musste und sie dort unten ihre Kräfte erlangen konnten. Kräfte, mit denen sie sich endlich nicht mehr so machtlos fühlen mussten. Mühsam schüttelten sie ihre Angst ab. Ewigkeit betrachtete die Szene mit größtem Unwillen. Vitali drehte sich nochmals zu ihr um. „Kommst du?“ Sie sah ihn wehleidig an. Vitali stöhnte. „Sie kann auch hier bleiben, wenn sie nicht mit will.“, meinte Ariane verständnisvoll. „Wir sind bald wieder da!“, rief ihr Vivien zu. Justin nickte. „Gehen wir.“ Er drehte sich wieder zu der Treppe im Boden. Die Taschenlampe in der Rechten legte Vivien ihre Linke auf Justins Schulter. Das war bei ihrer Größe jetzt noch etwas anstrengend, aber auf der Treppe würde er immer unter ihr sein. Ein anderes Problem hatte Justin, denn für seine Konzentration war Viviens Berührung eher abträglich. Er fürchtete, schlimmstenfalls die Treppe hinunterzustürzen. Zumindest hatte Viviens Berührung ihn von seinen Bedenken aufgrund von Ewigkeits Ängstlichkeit befreit. Nach einem letzten tiefen Atemzug nahm er schließlich die ersten Stufen. Während die fünf in die Tiefe hinabstiegen, stand Ewigkeit unsicher da. Allmählich näherte sie sich dem Loch bis zu einem Punkt, von dem aus sie die Beschützer noch sehen konnte und beobachtete, wie sie in der Tiefe verschwanden. Als sie nicht mehr sichtbar waren, schwebte sie zaghaft noch näher heran. Mit einem beherzten Sturzflug wollte sie den Beschützern schließlich hinterher. Doch anstatt in das Erdloch zu gelangen, stieß sie mit dem Kopf gegen eine unsichtbare Wand, die sie im gleichen Moment kreischend hinwegschleuderte. Ewigkeit wirbelte durch die Luft und wäre fast zu Boden gestürzt, hätte sie nicht gerade noch im richtigen Moment die Besinnung wiedererlangt. Sie fing sich wieder und sank auf den Boden, wo sie nach Luft schnappte und entsetzt auf das Loch starrte. Nein! Ewigkeits Schreie kamen nicht bei den fünfen an. Obwohl der Eingang ein offenes Loch war, durch das der Schall hätte dringen müssen, wehrte der Weg unter der Erde jegliche Störung ab. Die Schritte der fünf knirschten auf dem aus Sand, Erde und kleinen Steinen gebildeten Stufen. Der Geruch feuchter Erde hing in der Luft, wie aus einem frisch ausgehobenen Grab. Und der schreckliche Gedanke, dass sie gerade in ihre eigene Totengruft hinabstiegen, schoss durch ihre Köpfe. Doch noch etwas anderes durchwirkte die Luft: Viviens lautes Gesumme des Faschingsschlagers ‚Polonäse von Blankenese‘. Diese geradezu makabre Mischung erinnerte an eine Horrorfilm-Parodie oder an einen Fernsehsender, auf dem das Bild des Kanals statt mit dem Originalton mit dem eines Radiosenders unterlegt war. Viviens Gesumme ging in einen lauten Gesang über und seltsamerweise verspürten die anderen daraufhin das leise Verlangen loszulachen. Vielleicht wurden sie ja jetzt hysterisch. Schließlich machte Vivien den Anfang und unweigerlich stimmten die anderen in ihr Gelächter ein. Aber es war kein befreiendes Lachen, sondern eines, das aus Nervosität entstand. Ariane wandte sich noch einmal zum Ausgang. Dazu musste sie sich zur Seite beugen, um an Vitali und Serena vorbeizusehen. „Glaubt ihr, es ist gut, Ewigkeit, alleine draußen zu lassen?“ „Dann soll sie halt runterkommen.“ , meinte Vitali grob. Er hatte kein Verständnis für die Ängstlichkeit Ewigkeits. „Ihr kann ja wohl am wenigsten passieren.“ „Und wenn wirklich etwas nicht stimmt?“, fragte Ariane. Auch Justin und Vivien waren nun stehengeblieben. „Das fällt dir echt früh ein!“, schimpfte Serena, die das Schlusslicht bildete und hinter Vitali lief. „Glaubst du, ich hab Bock hier begraben zu werden?“ „Dann lauft und labert nicht rum!“, rief Vitali. „Wir holen unsere Kräfte und verschwinden!“ Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und leuchtete mit ihren Taschenlampen den Gang entlang. „Ich sehe da vorne das Ende der Treppe.“, verkündete Justin. Schließlich ließen sie die Treppe hinter sich. Da es jetzt nicht mehr nötig war, hintereinander zu gehen, ließen sie einander los und leuchteten mit ihren Taschenlampen die Umgebung ab, immer noch dicht beisammen. Vor ihnen weitete sich eine riesige Halle aus. Aufgrund der Dunkelheit konnten sie nicht viel mehr sagen. Sie gingen weiter in den Raum. Die Bodenbeschaffenheit änderte sich, als sie den Bereich der Halle betraten, und ihre Schritte begannen auf dem Boden zu hallen. Möglicherweise war er aus Marmor. Ein kühler Luftzug kam ihnen entgegen. Trotz oder eben wegen der Schwärze um sie herum hatten sie das Gefühl, sich mit einem Mal in einem riesigen Festsaal zu befinden, der nach links und rechts weit auslief. Vor sich glaubten sie, eine Wand erkennen zu können. Als sie nähertraten, wurde allerdings ersichtlich, dass es sich dabei in Wirklichkeit um ein riesiges zweiflügeliges Portal handelte. Neugierig betrachteten sie die gigantische Tür. Sie musste aus weiß gestrichenem Holz gefertigt worden sein. Kunstvoll geschwungene Muster und Abbildungen aus Weiß- und Gelbgold verzierten sie. Vivien wagte sich näher heran, doch noch ehe sie eine Hand an einen der Torflügel legen konnte, schwangen beide wie von Geisterhand geräuschvoll nach innen auf. Helles weißes Licht drang den fünfen entgegen, sodass sie die Augen im ersten Moment schließen mussten. Anschließend nahmen sie den Gang wahr, der sich vor ihnen aufgetan hatte. Der gerade verlaufende Gang entsprach einem dreihundertsechzig Grad Unterwassertunnel, wie man sie in großen Aquarien fand. Die ellipsenförmige durchsichtige Tunnelabdeckung wurde alle paar Meter durch weiße Fassungen durchbrochen, die das Gebilde zusammenhielten. Selbst der Boden war aus durchsichtigem Material gearbeitet. Doch jenseits der Fenster waren nicht etwa wunderschöne Fische und andere Meereslebewesen zu bewundern. Was die Beschützer zu sehen bekamen, war ein zauberhaftes Spiel an strahlenden Regenbogenfarben. Diese Farben waren mehr Licht als Masse und leuchteten mit all ihrer Kraft und Schönheit. Gleichzeitig erinnerten die Lichtreflexionen in dem schillernden lichtreinen Farbspiel jedoch an klares Meereswasser, das von glänzenden Sonnenstrahlen durchwirkt wurde. Daher war nicht klar zu sagen, ob es sich nun um Licht, Wasser oder etwas vollkommen anderes handelte. Auf eine magische Art und Weise wirkten die Leuchtfarben lebendig, denn anstatt starr an einem Platz zu verharren, tanzten und spielten sie miteinander wie Tierbabys. Sie umkreisten einander und mischten sich zu neuen Farben zusammen, um sich gleich wieder zu trennen und ihre ursprüngliche Form anzunehmen. Es war ein atemberaubender Anblick, der einen gar nicht mehr loslassen wollte. Verzaubert betraten die fünf den Tunnel und bestaunten sprachlos die Schönheit, die sich ihnen da zeigte. Und für einen Moment vergaßen sie, warum sie wirklich hier waren. Zu berauschend war der Anblick der glitzernden, schimmernden und leuchtenden Farbenpracht. Langsam gingen sie weiter, ohne den Blick von der Umgebung zu wenden. Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, wo eine erneute Tür auf sie wartete, konnten sie sich zunächst gar nicht entschließen, sich von dem Gang wegzureißen. Schließlich war es aber Justin, der die letzte Türe öffnete. Was sich dahinter verbarg, war nicht mehr ganz so eindrucksvoll. Es handelte sich lediglich um einen mittelgroßen Raum, der am Ende eine Bühne aufwies und auf dessen Boden ein großes Hexagramm abgebildet war. Vier griechische Säulen, zwei links, zwei rechts, trugen die Decke und umrahmten die sechszackige Sternabbildung in der Mitte des Raums. Erhellt wurde der Raum durch ein Licht, das durch zwei Fenster links und rechts fiel und besonderes Augenmerk auf die sechszackige Zeichnung auf dem Steinboden lenkte, denn die weißen Striche begannen dadurch regelrecht zu strahlen. Was sich auf der Bühne befand, konnten die fünf nicht erkennen, da diese in vollkommene Dunkelheit gehüllt war. Sich neugierig umblickend betraten sie den Raum und machten vorsichtige Schritte. Doch vor der Abbildung der zwei ineinander verschlungenen Dreiecke blieben sie abrupt stehen. Bei dem Anblick des riesigen Hexagramms dachte selbst Vivien nicht mehr an die zahlreichen sechszackigen Sternabbildungen, über deren Bedeutung sie nur wenige Minuten zuvor geredet hatten. Ein anderer Gedanke wurde in ihnen wach – eine grausige Erinnerung: Im Schatthenreich. Einzeln in Zylindern gefangen. Auf einem großen Hexagramm verteilt. Die fünf versuchten das Bild abzuschütteln. Dennoch wichen sie wie automatisch vor der Abbildung zurück und betrachteten nun mit leisem Argwohn die Umgebung. Da es offensichtlich keinen weiteren Ausgang gab, musste hier das Ziel sein. Aber es wirkte nicht gerade so, als ob etwas Wichtiges in diesem Raum auf sie wartete. Plötzlich hörten sie das Tor hinter sich zuschlagen. Entsetzt machten sie auf dem Absatz kehrt und wollten aus dem Raum flüchten – erstarrten. Etwas hallte durch den Raum. Ängstlich rückten sie näher zusammen. Dieses Etwas war keine Stimme, kein Laut, kein Lebewesen. Dennoch spürten sie eindeutig, dass sie sich nicht mehr allein in diesem Raum befanden. Dort! Es war kein Luftzug, aber gleichwohl eine Bewegung in der Atmosphäre. Ein Luftflimmern! Ein verschwommenes Sehen, wo das Etwas sich befand. Widerwillig folgten ihre Augen der abstrusen Erscheinung. Die körperlose Intelligenz glitt die Wände entlang wie ein Schleier aus flimmernder Luft. Geschockt keuchten sie auf. An den Stellen, über die das Flimmern hinweggegangen war, waren auf einmal Buchstaben erschienen! Stellt euch auf den Stern. Bewegungslos starrten sie auf die geschriebene Aufforderung, getrauten sich nicht, den Blick abzuwenden von den Buchstaben und der flirrenden Luft daneben. Justin ballte die Fäuste und nahm seinen Mut zusammen. „Wer bist du?“, rief er der Wesenheit erstaunlich selbstsicher entgegen. Das Luftflirren bewegte sich daraufhin wieder und ließ erneut leuchtende Buchstaben erscheinen. Ein Freund. Serenas Augen verengten sich daraufhin argwöhnisch. Ihre Stimme war beißend. „Wieso sollen wir auf den Stern gehen?“, forderte sie zu wissen. Um eure Kräfte zu erhalten., lautete die Antwort des Etwas. „Warum sollte das nicht auch so gehen?“, zischte Serena. Für einen Moment stand das Etwas bewegungslos in der Luft und schien zu überlegen. Dann regte es sich wieder. Wie ihr wünscht. Als ihre Sinne die rasante Bewegung der Wesenheit registrierten, war es längst zu spät. Etwas Fremdes schoss durch ihre Adern, eine unbekannte Kraft erfasste sie, machte sich in ihnen breit. Das war nicht das Gefühl, das sie bei ihrer Verwandlung verspürten. Das hier war ein Gefühl von Macht, von Stärke, von Überlegenheit, das sie nie gekannt hatten. Es war so überwältigend und unbändig, dass sie die Energie kaum in ihrem Körper halten konnten. Mit aller Gewalt wollte sie nach außen dringen, frei gelassen werden! Ein erregtes Kribbeln nahm jeden Zentimeter ihrer Haut ein, wie ein kühles Feuer. Es war zu stark! Sie schafften nicht, es noch länger zu beherrschen! Unvermittelt entglitt ihnen die Kontrolle und sie setzten die ungezügelte Kraft frei. Eine gewaltige Energiewelle schoss aus ihnen hervor. Bei der Berührung mit den griechischen Säulen gab es eine ohrenbetäubende Explosion. Doch sie mussten sich keine Sorgen darüber machen, von einem umherfliegenden Brocken getroffen zu werden, eher darüber, die Baumasse der Säule nun einzuatmen. Das einzige, das von den getroffenen Stellen der Bauwerke übrig blieb, war eine Staubwolke. Ungläubig und hustend starrten sie auf ihr Werk. Durch den Staubwirbel hindurch erkannten sie, dass von der vordersten linken Säule bloß noch die Basis und das Kapitell oben an der Decke vorhanden waren. Allerdings hing dieser obere Abschluss der Säule dort nicht mehr lange. Gerade noch rechtzeitig hechteten die fünf beiseite, ehe der Säulenkopf lautstark auf dem Boden aufschlug und zersprang. Nachdem der Staub sich gelegt hatte, versuchte sich Ariane an ersten Worten. „Ha-Haben wir das gemacht?“, fragte sie atemlos. Keiner der anderen antwortete. Noch immer starrten sie auf die zerstörten Säulen. Dann blickten sie sich hektisch im Raum um, suchten die Wände nach einer weiteren Nachricht ab. Doch das Luftflimmern war nirgends mehr zu entdecken. „Bist du noch da?“, rief Vivien übertrieben laut. Es rührte sich nichts. Die Erscheinung tauchte nicht wieder auf. Alles blieb still und reglos. Noch einmal rief Vivien. Nichts geschah. Sie waren wieder allein. Das Pulsieren in ihren Adern war nach ihrem Energieausstoß geringer geworden, aber dennoch spürten sie es noch – diese Macht! Vitali betrachtete befremdet seine Hände. Mehrmals in kurzer Abfolge formte er sie zu Fäusten und öffnete sie wieder, als wolle er testen, ob irgendetwas gebrochen war. Anschließend streckte er seine Hand einer halbwegs unbeschädigten Säule entgegen und stellte sich vor, wie die Energie erneut aus ihm fließen würde, um sich dann in zwei Klingen zu verwandeln, die die Säule wie Butter durchschnitten. Im gleichen Moment spürte er ein heißes Pochen und mit einem Schlag schoss die Energie seinen Arm entlang, über seine Handfläche hinweg, auf die Säule zu. Und tatsächlich! Die violette Kraft teilte sich in zwei schmale Scheiben – wie zwei Bumerangs – die mühelos durch den harten Stein der Säule hindurch glitten und die Konstruktion dreiteilten. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde dies dem Stand der Säule nichts ausmachen, doch gleich darauf löste sich das mittlere Stück wie von Zauberhand und die Säule stürzte donnernd in sich zusammen. „Woohoooo!!!“, rief Vitali ganz aus dem Häuschen. Übermütig vollführte er im Sprung eine halbe Drehung und grinste die anderen an. „Ist das geil oder was!!!“ „Du Idiot!“, kreischte Serena. „Wenn das eine tragende Säule gewesen wäre! Willst du uns alle umbringen?!“ Vitali schien ihren Einwand gar nicht wahrzunehmen. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. „Hast du das gesehen?!“ Er deutete auf die Trümmer. „Ich mache einfach so! Und es macht Wusch! Und dann Tschuuh. Und weg ist die Säule! Ist das nicht der Hammer?!!!“ Bitterböse blitzte Serena ihn an. Das konnte Vitalis Enthusiasmus allerdings längst nicht mehr bremsen. „Jetzt sollen die Schatthen mal kommen!“, rief er. „Schrei das besser nicht so laut.“, entgegnete Justin weniger euphorisch. „Hey, diese Kraft macht genau das, was man von ihr will! Und sie ist nicht nur irgendein buntes Feuerwerk wie das Zeug von Ewigkeit!“, entgegnete Vitali lebhaft. Die anderen schauten immer noch ungläubig auf das Chaos vor ihnen und wechselten unsichere Blicke. Ariane war die erste, die sich von Vitalis Begeisterung anstecken ließ. In ihren Augen funkelte es kühn. „Von jetzt an müssen die Schatthen vor uns Angst haben!“ Sie und Vitali schlugen beieinander ein und grinsten. Allmählich bildete sich auch auf den Gesichtern der anderen ein zuversichtliches Lächeln ab. Noch einen Moment herrschte verschwörerische Stille zwischen ihnen. Dann brach sich ein befreiendes Lachen Bahn und sie umarmten einander überschwänglich. Das war der Beginn eines neuen Kapitels. Zeit, zurückzuschlagen! Kapitel 42: - 2. Band Gleichgewichts-Begleiter - [Korrumpiert] Ein neues Kapitel -------------------------------------------------------------------------------- Ein neues Kapitel „Wir hoffen immer auf den nächsten Tag, wahrscheinlich erhofft sich der nächste Tag einiges von uns.“ (Ernst R. Hauschka, dt. Lyriker) Dunkelheit beherrschte den Park von Entschaithal. Es würde noch Stunden dauern bis die Regentschaft der Finsternis ihr Ende nahm. Nur die Venus, der hellste Stern am Morgenhimmel, spendete als Wächter des Lichts eine kleine Hoffnung. Am Ursprung der Seelenquelle, die den durch den Kurpark fließenden Bach speiste, hatte sich ein mysteriöses Loch im Boden aufgetan. Eine Treppe führte in eine unbekannte Tiefe. Und aus dieser Tiefe traten im nächsten Moment fünf Jugendliche zurück an die Oberfläche. Sofort kam ihnen ein kleines Lichtchen entsetzt entgegen geschwirrt. Total verängstigt drückte sich Ewigkeit an Viviens Wange. „Was ist?“, fragte Justin besorgt. Durch das Licht, von dem Ewigkeit stets eingehüllt war, sah er, dass ihre Kleidung schmutzig geworden war und sie kleine, aber doch sichtbare Schrammen aufwies. Ariane schaute sich panisch um. „Schatthen?“ Ewigkeit atmete schwer, dann starrte sie die fünf aus geweiteten Augen an. „Ich konnte nicht hinein! Ich konnte euch nicht folgen!“ Sie brach in Tränen aus. Vivien legte ihre Hand sachte um ihre kleine Freundin. „Ganz ruhig.“ „Wovon redest du?“, wollte Serena wissen. Ewigkeit schluchzte bloß. Justin sah zurück auf das Loch im Boden, das heimlich, still und leise verschwand, als sei es nur eine Fata Morgana gewesen. Ewigkeits Blessuren ließen darauf schließen, dass die Kleine tatsächlich von etwas abgehalten worden war, ihnen zu folgen, und es dennoch wieder und wieder versucht hatte. „Alles gut.“, sprach er beruhigend. „Uns ist nichts passiert.“ Ewigkeit sah ihn daraufhin mit großen Kulleraugen an. „Vielleicht durften nur die Auserwählten den Ort betreten.“, vermutete Ariane. Serenas Gesicht verzog sich in Misstrauen. „Ist doch jetzt egal!“, warf Vitali ein. „Nix passiert! Und wir haben voll die geilen Kräfte!“ Vitali funkelte Ewigkeit begierig an. „Soll ich sie dir mal zeigen?!“ „NEIN!“, schrien die anderen lautstark – aus Sorge, Vitali könne vor lauter Übermut den ganzen Wald in Schutt und Asche legen. Die Kräfte, die sie soeben in der unterirdischen Stätte erhalten hatten, waren zwar machtvoll, aber auch gefährlich. Die Säulen, die sie gerade hatten explodieren lassen, reichten ihnen fürs erste. Vitali murrte unzufrieden. Vivien wandte sich an Ewigkeit. „Geht’s dir wieder besser?“ Das Schmetterlingsmädchen nickte zaghaft und ließ dann von Viviens Backe ab. „Danke.“, sagte Justin. „Dass du für uns da bist.“ Wortlos stand Ewigkeit in der Luft und starrte ihn an. Dann musste sie sich weitere Tränen verdrücken. Justin wandte sich an die anderen. Es war Zeit nach Hause zu gehen, bevor ihre Eltern noch merkten, dass ihre Sprösslinge nicht friedlich in ihren Betten schlummerten. Nach ihrem nächtlichen Ausflug verlangte es sie nach ausreichendem Schlaf. Auch die neu erlangten Kräfte, an die ihr Körper sich erst gewöhnen musste, wirkten zunächst ermüdend. Und so wurde es Mittag, ehe sie sich endlich aus den Betten quälten. Ariane räkelte sich in ihrem Bett und gähnte herzhaft. Anschließend setzte sie sich auf und tastete nach der Haarbürste auf ihrem Nachttischchen. Dabei hätte sie, schlaftrunken wie sie war, beinahe Ewigkeit hinuntergestoßen, die es sich dort auf einem improvisierten Lager aus einem weichen Kaschmirpulli bequem gemacht hatte. Ewigkeit schwebte noch rechtzeitig zur Seite, ehe ihr behelfsmäßiges Bett zu Boden fiel. Erst im nächsten Moment erkannte Ariane das Schmetterlingsmädchen direkt vor ihrer Nase und entschuldigte sich. „Die Fähigkeiten, die ich euch beigebracht habe, haben euch nie so müde gemacht!“, betonte Ewigkeit empört. Sie war offensichtlich noch immer beleidigt, dass die neuen Kräfte der fünf weder mit denen vergleichbar waren, die sie ihnen gezeigt hatte, noch auch nur im Geringsten etwas mit ihrem Training zu tun hatten. Ariane unterließ es, Ewigkeit darauf hinzuweisen, dass das Heraufbeschwören eines farbenfreudigen Lichtspektakels zwar schön und gut war und sicher auch seine Berechtigung hatte, aber ihre neuen Kräfte für den Kampf gegen die Schatthen deutlich angemessener waren. Aus Rücksicht hätte Ariane es Ewigkeit auch nicht gesagt, aber mit den neuen Kräften fühlte sie sich eindeutig sicherer als zuvor. Das Kitzeln in ihren Adern war zwar jetzt nicht mehr zu spüren, aber sobald Ariane sich darauf konzentrierte, fing es wieder an, in ihrem Körper zu vibrieren. Das gab ihr die Gewissheit, diese Kraft jederzeit einsetzen zu können, was bei den Fertigkeiten, die Ewigkeit sie gelehrt hatte, nicht der Fall gewesen war. „Ihr solltet besser eure richtigen Fähigkeiten trainieren!“, sprach Ewigkeit geradezu wütend. Ariane seufzte. Nachdem Ewigkeit schon einmal extra in der Schule aufgetaucht war, nur um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, war es wohl nicht verwunderlich, dass sie sich jetzt in ihrer Position bedroht fühlte. Wahrscheinlich fürchtete Ewigkeit, dass sie und die anderen sie nun nicht mehr brauchten und fallen lassen würden. „Es ist alles gut.“, versuchte Ariane sie zu beruhigen. „Ich weiß, dass es dir wichtig ist, dass wir mit dir trainieren. Nur weil wir diese neuen Fähigkeiten haben, heißt das nicht, dass wir das nicht mehr tun.“ Sie lächelte Ewigkeit freundlich an. „Was hältst du davon, wenn du uns hilfst, diese neuen Kräfte besser zu verstehen?“ Doch anstatt auf das Angebot einzugehen, verzog sich Ewigkeits Gesicht nun in absolutem Unwillen: „Wenn ihr diese Kräfte trainieren wollt: Ohne mich!“ Mit diesen Worten war sie von einem Moment auf den anderen verschwunden. Ariane stöhnte. Einer musste wohl immer beleidigt sein. „Die soll sich mal wieder einkriegen!“, beschwerte sich Vitali, nachdem Ariane ihnen von Ewigkeits Reaktion erzählt hatte. Die fünf waren gerade am Supermarkt angekommen. Vivien hatte jeden von ihnen angerufen und gefragt, ob sie sie zum Einkaufen begleiten wollten, bevor sie sich zum Training trafen. „Alter, die tut ja grad so, als hätten wir sie betrogen!“, wetterte Vitali weiter. „Du hast null Mitgefühl!“, zischte Serena. Vivien hatte derweil einen Einkaufswagen geholt, den Justin – ganz Gentleman – ihr sogleich abnahm. „Häää?“, rief Vitali. „Hätte ich das Maul gehalten, wärst du der gleichen Meinung!“ Serena funkelte ihn wütend an. Automatisch öffnete sich die Tür zum Supermarkt vor ihnen und die Stimmen von Vitali und Serena zerschnitten die verhältnismäßige Ruhe des Inneren. „Also findest du es okay, dass sie so einen Aufstand macht?“, schimpfte Vitali. „Ich meinte bloß, dass du auch ihre Gefühle verstehen musst.“, antwortete Serena ausweichend. Ohne dem Streitgespräch der beiden Beachtung zu schenken, bedeutete Vivien Justin in eine linke Ecke abzubiegen, in die die anderen ihr folgten. Ariane ergriff das Wort. „Ich habe ihr doch gesagt, dass wir weiter mit ihr trainieren werden.“ Vivien legte ein paar Schulhefte, Blöcke und sonstige Schreibwaren in den Einkaufswagen. „Hey! Hier geht’s um unser Leben!“, rief Vitali. „Und Ewigkeit hat uns bisher nur so einen bescheuerten Schwachsinn beigebracht, der gegen die Schatthen wahrscheinlich gar nichts bringen würde! Sie sollte lieber mal mehr Verständnis für uns zeigen, anstatt hier groß die beleidigte Leberwurst raushängen zu lassen!“ Sie liefen weiter zum nächsten Regal. „In gewisser Weise hat Vitali recht.“, gab Justin kleinlaut zu, obwohl ihm Ewigkeit sehr ans Herz gewachsen war. „Wir müssen jede Möglichkeit nutzen, uns vor den Schatthen zu schützen. Das muss auch Ewigkeit verstehen.“ Vivien drehte sich von den Regalen weg, den anderen zu. „Alle Vögel werden einmal flügge.“, sagte sie in einem gezierten Ton. „Dieser Prozess der Abkapslung fällt vielen Müttern schwer.“ „Ewigkeit ist nicht unsere Mutter.“, warf Vitali ein. Justin hielt an. „Wahrscheinlich denkt sie, dass sie unsere Zuneigung nur durch ihren Zweck als Lehrerin behalten kann.“ „Das habe ich doch versucht, ihr klarzumachen.“, entgegnete Ariane. „Sollen wir ihr etwa immer hinterher rennen, wenn ihr was nicht passt?“, ärgerte sich Vitali. „Das wird dann ja wie bei Serena!“ „Du brauchst mir nicht hinterherlaufen!“, keifte Serena erbost. „Das sagst du jedes Mal.“, kommentierte Vitali gelangweilt. Im gleichen Moment verpasste Serena ihm einen Schlag gegen den Oberarm. „Vielleicht sollten wir ihr einfach etwas Zeit lassen.“, schlug Justin vor. Vivien stimmte zu. „Ja, dann kommt sie sicher von selbst wieder zu uns.“ Sie setzte ihren Weg fort. Die anderen folgten. „Also, Serena würde nicht von sich aus zurückkommen.“, spöttelte Vitali mit einem Seitenblick auf Serena und grinste. Dieses Mal wich er ihrem Schlag rechtzeitig aus. „Idiot.“ Plötzlich erklang ein schrecklicher, Zahnschmerzen hervorrufender Piepston. Ariane hielt sich eilig die Ohren zu, was aber auch nichts half. Verstört schauten die fünf sich um und erwarteten, dass irgendwo rote Leuchten aufblendeten und eine interne Feuerlöschanlage sie sogleich mit Wasser besprenkelte. Sie ließen den Wagen stehen, um sich in Sicherheit zu begeben. Schnellstmöglich rannten sie auf den Hauptgang zurück, dabei hätten sie fast eine Frau mit ihren zwei Kindern umgerannt, die gerade seelenruhig den Weg entlang geschlendert kam. Die Frau sah die fünf verwirrt an. „Sie müssen hier raus!“, schrie Justin, um den Sirenenklang zu übertönen. Daraufhin zuckte die Frau verängstigt zurück, nahm ihre beiden Kinder und fuhr mit dem Einkaufswagen schleunigst weg – allerdings nicht hinaus aus dem Supermarkt, sondern weiter nach hinten, weg von ihnen. Justin starrte ihr bestürzt hinterher. Sicher sprach die Frau kein Deutsch und hatte deshalb nicht verstanden, was er von ihr wollte. Aber jeder normale Mensch würde dieses schreckliche Geräusch doch auch ohne Sprachkenntnisse als Alarm verstehen! Außerdem sahen die fünf nun auch, dass die übrigen Leute ungerührt ihren Einkäufen nachgingen. „Ist das in diesem Supermarkt etwa normal?!“, brüllte Vitali die anderen an, die das Geräusch wie er kaum noch ertrugen. Mit einem Mal weiteten sich Arianes Augen in purem Entsetzen. „Die Schatthen!“ Da fiel es auch den anderen wie Schuppen von den Augen. Das Geräusch war das gleiche, das sie auch in der Ausgrabungsstätte gehört hatten. Entsetzen machte sich in ihnen breit. Aber das konnte doch nicht möglich sein! Nicht am helllichten Tag, nicht an einem Ort mit so vielen Menschen! Das würden sie doch nicht wagen! Damit würden sie riskieren, gesehen zu werden! Nicht, wenn sie alle Zeugen töteten… Wieder wussten sie nicht, was sie jetzt tun sollten. Wohin sie sollten. Bisher war von den Schatthen noch nichts zu sehen. Sie konnten überall sein. Unwillkürlich rannten sie zurück in die Ecke, aus der sie eben gekommen waren und versteckten sich ängstlich hinter einem Regal. Vielleicht bildeten sie sich das Ganze auch nur ein. Vielleicht gab es bei ihren Kräften wie bei jedem Warnsystem auch mal Fehlmeldungen. Vielleicht war das alles nur ein Irrtum! Schlagartig verstummte das Geräusch. Die fünf hörten nun wieder ihre schnellen Atemstöße und die Geräusche der anderen Kunden. Durch den Lautsprecher dudelten wieder die Einkaufsmelodie und eine Ansage über Sonderangebote. Alles war plötzlich wieder normal. Sie spürten ihre Herzen noch immer wie wild schlagen, bemerkten erst jetzt wie eng sie sich aneinander gedrückt hatten. Irgendwie kamen sie sich augenblicklich dumm vor. Aber dieses Geräusch musste doch eine Bedeutung gehabt haben. „Vielleicht ein Schatthenmeister.“, flüsterte Vivien. „Das sind doch Menschen. Die müssen schließlich auch einkaufen gehen.“ Sie versuchte zu lachen, was ihr allerdings nicht richtig gelang. Dann passierte es. Erste Schreie hallten durch den Verkaufsraum. Sie mussten vom hinteren Teil des Supermarkts kommen. Die Schreie weiteten sich aus, immer mehr Menschenstimmen verbanden sich in verzerrtem Ton zu einem Wirrwarr, das den fünfen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und dann war da dieses Geräusch. Eine Mischung aus einem Vogelschrei, dem Brüllen eines Raubtiers und dem entstellten Kreischen eines Menschen. Der Schrei eines Schatthens. Alles in ihnen zog sich zusammen. Sie wollten wegrennen, überlegten einen kurzen Moment, ob sie es wohl zum Eingang schaffen würden, ehe die Schatthen sie erreicht hatten, verwarfen diesen Gedanken wieder. Die Schatthen würden sie jagen, sie wussten, wo die fünf sich aufhielten, waren nur ihretwegen hier. Die Schreie der Menschen und die der Schatthen vermischten sich zu einer grauenvollen Sinfonie, ehe das besonders laute Brüllen eines Schatthens plötzliche Stille einleitete. Zitternd standen sie noch immer wie angewurzelt da. Die Panik ließ sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was auch immer sie gelernt hatten, welche Kräfte auch immer sie besaßen, in diesem Moment hatten sie es vergessen. Die Angst war es, die ihre Gedanken beherrschte. Nichts weiter. Die bedrückende Stille, die jählings eingetreten war, war fast schlimmer als das Gekreische zuvor, sie ließ eine abscheuliche Übelkeit in ihnen aufkommen. Waren die Leute tot? Alle? Nein, das konnte nicht sein. Sicher nicht. Vivien wollte um die Ecke lugen, doch Justin griff nach ihren Schultern und gab ihr zu verstehen, dass er das tun würde. Vielleicht hatten die Bestien ihre Schattengestalt angenommen, damit die fünf nicht hören konnten, wo sie sich gerade aufhielten, oder vielleicht warteten sie nur darauf, dass die Beschützer aus ihrem Versteck gekrochen kamen. Vorsichtig spähte Justin zum Hauptgang. Nichts. Er zog seinen Kopf zurück und bedeutete den anderen, keine Anzeichen eines Schatthens ausgemacht zu haben. Die ganze Situation erinnerte sie auf fürchterliche Art und Weise an den Angriff der Schatthen in den Unendlichen Ebenen. Würden sie vielleicht von den Regalen gesprungen kommen? Vitali löste sich von dem Menschenknäuel, das sie bildeten. Mit geballten Fäusten und hartem Gesichtsausdruck sah er die anderen an. Dann machte er einen Schritt auf den Zwischengang zu. Ariane packte ihn im letzten Moment am Arm und sah ihn flehend an. Wollte er den Schatthen etwa entgegengehen? Im gleichen Augenblick spürte sie, dass Vitali zitterte, auch wenn sein Gesichtsausdruck von Entschlossenheit zeugte. Aus seinen Augen sprach, dass er nicht darauf warten wollte, dass die Schatthen sie angriffen. Er hielt seinen linken Unterarm auf Brusthöhe. Damit verdeutlichte er, dass er mit der Kraft, die sie jetzt besaßen, angreifen wollte. Ariane biss sich auf die Unterlippe, sie ließ Vitali los. Kurz tauschte Vitali mit den anderen Blicke aus. Dann hielt Vivien ihre Hand in die Mitte zwischen ihnen. Es war die gleiche Gestik wie damals bevor sie das Labyrinth betreten hatten. Vitali legte seine Hand auf die ihre. Die Hände der anderen folgten. Auch wenn die Angst nicht von ihnen abließ, nun blitzte auch in den Augen der anderen Entschlossenheit auf. Sie spürten wieder das Pochen in ihren Adern. Das Weglaufen hatte ein Ende. Die fünf rannten hinaus auf den Hauptgang, Vitali voraus. Von diesem Punkt aus hatten sie eine bessere Sicht, konnten nicht so leicht in die Enge getrieben werden, waren aber gleichzeitig wie auf dem Präsentierteller. Noch waren sie sich nicht sicher, was sie jetzt tun sollten. In den hinteren Teil des Supermarktes gehen? Vitali nahm den anderen die Entscheidung ab. „Wir sind hier, ihr verdammten Mistviecher!!!“, brüllte er so laut er konnte. Serena starrte ihn entsetzt an. „Schon mal was von Überraschungsangriff gehört?“ „Sie wissen ohnehin, dass wir hier sind.“, sagte Justin. Um eventuelle Angriffe von hinten oder einer anderen Seite zu erkennen, stellten die fünf sich schleunigst Rücken an Rücken in einen Kreis auf. Sie konzentrierten sich auf die Kraft, die sie erst an diesem Morgen gespürt hatten, fühlten sie durch ihre Adern fließen, ihren Körper erfüllen. Doch die Schatthen tauchten nicht auf. Vitali wurde ungeduldig. „Verdammt! Kommt gefälligst her!“ „Sie wollen, dass wir zu ihnen kommen.“, deutete Vivien. „Eine Falle.“, vermutete Justin. „Darauf können wir uns nicht einlassen.“, meinte Serena. „Uns wird wohl keine andere Wahl bleiben.“, erwiderte Ariane. Wutentbrannt steigerte sich die Kraft in Vitali. Mit einem Zornesschrei riss er die Arme nach vorne und entfesselte eine Energie, die auf zwei Regale prallte und diese zum Umstürzen brachte. Es gab einen lauten Schlag und man hörte zahllose Gegenstände auf dem Boden aufschlagen. Die anderen waren zunächst entsetzt über Vitalis Aktion und das Chaos, das er damit angerichtet hatte, ehe ihnen einfiel, wie bescheuert dieser Gedanke war, schließlich ging es hier um ihr Leben, wen interessierte also, wer das Durcheinander später wegräumen musste. „Wenn ihr nicht zu uns kommt, dann kommen wir eben zu euch!“, schrie Vitali. Doch es war nicht mehr nötig, diese Ansage in die Tat umzusetzen. Wie aus dem Nichts schossen rings um die fünf Schatthen aus dem Boden, als hätten sie nur auf etwas Bestimmtes gewartet. Der Anblick der Schatthen, auch wenn sie darauf vorbereitet waren, lähmte sie für einen Moment. Die gierig, blutdurstig auffunkelnden Augen, so voller Hass, so voller Zorn – der Blick der Schatthen allein fügte einem seelische Qualen zu. Als würde man in eine Schwärze sehen, die einem auf unheimliche Weise schrecklich vertraut war und gleichzeitig so abartig fremd und grotesk. Erst Vitalis Angriff ließ die anderen aus ihrer Trance aufschrecken. Die violette Energie schoss aus Vitalis Armen hervor wie ein Raubtier und stürzte sich mit ebensolcher Kraft und Gewalt auf zwei Schatthen. Die anderen sahen, wie Vitali seine Finger krümmte, als wolle er sie erbarmungslos in das Fleisch einer Person graben, synchron dazu legte sich die Energie um die Körper der Schatthen wie ein Korsett, das in Sekundenbruchteilen immer fester gezogen wurde, und die Kreaturen erbärmliche Schmerzensschreie ausstoßen ließ, ehe Vitali ihnen mit einer letzten hektischen Bewegung den Körper zerfetzte, dass nur noch schwarzer Staub von ihnen übrig blieb. Die übrigen Schatthen waren im ersten Moment ebenso geschockt wie die Beschützer und starrten auf die Stelle, an der eben noch ihre Artgenossen gestanden hatten. Manche von ihnen waren ängstlich zusammengezuckt, um nun noch grausigere Drohgebärden zu zeigen als jemals zuvor. Im nächsten Moment sprangen sie mordlüstern auf die Beschützer zu. Und dieses Mal war es Serena, die der Macht in ihrem Körper freien Lauf ließ. Violette Strahlen trafen die Schatthen wie Geschosse und ließen die getroffenen Stellen explodieren. Der Kopf einer der Bestien zerbarst in einen Regen aus schwarzen Punkten, einem anderen wurde die linke Seite des Körpers zerrissen, dem nächsten zersprang der Brustkorb mit einem lauten Knall und der Kopf des Schatthens landete direkt vor Arianes Füßen, die mit entsetzt aufgerissenen Augen erkannte, dass dieser sich in schwarzgrauen Rauch auflöste. Sogleich feuerte Serena eine weitere Salve auf die Gegner ab. Das Gefühl, wenn sie diese Kraft freisetzte und sie ihren ganzen Körper durchflutete, kam ihr ungemein vertraut vor, wie die Erinnerung an einen längst vergessenen Traum. Ihr Geist und ihr Körper gingen in den Bewegungen auf, zu der sie die Macht in ihrem Inneren veranlasste. Es glich einem Tanz. Wie in einem Rausch ließ sich Serena von der Kraft führen. Ihr Körper schien zu einem Instrument zu werden, durch das diese Kraft sich ausdrückte und das von ihr beseelt wurde. Die Umgebung verschwand in weiter Ferne, während immer mehr Feinde ihren Angriffen zum Opfer fielen. Zunächst sahen die anderen drei dem einschüchternden Spiel von Serena und Vitali nur zu. Doch tatenlos rumzustehen, war keine Option. So gaben auch sie sich schließlich dem Kampf hin und befreiten ihre neu gewonnenen Kräfte. Ein Schatthen nach dem anderen krepierte. Schwarzer Staub und Todesschreie erfüllten die Luft. Als schließlich keine neuen Feinde folgten, rannten die Beschützer in den hinteren Teil des Supermarktes, wo mehrere große Kühltruhen aufgestellt waren. Von hier mussten die Schreie von zuvor gekommen sein und hier fanden die fünf auch weitere Schatthen vor. Dieses Mal zögerten sie nicht mehr. Weitere Schatthen zerfielen zu Staub. Sie gingen weiter, stiegen über die durch Vitali umgestürzten Regale, deren Inhalt auf dem Boden verstreut lag. Zahllose zerdellte Dosen säumten den Weg. Teilweise waren sie aufgeplatzt, sodass ihre Füllung herausquoll wie die Gedärme aus einem aufgeschlitzten Tier. Mit einer einfachen Handbewegung zerlegte Vitali den nächsten Schatthen, der sich vor ihnen zeigte. Die fünf gingen weiter. Aus Ecken, hinter Regalen hervor, aus dem Nichts sprangen immer wieder Schatthen auf sie zu, die jedoch ihr zeitiges Ende fanden. Wie in einem Ballerspiel kämpften sich die fünf in entlegenere Teile des Supermarkts vor. Bisher hatten sie noch keinen Menschen gefunden. Wie sie nur einige Schritte weiter erkannten, lag dies daran, dass die Schatthen sämtliche Leute entweder zusammengetrieben oder bereits in ohnmächtigem Zustand kurz vor die Kassenschalter geschafft hatten, wo die mehr als zwei Dutzend Leiber nun wie tot am Boden lagen. Eine letzte größere Gruppe an Schatthen griff die fünf an. Doch die Vernichtung dieser war nun fast schon zu einer grausigen Routine geworden. Schwarzgrauer Rauch stieg in die Luft und war kurz darauf nicht mehr sichtbar. Als wüssten sie, dass keine weiteren Gegner auf sie warteten, schnappten die fünf nach Sauerstoff. Sie fühlten sich auf einmal total erschlagen. Serena konnte sich nicht länger auf den Beinen halten und sank erschöpft zu Boden. Justin und Vivien fanden noch die Kraft hinüber zu der Menschenmenge zu gehen und nach deren Befinden zu sehen. Sie atmeten noch, zudem waren keine physischen Wunden, außer vielleicht ein paar zukünftigen blauen Flecken erkennbar. Diese Menschen waren bloß als ein Lockmittel eingesetzt worden. Sie waren nie das Ziel der Schatthen gewesen. Aber was würde jetzt in ihnen vorgehen? Was würde geschehen, wenn sie wieder aufwachten? Die Beantwortung der Frage ließ nicht lange auf sich warten, denn nun da die letzten Schatthen ausgelöscht waren, war auch der Bann über die ohnmächtigen Menschen gebrochen worden. Langsam kamen die Leute wieder zur Besinnung. Justin und Vivien schreckten zurück und gingen hinüber zu den anderen. „Was machen wir jetzt?“, wollte Ariane wissen. „Wir können ihnen wohl kaum einreden, dass sie sich das alles nur eingebildet haben.“ „Ist doch egal.“, entgegnete Vitali. „Die können ruhig wissen, dass es Schatthen gibt. Dann sind wir hier nicht mehr die einzigen Verrückten.“ „Das würde eine Panik auslösen.“, hielt Justin entgegen. „Das können wir nicht zulassen.“ „Können wir sowieso nichts gegen machen.“, meinte Vitali. „Oder hast du so’n Gedächtnislöschdingens wie die Men in Black?“ Ehe sie noch weiterreden konnten, setzte sich die erste Person auf und sah sich mit seltsam glasigen Augen um. Ungerührt stand sie auf und ging an den fünfen vorbei zurück zu dem Lebensmittelbereich. Immer mehr Leute standen nacheinander auf und machten einen ebenso unbeteiligten Eindruck als stünden sie unter Drogen und würden ihre Umgebung gar nicht richtig wahrnehmen. In kürzester Zeit hatten sich die Leute wieder im ganzen Supermarkt verteilt, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben. „Vielleicht sind es Zombies.“, überlegte Vivien laut. „Das ist nicht witzig.“, wisperte Serena. Sprachlos sahen die Beschützer mit an, wie sämtliche Personen sich wie Marionetten in den Räumlichkeiten verteilten. Sie machten einige Schritte zurück in die Lebensmittelabteilung, um die Leuten weiter beobachten zu können und erstarrten erneut. Sie glaubten erst, nicht richtig hingesehen oder die Stelle falsch in Erinnerung zu haben, aber ganz eindeutig: Das war der Gang, der eben noch von Dosen und anderen Verkaufsartikeln übersät und in dem die Regale umgestürzt gewesen waren! Aber nun – es war nicht vorstellbar – standen die Regale wieder aufrecht und alle Waren waren wie von Zauberhand wieder einsortiert. Sie zweifelten zuerst an ihren Augen, dann an ihrem Verstand. Als schließlich alle Personen wieder den Platz eingenommen hatten, an dem sie vor dem Angriff der Schatthen gestanden hatten, fand das gruselige Puppenspiel schließlich ein Ende. Als hätte jemand mit den Fingern geschnippt und somit die Zeit wieder in Gang gesetzt, herrschte plötzlich wieder Betrieb im Gebäude. Die fünf sahen die Leute wieder Gegenstände in die Einkaufswägen packen, miteinander reden, sich nach Gesuchtem umblicken. Alles war, als wäre nie etwas passiert. Ihnen lief ein eisiger Schauer über den Rücken. „Was hat das zu bedeuten?“, sprach Ariane den Gedanken von ihnen allen aus. Für einen Moment schwiegen sie und begafften weiter die Supermarktkunden, die teilweise etwas befremdet auf das Verhalten der geistesabwesend glotzenden Jugendlichen reagierten und einen weiten Bogen um sie machten. „Sie.. erinnern sich an gar nichts.“, hauchte Justin. „Das ist unmöglich!“, warf Vitali ein. „Sieh sie dir doch an.“, antwortete Ariane. Serena sah nachdenklich aus. „Aber wenn die Schatthen alle verschwunden sind, ist das nicht ihr Werk.“ „Als wir Ewigkeit begegnet sind, haben wir uns auch an nichts mehr erinnert.“, fiel es Ariane ein. „Ewigkeit soll das gemacht haben?“, fragte Vitali. „Wo ist sie dann?“ „Vielleicht zeigt sie sich nicht, weil sie immer noch beleidigt ist.“, mutmaßte Ariane. Vivien schüttelte den Kopf. „Wenn Ewigkeit wirklich etwas von dem Kampf mitbekommen hätte, wäre sie uns beigestanden. Beleidigt oder nicht.“ Justin sah Vivien erwartungsvoll an. „Was war es dann?“ „Der Schatthenmeister.“, sagte Vivien. Die anderen zuckten zusammen. Vivien sprach weiter. „Wahrscheinlich will er auch nicht, dass die Leute über die Existenz der Schatthen Bescheid wissen und offensichtlich hat er unheimlich viel Macht, so dass er auch ohne Anwesenheit andere Menschen manipulieren kann. Oder Regale wieder aufstellen kann.“ „So was bräuchte ich, um mein Zimmer aufzuräumen.“, scherzte Vitali. Serenas Augen wurden eng. „Wer sagt uns, dass nicht einer von diesen Leuten der Schatthenmeister ist?“ Sie ließ ihren Blick über die Menschen schweifen. „Er könnte sich nur ohnmächtig gestellt haben.“ Nun war es eine Mischung aus Angst und Misstrauen, mit der die fünf sich umschauten. „Ich möchte weg von hier.“, sagte Ariane tonlos. Auch Vivien war die Lust am Einkaufen vergangen. Und so verließen sie den Supermarkt, ohne ihren Einkaufswagen zu holen. Die Flucht aus diesem bedrückenden Gebäude war ihnen den einen Euro gut und gerne wert, den sie in dem Einkaufswagen beließen. Schnellstmöglich entfernten sie sich von dem Supermarkt. Die frische Luft hier draußen kam ihnen wie eine wahre Erlösung vor. Sie schauten noch einmal zurück auf das Gebäude und dessen Parkplatz, als sie das Gelände mit schnellen Schritten verließen. Zuvor hatten sie immer geglaubt gehabt, ein Sieg gegen die Schatthen würde sie unheimlich glücklich stimmen, aber dem war nicht so. Stattdessen quälte sie nun das Wissen, dass die Schatthen sie entgegen ihrem naiven Glauben überall und jederzeit angreifen konnten. Irgendwie hatten sie bisher geglaubt, dass diese Bestien das Sonnenlicht meiden würden und natürlich große Menschenmengen. Aber diese Vorstellungen waren nun mit einem Mal zerschlagen worden. Sie waren nirgendwo mehr sicher. Der Gedanke machte ihnen trotz ihres Sieges Angst. Der Schatthenmeister – er musste genau wissen, wo sie sich gerade aufhielten! Wie sonst hätte es zu diesem Angriff kommen können? Wer konnte schon sagen, wie viel er über sie wusste. Und sie? Sie wussten überhaupt nichts über ihren Feind, waren ihm und seinen Angriffen ausgeliefert. Aber vielleicht, ja vielleicht, hatten sie ihm ja heute in diesem Kampf ihre Stärke demonstriert, vielleicht würde er es sich nun zweimal überlegen, ob er sich nochmals mit den Gleichgewichtsbeschützern anlegte. Warum nur fühlte sich dieser Gedanke wie Selbstbetrug an? Wieso fühlten sie sich auf einmal noch hilfloser als zuvor? So als hätten in Wirklichkeit die Schatthen gesiegt. Kapitel 43: Verraten -------------------- Verraten „Besser ein offener Feind als ein verstellter Freund.“ (Jean Giraudoux, frz. Schriftsteller, 19./20. Jh.) Von unbändiger Angst überkommen pochten die Herzen der fünf in einem hektischen Rhythmus. Das Rauschen ihres Blutes hämmerte so laut in ihren Ohren, dass es die Geräusche ihrer Umgebung wie eine Hintergrundmelodie erscheinen ließ. Der Wunsch loszurennen, hin zu ihrem Geheimversteck – dem nunmehr einzig sicheren Zufluchtsort – rang mit der Selbstbeherrschung, die sie eindringlich zur Vorsicht mahnte. Weitere Schatthen konnten sich noch in der Nähe befinden, konnten ohne weitere Vorwarnung auf sie zu stürzen. Argwohn und Angst mischten sich, ließen den Beschützern die Menschen um sie herum wie potentielle Feinde erscheinen und machten ihnen auch noch die kleinste Bewegung verdächtig. Mit den letzten zwanghaft beherrschten Schritten schafften sie es zum Park, schauten sich noch einmal misstrauisch um, ehe sie den Weg durch die Bäume zu ihrem kleinen Holzhäuschen einschlugen. Schnellstmöglich stürzten sie auf den Eingang zu, durchschritten die Pforte, dann verließ sie schließlich die Kraft. Hilflos brachen sie in sich zusammen. Auf dem Boden kauernd ergriff erneut ein Zittern die Macht über ihre Körper. Gierig sogen sie Luft in ihre Lungen, in der Hoffnung dadurch ihre überstrapazierten Nerven wieder etwas beruhigen zu können. Die Bilder von zerfetzt werdenden Schatthen schossen durch ihren Geist. Ein grauenhafter Brechreiz kam in ihnen hoch, den sie nur mit größter Mühe unterbinden konnten. Verzweifelt hielten sie sich den Mund zu. Der Kampf gegen ihren rebellierenden Körper war zu beanspruchend. Ewigkeits Anwesenheit bemerkten sie erst, als ihre Stimme sie aufhorchen ließ. „Was ist passiert?“ Mit angsterfüllten Augen starrten sie das Schmetterlingsmädchen an. Doch nur für einen Moment. Wieder jagten ihre Blicke ziellos im Raum hin und her, wie Tiere, die sich blindlings in eine Ecke verkrochen und wieder aufsprangen, auf der Suche nach einem besseren Versteck. „Schatthen...“, hauchte Justin. Wieder hallte ihr Todesschrei durch seine Gedanken. Er presste die Hände auf seine Ohren, in einem vergeblichen Versuch die Erinnerung auszusperren. Ewigkeit riss die Augen auf. „Was ... Was habt ihr getan?“ „Wir haben gekämpft...“, sagte Ariane atemlos. Ewigkeit schüttelte entsetzt den Kopf, ihre Stimme wurde zu einem Kreischen: „Was habt ihr getaaan?!“ Vitali fuhr auf und schrie vor Aufregung und Ohnmacht: „Unsere Kräfte eingesetzt! Was sonst?!“ Ewigkeits Tonfall blieb unnormal heftig. „Welche Kräfte?“ „Ist das so wichtig!?“, brauste Serena auf. „Wir wären beinahe gestorben und du denkst nur daran, ob wir deine oder unsere neuen Kräfte benutzt haben?!“ „Welche Kräfte!“ Vitali fuhr sie an: „Diejenigen, mit denen man sich auch zur Wehr setzen kann!“ Ewigkeits Medaillon begann zu leuchten und ihr Gesichtsausdruck änderte sich zu dem Eternitys. Ihr Blick war streng, geradezu unheimlich. „Ihr habt nicht das getan, was ich euch gesagt habe.“ Mit einem Mal wurde sie laut: „Wieso habt ihr nicht das gemacht, was ich euch gesagt habe!“ Die fünf zuckten zusammen. Wieso erschien ihnen Eternity schlagartig so fremd, so Furcht einflößend? „Ihr dürft sie nicht benutzen!“, befahl Eternity. „Nie mehr dürft ihr sie benutzen!“ Vitali sprang auf. „Du hast uns gar nichts zu befehlen! Wo warst du, als wir dich gebraucht haben?! Du kannst nicht über uns bestimmen, wie du grade Lust hast!“ Justin trat vor und hielt Vitali mit seinem ausgestreckten Arm davon ab, näher an Eternity heranzugehen. Mit festem Blick sah er zu dem Schmetterlingsmädchen. „Eternity.“, sagte er in beherrschtem Ton. „Auch wenn es dich kränkt, diese Kräfte haben uns das Leben gerettet.“ Noch ehe er weiter reden konnte, begann Eternity wieder zu schreien. „Ihr müsst tun, was ich euch sage!“ Vivien konnte das nicht mehr mit ansehen. Sie stand auf und machte einen Schritt auf das Schmetterlingsmädchen zu. „Eternity!“ Mit versöhnlichem Blick streckte sie ihre Hand nach ihrer kleinen Freundin aus. Wie unter Hieben wich die Kleine vor ihr zurück. „Nein!“, kreischte sie schrill und riss ihre Arme in die Höhe. Vivien erstarrte in der Bewegung, völlig perplex von Eternitys Reaktion. Was ging hier vor? Ariane packte Viviens Hand, um sie daran zu hindern, sich Eternity nochmals zu nähern. „Wir werden jetzt gehen.“, sprach Justin langsam und behutsam aus, als stünde er einem unberechenbaren Geisteskranken gegenüber, der ihn rücklings erstechen würde, drehte er ihm leichtfertig den Rücken zu. „Nein! Ihr dürft nicht gehen! Ihr dürft jetzt nicht gehen!!!“, forderte Eternity. Vivien starrte sie erschüttert an. Das war doch nicht die Eternity, die sie kannten. Nein, sie wollte das nicht wahr haben! Was wurde hier gespielt?! Ariane zog sie zu sich nach hinten, so dass die fünf jetzt wieder in einer Reihe standen. Schweigend, aber mit abweisenden Blicken, standen sie Eternity gegenüber. „Ihr müsst jetzt genau das tun, was ich euch sage!“, befahl Eternity. „Wenn ihr das nicht tut, dann ...“ Ehe sie weiterreden konnte, gab Justin das Zeichen rauszurennen. Die fünf wirbelten herum, stürzten auf die Tür zu und taumelten ins Freie. Ariane zog Vivien mit sich. Sie rannten, ohne sich umzublicken, durch das Dickicht, auf den Hauptweg des Parks, rannten weg, weit weg. Aber wo waren sie schon sicher? Die Schatthen konnten überall auftauchen und Eternity... – Warum war Eternity auf einmal auch zum Feind geworden!? Das musste ein Scherz sein, ein schlechter Scherz. Sie mussten das alles falsch verstanden haben, ganz falsch verstanden haben! Ewigkeit wollte ihnen nichts Böses, sie wollte sie nicht beherrschen, nicht ihre Kräfte für sich nutzen, nicht sie manipulieren! Bei dem Gedanken mussten sie Tränen unterdrücken. Wieso, wieso musste das alles passieren!? Es durfte nicht wahr sein. Das durfte es einfach nicht! Serena ging die Puste aus. Die anderen hielten an und blickten sich panisch um. Weder Eternity noch sonst jemand waren zu sehen. „Wir müssen weiter.“, sagte Justin. „Was bringt es?“, rief Serena erregt. „Wir können soweit weglaufen wie wir wollen. Sie kann sich teleportieren!“ „Aber...“ Vivien verstand die Welt nicht mehr. „Das muss ein Missverständnis sein. Wir sollten zurückgehen und mit ihr reden.“ „Bist du bescheuert!“, herrschte Vitali sie an. „Hat dir das eben nicht gereicht!“ Vivien schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Ewigkeit gehört zu uns.“ Ihr Gesichtsausdruck zeugte von innerer Qual. „Und was war das dann eben!“, schrie Serena. Es war ihr anzusehen, dass die Erkenntnis sie genauso aus der Bahn geworfen hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Man kann niemandem vertrauen.“ Sobald Serena das ausgesprochen hatte, ergriff Vivien schleunigst ihre Hand und sah sie durchdringend an. „Sag das nicht!“ Mit bitter verzerrtem Gesichtsausdruck wandte Serena den Blick ab. Vivien warf sich ihr in die Arme und hielt sich an ihr fest. Einen Moment wusste keiner von ihnen, was sie jetzt tun sollten. Stehen bleiben? Weiterlaufen? Alles schien nutzlos und würde einen Angriff, egal von wem, doch nur hinauszögern. Die Schatthen und Eternity würden sie überall aufspüren, auch noch am anderen Ende der Welt. „Vielleicht haben wir sie nur falsch verstanden.“, presste Vivien mit erstickter Stimme hervor. „Vivien!“, herrschte Serena sie an und packte sie an den Schultern. „Es ist nicht alles rosarot, okay?“ Sie schluckte. „Wir können ihr nicht mehr vertrauen. Verstehst du?“ „Das ergibt keinen Sinn!“, rief Vivien. „Wieso sollte sie … Sie hat uns doch geholfen! Sie hat uns gezeigt, wie wir unsere Kräfte einsetzen!“ „Das kann auch pure Taktik gewesen sein.“, erwiderte Justin resigniert. Serena nickte. „Um unser Vertrauen zu gewinnen.“ Vitali ballte die Hände zu Fäusten und zog ein gequältes Gesicht. „Und das hat sie ja auch geschafft.“ „Glaubt ihr, sie hat uns die ganze Zeit angelogen?“, fragte Ariane bestürzt. „Wahrscheinlich.“, sagte Serena bitter. „Aber was hat ihr das gebracht?“, sprach Ariane weiter. Serena antwortete: „Hätten wir nicht die anderen Kräfte erlangt, wären wir von ihr abhängig geworden und da wir ihr vertrauten, hätten wir alles getan, was sie von uns wollte.“ Ihre Stimme verlor an Kraft. „Und wir hätten es auch noch für das Richtige gehalten.“ Ariane sah betreten zu Boden, dann schreckte sie mit einem Mal auf. „Der Schutzwall, der sie nicht durchgelassen hat, als wir unsere Kräfte erhalten haben! Der Ort muss gewusst haben, dass sie gegen uns ist.“ Justin ergriff das Wort. „Wisst ihr noch, was Secret im Schatthenreich gesagt hat? Er hat davon gesprochen, dass wir die ganze Zeit beobachtet werden. Serena hatte den Verdacht, dass Ewigkeit ihren und unsere Namen nur auf das Gedicht abgestimmt hat, aber dass wir Erik Geheim genannt haben, konnte sie nicht wissen. Aber wenn wir belauscht wurden, dann konnte der Feind das sehr wohl wissen.“ Vivien sah ihn ungläubig an. „Glaubst du wirklich, dass Ewigkeit zum Schatthenmeister gehört?“ In Justins Augen war Trauer zu lesen. „Ich will es nicht glauben.“ Vitali warf plötzlich ein: „Was, wenn in Wirklichkeit Eternity der Schatthenmeister ist?“ Der Gedanke war zu abstoßend, als dass der Verstand der anderen ihn einfach so hätte hinnehmen können. Ariane setzte den Gedankengang fort. „Wir konnten uns damals nicht mehr erinnern, nachdem sie uns auf der Baustelle begegnet ist. Das heißt, sie kann auch Menschen manipulieren. Vielleicht war doch sie es, die die Leute im Supermarkt gesteuert hat.“ Serena verkniff sich auszusprechen, was sie für einen Moment dachte: Sie hatte es ja gleich gesagt und niemand hatte auf sie hören wollen! Doch in Wirklichkeit hatte sie Ewigkeit nach Kurzem ebenso ins Herz geschlossen wie die anderen. Auch sie war auf ihr falsches Spiel hereingefallen. Vivien sträubte sich noch immer dagegen. „Aber wieso hätte sie uns das alles über unsere Kräfte und den Schatthenmeister erzählen sollen?“ „Noch mal! Sie wollte uns auf ihre Seite ziehen!“, rief Serena. Justin machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wir wissen nicht, wer es alles auf uns abgesehen hat. Vielleicht ist nicht nur der Schatthenmeister hinter uns her.“ „Außerdem gibt es wahrscheinlich nicht nur einen von denen.“, ergänzte Serena. Vivien erhob Einspruch: „Aber Ewigkeits ganze Art, ihre Blicke, ihre Fröhlichkeit, ihre Trauer, das kann doch nicht alles gespielt gewesen sein!“ Für keinen von ihnen war es einfach, diesen Gedanken anzunehmen. „Ewigkeit ist nicht Eternity.“, fiel es Justin ein. „Eternity kam immer, wenn Ewigkeit provoziert wurde oder nicht weiter wusste. Vielleicht wird Ewigkeit auch nur kontrolliert.“ „Durch das Medaillon!“, rief Ariane. „Es leuchtet auf, wenn sie zu Eternity wird. „Und was wollt ihr tun?“, wandte Serena ein. „Ihr das Medaillon wegreißen und hoffen, dass sie dann wieder lieb und nett ist?“ „Fürs erste tun wir gar nichts.“, beschloss Justin. „Was wenn sie einen von uns kontrolliert?“, kam es Ariane. Die anderen verstanden nicht recht. „Wenn unsere Feinde andere Menschen und eventuell auch Ewigkeit so mir nichts dir nichts kontrollieren können, wer sagt uns dann, dass nicht auch einer von uns manipuliert wird, ohne dass wir es bemerken?“, erklärte Ariane. „Ich tippe auf Serena!“, rief Vitali aus wie bei einem Ratespiel. Serena fauchte: „Dann könnte ich dich wenigstens loswerden!“ Vitali schlug ihr kumpelhaft auf die Schulter. „Nimm doch nicht alles so persönlich!“ „So ein Gedanke macht uns nur misstrauisch gegeneinander.“, meinte Justin ernst. „Aber er ist berechtigt.“, meinte Serena. „Hört auf damit!“, schrie Vivien heftig. Die anderen hatten sie noch nie so gehört. Vivien starrte sie ungewohnt durchdringend an. „Wir sind ein Team! Wir müssen einander vertrauen!“ „Damit wir wieder verraten werden?“, entgegnete Serena bissig. „Fängst du schon wieder an.“, seufzte Vitali. „Ist es nicht so?!“, gab Serena zurück und deutete mit ihrem Arm in die Richtung ihres ehemaligen Hauptquartiers. „Eternity könnte jederzeit bei jedem von uns auftauchen und ihn manipulieren.“ Vivien begehrte auf: „Dann merken wir es und befreien ihn davon!“ „So wie wir es bei Ewigkeit bemerkt haben?!“, fuhr Serena sie an. „Und wie würdest du die Person davon befreien wollen?“ Vitali spottete: „Willst du lieber gleich zurückgehen und Eternity töten?“ Serena starrte ihn sprachlos an, dann wandte sie sich ab. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und wollte sich zwingen zu sagen, dass das vielleicht die einzige Möglichkeit war. Aber allein der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Und wieder waren da die Bilder der zerfetztwerdenden Schatthen in ihrem Kopf. „Wenn sie uns angreift, dürfen wir nicht mehr zögern.“, wisperte Serena halblaut und ging dann weiter. Die anderen folgten. Vivien rannte vor sie und brachte sie mit ausgebreiteten Armen zum Stehen. „Nein! Wir werden Ewigkeit nicht wehtun!“ Vitali sprach erregt und machte den Eindruck, als stünde er kurz davor, zusammenzubrechen: „Verdammt Vivien, das ist nicht die Ewigkeit, für die wir sie gehalten haben! Sie ist gefährlich!“ „Das wissen wir doch gar nicht!“, beharrte Vivien. „Willst du es austesten?!“, schimpfte Vitali. „Besser als jemand Unschuldigem wehzutun!“, rief Vivien. Justin legte ihr mit einem Mal die Hand auf die Schulter. Er sah sie nicht an. „Manchmal kann man sich seine Feinde nicht aussuchen.“ Vivien starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie brachte keinen Ton heraus. Serena, Vitali und Ariane umgingen sie wie eine Straßensperre und setzten ihren Weg fort. Langsam ließ Vivien ihre Arme sinken, den Blick zu Boden gerichtet. Schließlich ließ auch Justin sie stehen. Die fünf verschanzten sich in ihren Zimmern, sprachen mit ihrer Familie kaum ein Wort. Dieses Mal war alles anders als zuvor. Sie waren zwar in der Gruppe nach Hause gegangen, aber die Stimmung war bedrückend gewesen. Im Gegensatz zu sonst hatten sie nicht die Nähe zueinander gesucht. Sie wollten weit weg von allem. Ruhe haben, Ruhe vor den quälenden Zwangsgedanken in ihrem Kopf, die durch die Nähe zu den anderen nur noch verstärkt wurden. Noch immer pochte die Energie in ihren Adern und erinnerte sie schmerzlich an ihre Erlebnisse. „Prinzessin, ist alles in Ordnung?“, fragte Herr Bach beim Abendessen. „Ja.“, gab Ariane knapp zurück. Ihre Mutter horchte auf. „Hattest du Streit?“ Sie klang eher neugierig als beunruhigt. „Nein.“, antwortete Ariane mühsam beherrscht, ohne von ihrem Teller aufzublicken. Sie wollte nicht vor ihren Eltern zu weinen anfangen. Ihr Vater klang furchtbar besorgt. „Ariane, ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.“ „Es ist alles bestens!“, rief Ariane ungewollt laut und sah daraufhin in die entsetzten Gesichter ihrer Eltern. Abrupt stand sie vom Tisch auf, den Blick abgewandt. „Ich ...“, sie stockte. „Tut mir leid. Ich fühl mich nicht gut.“ Sie drehte sich um und verließ eilig den Raum. Herr Boden betrat das Zimmer seines jüngeren Sohns. Dieser saß im Halbdunkel auf seinem Bett. „Justin?“ Er blickte auf, sein Vater näherte sich ihm. „Du wirkst so abwesend.“ Herr Bodens Blick schweifte kurz hinüber zu dem Fenster, durch das man Sicht ins Nachbarhaus hatte. „Probleme mit Frauen?“ „Das ist es nicht.“, sagte Justin kraftlos. Sein Vater setzte sich neben ihn. „Etwas, worüber du mit mir reden magst?“ Justin seufzte. „Derzeit passiert einfach zu viel.“ Sein Vater wartete, doch Justin schwieg. Daraufhin legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Wenn die Schule für dich zu anstrengend wird, deine Mutter und ich wollen dich zu nichts zwingen.“ Justin schüttelte den Kopf. „Es war meine Entscheidung, die Schule weiterzumachen.“ Er konnte seinem Vater schlecht erklären, dass sein Verhalten überhaupt nichts mit der Schule zu tun hatte. „Ich brauche nur etwas Ruhe.“, sagte er leise. „Okay.“ Sein Vater nickte und stand auf. „Aber wenn du irgendwelche Probleme haben solltest, kannst du immer zu mir kommen.“ „Danke.“ Herr Boden verließ das Zimmer. Justin wandte sich für einen Moment zum Fenster. Dann schlug er die Augen nieder und rutschte weiter zurück, von wo aus er nicht zu Vivien schauen konnte. Er wollte sie gar nicht sehen. Im ersten Moment erschrak Justin über diesen Gedanken. So etwas war ihm vorher niemals in den Sinn gekommen. Seltsam fremd fühlte er sich in seinem eigenen Körper. Er legte sich auf sein Kissen. Sicher brauchte er bloß Schlaf. Ursprünglich war ein Training für Sonntag anberaumt gewesen, das nun hinfällig war. Für gewöhnlich hätten sie einen anderen Anlass gefunden, sich miteinander zu treffen, aber jetzt wollten sie sich einfach nur verkriechen und vor der grausigen Realität verstecken. Allein der Gedanke an einander rief ihnen wieder ins Gedächtnis, in welcher Gefahr sie sich befanden. Etwas, das sie verdrängen wollten. Und so verspürten sie eine regelrechte Abneigung gegenüber der bloßen Idee, sich beieinander zu melden. Sie wollten weder die Stimme noch das Gesicht oder sonst etwas von einander wahrnehmen. Doch montags konnten sie sich nicht länger aus dem Weg gehen. Kapitel 44: Zerstritten ----------------------- Zerstritten „Ein entsetzliches Schicksal hat die Sprache unsrer Herzen verwirrt.“ (aus Kabale und Liebe von Friedrich Schiller, 5. Akt, 7. Szene) Im Gegensatz zu seinem üblichen Verhalten kommentierte Vitali an diesem Montagmorgen Herrn Mayers betriebswirtschaftliche Ausführungen nicht. Erik nahm dies mit Verwunderung zur Kenntnis und schob es auf Vitalis allmorgendliche Müdigkeit. Dass sein Banknachbar nicht zu den Frühaufstehern zählte und besonders montags mit dem Unterricht zu kämpfen hatte, war nichts Neues. Doch als die erste fünfzehn Minuten Pause nach der Wirtschaftsdoppelstunde begann und Vitali noch immer schweigsam da saß, anstatt wie sonst unbeschwert loszuplappern, wurde Erik endgültig stutzig. „Ist alles ok bei dir?“, fragte er skeptisch. Vitali hatte es nicht einmal nötig, ihn anzusehen, sondern brummte nur ein genervtes „Ja“. Erik betrachtete ihn argwöhnisch. „Aha.“ Der Klang seiner Stimme ließ Vitali nun doch herumfahren. Wütend herrschte er ihn an: „Was willst du?“ Erik, davon irritiert, schaute nur ungläubig. Mit übellaunigem Gesichtsausdruck wandte Vitali sich ab. Erik unterließ es, ihn nochmals anzusprechen. In der zweiten großen Pause, die sie normalerweise auf Viviens Initiative hin immer im Schulhof verbrachten, rührte sich keiner vom Fleck. Erik verstand das nicht. Er stand auf und fragte in die Runde, ob sie rausgehen wollten. Die anderen sahen ihn stumm an und erhoben sich. Selbst Vitali raffte sich grummelnd auf. Während sie den Weg in den Schulhof einschlugen, versuchte Erik in den Gesichtern und der Körperhaltung der anderen zu lesen, was hier vorging. Justins Gesichtsausdruck war geistesabwesend, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Und Vivien wirkte unsicher. Etwas, das so gar nicht zu ihr passen wollte. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, als würde ihr etwas schwer auf dem Herzen liegen. Erik überlegte, ob es ein Missverständnis zwischen den beiden gegeben hatte. Justin war schließlich alles andere als offen mit seinen Gefühlen und Vivien hatte sich bisher extrem angestrengt, ihm näher zu kommen, ohne sichtbaren Erfolg. Was Vitali anging: vielleicht war irgendetwas in seiner Familie passiert, das ihn aufgeregt hatte. Immerhin war Vitali schnell beleidigt und reagierte dann mit Aggressionen, wie um sich keine Blöße zu geben. Erik ging davon aus, dass Vitali allzu sensibel war und ihn genau das oft wütend machte. Üblicherweise war Vitali jedoch ziemlich schnell wieder in einer anderen Stimmung, geradezu wie ein kleines Kind, das sich nur kurz mit unangenehmen Emotionen aufhielt. Serena und Ariane machten noch den normalsten Eindruck. Serena schaute grimmig und schwieg, aber das war man von ihr gewöhnt, während Ariane eine erhabene, aber unnahbare Aura verströmte. Sie setzten sich auf eine Bank unter den Bäumen, wie sie es sonst taten, doch keiner sagte ein Wort. Nach wenigen Sekunden reichte es Erik. „Ist jemand gestorben?“, fragte er provokativ. Vivien sah mit verunsicherter Miene zu ihm, als habe er den Nagel auf den Kopf getroffen. Davon für einen Moment mundtot gemacht, starrte er Vivien an. Sie senkte betrübt den Blick, als schäme sie sich. Was zum …?! Erik sah die anderen fordernd an. Doch keiner klärte ihn auf. „Serena?“ Serena stöhnte und verschränkte die Arme vor der Brust. „So ein Blödsinn.“ Erik wartete vergeblich auf eine weitere Antwort. Er versuchte mit einem Blick auf Ariane diese zu Worten zu bewegen. Ariane stieß ein Seufzen aus. „Was willst du?“ Dass er diese Frage heute schon zum zweiten Mal zu hören bekam, nervte Erik. Es klang, als würde er sich in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen. Und als wäre er derjenige, der unbedingt mit ihnen befreundet sein wollte, dabei war es umgekehrt! Er brauchte niemanden! „Meinetwegen. Ihr könnt ja weiter schmollen, wenn ihr euch damit besser fühlt.“, knurrte er. Arianes Haltung änderte sich. Mit erhobenem Haupt sah sie ihn an, als habe er gerade ihre Ehre angegriffen. „Wovon redest du überhaupt?“, verlangte sie zu erfahren. „Soll das ein Scherz sein? Vitali ist über die Maße gereizt, Vivien geradezu verängstigt, Justin völlig neben sich. Und du schaust mich an, als wäre ich eine potenzielle Bedrohung.“ „Ach, und wie sollen wir uns deiner Meinung nach verhalten?“, fragte Ariane, als benehme er sich kindisch. Erik ballte die Linke zur Faust. „Ihr könnt euch verhalten wie ihr wollt!“ Er stand auf. „Aber ich tu mir das nicht länger an.“ Mit diesen Worten ging er zurück ins Schulhaus. Vivien sah ihm besorgt nach, während Ariane stöhnend den Kopf schüttelte: „Wie ein Kind.“ „Genau.“, stimmte Vitali ihr zu. Vivien unterließ es zu fragen, ob sie nicht alle noch Kinder waren, die versuchten, erwachsen zu sein. Den Rest des Tages ging Erik ihnen aus dem Weg und keinen störte es. Sie hatten genug mit ihren eigenen Emotionen und Gedanken zu tun. Ein beleidigter Erik war ihre kleinste Sorge. Das Wichtigste war, den Tag unbeschadet zu überstehen. Und die Nacht. Vivien erwachte aus ihrem Schlaf. Es war ihr, als habe sie einen zarten Glockenklang vernommen. Als sie die Augen öffnete, sah sie vor dem Zwei-Etagen-Bett ihrer Geschwister ein kleines Licht in der Luft schweben. Sie sprang aus ihrem Bett. „Geh weg von ihnen.“, rief sie entsetzt. „Vereinen!“, sagte Ewigkeits Stimme den Tränen nahe. Das fliegende Licht kam auf sie zu. Vivien wollte zurückweichen, stieß aber gegen ihr Bett. Hilflos hob sie den rechten Arm und streckte ihn Ewigkeit drohend entgegen. „Komm nicht näher.“ Erst im nächsten Moment registrierte sie, dass das Schmetterlingsmädchen direkt vor ihren Geschwistern stand und sie dadurch ihre Kräfte nicht einsetzen konnte, ohne auch Kai und Ellen in Gefahr zu bringen. „Vereinen! Bitte, du musst mir zuhören. Es ist wichtig!“ Vivien spürte ihr Herz sich bei den Worten zusammenziehen. Sie hätte am liebsten losgeheult. Sie wollte, dass alles wieder war wie zuvor. „Ich kann nicht.“, presste sie hervor. „Bitte!“, flehte Ewigkeit. Ihre Stimme klang tränenerstickt und führte dazu, dass Vivien einen Kloß im Hals spürte. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“, schluchzte Ewigkeit. Vivien versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie durfte Ewigkeit nicht blind vertrauen. Wenn das Schmetterlingsmädchen sie wirklich nur manipulierte, würde sie die anderen damit in Gefahr bringen. Sie fasste einen Entschluss. Entschieden sah sie Ewigkeit an und senkte den Arm. „Unter einer Bedingung.“ Jähe Freude erschien auf Ewigkeits Gesicht, die so schnell von ihren Zügen wich wie sie gekommen war, als Vivien ihre Forderung stellte. „Du musst mir dein Medaillon geben.“ Ewigkeit stand stumm in der Luft. Unsicher blickte sie auf den goldenen sich auf Herzhöhe befindenden Anhänger und umfasste diesen mit ihrer kleinen Rechten wie den wertvollsten Schatz auf der Welt. Dann ließ sie ihn los. Vivien sah, dass Ewigkeit zitterte, als ihre Hände den Verschluss der Kette in ihrem Nacken suchten. Ihre Augen zuckten wie unter schlimmsten Seelenqualen. Ihr Atem stockte. Sie zögerte. Ein Leuchten ging durch das Medaillon. Plötzlich, wie in einer Trance, hauchte sie etwas so leise, dass Vivien es nicht verstand und von dem sie daher nicht wusste, dass es sich um einen Namen gehandelt hatte. Im nächsten Moment ließ die Kleine ihre Arme resigniert sinken und stand mit gesenktem Kopf in der Luft. „Es tut mir leid.“, flüsterte sie mit ihrer zweiten Stimme tonlos. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet. Vivien starrte Eternity unsicher an. Was hatte dieser Satz zu bedeuten? Alarmiert ballte Vivien die Fäuste und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Würde Eternity sie angreifen? „Ich…“, begann Eternity. „Ich kann es dir nicht geben. … Es tut mir leid.“ Vivien hielt kurz inne. Es wirkte nicht, als wolle Eternity sie attackieren, aber die Situation war deshalb noch lange nicht entschärft, zumal der Verdacht, dass mit dem Medaillon etwas nicht stimmte, nun bestätigt worden war. Schweren Herzens sprach Vivien die Worte aus: „Dann … kann ich dir nicht vertrauen.“ Eternity hob wieder ihren Kopf. Ein von Schmerz und Trauer geprägtes Gesicht sah Vivien entgegen. Das seltsame Lächeln, das Eternity ihr nun schenkte, machte Vivien keine Angst, doch das Gefühl, das es ihr vermittelte, war um so vieles schlimmer. Es tat ihr in der Seele weh. „Vereinen, bitte bleib deinem Namen treu.“ Mit diesen Worten war Eternity von einem Moment auf den anderen verschwunden und ließ Vivien im Dunkeln. Der nächste Schultag verlief nicht viel anders als der vorige. Die fünf sprachen nur das Nötigste miteinander und Erik zog es vor, sich ebenfalls im Hintergrund zu halten. Vivien hatte eigentlich vorgehabt, den andern sofort von dem Erscheinen Ewigkeits zu berichten, aber zum ersten Mal hatte sie Hemmungen. Vergeblich wartete sie auf einen passenden Moment, einen, der ihr zuflüsterte, dass sie es jetzt erzählen konnte, dass die anderen es jetzt gut aufnehmen würden. Doch ein solcher Moment kam nicht. Die Schulglocke läutete das Unterrichtsende ein und die fünf gingen langsam aus dem Schulgebäude. Erik hatte sich mit einer knappen Verabschiedung bereits von ihnen getrennt. Der Stau, der tagtäglich vor dem Eingang entstand, hatte sich schon aufgelöst. Es wäre kein Problem gewesen, eine Unterhaltung zu beginnen, kein lautes Gerede und Gedränge hinderte sie daran. Aber Vivien wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Auch als die fünf auf dem Vorhof der Schule ankamen, herrschte noch Schweigen. „Wartet!“, rief Vivien, als die anderen sich bereits in verschiedene Richtunge aufmachen wollten. „Was ist?“, wollte Vitali ärgerlich wissen, als hätte er keine Lust, länger als nötig bei ihnen zu stehen. Vivien senkte den Blick. „Ewigkeit ist gestern bei mir aufgetaucht.“ „Was?!“, rief Vitali. Die anderen starrten sie an. Justins Stimme klang nüchtern und gleichgültig, als würde er nur aus Höflichkeit mit ihr sprechen, aber als interessiere ihn die Antwort nicht wirklich. „Hat sie dir etwas getan?“ Unter anderen Umständen hätte sie seine Art wohl als verletzend empfunden, doch sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Mit auf den Boden gerichteten Blick schüttelte sie den Kopf. „Nein, sie ... Sie wollte mit mir reden.“ „Reden?!“, rief Vitali. „Von wegen!“ Serena funkelte Vivien an. „Du wirst doch nicht so dumm gewesen sein, ihr zuzuhören!“ „Nein, ich – “, ehe Vivien antworten konnte, sprach schon Ariane dazwischen. „Aber wieso ist sie nur bei Vivien erschienen?“ „Warum wohl!“, rief Serena. „Vivien ist naiv und leicht zu manipulieren.“ Arianes Gesichtsausdruck wurde wütend. „Die einzige, die bisher manipuliert wurde, bist ja wohl du.“ „Halt die Fresse!“, blaffte Serena. „Wo sie Recht hat, hat sie Recht.“, meinte Vitali. Serena stieß ihn heftig von sich. „Alter!“, schrie Vitali. „Willst du Ärger?“, schrie Serena herausfordernd. Justin ging dazwischen. „Hört auf. Das bringt doch nichts.“ Vitali brauste auf: „Musst du immer den Moralapostel spielen?! Halt dich einfach raus!“ Justins Blick wurde streng. „Einer muss hier ja der Vernünftige sein.“ Es war deutlich, dass er Vitali damit vorwarf, sich unvernünftig zu verhalten. Vitalis Nasenflügel hoben sich vor Abscheu und Wut und er sah aus, als wolle er jetzt auf Justin losgehen, doch dieser wich nicht zurück. „Das ist total kindisch.“, kommentierte Ariane das Verhalten der anderen. „Kriegt euch endlich wieder ein.“ „Sagt das kleine Blondchen, das wegen Erik fast geheult hat.“, fauchte Serena. „Sagt diejenige, die wegen allem heult.“, gab Ariane zurück. „Geh doch deine Fingernägel lackieren!“, schrie Serena bitterböse. „Nicht!!!“, kreischte Vivien. Sie sah die anderen durchdringend an. „Seht ihr denn nicht? Das ganze Team bricht auseinander!“ „Weil wir verdammt noch mal kein Team sind!“, brüllte Serena. „Wir hängen nur wegen den Schatthen zusammen. Aus fünf Fremden wird nicht plötzlich eine große glückliche Familie. Keinem von uns liegt irgendwas am anderen!“ Das schallende Geräusch einer Ohrfeige. „Nur weil du eine verdammte Außenseiterin bist, die die ganze Welt hasst!“ Viviens Augen blitzten auf vor Zorn. Dann wurden ihre Züge mit einem Mal wieder weich. Geschockt blickte sie auf ihre Hand und anschließend auf Serena. Sie wollte etwas sagen, stockte, während die anderen alle erwartungsvoll auf sie starrten. „Es .. tut mir leid.“, hauchte sie schließlich. Serenas Augen wurden zu zwei Schlitzen. Ohne Vivien noch eines Blickes zu würdigen, ließ sie die Gruppe stehen. Daraufhin löste sich auch Vitali von ihnen und ging in Richtung Bushaltestelle. Ariane blieb noch einen Augenblick. Sie stöhnte kurz auf. „Das Team hat sich gerade aufgelöst.“ Dann ging auch sie ihres Weges. Justin schwieg, als würde er das Ganze teilnahmslos hinnehmen. Schließlich wandte er sich um. „Gehen wir.“ Er wartete gar nicht erst auf Viviens Reaktion. Bewegungsunfähig stand Vivien da, blickte entsetzt in alle vier Himmelsrichtungen, in die die anderen sich gerade verstreut hatten. Ewigkeits Worte hallten in ihren Ohren wie leiser Spott. ‚Vereinen, bleib deinem Namen treu.‘ Verzweifelt starrte sie auf ihre Hände, spürte Tränen in sich hochkommen. Alles zerfiel zwischen ihren Fingern. Die Stimmung am Mittwoch war noch schlimmer als es sich Erik jemals hätte träumen lassen. Es war, als würde er fünf vollkommen Fremde vor sich haben. Ariane und Serena sprachen nicht mehr miteinander, wenn man von den giftigen Zischeleien einmal absah. Überhaupt ignorierten die fünf einander. Auch Viviens Zustand hatte sich zugespitzt, sie schien gefangen zu sein in ihrer bedrückenden Stimmung, denn wie Erik erkannte, sprach sie kaum ein Wort und wagte es spärlich einen der anderen anzusehen. Während Justin die ganze Situation eher ignorierte, als wäre er in seiner eigenen Welt, und Vitali nur auf eine Möglichkeit wartete, seine Wut an jemandem auszulassen. Erik bemühte sich redlich darum, nicht derjenige zu sein, der diese Wut abbekam. Allerdings war das leichter gesagt als getan. Was auch immer vorgefallen war, es musste über das, was Erik sich vorstellen konnte, weit hinausgehen. Wie sonst konnten fünf Freunde von einem Tag auf den anderen in Krieg verfallen? Kurzzeitig spielte Erik mit dem Gedanken sich einzuklinken, um die Wogen vielleicht wieder zu glätten, dann fiel ihm jedoch Arianes Reaktion auf seine Einmischung am Montag ein und er ließ die Idee wieder fallen. Aber was, wenn die Stimmung sich bis zum nächsten Tag nochmals verschlechtern würde? Gar nicht auszudenken! Nicht einmal die Große Pause verbrachten sie gemeinsam. Lange hielt Erik das nicht mehr aus. Als der Unterricht beendet war und die fünf sich, ohne aufeinander zu achten oder sich auch nur voneinander zu verabschieden, aus dem Staub machen wollten, riss Erik der Geduldsfaden. „Hey!“, rief er in autoritärem Ton, dem sich keiner entziehen konnte. Vitali, der gerade aus der Tür gehen wollte, Serena, die sich – da Ariane ihr absichtlich den Weg versperrte – mit Gewalt an Arianes Stuhl vorbeizuzwängen versuchte, und einige andere Schüler stoppten in der Bewegung und starrten Erik an. Diejenigen, die eindeutig nicht gemeint waren, machten sich sogleich daran, zu verschwinden, denn auch wenn ihre Neugierde groß war, Eriks Auftreten hatte etwas Bedrohliches, dem man sich besser nicht länger als nötig aussetzte. In seinen Augen war wieder die Tiefe zu lesen, dieser bannende Ausdruck, der so typisch für Secret gewesen war. In langsamem, nicht brutalem, aber nachdrücklich gebieterischem Ton sprach er zu ihnen. „Ich weiß zwar nicht, was mit euch los ist,“, begann er düster, „aber euer albernes Gestreite finde ich äußerst lästig.“ Vitali schien im ersten Moment auf ihn losgehen zu wollen, aber Erik zwang ihn mit einem entschiedenen Blick ruhig zu bleiben. Bei Ariane war das allerdings weniger einfach. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“, sagte sie in entschiedenem Ton. Erik gab ein leicht belustigtes Geräusch von sich, ein überlegenes Lächeln umspielte seine Lippen, ruhig ging er von seinem Platz weg. Mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen trat er näher an Ariane heran und beugte sich anschließend zu ihr vor. „Das weißt du nicht?“ Arianes Augen zuckten. Eriks geheimnisvoller Kommentar brachte sie ins Wanken. Erik ging wieder zu seinem Platz und packte seinen Rucksack. Mit einer unheimlichen Gelassenheit schlenderte er zur Tür. Im Türrahmen blieb er noch einmal stehen. „Wir sehen uns heute um drei im Park.“ Es war mehr Befehl als bloße Ansage. Dann verschwand er aus dem Klassenzimmer. Die fünf waren fassungslos. Hatte Erik etwa sein Gedächtnis wieder erlangt? Was wollte er ihnen sagen? Ihre Spannung auf dieses Ereignis ließ sie sogar kurzzeitig ihren Streit vergessen. Sie warfen sich fragende Blicke zu und waren sich zum ersten Mal wieder einig: Heute um drei im Park! „Warum eigentlich immer der Park?“, mäkelte Vitali, nachdem sie alle eingetroffen waren. „Du hast ja den weitesten Weg hierher!“, zischte Serena sarkastisch. „Wäre euch die Baustelle lieber?“, fragte Ariane und verdrehte die Augen. Justin blickte auf seine Armbanduhr. Es war schon Viertel nach drei. „Wo er wohl bleibt?“ Vivien, die etwas abseits stand, sprach ohne die anderen anzusehen. „Er wollte bloß, dass wir uns aussprechen.“ Die anderen verstanden nicht. „Es war bloß ein Vorwand.“, erklärte Vivien. Aber noch immer standen die anderen auf dem Schlauch. Vivien seufzte. Sie sah die anderen jetzt wieder an. „Erik hat nur geblufft. Er hat nicht sein Gedächtnis wiederbekommen und er hatte nie wirklich vor, hier aufzutauchen.“ „Woher willst du das wissen?“, erkundigte sich Justin. „Ein Schauspieler erkennt es, wenn jemand sich verstellt.“, antwortete Vivien. Es herrschte kurzes Schweigen. „Dann können wir ja gehen.“, sagte Serena trocken und wandte sich um. „Warte!“, rief Vivien verzweifelt. Die anderen sahen sie unwillig an. Vivien rang nach Worten. „Ich … Seit diesem Angriff stimmt doch irgendwas nicht! Die Schatthen müssen irgendwas gemacht haben!“ Vitali spottete: „Ja klar!“ „Wir … Wir sind doch nicht wir!“, begehrte Vivien auf. „Das hast du nicht für uns zu entscheiden.“, entgegnete Ariane gebieterisch. Vivien senkte den Blick. „Ich weiß, was ich gesehen habe.“ „Du kannst einen Menschen nicht nach seinem kurzfristigen Verhalten beurteilen.“, tadelte Ariane. Vivien sah auf, ihr Ausdruck wurde wieder sanfter. „Wonach dann?“ Ariane wirkte pikiert, schwieg aber. Vivien setzte fort: „Ich erkenne mich doch selbst nicht wieder. Ich weiß nicht, was los ist, aber… Ich bin nicht ich!“ „Na und?“, fuhr Serena sie an. „Was hat das mit uns zu tun, wenn du eine verdammte Selbstkrise hast!“ Widerstand kochte in Vivien hoch. „Die Selbstkrise hast doch du!“ Vitali gab ein gelangweiltes Geräusch von sich. „Willst du sie jetzt wieder ohrfeigen?“ „Hör auf!“, ermahnte Justin ihn. „Du hast mir gar nichts zu befehlen!“, blaffte Vitali ihn an. Im nächsten Moment verfiel die Gruppe in ein lautes Geschimpfe und Gezetere. Jeder ging auf jeden los. Der unbändige Zorn, der die ganze Zeit in ihnen gebrodelt hatte, schoss aus ihnen empor wie die Lava beim Ausbruch eines Vulkans und zermalmte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Einmal ins Rollen gebracht, konnte diese Naturgewalt von niemandem mehr aufgehalten werden. In ihrer Raserei nahmen die fünf ihre Umgebung kaum noch wahr, erst als eine helle Stimme aufschrie so laut sie nur konnte. „Vorsicht!“ Für den Bruchteil einer Sekunde hielten die Streitenden inne, sahen Ewigkeit ihnen pfeilgeschwind entgegen sauste, mit weit aufgerissenen entsetzten Augen. Hörten nicht mehr ihre Worte, erkannten nur noch wie ihre Lippen ein Wort formten und rissen ihre Köpfe herum. Im gleichen Moment nahmen die schwarzen Flecken auf dem Boden um sie herum wieder ihre massige, weitaus Furcht einflößendere Gestalt an. Eine ganze Horde Schatthen stand ihnen gegenüber. Aber einen besseren Zeitpunkt hätten sie gar nicht wählen können. Der Zorn, der die fünf in Besitz genommen hatte, kam nun zu einer prompten Entladung. Ohne lange nachzudenken, setzten die ersten vier Beschützer ihre Kräfte frei, nur Vivien, die durch Ewigkeits Anblick für einen kurzen Moment wieder zu Sinnen gekommen war, zögerte noch. Zum ersten Mal sah Ewigkeit das Ausmaß der neuen Kräfte der Beschützer: Wie die violette Energie die Körper der Beschützer umspielte, sich an ihnen entlang schlängelte wie ein wildes Tier, das Blut geleckt hatte, dann, schneller als ihr die Augen folgen konnten, auf die Widersacher schoss und diese in Sekundenbruchteilen zerfleischte. Im gleichen Moment entfuhr Ewigkeit ein qualvoller Schmerzensschrei. Verzweifelt versuchte sie, Luft in ihre Lungen zu saugen. Doch schon zerfetzte eine erneute Salve an Energie weitere Schatthen. Dieses Mal kam nicht einmal mehr ein Schrei aus ihrer Kehle, der Schmerz raubte ihr die Stimme. Ihr Medaillon leuchtete auf und ließ ihre zweite Persönlichkeit erscheinen. Gepeinigt krümmte sich Eternity, umklammerte sich selbst. Dann hob sie unter großem Kraftaufwand ihren Kopf und blickte mit tränengefüllten Augen auf die kämpfenden Beschützer. Ein verzerrter Aufschrei drang aus ihrem Inneren hervor. „NEIN!!“ Entsetzt hatte Vivien das Verhalten des Schmetterlingsmädchens beobachtet. Die anderen waren bereits zu sehr dem Rausch des Kampfes verfallen. Gehetzt wandte sie ihren Blick zurück zu den anderen, die mit stieren Blicken einen Schatthen nach den anderen massakrierten, dann wieder zu Eternity. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Was hatte das zu bedeuten? Spürte das Schmetterlingsmädchen die Leiden der Schatthen am eigenen Leib? War sie doch Teil der Feinde? Gar der Schatthenmeister? Was ging hier bloß vor?! Schlagartig verspürte sie das dringende Bedürfnis ihr Wappen zu rufen, nicht wegen Eternity, nicht wegen irgendetwas, das sie ihnen erzählt hatte, es war vielmehr ein Hilferuf aus ihrem Inneren, das Aufbäumen gegen etwas, das sie nicht verstand, aber sich so scheußlich falsch anfühlte. Unter größter Anstrengung versuchte Vivien sich zu sammeln, die Todeslaute, die Schmerzensschreie Eternitys, das Kampftreiben nicht zu beachten, sich auf ihr Inneres zu konzentrieren. Aber es war, als herrsche in ihrem Inneren bloß noch eine Leere, eine Dunkelheit, durch die sie den Weg zu ihrer Seele nicht mehr finden konnte. Das Gefühl, als ziehe ihr Herz sich zu einem verkümmerten kleinen Überbleibsel zusammen, ließ sie schaudern. Noch einmal versuchte sie es, entsetzt, zitternd, wie eine Besessene, aber es gelang ihr nicht! Es gelang ihr nicht! Ausdruckslos starrte sie zu Boden. Das war unmöglich! Plötzlich schleuderte eine Person Vivien brutal zur Seite. Sie schlug mit den Knien schmerzhaft auf dem Boden auf und dabei konnte sie noch von Glück reden, dass es Justin nicht einfach egal gewesen war, dass ein Schatthen hinter ihr auf sie hatte losgehen wollen. Der Schmerz in ihren Knien brachte Viviens Blut zum Kochen, ihre Augen wurden starr. All ihr Zorn, ihre Entrüstung, ihre Frustration brachen aus ihr hervor. Dann ließ auch sie sich von der Kraft in ihr leiten. Unter einem Kampfschrei schoss Vivien eine Energiewelle auf den Trupp Schatthen, der von der Nordseite gestürmt kam und von dem die jüngste Attacke auf sie ausgegangen war. Als sie die Leiber der Kreaturen in Stücke riss, erfüllte sie ein unglaubliches Gefühl von Macht. Ein Gefühl, das nach mehr lechzte. Vivien sprang auf und gab sich der Ausrottung der Schatthen voll und ganz hin. Ein behindernder Gedanke, der so flüchtig wie ein Sonnenstrahl ihren Geist zu berühren versucht hatte, war sofort wieder verschwunden. Eternity erlitt Höllenqualen. Die freigesetzten Wellen des Zorns und der Mordlust griffen ihren Körper an wie Raubvögel, die ihre Krallen in ihr Fleisch rammten und an ihr zerrten, um sie in Stücke zu reißen. Für einen Moment raubte es ihr das Augenlicht. Sie konnte sich nicht mehr in der Luft halten. Sie stürzte zu Boden und kämpfte gegen die unsichtbaren Angreifer an, aber die Gegner wurden immer stärker. Eternity starrte auf zu den Beschützern. Sie erkannte sie nur noch als schwache Schemen in einer Wolke aus absoluter Schwärze. Sie musste sie aufhalten! Die Beschützer verloren ihr Selbst in dem grausam schönen Tanz der Zerstörung. Ihr Körper bewegte sich fließend, kraftvoll, geschmeidig, er folgte den unbewussten Anweisungen ihrer Kräfte ohne Gegenwehr. Die Wirklichkeit schien in weite Ferne zu rücken. Eternitys Schreie prallten an ihnen ab. „Hört auf! Ihr müsst aufhören!!!“, kreischte Eternity. Auch mit ihrer menschlicheren Stimme konnte sie den Bann, in den der Kampf die Beschützer riss, nicht durchdringen, aber vielleicht ignorierten die fünf ihre Rufe auch willentlich. Es blieb nur noch eins zu tun. Eternity rappelte sich bebend wieder auf und war sogleich in einer Glitzerwolke verschwunden. Es waren nicht mehr viele Schatthen übrig, aber wie viele es waren, das erkannten die Beschützer ohnehin nicht mehr. Sie waren bereits blind vor Zorn, vor Zerstörungswut, die ihnen dieses herrliche Gefühl von Stärke gaben. Von Allmacht! Und so gewahrten sie auch nicht das Licht, das urplötzlich zwischen ihnen und den letzten drei Schatthen erschien. Als ihre Augen Eternity schließlich wahrnahmen, war es bereits zu spät. „Nein!“ Viviens Schrei hallte durch den Park, doch die Attacke, die im gleichen Moment die drei Schatthen und Eternity erfasste, konnte er nicht aufhalten. Wie in Zeitlupe sahen die fünf, wie die letzten Gegner zerfleischt wurden und wie sich die Energie ebenfalls um das kleine zarte Schmetterlingsmädchen legte, das noch versuchte, sie dagegen zur Wehr zu setzen. Zeitgleich rannten sie im Affekt der fliegenden Gestalt entgegen, woraufhin die violette Kraft von ihr abließ und das hilflose Geschöpf zu Boden fiel. Vivien warf sich auf den Boden und kreischte tränenüberströmt. „Ewigkeit! Ewigkeit!“ Doch der winzige Körper, den sie in ihre Hände nahm, regte sich nicht. Entgeistert starrten die Beschützer auf ihr Werk. Und ob das Schmetterlingsmädchen nun Freund oder Feind war, war mit einem Mal bedeutungslos. Vergeblich versuchte Vivien, irgendein Lebenszeichen an dem kleinen Körper wahrzunehmen, das Heben der Bauchdecke, das Schlagen des Herzens. Nichts. Das Medaillon begann zu leuchten. Die jähe Hoffnung, dass die Kleine nun wieder zu sich kam, wurde brutal zerschlagen, als ihr Körper begann in Viviens Händen zu verblassen, ohne dass sie irgendetwas dagegen tun konnten. Als Vivien nur Sekunden später mit leeren Händen dasaß, wurde sie panisch, zitterte verstört und brach schließlich unter einem lauten Schrei in Tränen aus. Auch die anderen sackten zu Boden. Schwärze hüllte sie ein. Der Signalton, der aus Viviens Tasche kam, verlor sich. Unbeachtet blieb die eingetroffene Nachricht von Erik: ‚Ist jetzt alles wieder okay?‘ Kapitel 45: Verseucht --------------------- Verseucht „Leiden sind Lehren.“ (Äsop, griechischer Dichter, 600 v.Chr.) „Wir haben sie getötet…“, kam es bald stockend aus Viviens Mund. Sie kauerte auf dem Boden, stützte sich auf ihre Unterarme. „Wir haben sie getötet.“ Langsam richtete sie sich wieder halb auf und drehte sich zu den anderen. „Wir haben sie getötet!!!“, schrie sie. „Warum!?“ Im nächsten Moment schlang Justin seine Arme um sie und drückte sie so fest er nur konnte an sich, hielt sie ganz fest, spürte selbst die Tränen kommen, wusste nicht, ob er Vivien um ihretwillen oder um seinetwillen umklammerte. „Nein! Nein!“, schluchzte Vivien in seinen Armen und krallte sich dann Hilfe suchend an ihn. Ihr tränenersticktes Schluchzen schnürte einem die Kehle zu. „Warum hat sie das getan?“, stieß Ariane aufgelöst aus. „Warum hat sie sich vor die Schatthen gestellt?“ Serena Stimme war nur noch ein Flüstern. „Sie dachte, wir würden ihr nichts tun.“ Das Leid der Erkenntnis zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Vitali stieß einen lauten Fluch aus, sprang auf die Beine und stampfte mit dem Fuß auf. Erneut fluchte er und sah aus, als wolle er seine ganze Frustration an etwas auslassen. Der Bereich um seine Augen nahm eine purpurne Farbe an. Er begann zu zitten. „Es ist nicht unsere Schuld!“, rief er mit bebender Stimme. Sein Gesicht verzog sich in Pein. „Sie hat uns gedroht.“, japste er. „Sie …“ Er konnte sein Schluchzen nicht länger zurückhalten. „Es ist ihre Schuld...“ Er versteckte sein Gesicht in seiner Armbeuge, wollte die anderen seine Tränen nicht sehen lassen. Ariane schnappte nach Luft. „Vielleicht…“ Sie schluckte. „Vielleicht hat sie sich ja nur teleportiert. In unser Versteck...“ Sie rang nach Atem und klang alles andere als überzeugend. Ausgerechnet Serena erhob sich und lief in die Richtung ihres Geheimverstecks. Ihre Gewissensbisse beflügelten sie. Die Frage ‚Willst du lieber gleich zurückgehen und Eternity töten?‘, die Vitali ihr nur Tage zuvor gestellt hatte, hallte in ihrem Kopf und zog ihr Herz zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen. Einen Moment zögerten die anderen, dann standen auch sie auf und folgten. Immer schneller gingen sie bis sie schließlich anfingen zu rennen wie nur wenige Tage zuvor nach der Attacke im Supermarkt. Wunschbilder von Ewigkeit, die sie freudig begrüßen würde, wenn sie eintraten, vielleicht auch schimpfen würde – ganz gleich! – erwachten in ihnen, machten sich in ihren Köpfen breit. Verzweifelte Wunschgedanken. Dann standen sie vor dem Holzhäuschen, schnaufend, ängstlich, und wagten zunächst nicht, die Tür zu öffnen, baten inständig darum, dass Ewigkeit tatsächlich noch lebte. Vitali öffnete die Tür und da stand vor ihnen das verstaubte Innere, das schon Justin bei seinem ersten Versuch gesehen hatte. Vivien ging vor zu ihm, schloss die Tür wieder und wollte anschließend hindurch schreiten, aber das Ergebnis blieb das Gleiche. Das Holzhäuschen blieb ein Holzhäuschen. Und in diesem Moment war es nicht länger zu leugnen – Ewigkeit war tot. Den fünfen wurde schwummrig, sie konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten. Momente herrschte Schweigen. Eine betäubende Schwere legte sich über sie. „Wenn wir ihr vertraut hätten…“, stieß Vivien aus. „Wovon redest du?“, fuhr Vitali sie an. „Sie hat sich vor die Schatthen gestellt! Sie hat uns gedroht! Sie …“ Wieder verzog sich sein Gesicht zu Verzweiflung und er wandte sich ab. „Sie hat Schmerzen gehabt!“, rief Vivien. „Jedes Mal wenn ein Schatthen gestorben ist, hatte sie schreckliche Schmerzen.“ Ihre Augen wanderten über den Boden wie auf der Flucht vor ihren Erinnerungen. Vitali sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Auch die anderen waren von dieser Eröffnung einen Moment überfordert. „Was soll das heißen!“, forderte Vitali schließlich zu wissen. Ariane fiel es schwer, die Worte auszusprechen: „War sie … Gehörte sie zu ihnen?“ Vivien schüttelte unwillig den Kopf. „Versucht eure Wappen zu rufen!“ „Was soll das bringen?“, wandte Serena bitter ein. „Bitte.“, flehte Vivien. Zunächst widerwillig folgten die anderen ihrem Aufruf und konzentrierten sich wie Eternity sie gelehrt hatte, suchten nach dem Zugang zu ihrem Inneren und – scheiterten. Sie starteten einen neuen Versuch, schließlich war es natürlich, dass sie in dieser Situation nicht so einfach ihre Gedanken loslassen konnten. Doch auch dieses Mal gelang es ihnen nicht. „Es geht nicht mehr.“, sagte Vivien, als wäre sie von Anfang an davn ausgegangen gewesen. Die anderen sahen sie fragend an. Vitali erhob die Stimme. „Soll das heißen, diese Kräfte kamen von ihr?“ Vivien schüttelte den Kopf. „Ich konnte sie eben im Kampf schon nicht rufen, bevor…“ „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Justin. „Seit dem Angriff im Supermarkt ist alles anders.“, sagte Vivien. „Irgendwas ist da passiert.“ Vitali schimpfte: „Wir sind angegriffen worden. Das ist passiert.“ „Du meinst, die Schatthen haben damals irgendetwas gemacht?“, erkundigte sich Ariane. Nachdenklich hielt Vivien inne. „Eternity wollte nicht, dass wir diese Kräfte einsetzen.“ „Ja, weil es nicht ihre Kräfte waren!“, rief Vitali. „Sie wollte uns kontrollieren! Wahrscheinlich können wir deshalb die Wappen nicht mehr rufen, weil das alles von ihr kam.“ Justin widersprach. „Die Wappen sind auch im Schatthenreich erschienen.“ „Ja und? Sie ist uns doch vorher schon erschienen! Sie hat doch dieses Gefühl in uns ausgelöst!“, konterte Vitali. Sein Kommentar stimmte Justin nachdenklich. Ariane sah die anderen an. „Der Ort, an dem wir unsere Kräfte bekommen haben, hat Ewigkeit auch nicht hereingelassen.“ „Genau!“, pflichtete Vitali ihr bei. Serena blickte gedankenversunken zu Boden. „Wir hätten ihr zuhören sollen!“, beharrte Vivien. „Vielleicht hätte das alles Sinn ergeben!“ „Dann hätte sie uns doch nur wieder irgendeine Lüge aufgetischt!“, beschwerte sich Vitali. „Aber die Texte aus der Ausgrabungsstelle. Denkst du, die hat sie alle gefälscht?“, fragte Ariane unsicher. „Der Schatthenmeister kann lauter Menschen kontrollieren und dazu noch das gesamte Mobiliar des Supermarktes reparieren.“, entgegnete Vitali. „Dem trau ich auch zu, ne ganze Ausgrabungsstelle zu fälschen!“ Serenas Blick schnellte zu Vitali. „Du hast Recht.“ Davon völlig irritiert, starrte er sie an. „Der Schatthenmeister kann Texte fälschen und Menschen kontrollieren!“, bestätigte Serena, doch ließ sie es so klingen, als wäre das eine neue Erkenntnis. Serena setzte fort. „Das Rätsel haben wir nicht in der Ausgrabungsstelle gefunden.“ Ariane wandte sich irritiert an sie: „Ihr denkt wirklich, die ganze Ausgrabungsstätte war fingiert?“ „Wieso hätte der Schatthenmeister dann Schatthen dort platziert?“, fragte Justin. Vivien widersprach. „Justin hat von der Ausgrabungsstelle geträumt. Diese Prophezeiung ist kein Fake!“ „Das ist es doch gerade!“, rief Serena. „Nicht die Ausgrabungsstätte ist der Fehler! Das Rätsel ist es!“ Die anderen starrten sie an, allein Vivien schien direkt zu begreifen. „Wir hätten nicht an Eternity zweifeln sollen, sondern an diesem Rätsel!“, erkannte sie. Serena blickte derweil wie hypnotisiert auf ihre Hände hinab. „Hä? Das ergibt überhaupt keinen Sinn!“, beanstandete Vitali. „Natürlich!“, beharrte Vivien. „Dass dieser Ort Ewigkeit nicht reingelassen hat, hätte uns stutzig machen sollen. Deshalb wollte Ewigkeit nicht, dass wir diese Kräfte einsetzen!“ „Bist du jetzt total bekloppt!“, schrie Vitali. „Diese Kräfte haben uns das Leben gerettet! Ohne sie hätten wir den Angriff im Supermarkt niemals überlebt!“ Ein Wispern aus Serenas Richtung: „Es hat sich angefühlt wie damals.“ „Hä?“, stieß Vitali aus. „Im Schatthenreich. Damals hat es sich auch so angefühlt.“ Tränen bildeten sich in Serenas Augen. „Wovon laberst du?!“, verlangte Vitali zu wissen. Serena legte ihre Arme um sich, als würde sie von einer jähen Kälte gepackt. Die anderen starrten sie an. Justin versuchte es mit sachter Stimme: „Serena?“ Serena zog die Schultern nach oben und schüttelte den Kopf, als müsse sie sich gegen etwas wehren. Vivien trat zu ihr und berührte sie am Arm. Ängstlich blickte Serena sie an. „Es ist vorbei.“, sagte Vivien. „Alter, was?“, schimpfte Vitali. Vivien drehte sich mit bedeutungsvoller Miene zu ihm. „Die Kräfte, die Serena damals eingesetzt hat. Die, mit denen sie uns angegriffen hat. Sie fühlten sich auch so an. So wie diese neuen Kräfte. Nach Wut und Verzweiflung.“ Justins Stirn legte sich in Denkfalten. „Eternity hat gesagt, dass wir jedes Gefühl in eine Welle verwandeln können.“ „Aber diese Kräfte sind nicht … Da sind keine Gefühle!“, dementierte Vitali. Vivien fragte ihn: „Wann hast du dich das letzte Mal gefreut?“ „Alter, soll ich happy sein, dass die Schatthen uns angreifen, oder was?“, gab Vitali zurück. „Sie hat Recht.“, sagte Ariane. „Ich wollte das nicht glauben und war wütend, als Vivien gesagt hat, dass etwas mit uns nicht stimmt. Aber… seit dem Angriff fühle ich mich anders.“ „Das ist doch wohl normal!“, beanstandete Vitali. Ariane sah ihn entschieden an: „Und dass wir uns miteinander streiten und Vivien Serena ohrfeigt, ist auch normal?“ Vitali wollte das bestätigen, brach dann jedoch ab. „Wieso sollte man uns Kräfte geben? Das ergibt keinen Sinn.“ „Du hast doch selbst gerade behauptet, unsere anderen Kräfte wären von Ewigkeit gekommen.“, rief Ariane ihm ins Gedächtnis. „Ja, weil die nutzlos waren!“, begründete Vitali. Justin ergriff das Wort. „Sie haben die Schatthen aufgelöst. Damals in den Unendlichen Ebenen und auch in dem Heuschuppen. Sie waren alles andere als nutzlos.“ „Das ergibt trotzdem keinen Sinn! Wollt ihr behaupten, der Schatthenmeister hat uns unsere Kräfte gegeben?“, verlangte Vital zu erfahren. Ariane fiel etwas ein: „Die Schatthen im Supermarkt. Sie schienen auf etwas zu warten.“ „Hä?“, machte Vitali. „Sie sind erst hervorgekommen, als du die Regale zum Umstürzen gebracht hast.“, setzte Ariane fort. „Ja, das war ziemlich cool, nicht wahr?“, prahlte Vitali. „Aber wieso sollten sie auf uns losgehen, wenn sie gesehen haben, welche Kräfte du hast?“, gab Ariane zu bedenken. Vitali zog die Augenbrauen zusammen. „Willst du bei den Schatthen jetzt nach tieferen Beweggründen suchen?“ „Nein, aber bei ihrem Meister.“, entgegnete Ariane. „Wenn der Schatthenmeister dieses ganze Rätsel erfunden hat, damit wir diese Kräfte bekommen, dann würde das auch die plötzlichen Angriffe der Schatthen in kurzem Abstand erklären. Wir sollten einen Anlass bekommen, diese Kräfte einzusetzen!“ „Dann hätte er wohl kaum so ein blödes Rätsel gemacht!“, widersprach Vitali. „Wenn er unbedingt gewollt hätte, dass wir diese Kräfte kriegen, hätte er doch einfach geschrieben: Geht dort dann und dann hin!“ Ariane erklärte: „Justin hat diesen Text in Herrn Donners Mülleimer gefunden. Glaubst du wirklich, wir wären nicht misstrauisch geworden, wenn da drauf gestanden hätte: Geht nachts in den Park, damit ihr eure Kräfte bekommt? Dadurch dass es ein Rätsel war, haben wir keinen Moment daran gezweifelt, dass es sich um einen echten Text handelt. Wir wären nie auf die Idee gekommen, dass es irgendwer erfunden hat.“ „Und warum lag der Text im Mülleimer? Dann hätte er doch auch mitten auf dem Tisch liegen können.“, beschwerte sich Vitali. „Aus dem gleichen Grund. Damit wir keinen Verdacht schöpfen.“, antwortete Ariane. Vitali schürzte skeptisch die Lippen. „Warum hat Ewigkeit denn dann nichts gemerkt, als wir ihr den Text gezeigt haben? Sie hätte doch gleich spüren müssen, dass der Text vom Schatthenmeister kommt.“ „Der Schatthenmeister ist ein Mensch. Vielleicht sind seine Schwingungen einfach nicht so stark wie die eines Schatthens.“, spekulierte Ariane. „Und wieso hat sie geheult?“, wollte Vitali wissen. An dieser Stelle musste Ariane passen. Justin ergriff das Wort. „Fakt ist: Ewigkeit hatte uns von Anfang an gesagt, dass wir die Schatthen nicht töten sollen. Aber unsere neuen Kräfte…“ Die Todeslaute der Schatthen hallten durch seine Gedanken. „Mal angenommen, das stimmt und der Schatthenmeister hat uns diese Kräfte gegeben und deshalb haben wir jetzt miese Laune. Was bringt ihm das?“, fragte Vitali. „Glaubt der, wenn wir böse werden, kommen wir automatisch zu ihm?“ „Es ist wohl eher so: Wenn wir diese Kräfte noch oft einsetzen, verlieren wir die Kontrolle und er kann uns kontrollieren.“, vermutete Serena. Vivien stimmte zu: „Nicht wir beherrschen diese Kräfte. Sie beherrschen uns.“ Sie sah zu Boden: „Diese Kräfte pochen noch immer in unseren Adern und sie warten nur darauf, dass sie wieder von uns Besitz ergreifen können. Deshalb können wir unsere anderen Kräfte auch nicht rufen. Wir sind verseucht.“ Der Gedanke war erdrückend. Da war etwas in ihnen, das gegen sie arbeitete, etwas, das jederzeit wieder hervorbrechen konnte. Und Ewigkeit hatte sie für immer verlassen. „Wir können die Wappen nicht rufen! Wie zum Henker sollen wir uns gegen die Schatthen wehren, wenn wir nicht unsere neuen Kräfte einsetzen? Erklärt mir das mal.“, verlangte Vitali. „Wir werden einfach wieder unsere wahren Kräfte erwecken!“, verkündete Vivien, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt. „Wir haben es einmal geschafft, also werden wir es wieder schaffen! Negative Energien hin oder her!“ „Und wie?“, wollte Vitali wissen. „Wir setzen uns jetzt einfach alle hin und nehmen uns an den Händen.“, schlug Vivien vor. „Dann passiert doch immer was.“ Vitalis Gesicht zeugte von Skepsis, dennoch ließ er sich auf den Boden sinken. Auch die anderen setzten sich in einen Kreis zusammen. Sie reichten einander die Hände. „Lasst es uns diesem miesen Schatthenmeister zeigen!“, rief Vivien. „So leicht kann er die Gleichgewichtsbeschützer nicht verderben. Meine Gefühle gehören immer noch mir!“ Mit diesen Worten schloss sie demonstrativ die Augen. Die anderen taten es ihr gleich. Auch wenn sie nicht wussten, was das bewirken sollte. Andererseits hatte Vivien mit der Aussage, dass immer etwas geschah, wenn sie sich an den Händen hielten, nicht ganz Unrecht. Daher beließen sie es dabei und geduldeten sich. Zahllose Gedanken drangen auf sie ein und rissen sie mit sich. Zu viele Überlegungen und Gefühle. Sie versuchten sich ins Gedächtnis zu rufen, was Eternity sie gelehrt hatte, auch wenn die Erinnerung, ihnen einen erneuten Stich versetzte. Mühsam beherrscht konzentrierten sie sich auf ihren Körper. Es brauchte Momente, ehe es ihnen gelang. Sie fühlten die Wärme der Hände voneinander, spürten den Boden, auf dem sie saßen, hörten den Klang der Umgebung, verstreutes Vogelgezwitscher, die leichte Brise, die in den Blättern der Pflanzen spielte. Immer wieder mischten sich Gedanken hinein, Gefühle, die schmerzhafte Körperempfindungen hervorriefen und sie an das gemahnten, was gerade geschehen war. Schuld und Leid. Die Aufmerksamkeit nach innen zu richten, tat weh. Sie wollten aufgeben. Aber was brachte es? Sie mussten es weiter versuchen. Sie konzentrierten sich auf ihre Atmung, atmeten tief ein und aus. Die unterschiedlich kräftigen Geräusche, die sie dabei erzeugten, übertönten die Umgebung. Alles andere rückte in immer weitere Ferne. Doch auch wenn die Wappen gerne wieder an die Oberfläche getreten wären, das Gefühlschaos in den Beschützern war noch zu groß. Die Wappen lagen begraben unter einer Lawine von Zorn, Schuldgefühlen, Trauer und Verzweiflung. Daher konnten sie ihren Besitzern nur eine Hilfestellung geben, nicht mehr: Ohne dass es einer von ihnen bemerkte, begann Serenas Körper etwas freizusetzen, das sich durch Vivien von einem zum anderen fortsetzte und sie miteinander verband, bis es ihnen so vorkam, als wären sie nicht mehr fünf einzelne Personen, sondern ein Ganzes. Ihre Herzen schlugen im Gleichklang. Kein Gedanke störte mehr. Da war nur noch die Verbindung zueinander. Und all ihre Meinungsverschiedenheiten, ihre Unterschiedlichkeit waren für einen Moment vergessen. Sie bildeten eine Einheit. Plötzlich beschlich die Beschützer die seltsame Ahnung, dass sich etwas um sie herum entscheidend verändert hatte. War es überhaupt noch Gras, auf dem sie saßen? Und alle Geräusche waren nun vollkommen verstummt. Konnte das wirklich an ihrer starken Konzentration liegen? Vitali, der Ungeduldigste unter ihnen, hielt es nicht lange aus und öffnete ein Auge. „Leute!“ Die Beschützer schreckten auf und kamen wieder auf die Beine. Vivien lachte vergnügt auf. „Ich hab doch gesagt, es wird was passieren!“ Kapitel 46: Gefühlschaos ------------------------ Gefühlschaos „Wer andere bezwingt, ist kraftvoll. Wer sich selbst bezwingt, ist unbesiegbar.“ (Laotse, chinesischer Philosoph, 600 v. Chr.) „Wo sind wir?“, fragte Ariane atemlos. Die fünf fanden sich in einer schwarzen Weite wieder. Aber es war keine Schwärze, die ihre Augen nicht durchdringen konnte, es war eher so, als ob es einfach nichts zu sehen gab. Nur eine endlose Leere. Ariane zog ihre Arme vor ihren Oberkörper. „Ist das das Schatthenreich?“ „Ach was.“ Vivien machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir sind doch durch unsere eigene Kraft hierhergekommen!“ Vitali zog ein kritisches Gesicht. „Besonders freundlich sieht’s hier nicht grad aus.“ Plötzlich blitzten in der Schwärze Bilder auf. Die fünf zuckten erschreckt zusammen. An immer anderer Stelle erhellten die Bilder die Dunkelheit und sie schienen näher zu kommen. Sofort nahmen sie einander wieder an den Händen. Ihre Herzen begannen schneller zu schlagen, während das kurze Aufleuchten näher und näher kam. Schließlich hatte es sie erreicht. Eine rechteckige weiße Fläche entfaltete sich vor ihnen wie eine Kinoleinwand. Im nächsten Moment begann sie, einen Film abzuspielen. Eternity tauchte auf dem Bild auf. Eternity, die sich vor drei Schatthen stellte. Es war die Szene von zuvor. Erneut mussten sie mit ansehen, wie sich die violette Energie um das Schmetterlingsmädchen legte und es grausam packte. Eternitys weit aufgerissenen Auge. Der in Schmerz verzerrte Mund. Wie plötzlich das Leben aus ihrem Körper wich. „Nein!“ Viviens Schrei aus der Erinnerung mischte sich mit ihrem neuerlichen Aufschrei. Aber auch diesmal half es nichts. Als die Attacke endlich von Eternity abließ, stoppte das Bild nicht, stattdessen wiederholte es das Szenario, zeigte, wie die Beschützer das Schmetterlingsmädchen getötet hatten, zeigte es wieder und wieder und wieder, in Endlosschleife. Doch keiner von ihnen konnte seine Augen abwenden, der Anblick bannte sie. Tränen kamen in ihnen hoch. Sie wollten das nicht mehr sehen. Sie wollten nicht, dass das jemals passiert war. Sie wollten nicht! Der Boden unter ihnen schien mit einem Mal wegzusacken. Sie verloren den Halt, hatten Angst zu stürzen, alles schien sich um sie herum zu drehen, dann blieben sie stehen, aber etwas Kaltes, Fremdes begann sich an ihnen hoch zu hangeln. Sie versanken immer tiefer, tiefer in der Verzweiflung, im Selbstmitleid, in der Gewissensqual. Es schnürte ihnen die Kehle zu. Unwillkürlich hatten sie die Hände voneinander losgelassen. Sie fingen an zu weinen, zu schreien vor Pein, und die Kälte kroch weiter an ihnen hoch. Schließlich verschwand das Bild von Eternity vor ihren Augen und nur die Schwärze blieb zurück. Zunächst konnten sie sich nicht abwenden von der Stelle, an der die Bilder erschienen waren, nahmen auch die Taubheit ihres Körpers nicht länger wahr. Dann schlug Serena die Augen nieder und erschrak für einen kurzen Moment, ehe die Verzweiflung den Schrecken tilgte. Die Kälte, die sich immer weiter auf ihrem Körper ausbreitete, war ein See aus schwarzem Wasser, in dem sie auf einmal standen und der sie immer weiter in die Tiefe sog. Aber das war auch egal. Es war die gerechte Strafe für das, was sie getan hatten, hier zu ertrinken. Serenas Tränen fielen von ihren Wangen in das schwarze Wasser und zogen weite Kreise. Vitali war der erste der anderen, der ebenfalls den schwarzen See wahrnahm. Er ließ einen Schrei los, doch die anderen reagierten nicht. Er versuchte sich aus dem See zu befreien. Er konnte von seinem Standpunkt weg waten, aber er konnte nicht erkennen, ob es hier irgendwo festen Boden gab. Anschließend fiel ihm erst auf, dass die anderen sich weiterhin nicht rührten und starr ins Nichts stierten. „Hey!“, brüllte er sie an so laut er konnte, aber weiterhin keine Reaktion. „Verdammt! Seid ihr eingepennt oder was?!“ Kurzerhand packte er Vivien an den Schultern. Sie blickte geradewegs durch ihn hindurch. „Meine Schuld.“, murmelte sie. „Es ist meine Schuld.“ Die Überschwänglichkeit, die sie zuvor an den Tag gelegt hatte, war nichts als ein Versuch gewesen, ihre seelischen Schmerzen zu übertönen, aber jetzt ging das nicht mehr. Und wieder versank sie ein Stück, ohne dass Vitali etwas dagegen tun konnte, während er selbst an der gleichen Stelle stehen blieb. Aber wie war das möglich? Vitali sah, dass auch die anderen ein weiteres Stück eingesackt waren, nur er nicht. „Justin!“, brüllte er. „Ich hätte das nicht zulassen dürfen. Ich hätte es verhindern müssen.“, wisperte Justin. Vitali kam sich wie im falschen Film vor. Er rief nach Ariane, woraufhin auch diese etwas vor sich hin brabbelte. „Das wollte ich nicht. Das wollte ich nicht.“ Schließlich drehte er sich zu Serena. „Serena?“ „Wieso töten wir sie nicht gleich?“, schluchzte sie und brach in Tränen aus. Und erneut sanken die anderen tiefer. Vitali fluchte innerlich. Langsam begriff er, dass die vier ihre Gedanken ausgesprochen hatten und dass diese mit dem weiteren Versinken zusammenhängen mussten, denn er war als einziger nicht tiefer nach unten gezogen worden war. „Hey!“, schrie er nochmals. „Hört mir zu! Aufwachen!“ Es half nichts. Er schüttelte Vivien. Keine Reaktion. Auch der Versuch, die anderen durch Schütteln, Anschreien, Zwicken und andere körperliche Reize aufzuwecken, brachte nichts. Hilflos stand Vitali da und wusste nicht, wie er den anderen helfen sollte. Sie sanken immer tiefer ein! Für einen Moment überfiel ihn eine so heftige Frustration über seine eigene Machtlosigkeit, dass er am liebsten losgeheult hätte. Plötzlich zog auch ihn der See tiefer. Vitali schnappte nach Luft. Was war jetzt los? Er bemerkte, dass die anderen nicht mehr gerade standen, sondern ihre Köpfe hängen ließen, fast sehnsüchtig in das Wasser blickten, als warteten sie nur darauf, davon verschlungen zu werden. Was sollte er nur tun? Verdammt! Er konnte überhaupt nichts tun! Er war komplett nutzlos. Bei dem Gedanken spürte er wieder den Sog des Sees. Erst jetzt begriff er, dass es seine Gedanken und Gefühle sein mussten, die entschieden, ob er weitersank oder nicht. Er durfte sich auf keinen Fall weiter runterziehen lassen! Vitali biss die Zähne zusammen. Nein, er würde nicht aufgeben! „Leute! Ihr müsst euch wieder einkriegen! Wenn ihr weiter so depri drauf seid, ertrinkt ihr hier. Hört ihr! Ihr müsst wieder zu euch kommen. Es bringt doch nichts, hier rumzuheulen. Wenn ihr euch bloß Vorwürfe macht und euch selbst bemitleidet, dann bringt das Ewigkeit auch nicht zurück!“ Damit traf er nicht bei allen den richtigen Ton, denn Serena glitt augenblicklich weiter hinab. Vitali packte sie am Arm. „Gib doch zu, das machst du absichtlich, nur um mich zu ärgern!“, schimpfte er. „Es hilft niemandem, wenn du dich so gehen lässt. Ewigkeit würde wollen, dass du weitermachst. Das weißt du!“ Er drehte sich wieder zu den anderen. „Wir sind es Ewigkeit doch schuldig, dass wir das jetzt durchhalten, sonst hat sie sich ganz umsonst geopfert! Oder nicht?!“ Er machte eine kurze Pause. „Vivien, du hast es doch vorhin gesagt: Wir schaffen das! Für Ewigkeit! Okay?!“ Keiner der vier antwortete. Dann nahm Vitali Viviens Hand. „Okay?!!“, brüllte er aus Leibeskräften. Plötzlich zersprang die gesamte Umgebung in Scherben und die fünf standen für einen Moment in weißer Fülle, zahllose große schwarze Scherben um sie herum, die sich sogleich auflösten. Vitali sah sich verwirrt um und ließ Vivien los. Eine Stimme drang an sein Ohr. „Okay.“ Er fuhr mit seinem Kopf herum und sah Ariane ihm zulächeln. „Danke.“, sagte Justin. Vivien strahlte. „Vitali der große Held!“ Vitali zeigte ein selbstzufriedenes Grinsen. „Ja, daran könnte ich mich gewöhnen.“ Serena war weniger dankbar. „Was soll das?“, fragte sie mit einem grimmigen Blick auf Vitalis Hand, die immer noch ihren Oberarm umfasst hielt. Vitali riss eilig seine Hand zurück und neigte seinen Oberkörper von Serena weg. „Hätte ich dich besser ersaufen lassen sollen?“ Serena ging nicht auf seinen Kommentar ein, sie wandte sich der Umgebung zu. „Was ist das hier?“, wollte Ariane wissen. „Vielleicht eine Illusion.“, überlegte Justin laut, angesichts des Umstands, dass sie hier mitten in einer weißen Unendlichkeit standen. Im nächsten Moment wechselte die Landschaft und sie fanden sich in einer Höhle aus schwarzem Gestein wieder. Gewaltige Stalaktiten und Stalagmiten ragten aus Decke und Boden und die Luft war schwer und stickig von Rauchschwaden. Ein roter Schein erfüllte das Innere. Die unheimliche Beleuchtung kam von einigen Kratern, die mit Lava-ähnlicher Masse gefüllt waren und eine unangenehme Hitze verströmten. Plötzlich schoss die kochende Materie zischend und rauchend in die Höhe. Die fünf schreckten zurück. „Alter, wo sind wir hier?“, schimpfte Vitali. Vivien lächelte. „Vielleicht ist das unser Inneres.“ „Und wo sind dann unsere Organe?“, warf Vitali ein. „Unser Seelenleben.“, präzisierte Justin. Vivien nickte. „Der See eben war wie ein Symbol für die Gefühle und Gedanken, die uns nach unten ziehen.“ Ariane sah sich unsicher um. „Aber was ist dann das hier?“ „Und was soll das Ganze überhaupt?“, fragte Serena argwöhnisch. „Ganz klar.“, meinte Vivien. „Wir müssen uns unserem Inneren stellen und am Schluss...“ Sie stockte und schien einen Moment zu überlegen. Vitali warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Ja?“ „Am Schluss können wir wieder unsere Kräfte einsetzen.“, freute sich Vivien. „Und wie genau machen wir das?“, wollte Vitali wissen. Ariane sah ebenfalls Vivien an. „Sollen wir hier stehen und warten?“ Vivien zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?“ Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, hörten sie Geräusche wie kleine Explosionen. Erschrocken sahen sie, wie kleine dunkelrote Platten auf dem Boden rechts von ihnen aufleuchteten. „Prompte Antwort!“, lobte Vivien. „Also hier lang.“ Die anderen wirkten wenig zuversichtlich, setzten dann aber doch ihre Schritte auf den roten Weg. Sie folgten der beleuchteten Route bis zu einem Lavasee. Zwar konnte es sich aufgrund der zwar sehr warmen, aber nicht unmenschlich heißen Temperatur nicht um richtige Lava handeln, aber die Masse sah flüssigem Magma dennoch zum Verwechseln ähnlich. Der Weg führte – gerade breit genug, dass zwei nebeneinander gehen konnten – mitten durch die Lava-Masse. Versetzt hintereinander gingen sie weiter. Schließlich endete der Weg in einer breiten Ebene, die an ihren Enden in fünf runde Plattformen überging. Die fünf wechselten rasche Blicke. „Glaubt ihr, das ist eine gute Idee?“, fragte Serena wenig begeistert. „Uns bleibt wohl keine andere Wahl.“, meinte Justin und nahm als erster seinen Platz auf einer der Plattformen ein. Die anderen taten es ihm nach. Unwillig trat Serena auf die verbliebene freie Plattform und drehte sich zu den anderen um. Sie spannte ihre Muskulatur an und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie wurde nicht enttäuscht. Mit einem Ruck lösten sich die Plattformen einzeln von der Ebene und trieben auf dem Lavasee. „Ruhig bleiben!“, befahl Justin. „Wir müssen das Gleichgewicht halten!“ „Ach wirklich?“, kreischte Serena erbost. Sie war bereits auf alle Viere gesunken. „Das habe ich doch schon mal gehört.“, äußerte sich Ariane. Vivien scherzte. „Daher wohl der Name Gleichgewichtsbeschützer.“ Die Plattformen bewegten sich nicht gleichförmig, sie trieben unterschiedlich voran, sodass sie zunächst Angst hatten, voneinander getrennt zu werden. Schließlich hielten sie aber in einem unregelmäßig geformten Kreis an. Sie warteten darauf, was als nächstes geschehen würde. Das Magma um sie herum brodelte gefährlich. Plötzlich schoss ein Feuerschwall direkt vor Serenas Plattform aus der Lava in die Höhe. Serena erschrak und wäre unter den Schreien der anderen fast in die Lava gestürzt. „Alles in Ordnung?“, schrie Vitali zu ihr hinüber. „Sieht das so aus?!“, brüllte sie zurück. „Zumindest könnt ihr noch streiten.“, kommentierte Ariane. Sie stockte und sah alarmiert auf ihre Handgelenke. Schlagartig war es wieder da, das heftige Pochen in ihren Adern. Ihr Blut hämmerte regelrecht und kochte auf wie die Lava um sie herum. Eine Hitze, die nicht von ihrer Umgebung kam, machte sich in ihrem Körper breit. Ihre Muskeln verkrampften sich. Vivien hielt sich den Kopf. Es war dieselbe Empfindung wie damlas im Schatthenreich, als Serenas Attacke sie getroffen hatte, dasselbe, das sie verspürt hatte, als sie diese Kräfte gegen die Schatthen eingesetzt hatte – Zorn. „Passt auf!“, schrie sie, im nächsten Augenblick versagte ihr schon die Stimme. „Was soll überhaupt dieser ganze Scheiß!“, brüllte Vitali. „Mich kotzt das alles an!“ „Spring doch in die Lava!“, fauchte Serena. „Verreck doch!“, gab Vitali zurück. „Haltet die Klappe! Alle beide!“, forderte Ariane. „Du hast mir gar nichts zu befehlen!“, schrie Vitali. Vivien ging auf die Knie und biss die Zähne fest zusammen. In dem vergeblichen Versuch, die sich an die Oberfläche drängende Wut zu unterdrücken, spannte sie jeden Muskel in ihrem Körper an, und machte es damit nur noch schlimmer. Vor Justin verschwamm von einem Moment auf den anderen alles. Er nahm seine Umgebung kaum noch wahr. Sein Körper zitterte. Die Wut brodelte in seinem Inneren, konnte jedoch nicht zur Oberfläche durchbrechen. Seine sonst so gutmütigen Augen wurden starr, sein Blick Angst einflößend. Die Veränderung glich der Verwandlung von Doktor Jekyll in Mister Hyde. Doch sein Hass wendete sich gegen ihn selbst. Währenddessen hatten sich Vitali, Serena und Ariane mit allen möglichen und unmöglichen Schimpfworten bombardiert, die immer brutalere Ausmaße angenommen hatten. Dafür war Serena sogar extra wieder aufgestanden. Doch das reichte noch nicht. Serena und Vitali wollten dazu übergehen, auch physische Gewalt anzuwenden, was aufgrund der räumlichen Trennung nur durch eines möglich war – durch den Einsatz ihrer Kräfte. Die beiden hatten bereits die violette Energie heraufbeschworen, aber noch nicht den tödlichen Schlag ausgeführt, während Ariane auf sie einschrie, dass sie aufhören sollten und wie bescheuert sie doch waren. Unzählige Feuerfontänen schossen um die fünf herum in die Höhe, ohne dass sie ihnen noch Beachtung geschenkt hätten. Gerade wollten Serena und Vitali ihre Attacken abfeuern, als Vivien wie eine Irre brüllte: „Ewigkeit!“ Die beiden erstarrten in der Bewegung. Die Energie um ihre Körper löste sich in Rauch auf und raubte ihnen die Kraft. Sie sackten in sich zusammen, entsetzt über das, was sie soeben tun wollten, was sie ohne auch nur mit der Wimper zu zucken fast getan hätten. Im gleichen Augenblick wurde alles um sie herum schwarz. Justin schnappte heftig nach Luft und riss die Augen auf, doch es machte keinen Unterschied, ob er die Augenlider geöffnet oder geschlossen hielt. Er war eingesperrt in der Schwärze. Eine enge Schwärze, in die er gerade so hineinpasste. Kein anderer durfte in diese Schwätze vordringen. Kein anderer gehörte hierher. Justin senkte den Kopf. Er wollte gar nicht, dass jemand anderes hierher kam. Es war besser alleine zu sein. Er brauchte niemanden. Nicht Vitalis scherzhaftes Herumgealbere, nicht Serenas unbeholfene Impulsivität, nicht Arianes sanfte Fröhlichkeit, nicht einmal Viviens begeistertes Lachen. Das Lachen, das er so gemocht hatte. Dieses Lachen hätte hier nur gestört, er wollte es nie wieder hören. Was brachte es schon? Das waren doch alles nur unnötige Hoffnungen, die ihm wehtaten. Er hätte schon immer allein bleiben sollen, nie versuchen sollen, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Das hatte ihm in seinem Leben doch nur Leid beschert. Er spürte einen Kloß im Hals und die Schwärze kam noch näher. Sie bot ihm einen Schutz vor dem grausamen Außen. Hier war er sicher davor, wieder verletzt zu werden. Justin schloss die Augen und spürte eine Träne seine Wange berühren. Er hatte immer gewusst, dass er falsch war. Dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er hätte nie geboren werden sollen. Er schnappte nach Atem. Der Gedanke tat ihm weh. Die Schwärze sollte ihn doch davor beschützen! Wieso tat es trotzdem weh? Er öffnete die Augen und rang panisch nach Luft, begriff, in was für einer Art Sarg er sich versteckte. Er wollte hier raus. Er wollte nicht hier drin gefangen bleiben! Er wollte zu den anderen! Auch wenn ihm wieder wehgetan wurde… – immer mehr Tränen bildeten sich in seinen Augen – …es war besser, als sich hier drin vor dem Leben zu verstecken. Er wollte nicht mehr alleine sein!!! „Vivien!“ Sein Schrei zerfetzte das Trugbild und im gleichen Moment sah er in indigofarbene Augen. Justin zuckte zurück, als er realisierte, wie nah Viviens Gesicht ihm war, schlug aber mit dem Hinterkopf gegen eine Wand. „Ganz ruhig.“ Ihre Stimme klang sacht. „Du bist aufgewacht.“ Noch immer versuchte er, so weit wie möglich von ihrem Gesicht entfernt zu bleiben. Sie sah ihn äußerst besorgt an und machte den Ansatz, ihm noch näher zu kommen. Dann schien ihr beim Blick in seine Augen die Erkenntnis zu kommen. Vorsichtig zog sie ihren Oberkörper zurück und nahm etwas Abstand zu ihm ein. Ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen. Erst jetzt wagte er, sich umzublicken. Sie befanden sich in einem kleinen schneeweißen Raum. Hinter Vivien konnte er Ariane und Vitali erkennen. Diese knieten zu Serena, die gegen die gegenüberliegende Wand gelehnt noch zu schlafen schien. Vivien strahlte ihn an. „Du redest im Schlaf.“ Justin spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Daraufhin näherte Vivien sich ihm plötzich wieder. Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. „Das ist sehr süß.“ Er brachte keinen Ton mehr heraus. Dass Vitali mit einem lauten Schrei alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte, kam Justin gerade recht. „Verdammt, wach endlich auf, du dumme Kuh!“, schrie er Serena an. Allerdings hatte Vitali nicht damit gerechnet, dass Serena sowieso gerade dabei gewesen war zu erwachen und daher seine Worte genau gehört hatte. Sie riss die Augen auf und stieß Vitali unsanft von sich. „Wie war das!?“ Vitali verzog das Gesicht.. „Th.. Anders kriegt man dich ja nicht wach!“ Ariane, die einen abermaligen Streit der beiden unterbinden wollte, entsann sich eilig der Methode, die Vivien sonst anwendete. Hastig sprach sie zu Serena: „Ich hab ihn gerade noch davon abgehalten, dich wachzuküssen.“ „WAAAAAAAAS!!!“, brüllte Vitali entsetzt. „Das ist überhaupt nicht wahr!!!!“ Er starrte Serena mit irrem Blick an und deutete auf Ariane. „Glaub der kein Wort!!!“ Ariane hob entschuldigend die Arme. „Es war nur ein Scherz.“ Vitali funkelte sie wütend an und bot ihr die Stirn. „Ich mag deine Scherze nicht!“ „Also ich fand ihn klasse!“, meinte Vivien kichernd, als sie zu ihnen gesprungen kam. Vitali verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust, woraufhin Vivien ihn mit dem Arm freundschaftlich anstupste. „Du bist doch unser Held!“, erinnerte sie ihn. „Ich hab diesmal nichts gemacht.“, dementierte Vitali übellaunig. „Für mich bist du immer ein Held!“, verkündete Vivien. Vitali sah sie daraufhin ungläubig an, doch Vivien wendete sich bereits Serena zu. „Das hast du toll gemacht!“ Serena war derweil wieder auf die Beine gekommen und verzog das Gesicht, als wolle sie das nicht hören. Im gleichen Moment hatte Vivien sich ihr in die Arme geworfen. „Lass das.“, murrte Serena. Vivien kicherte bloß und umarmte sie noch fester. „Ich hab dich lieb.“ Serena wandte das Gesicht ab, in der Hoffnung, dass keiner sehen konnte, wie viel ihr das bedeutete. „Und wie kommen wir jetzt hier raus?“, wollte Vitali wissen. Im gleichen Moment öffnete sich links von ihnen ein Durchgang. „Wieso frag ich überhaupt noch?“ Jenseits des Durchgangs fanden sie eine Dunkelheit vor, die sie an den nächtlichen Sternenhimmel erinnerte. Fasziniert traten sie ein und bestaunten die Sternlichter. Es sah aus, als stünden sie direkt im Universum, doch sie spürten festen Boden unter ihren Füßen und die Schwerkraft war weiterhin vorhanden. Mittendrin stand eine gewaltige Treppe, deren durchscheinende Stufen ein sachtes bläulichweißes Licht aussandten. Sie traten näher heran und blickten die lange Treppe hinauf. Fünf Lichter warteten dort auf sie, die mehr vom Herzen als von den Augen wahrgenommen wurden. Und sie wussten, dass diese Lichter ihre Wappen waren, auch wenn sie dieses Mal nicht das Aussehen von runden Schmuckstücken angenommen hatten. Wie in einer Trance, alle nebeneinander schritten sie auf die Treppe zu und betraten die erste Stufe, ohne den Blick von ihren Wappen abzuwenden. Doch sobald sie diese erste Stufe erklommen hatten, schoss ihnen ein Gefühl des Zweifels durch den Leib. All das hier konnte nicht wirklich sein. Das war alles Blödsinn. Man konnte nicht mit einer Treppe auf seinen Seelenkern zugehen. Sie schüttelten die Köpfe und zwangen sich die nächste Stufe zu nehmen, doch wieder überkam sie der Zweifel und eine unangenehme Schwere legte sich auf ihre Häupter. Es gab keinerlei wissenschaftliche Erklärung für dieses Vorkommnis. Es war unmöglich, was hier geschah. Sie mussten fantasieren, einer Sinnestäuschung erliegen. Die fünf schnappten nach Luft, der Druck auf ihren Kopf war so unangenehm und mit einem Mal schien das Bild vor ihren Augen zu verschwimmen. Das war alles Quatsch. Alles, was sie bis hierher erlebt hatten – vom Angriff der Schatthen über ihre Verwandlung, ihre Kräfte bis zur Existenz des kleinen Schmetterlingsmädchens, das sie getötet hatten – all das war nur Einbildung gewesen. Nur das ergab einen Sinn. Und die jeweils anderen vier, die mussten sie sich die ganze Zeit eingebildet haben. In Wirklichkeit waren sie hier allein, hatten einen seltsamen, langen Traum oder waren irgendwie mit einem Rauschmittel in Berührung gekommen und hatten deshalb diese Wahnvorstellung. Die letzten anderthalb Wochen waren einzig und allein ihrer Einbildungskraft entsprungen und wenn sie aufwachten, dann würden sie diese Geschehnisse einfach vergessen, wie man so oft seine Träume vergaß, sobald man erwachte. Es war Zeit in die Realität zurückzugehen, bevor sie hier noch wahnsinnig wurden. Ja, sie mussten einfach hier warten bis sie aufwachten. Ehe sie sich versahen, hatten die fünf auf der Treppe Platz genommen, ohne die jeweils anderen noch eines Blickes zu würdigen. Nur Vivien war auf die dritte Stufe gekommen, aber saß nun ebenfalls apathisch da. Serena hoffte, dass sie nach dem Aufwachen diesen Traum nicht sofort wieder vergessen würde. Vielleicht konnte sie ja eine Geschichte daraus machen. Dennoch war die Erkenntnis bitter, denn für einen kurzen Moment hatte es sich wirklich so angefühlt, als hätte sie Freunde gefunden. Ob es wohl an der Tiefkühlpizza am Freitagabend gelegen hatte, fragte sich Vitali. Vielleicht waren Aroma-, Farb- und Konservierungsstoffe doch schädlicher als er gedacht hatte. Bestimmt der Trubel mit dem Umzug und die neuen Eindrücke aus Entschaithal, das war einfach zu viel gewesen, überlegte Ariane. Und für Justin war zumindest klar, warum sein Gehirn gerade Vivien unter seine Begleiter gewählt hatte, so hatte er wenigstens etwas Zeit mit ihr verbringen können, auch wenn es nur eine Fantasie-Vivien gewesen war. Wenn er aufwachte und ihr das nächste Mal begegnete, würde er wohl wieder keinen Ton herausbekommen. Keiner von ihnen bekam mit, wie Vivien sich nochmals aufraffte und sich auf die nächste Stufe quälte, wo sie abermals in sich zusammensackte. Wenn das alles ein Traum sein sollte, warum dann aufgeben, hatte sie sich gesagt. Umso weniger zu verlieren! Doch erneut raubte ihr der kalte Verstand den Glauben. Es war doch unnötig weiterzumachen. Das brachte doch nichts. Sie machte sich doch nur lächerlich… Nein, nein. Das waren nur Gedanken, das war nicht die Wahrheit. Sie brauchte ihnen nicht glauben! Sie biss die Zähne zusammen, schleppte sich eine weitere Stufe nach oben und brach in sich zusammen. Alles war leer. Alles nutzlos. Das Leben hatte keinen Sinn. Irgendwann war man einfach tot und das alles für nichts! Für nichts, nichts und wieder nichts! Es war einfach nur sinnlos. Da war nichts, auf das man hinarbeitete. Nur eine Welt, die bestimmten physikalischen Gesetzen unterworfen war, ein Körper, der von Genen abhängig war und von Hormonen gelenkt wurde. Und alle Gedanken, die man hatte, waren schlussendlich nutzlose Hirngespinste. Ihr Inneres war leer. So unendlich leer. Alles war leer. So schrecklich leer. Tränen füllten Viviens Augen und kullerten ihre Wangen entlang. Warum war alles so sinnlos? Ein leises Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Warum lebte man dann überhaupt? Warum wurde man überhaupt geboren? Warum überhaupt das alles? Warum?!! Plötzlich fühlte sie etwas in der Mitte ihrer Brust, etwas wie eine Wärme, eine Geborgenheit, die sie mit einem Mal umfing. Sie umarmte diese Wärme und begann noch stärker zu weinen. Es tat so gut, dieses Gefühl. So gut. Dass sie eben noch an allem gezweifelt hatte, war mit einem Mal unverständlich und einfach nur traurig. Vivien wandte sich zurück zu den anderen, die immer noch teilnahmslos dasaßen. „Wir sind noch nicht am Ziel!“, rief sie. Mit leeren Blicken drehten die anderen sich zu ihr. Daraufhin rannte Vivien wieder die Treppe nach unten und verpasste allen vieren einen Stoß. „Hey!“, schimpfte Vitali. „Hast du sie noch alle!“, beschwerte sich Serena. Vivien verschränkte die Arme vor der Brust. „Was habt ihr bloß? Das ist doch nur ein Traum, das kann doch nicht wehgetan haben!“ Die vier sahen sie verwirrt an. Plötzlich fing Vivien laut an zu krakeelen, „Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen!“, dass es ihnen in den Ohren wehtat. „Hör auf!“, befahl Vitali, woraufhin Viviens Sprechgesang nur noch lauter wurde. „Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen! Ich hör erst auf, wenn ihr da hochgegangen seid! Aufwachen! Aufwachen!“ „Bist du bescheuert?“, fauchte Serena sie an. „Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen!“ Aber die anderen rührten sich nicht von der Stelle. Dann halt anders! „Und wenn ich euch alle einzeln da hochschleifen muss!“, rief Vivien, ergriff Serenas Hand und zog sie mit sich. Dadurch, dass sowieso alles sinnlos war und es für sie anstrengender war, sich gegen Viviens sanfte Gewalt zu wehren, als sich von ihr mit zerren zu lassen, ließen die anderen es nacheinander mehr oder weniger einfach mit sich geschehen. Aber die letzte Stufe konnte Vivien die anderen nicht führen. Eine unsichtbare Wand hielt sie davon ab. „Okay, ich hab verstanden, dass ihr das alles eh nicht glaubt. Das ist in Ordnung. Aber schaut mal: Wenn das alles eh nur ein Traum ist, dann können wir doch zu diesen schönen Lichtern da gehen.“ Sie deutete auf die Wappen. Die anderen reagierten nicht. Vivien stieß frustriert die Luft aus und versuchte nachzudenken, aber das brachte nichts. Schließlich schloss sie die Augen und legte ihre Hände auf ihr Herz, hoffte, dass das Vertrauen, das ihr eben schon zu Diensten gewesen war, ihr auch jetzt weiterhalf. Sie spürte ihren Herzschlag und beruhigte sich, lauschte in sich hinein. Ihre Gedanken wandelten sich zu Antworten: Sie konnte die anderen nicht zu diesem Schritt zwingen. Das musste sie auch gar nicht. Jeder von ihnen war stark und besonders. Sie würden es ganz ohne sie schaffen. Vivien atmete langsam ein und aus und konzentrierte sich auf ihr Vertrauen. Minuten verstrichen. Wieder kamen die Zweifel in ihr hoch. Was, wenn die anderen nie den Schrit machen würden? Was, wenn sie für immer hier drin gefangen blieben? Halt! Das war eine Treppe des Zweifels. Was, wenn die letzte Stufe für sie war? Was, wenn es darum ging, dass sie an den anderen zweifelte und sie sich nur einbildete, dass die anderen zögerten? Das war zu verwirrend. Aber es ergab Sinn. Sie sah die anderen an. Vielleicht waren die anderen längst bereit, den letzten Schritt zu gehen, und was die Gruppe noch aufhielt, waren ihre Zweifel, nicht die der anderen. Vivien hielt inne. Woran zweifelte sie? Die jähe Erkenntnis wühlte sie auf: Sie zweifelte daran, von den anderen akzeptiert zu werden, wenn sie aufhörte, nützlich zu sein. Wenn sie einfach nur die nutzlose kindisch-nervige Spinnerin war, die niemand in seiner Nähe haben wollte. Viviens Augen wurden feucht. Hatte sie sich deshalb vorgestellt, dass sie die anderen die Treppe nach oben führen musste? Damit sie für sie eine Bedeutung hatte? Damit sie einen Wert besaß? Nein! Sie musste ihnen vertrauen! Aber sie waren doch auch dauernd genervt von ihren kindischen Einfällen und ihrer Aufgedrehtheit und davon, dass sie sie ungefragt umarmte und Nähe suchte, aus der schieren Angst heraus, alleine zu sein. Das war wohl auch der Grund, warum Justin ihre peinlichen Annäherungsversuche ständig zurückwies. Sie war einfach erbärmlich. Vivien ließ den Kopf hängen und schloss die Augen. Momente lang stand sie so da. Zaghaft sah sie die anderen an. Ihr Blick fiel auf Serena. Sie erinnerte sich an das Gefühl, das Serena damals im Schatthenreich ausgestrahlt hatte: das Gefühl, absolut wertlos zu sein. Sie hatte ihr damals das Gegenteil beweisen wollen, weil Serena ein unheimlich liebenswerter Mensch war, ganz egal, was sie von sich selbst dachte. Vivien nickte Serena zu. Entschlossen drehte sie sich wieder um und sah auf zu ihrem Wappen. Doch sie zögerte. Konnte sie den Schritt denn ohne die anderen machen? Was, wenn die anderen dann doch hier alleine zurück blieben? Wenn sie sich das alles nur eingeredet hatte? Wenn sie dann für immer von ihnen getrennt sein würde? Sie schüttelte den Kopf. Sie musste vertrauen! Abermals atmete sie tief ein und aus. Sie tat den letzten Schritt. Gleichzeitig mit den anderen. Kapitel 47: Noch nicht besiegt ------------------------------ Noch nicht besiegt „Wenn die anderen glauben, man ist am Ende, so muss man erst richtig anfangen.“ (Konrad Adenauer, ehemaliger deutscher Bundeskanzler) Ariane spürte einen kühlen Boden unter sich, sie konnte den Geruch der Bäume wahrnehmen und die frische Luft. Sie öffnete die Augen und fand sich im Park wieder, wo sie in einem Kreis mit den anderen auf dem Boden saß, als hätten sie sich nie weg bewegt. Doch einen Unterschied gab es: Sie und die anderen trugen nicht länger die Kleidung von zuvor, sondern ihre Beschützer-Outfits. Die fünf sprangen auf und musterten einander, dann drehten sie sich suchend um, ob jemand sie vielleicht gesehen hatte oder jetzt sehen konnte. Diese Uniformen waren ja schön und gut, aber nicht sonderlich dafür geeignet, unter Leute zu gehen. Als hätten ihre Anzüge ihre Gedanken gelesen, verblassten sie, während ihre ursprüngliche Kleidung wieder zum Vorschein kam. „Hä?“, machte Vitali. „Sie machen, was wir wollen.“, erklärte Vivien freudig. „Und wie wollen wir jetzt testen, ob unsere Kräfte wieder da sind, ohne dass es jemand sieht?“, fragte Ariane. Serena konzentrierte sich. „Schicksalsschlag.“, hauchte sie. Im nächsten Moment floss ein goldener Schimmer aus ihrem Körper und hüllte Vitali und Justin ein. „Ich sagte, ohne dass es jemand sieht.“, bemerkte Ariane. „Erstens sieht uns hier keiner, weil dieser Bereich total zugewachsen ist. Und zweitens: Wenn uns jemand gesehen hat, glaubt er sowieso bloß, dass ihm seine Augen einen Streich gespielt haben.“, entgegnete Serena. Die Worte hätten genauso gut von Vivien stammen können, was Vivien sichtlich freute. Vitali grinste verschmitzt und begann sogleich, ebenfalls seine Kräfte freizusetzen und die anderen in einen bunten Funkenregen zu tauchen. Serena erwiderte die Geste und beschoss ihn, woraufhin auch Vivien sich nicht länger zurückhielt. Ariane warf Justin einen kurzen Blick zu, als wolle sie fragen, ob sie das auch machen sollten. Justin lächelte sanft, woraufhin ein Grinsen sich auf Arianes Gesicht stahl. Dann hielten auch sie sich nicht länger zurück und begannen, ihre Kräfte freizusetzen. Ihre wahren Kräfte. „Wir sind die Größten!“, rief Change euphorisch und riss seinen Arm in die Höhe. „Wohooo!“ „Die Allergrößten!“, stimmte Vivien zu und streckte beide Arme hoch. Ariane lachte. Selbst Serena konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken. „Gruppenknuddeln!“, rief Vivien. „Echt jetzt?“, fragte Vitali entsetzt. „Ja!“, beharrte Vivien. Etwas unbeholfen legte Vitali daraufhin den Arm um ihre Schultern und bemerkte, dass Serena neben ihm stand. Als diese das ebenfalls registrierte, huschte sie auf die andere Seite zu Ariane. Alter, war er giftig, oder was? Zumindest konnte er jetzt den Arm um Justin legen, dem das Ganze genauso unangenehm zu sein schien wie ihm. Ariane dagegen hatte Vivien direkt den Gefallen getan, während sich Serena nun zwischen Ariane und Justin eingereiht hatte. „Ich hab euch lieb.“, verkündete Vivien. Die anderen schwiegen einen Moment. „Wir dich auch.“, sagte schließlich Ariane. Vivien kicherte und löste sich aus der Umarmung. Sie winkelte ihren Arm an und rief laut: „Balaaaaaaance“ Die anderen begriffen und machten sich für ihren Gruppenruf bereit. Ihre Arme flogen in die Luft. „Defenders!“ Vivien kicherte, dann wurde sie mit einem Mal still. Nachdenklich sah sie zu Boden. „Wenn das die Kräfte vom Schatthenmeister waren und unsere Kräfte aus unseren Gefühlen kommen, waren das dann die Gefühle vom Schatthenmeister?“, grübelte sie laut. „Quatsch.“, rief Vitali. „Der hat gar keine Gefühle.“ Justin versuchte sich an einer Erklärung. „Diese Kräfte haben das bloß in uns ausgelöst. Das und…“ Er brach ab. Er wollte nicht aussprechen, was sie getan hatten. Vivien verstand. Sie holte Luft. „Ewigkeit lebt!“, verkündete sie entschieden. Die anderen starrten sie an, als gingen sie davon aus, dass sie halluzinierte. „Sie heißt doch Ewigkeit!“, rief Vivien, wie um sich selbst zu überzeugen. „Und Finster hat es doch auf der Kunstausstellung gesagt. Ein kleines Mädchen mit Flügeln ist das Symbol für die unsterbliche Seele.“ Ihre Stimme hatte den Klang eines kleinen Mädchens angenommen. Die anderen wirkten alles andere als überzeugt. Vivien zog die Schultern an. „Sie wird immer in unseren Herzen sein.“ Erneut schnitt der Schmerz des Verlusts und der Schuld den fünfen ins Fleisch. Die Reue würde sie wohl ihr Leben lang verfolgen wie ein Schatten. Aber was geschehen war, war geschehen, sie konnten es nicht mehr rückgängig machen. Nun hieß es, nach vorne zu blicken. Vitali klopfte Vivien fest auf den Rücken. „Wieso eigentlich nicht! Ne Leiche haben wir jedenfalls keine.“ Ariane war entsetzt, wie pietätlos Vitali darüber sprach. „Ist doch so!“, rief er als Antwort auf die Blicke von Ariane und Justin. Serena seufzte. „Wichtiger ist jetzt, was wir als nächstes machen. Wir haben keine Ahnung, wann die Schatthen wieder angreifen.“ Ariane schreckte auf. „Ist euch aufgefallen: Es ist das erste Mal seit Samstag, dass wir außerhalb der Schule wieder alle zusammen sind. Und prompt haben die Schatthen uns angegriffen. Als hätten sie das gewusst.“ „Du meinst, sie wissen, wo wir uns aufhalten?“, fragte Serena schockiert. „Ich weiß es nicht.“, entgegnete Ariane. Justin zog ein besorgtes Gesicht. „Das heißt, dass sie uns wieder angreifen werden, sobald wir uns treffen.“ Vitali blieb optimistisch. „Aber dieses Mal wissen wir es!“ Justin nickte. „Und wir können wieder unsere Kräfte benutzen.“, ergänzte Ariane. Noch immer schaute Justin nachdenklich. „Die Frage ist, ob wir sie wirklich gleich einsetzen sollten.“ Ariane sah ihn fragend an. „Wie meinst du das?“ „Der Schatthenmeister nimmt weiterhin an, dass er uns unter Kontrolle hat. Vielleicht können wir das für uns nutzen.“, überlegte Justin laut. Vitali stand auf dem Schlauch. „Wie willst du denn das nutzen?“ „Ich weiß nicht genau, vielleicht könnten wir mehr über seine Absichten herausfinden, über seine Pläne.“ „Aber wie sollen wir das machen?“, wollte Ariane wissen. „Sobald die Schatthen uns angreifen, müssen wir uns wehren und dann weiß er sofort, wie es wirklich um uns steht.“ Der Bereich zwischen Justins Augenbrauen legte sich in Falten. Serena klinkte sich ein. „Und wenn einer von uns die anderen Kräfte einsetzen würde? Dann würden sie es nicht merken. Ich könnte die Schatthen mit diesen Kraft beseitigen und der Schatthenmeister würde glauben, dass wir noch immer unter seinem Bann stehen.“ „Nein!“, kreischte Vivien und ergriff erregt Serenas Hand. Aufgelöst sah sie sie an. „Du wärst daran schon mal fast gestorben! Das lasse ich nicht zu!“ Ihre Reaktion machte Serena sprachlos. „Serena ist zu anfällig für diese Kräfte, wenn dann würde ich das übernehmen.“, meinte Justin. Ariane antwortete, bevor Vivien es tun konnte. „Diese Kräfte sind für jeden von uns zu stark. Wir haben es gerade erst geschafft, sie wieder los zu werden. Wir wissen nicht, ob uns das auch ein zweites Mal gelingt. Nichts, was wir herausfinden könnten, würde das rechtfertigen.“ Justin nickte. „Ihr habt Recht.“ Vitali sah das Ganze locker. „Es bringt uns doch eh nix rauszufinden, was der Schatthentypi vorhat. Wichtig ist, dass er uns nicht kriegt.“ Er begann zu grinsen. „Also treten wir den Schatthen gehörig in den Hintern, damit er sieht, mit wem er’s zu tun hat!“ Justin musste sich eingestehen, dass seine Überlegungen zum momentanen Zeitpunkt bloß ins Leere liefen. „Selbst wenn wir in die Nähe des Schatthenmeisters kämen, wären wir viel zu schwach, um irgendetwas auszurichten.“ Ariane schlussfolgerte: „Bevor wir solche Pläne schmieden, müssen wir erst einmal stärker werden.“ Vitali grinste sie an und präsentierte seinen Oberarm wie es Bodybuilder taten. „Noch stärker?“ Ariane musste breit lächeln, Vitalis gute Laune war einfach ansteckend. Serenas Gesicht verfinsterte sich angesichts Vitalis und Arianes Schäkerei. „Bevor du stark genug wärst, wäre die Menschheit schon ausgestorben.“, zischte sie. Vitali verzog verstimmt das Gesicht. „Dann ist ja gut, dass wir nicht darauf warten müssen, dass bei dir die Oberweite wächst.“ Serena klappte die Kinnlade runter. Geistesgegenwärtig hielt Ariane sie davon ab, Vitali die Augen auszukratzen. „Müsst ihr immer streiten?“, fragte Ariane. „Sie hat angefangen.“, nörgelte Vitali beleidigt. Serena schnaubte, wandte sich ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Justin seufzte. „Denkt ihr nicht, wir haben gerade größere Probleme?“ „Die haben wir doch immer.“, maulte Vitali. Vivien kicherte. „Ja, lass ihnen doch den Spaß.“ Ariane sah sie irritiert an. „Was ist denn daran Spaß?“ „Na, dass die beiden einander trotz ihrer Minderwertigkeitskomplexe mögen.“, lachte Vivien. „Ich hab keine Minderwertigkeitskomplexe!“, schrie Serena. Die ganze Gruppe starrte sie an. Ertappt wandte Serena das Gesicht ab. „Zurück zum Thema.“, sagte Ariane. „Wenn wir uns das nächste Mal außerhalb der Schule treffen, wird es vermutlich zu einem Angriff kommen.“ Vivien schaute zuversichtlich. „Dann können wir uns aussuchen wo!“ Serena meckerte: „Wir sollten uns einfach nicht mehr treffen.“ „Irgendwann würden sie uns dann einzeln angreifen.“, wandte Ariane ein. Serena stöhnte. „Wir könnten uns im Park treffen.“, schlug Justin vor. „Hier haben wir genug Platz und es sind weniger Leute unterwegs, die in den Kampf hineingezogen werden könnten.“ „Und wann?“, fragte Serena. „Je früher der Schatthenmeister erfährt, dass wir nicht mehr unter seinem Bann stehen, desto schneller wird er sich einen anderen Plan ausdenken.“ „Wir dürfen aber auch nicht zu lange zögern. Er könnte sonst auch Verdacht schöpfen.“, gab Ariane zu bedenken. „Hey, bleibt mal locker!“, rief Vitali. „Das ist das erste Mal, dass wir auf den Angriff der Schatthen wirklich vorbereitet sind. Diesmal sind wir im Vorteil!“ Er grinste. „Genau!“, stimmte Vivien zu. „Die können was erleben!“ Sie streckte den anderen entschlossen ihre Rechte hin. „Für Ewigkeit!“ Einen Moment lang zögerten die anderen. Erneut packte sie die Reue und drückte ihr Herz zusammen. Sie holten tief Luft und legten dann ihre Hände auf Viviens. „Für Ewigkeit!“ Eine dünne Glasplatte, hinter der der Stadtplan Entschaithals sich abbildete. Die Karte war im Norden herangezoomt, wo der Kurpark lag. An einem Punkt in diesem Park leuchteten fünf Lichter unterschiedlicher Farbe auf, die sich durch ihren geringen Abstand zu einander zu einem schmutzigen Farbklecks verbanden. Die Schwingung und Energie, die er damals aus der Inschrift der Steinplatten gelöst hatte, ermöglichte es Grauen-Eminenz die Personen zu orten, die auf die Magie der Prophezeiung ansprachen. Bei seinem allerersten Versuch war das allerdings gehörig schiefgegangen. Aus irgendeinem Grund war ihm zunächst jeder Mensch als Licht angezeigt worden. Daher hatte er an der Feinabstimmung gearbeitet, bis seine Auserwählten sich endlich deutlich von allen anderen abgehoben hatten. Wie er so die gläserne Platte auf ihrem Sockel betrachtete, konnte er sich unliebsamer Gedanken nicht erwehren. Bisher war zwar alles nach Plan verlaufen, aber dass seine Auserwählten sich nach dem Angriff nicht sofort wieder getrennt hatten, machte ihn stutzig. Durch den Gefühlscocktail, der mit dem Einsatz seiner Kräfte einherging, war nicht auszuschließen, dass die fünf sich gegenseitig Schaden zufügten. Er brauchte sie lebend! Anderseits war bisher keiner der Lichtpunkte schwächer geworden. Ein Zeichen dafür, dass ihre Lebensenergie nicht nachließ, er sich also keine weiteren Gedanken machen brauchte. Wie hielten sie es nur so lange miteinander aus? Aber möglicherweise beschimpften sie sich ja auch gerade. Kurz spielte er mit dem Gedanken, ein Blickfenster zu erschaffen, mit dem er an den Ort sehen konnte, an dem sich die Beschützer momentan aufhielten. Jedoch handelte es sich hierbei um ein zeit- und energieaufwändiges Unterfangen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten die Auserwählten schon längst den Ort verlassen, ehe er mit der Beschwörung fertig war. Es war um einiges leichter, einfach einen Schatthen hinzuschicken, durch dessen Augen er die Szene betrachten konnte. Doch es gab jetzt Wichtigeres zu bedenken. Wann sollte der nächste Angriff stattfinden? Sollte er wieder darauf warten, dass die fünf zusammentrafen? Wie wahrscheinlich war es, dass dies erneut stattfand? Die emotionale Gewalt seiner Kräfte würde die fünf zwangsläufig in die Isolation zwingen oder in eine Zerstörungswut versetzen. Andererseits dauerte dies bei ihrer dümmlichen Unschuld vielleicht etwas länger. Jeden von ihnen einzeln von Schatthen attackieren zu lassen, war umständlich. Vor allem mussten auch die Zivilisten bedacht werden, deren Erinnerungen manipuliert werden mussten, was auch kein Zuckerschlecken war. Ein einzelner Ort für alle fünf war daher ideal. Seine Muskeln spannten sich an. Er durfte auf keinen Fall etwas überstürzen. Egal wie stark die Unruhe in seinem Inneren ihn quälte. Er musste ausharren bis der richtige Moment gekommen war. Die fünf entschieden sich, dass der nächste Angriff der Schatthen am Freitagnachmittag stattfinden sollte. Auch wenn sie es gerne länger hinausgezögert hätten, war das Risiko, dass der Schatthenmeister sie sonst einzeln angriff, zu groß. Sie konnten nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob ihr Feind nicht doch schon wusste, dass sie seinen Trick durchschaut hatten. Vielleicht hatte er sie die ganze Zeit hindurch belauscht. Dieser Gedanke war ihnen jedoch erst gekommen, als schon alles besprochen worden war. In ihrem Hauptquartier hätten sie sicher sein können, dass niemand ihre Unterhaltung verfolgen konnte, aber sie hatten nicht nochmals versucht, hineinzugehen. Zum Glück konnten sie sich in der Schule sehen, ohne Angst vor einem Angriff haben zu müssen, auch wenn sie nicht sicher waren, woran genau das lag. Vielleicht waren im Schulgebäude dann doch zu viele Menschen, die er hätte manipulieren müssen. „Hey!“, donnerte Vitali, als er das Klassenzimmer betrat, und starrte Erik mit finsterem Blick an. Er knallte seinen Rucksack auf seinen Stuhl. „Erst große Töne spucken und dann nicht auftauchen, was!“ Zunächst war sich Erik unsicher, ob Vitali tatsächlich wütend war, besonders da Vivien ihm keine Antwort auf seine gestrige Nachricht geschickt hatte. Doch das kecke Grinsen, das mit einem Mal auf Vitalis Gesicht erschien, machte Erik klar, dass wieder alles in Ordnung gekommen war. Erik grinste zurück. „Ich hatte einfach keinen Bock, deine Visage zu sehen.“ Vitali machte eine legere Geste. „Ja… ja… Ich weiß. Der Neid auf mein gutes Aussehen zerfrisst dich innerlich.“ Künstlich theatralisch bedeckte Erik daraufhin mit der linken Hand das Gesicht. „Ich weiß einfach nicht, wie lange ich es noch aushalte, neben so einem Schönling wie dir zu sitzen.“ Er legte den Kopf mit einem gespielt flehentlichen Ausdruck schräg. „Bitte, du musst mir sagen, wie du das machst!“ Vitali setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf und blickte von oben auf Erik herab, seine Stimme bekam einen leicht nasalen Klang: „Bei jemandem wie dir würde das sowieso nichts bringen. Da ist Hopfen und Malz verloren.“ Die Blicke der beiden Jungs begegneten sich und sie brachen in ein herzhaftes Lachen aus. Vitali nahm seinen Platz ein. „Also ist alles wieder klar bei euch.“, nahm Erik an. „Jupp.“ Erik lehnte sich erleichtert zurück. „Viel länger hätte ich eure schlechte Laune auch nicht ausgehalten.“ Vitali blickte ihn spöttisch an. „Sagt Serena in männlich.“ „Wie war das?“, sagte eine gereizte Mädchenstimme aus Richtung der Klassenzimmertür, sodass Vitali kurz zusammenzuckte, derweil Erik schmunzelte. Vitali drehte sich zu Serena um, die gerade gemeinsam mit Ariane ins Zimmer gekommen war. „Mann, musst du immer im falschen Moment auftauchen?“, beschwerte er sich. Ariane lächelte. „Ich wusste überhaupt nicht, dass sie untergetaucht war.“, Sie drehte sich amüsiert zu Serena. „Warst du auf geheimer Mission?“ „Meine einzige Mission ist, den Tag trotz Vitalis Gequatsche zu überleben.“ Erik stieß einen zufriedenen Seufzer aus. „Endlich streiten sie wieder.“ „Findest du das etwa angenehm?“, fragte Ariane ungläubig. Erik zuckte mit den Schultern. „Die beiden sind sehr unterhaltsam.“ „Erik…“, sagte Serena trocken. „Halt die Klappe.“ Sogleich machte Erik eine hektische Auf-und-Ab-Bewegung mit den Händen und senkte seine Lautstärke. „Sag sowas nicht so laut, jemand könnte das falsch interpretieren und dann kommen unangenehme Gerüchte auf!“ „Wie?“ Ariane sah Serena fragend an. Serena fasste sich genervt an die Stirn und schüttelte bloß den Kopf. Vitali dagegen hielt sich mit einer Erklärung nicht zurück: „Erik tut so, als wäre er mit Serena zusammen, damit er nicht mehr von seinem Fanclub belästigt wird.“ Eriks Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass es ihm gar nicht recht war, dass Vitali das so laut aussprach. Oder wollte er bloß nicht, dass Ariane etwas davon erfuhr? Wider Erwarten war es jedoch ein überaus freundliches Lächeln, das sich auf Arianes Zügen zeigte. Sie tat einen weiteren Schritt auf Vitalis und Eriks Bank zu. „Also Erik.“, sagte sie mit einem unverhohlenen Lächeln. „Ich weiß überhaupt nicht, wo dein Problem liegt.“ Ihre Stimme hatte einen zuckersüßen Ton angenommen. „Du müsstest nur einen einzigen Abend mit ihnen verbringen und sie würden sofort damit aufhören, für dich zu schwärmen!“ Endlich konnte sie sich für all seine höhnischen Bemerkungen revanchieren! Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Erik verärgert, doch in Blitzgeschwindigkeit hatte er seine Lässigkeit wiedererlangt. „Ariane.“, begann er gelassen. „Du solltest nicht zu viel von diesen Mädchen erwarten. Im Gegensatz zu dir würde keine von denen im Geringsten darauf achten, was ich rede! Und unter ‚den Abend mit mir verbringen‘, haben die auch ganz andere Vorstellungen als du. Wobei –“ Er legte eine künstliche Pause ein und machte ein gespielt nachdenkliches Gesicht. „Wenn man bedenkt, dass du mir schon bei der ersten Begegnung die Kleider vom Leib reißen wolltest.“ Zufriedenes Grinsen. „Das wollte ich NICHT!“; kreischte Ariane. Am ersten Schultag hatte sie ihm den Ärmel seines Oberteils nur hochgerissen, um anhand Secrets Wunde beweisen zu können, dass sie nicht verrückt war! Wer hatte denn wissen können, dass mitsamt seinen Erinnerungen auch seine Verletzung verschwunden war?! Erik lachte überlegen. „Versuch ruhig, es zu leugnen.“ „Du weißt, dass es ganz anders war!“, begehrte sie auf. Wieder Eriks selbstgefälliger Blick. „Ach, weiß ich das?“ Ariane biss sich empört auf die Unterlippe. „Dass du eines weißt: Du bist nur halb so toll wie du denkst!“ „Aber Ariane.“, sagte er, als hätte sie ihm ein unerhörtes Kompliment gemacht. „Ich wusste gar nicht, dass du so für mich empfindest!“ „Wie bitte!“, rief Ariane aus. „Wenn ich von dem ausgehe, wie toll ich denke, dass ich bin, und davon die Hälfte nehme, dann bin ich immer noch der großartigste Mann, dem du in deinem ganzen Leben begegnet bist.“ Arianes Gesicht verzog sich. „Der Eingebildetste trifft es eher!“ Er beugte sich leicht zu ihr vor, als müsse er ihr etwas im Geheimen anvertrauen. „Man nennt es selbstbewusst.“ Dieses Mal war es kein überlegenes oder herablassendes, sondern ein verspieltes, jungenhaftes Lächeln, das auf seinen Lippen erschien und das Ariane zu sehr irritierte, als dass sie darüber hätte sauer sein können. „Morgen!“, rief Vivien laut aus, wie sie es immer tat, wenn sie das Klassenzimmer betrat. Sie und Justin gesellten sich zu den anderen. Sie sprach Erik an. „Sorry, dass ich nicht geantwortet habe. Es sollte eine Überraschung sein!“ „Solange ihr jetzt wieder normal seid, ist mir alles egal.“, meinte Erik desinteressiert. „Normal?“, schrie Vivien verstört und riss die Augen auf. Sie packte Justin schockiert am Arm. „Sind wir normal?“ Justin sah sie nur verwirrt an, ohne ihr zu antworten. Erik lachte. Im nächsten Moment trat eine Lehrperson ein. Doch entgegen dem Stundenplan war es nicht ihr Mathematiklehrer, sondern Frau Lange, die sie in Geschichte mit Gemeinschaftskunde unterrichtete. „Morgen in den letzten zwei Stunden machen wir eine Exkursion zum Thema Mittelalter. Wir besuchen die Burg Rabenfels. Um elf treffen wir uns alle im Schulhof. Bringt zwei Euro für die Busfahrt mit. Und sagt es auch den anderen weiter.“, ratterte sie herunter wie unter Trance. Dann machte sie sich auch schon wieder aus dem Staub. „Ziemlich kurzfristige Entscheidung.“, kommentierte Erik. „Hauptsache kein Unterricht!“, stieß Vitali freudig aus. Interessiert sah Ariane die anderen an. „Wo ist diese Burg?“ Justin begann zu erklären. „Wenn man aus Entschaithal hinausfährt Richtung Norden, bevor du zum nächsten Ort kommst, ist im Osten ein kleiner Berg.“ Ariane nickte. „Ich glaube, den habe ich bei der Anfahrt gesehen.“ „Dieser Berg ist Rabenfels mit der Burg Rabenfels. Sie ist noch ziemlich gut erhalten und wurde erst vor ein oder zwei Jahren saniert.“, fuhr Justin fort. Ariane begann vor Vorfreude zu strahlen. Kapitel 48: Burg Rabenfels -------------------------- Burg Rabenfels „Die Zunge ist schärfer als das Schwert.“ (Türkisches Sprichwort) Es war ein alter, vermutlich ausrangierter Linienbus mit zerschlissenen Polstern, deren Muster wenn überhaupt in den Siebzigern einmal in gewesen war, in dem die Klasse E6 samt ihrer Lehrerin die Sonderstrecke zur Burg Rabenfels zurücklegte. Die Fahrt dauerte eine Viertelstunde. Der Bus quälte sich die schmale Strecke den Berg hinauf, umringt von zahllosen Laubbäumen. Schließlich standen die vierundzwanzig Schüler vor dem steilen Weg hinauf zu dem mittelalterlichen Bauwerk. Ihre Rucksäcke und Taschen hatten sie im Bus gelassen, der bis zum Ende der Besichtigung auf sie warten würde. Während die Gruppe bereits loslief, sog Ariane den Moment in sich auf. Der Himmel war saphirblau, Vogelgezwitscher drang an ihr Ohr und die goldene Herbstsonne beschien den für ein Auto zu schmalen Weg, der zu einem großen Torbogen führte. Dahinter ragte die imposante steinerne Fassade der Burg auf. Ihre Lippen formten ein überfreudiges Lächeln. Sie war schon lange nicht mehr auf einer Burg gewesen. In ihren Kindertagen hatten ihre Eltern – auf Arianes ausdrücklichen Wunsch hin – häufig Burgen und Schlösser mit ihr besichtigt. Ihr Vater hatte dann so getan, als wären sie Ritter auf einer geheimen Mission, während die einzige Freude ihrer Mutter daran gewesen war, dass Ariane auf diese Ausflüge immer ein Kleid tragen und einen besonderen Zopf geflochten haben wollte. Damals hatte sie eines Tages so langes Haar wie Rapunzel haben wollen, denn aus einer Bibelgeschichte über Samson hatte sie erfahren, dass langes Haar einem übermenschliche Stärke verleihen konnte. Angesichts der Tatsache, dass Rapunzel im Märchen einen ausgewachsenen Mann an ihren Haaren hochziehen konnte, war ihr das zu der Zeit plausibel erschienen. Erik, der neben ihr den Weg hinauf ging, riss sie aus ihren Gedanken. „Worüber freust du dich so?“, fragte er kritisch. Ariane zuckte kurz mit den Schultern und lächelte. „Ich mag eben Burgen.“ Unglaube zeichnete sich auf Eriks Gesicht ab. „Aha.“ Sein Verhalten pikierte sie. „Hast du etwa Probleme damit?“ „Ich find es nur ungewöhnlich.“, meinte Erik, ohne sie anzusehen. Beleidigt schürzte sie die Lippen. „Du hast immer noch nicht aufgehört, mich in eine Schublade zu stecken. Erik zögerte einen Moment, dann stieß er geräuschvoll die Luft aus. Sein Ton wurde kalt. „Red dir das nur ein.“ Dass er so tat, als wäre sie ein unreifes Kind, das sich etwas einbildete, machte sie rasend. „Ich rede mir nichts ein. Dein Verhalten spricht eine eindeutige Sprache!“ Erik ließ ihr einen Seitenblick zukommen, der so wirkte, als wolle er ihr erneut die Schuld zuschieben. „Ich kenne dich einfach nicht genug.“ „Eben!“, schimpfte sie. Viviens quietschfidele Stimme mischte sich ein: „Das heißt, ihr müsst euch besser kennen lernen!“, rief sie euphorisch. „Deshalb verbingt ihr einfach die ganze Führung zusammen!“, beschloss sie grinsend. Allerdings nahmen weder Ariane noch Erik den Vorschlag wirklich ernst. Um genauer zu sein, ignorierten sie ihn schlichtweg. Das war neu. Serena und Vitali regten sich immer lautstark auf, wenn sie sich in ihre Angelegenheiten einmischte, und taten dann doch das, was sie ihnen aufgetragen hatte. Wo kamen sie denn da hin, wenn auf einmal jeder einfach so über ihre Einfälle hinwegging? Tatsächlich war es Serena, die auf Viviens Idee reagierte: „Hör auf, andere über ihre Köpfe hinweg in irgendwelche Paare einzuteilen!“, beschwerte sie sich, schließlich war es Vivien zu verdanken, dass sie mit Vitali als Beschützerpartner festhing. Im nächsten Moment war Erik zu Serena getreten und hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. „Da hast du absolut Recht, Schatz. Schließlich glauben die Leute sonst noch, dass ich dich mit Ariane betrüge.“ Serena verdrehte entnervt die Augen, Dass Erik das Gerücht, sie wären zusammen, aufrechterhalten wollte, um von den anderen Mädchen in der Klasse in Ruhe gelassen zu werden, war ja eine Sache, aber Eriks Pärchengetue nervte sie ungemein. Allerdings nervte es sie nicht halb so sehr wie Vitali. Bei ihm regte sich Serena schon auf, wenn er sie versehentlich berührte! Aber bei Erik war das natürlich was anderes. Das stank ihm gewaltig! „Als würde irgendwer glauben, dass du was von Serena willst.“, grollte er erbost. Allerdings traf sein Kommentar statt Erik Serena und das wie ein Schlag ins Gesicht. Zwar hatte sie selbst auf Eriks Eröffnung, er wolle so tun, als wären sie ein Paar, mit den gleichen Worten reagiert, aber sie nun aus Vitalis Mund zu hören, war einfach unerträglich! Ihr bitterbösester Blick durchbohrte Vitali. Doch der begriff natürlich überhaupt nicht, was es mit dieser Reaktion auf sich hatte. Unverhoffte Unterstützung erhielt sie von Erik. Drohend funkelte dieser Vitali an. „Niemand beleidigt meine Freundin.“ Seine Stimme klang todernst. Allerdings brachte dieses wichtigtuerische Verhalten Vitali nur noch mehr auf die Palme. „Sie ist nicht deine Freundin!“, brüllte Vitali ihn an. Eriks Blick war stechend. „Falsch, du bist nicht ihr Freund.“ Vitali biss sich auf die Unterlippe. Die Härte wich aus Eriks Blick. „Wenn du für sie ein richtiger Freund wärst, würdest du sie nicht so beleidigen.“ Vitalis Gesichtsausdruck wandelte sich zu dem eines geschlagenen Hundes, der den Schlag als ungerechtfertigt ansah. Natürlich war er ein richtiger Freund für Serena! Wer hatte sich denn um sie gekümmert, als sie alles hatte hinschmeißen wollen?! Und jetzt kam Erik daher und tat so, als wäre er Serenas bester Freund und stellte ihn – Vitali – als Trottel hin! Was fiel ihm eigentlich ein! „Entschuldigst du dich jetzt oder nicht?“ Eriks Stimme war schneidend wie ein Schwert. Unwillkürlich kam in Ariane das Bild eines Ritters auf, der die Ehre einer holden Maid verteidigte. Sie ärgerte sich, dass sie diesen Gedanken nicht gleich wieder abstellen konnte. Erik als edlen Ritter zu betrachten, gefiel ihr ganz und gar nicht. Vivien sprang zu Vitali, hängte sich an seinen Arm und strahlte Erik an. „Ich weiß gar nicht, was ihr alle habt. Es ist doch ganz klar, dass niemand glauben würde, dass du mit Serena zusammen bist, schließlich würdest du Vitali nie die Freundin ausspannen! Stimmt’s?“, kicherte sie vergnügt. „Waaas!“, schrie Vitali. „Serena ist nicht meine Freundin!“ Im gleichen Atemzug wurde ihm klar, dass er damit nur das bestätigte, was Erik ihm gerade vorgeworfen hatte – was ihn über alle Maßen ärgerte! „Ich meine, sie ist nicht meine feste Freundin!“, verbesserte er sich hastig. Allerdings hörte sich das nun so an, als sei er an ihr interessiert. „Ich meine, ich ... Da läuft nichts zwischen uns!!!“, stieß er gehetzt aus. An seinem Arm grinste ihn Vivien an. Hilfesuchend blickte Vitali zu Serena. Seine Stimme hatte etwas geradezu Flehendes. „Serena! Sag doch auch mal was!“ Serena sah Vitali mit großen, ungläubigen Augen an. Bat er sie gerade im Ernst mit einem geradezu verzweifelten Blick um ihre Unterstützung, als hege er unerschütterliches Vertrauen zu ihr? Das verstärkte doch bloß noch den Eindruck, dass sie beide ein Pärchen waren!!! Ehe Serena etwas sagen konnte, erhob Justin zögerlich die Stimme. „Äh, ich will euch ja nicht stören, aber… wir sollten den Rest der Klasse wieder einholen.“ Erst jetzt erkannten die anderen, dass ihre Mitschüler schon längst den Weg hinauf zur Burg zurückgelegt hatten und sie nun in einigen Metern Entfernung angafften. Eilig rannten sie hinterher. Nachdem sie das Burgtor durchschritten hatten, fanden sie sich zunächst in der Vorburg wieder. Ihre Lehrerin machte hier einen Stopp, ließ die Schüler sich im Kreis aufstellen und begann mit der Erklärung von Sinn und Zweck einer Vorburg und erzählte, welche Gebäude alles innerhalb der Vorburg zu finden gewesen waren: Stallungen, Lagerräume, Werkstätten. Sie deutete dabei auf die zugehörigen Teile der Umgebung. Anschließend setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung und betrat einen Bau direkt vor ihnen. Im Inneren war alles dunkel, die hier noch erhaltene Decke ließ kein Licht einfallen. Das einzige Licht drang von dem Durchgang herein und von einer Treppe, die in einigen Metern Entfernung nach oben führte. Sand knirschte unter ihren Schuhen. „Hier war eine Lagerstätte.“, hörten sie die Stimme von Frau Lange. Sehen konnten sie sie nur noch schemenhaft. „Wir gehen jetzt nach oben.“ Die Klasse lief auf die nach oben führende Treppe zu, während Ariane unzufrieden stehen blieb. Neben sich konnte sie im Zwielicht Nischen erkennen. Sie wollte hier noch so gerne alles erkunden, ehe sie weiterging! Die anderen standen mit ihren Klassenkameraden bereits um die Treppe herum, wo das einzige Licht war. Da fiel Ariane auf, dass die Treppe gerade mal breit genug für einen war, es also etwas dauern würde bis alle nach oben gelaufen waren. Genug Zeit, um sich hier noch ein wenig umzublicken! „Hat einer von euch eine Taschenlampe?“, rief sie ihren Freunden zu, auch wenn sie wenig Hoffnung hatte. „Hä?“, machte Vitali. Die anderen schüttelten nur die Köpfe. Nur Erik schien ihre Frage zu ignorieren, da er derweil sein Handy hervorholte. Nachdem er ein, zwei Bewegungen auf dem Display vollführt hatte, ging hinten an seinem Mobiltelefon eine kleine Leuchte an. „Reicht das?“ Freudig flitzte Ariane auf ihn zu. „Du bist der Beste!“ „Ich weiß.“, meinte Erik, als wäre das eine Selbstverständlichkeit, und handelte sich dadurch einen skeptischen Blick von Ariane ein. Als sie ihm das Handy aus der Hand nehmen wollte, zog er es nochmals zurück. „Was willst du überhaupt damit?“ „Mich hier umsehen.“, entgegnete Ariane, als wäre das doch ganz offensichtlich. Blöderweise hatte sie ihr Handy bei ihren Sachen im Bus gelassen und bereute das jetzt. Erneut hielt Erik ihr das Handy hin. Bevor er auf die Idee kam, es wieder zurückzuziehen, um sie zu ärgern, entwendete Ariane es ihm mit einer flinken Bewegung. Erik schnaubte amüsiert. Flugs war sie auch schon auf dem Weg zur ersten Nische. Geschickt huschte sie in die Räumlichkeit und leuchtete mit dem spärlichen Licht um sich. Von außen hörte sie Eriks Stimme: „Du willst also nicht der Gruppe folgen, damt du auch sicher nichts von den überaus spannenden Erklärungen von Frau Lange verpasst?“ „Ich nutze nur die Zeit, in der alle anderen bloß rumstehen.“, antwortete sie. Sie trat wieder nach draußen, wo Erik auf sie wartete. „Außerdem zwingt dich keiner hier zu stehen. Oder hast du Angst, dass mir hier im Dunkeln etwas zustößt?“ Im gleichen Moment glitt sie gebückt in den nächsten, einem großen steinernen Ofen ähnelnden, Steinblock. „Ich mach mir nur Sorgen um mein Handy.“, sagte Erik trocken. „Ja natürlich.“, erwiderte Ariane höhnisch aus dem Inneren des Klotzes. „Dann hättest du es mir erst gar nicht gegeben.“ Wieder trat sie leichtfüßig aus der Dunkelheit hervor und sah sich jäh Auge in Auge mit Erik. „Du hast es dir genommen.“, berichtigte er mit dunkler Stimme. Ariane zuckte – von der plötzlichen Nähe zu ihm überrascht – einen Schritt zurück und wich ihm aus. „Was suchst du da drin überhaupt?“, wollte Erik wissen. Schon wieder war Ariane auf Entdeckungsreise in einem der Klotzbauten. „Muss ich unbedingt etwas suchen?“ „Wozu gehst du sonst da rein?“ Ariane gab ein belustigtes Geräusch von sich. „Um nicht neben dir im Dunkeln zu stehen.“ Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es ist bloß Neugierde. Es könnte sich ja ein Abenteuer hier drin verstecken.“, antwortete sie heiter. „Ein Abenteuer?“ Unglaube schwang in Eriks Stimme. „Wieso nicht?“ Auch hier drin zeigte sich Ariane in dem blassen Schein der kleinen Leuchte nur Sand und Luft. „Du bist wirklich seltsam.“, hörte Ariane Eriks gedämpfte Stimme von draußen sagen. „Das sagt der Richtige.“, erwiderte sie und gab anschließend einen Schreckenslaut von sich. „Was ist?“ Erik schwang sich sogleich zu ihr in die steinerne Lagerräumlichkeit und knallte im gleichen Moment gegen sie. „Au!“, stieß Ariane aus. In der Schwärze hier drin konnte man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. „Nur weil du dich für umwerfend hältst, musst du mir das nicht direkt demonstrieren.“ „Ich habe mir bloß an dir ein Beispiel genommen.“ Ariane stockte und war froh, dass die Dunkelheit ihr Antlitz verhüllte. Seine Worte klangen wie eine Bezugnahme darauf, dass sie im Schatthenreich gegen ihn geprallt war und damit seinen Sturz ins Labyrinth verschuldet hatte. Eriks Stimme unterbrach die plötzlich aufgetretene Stille. „Willst du das Licht nicht wieder anmachen?“ „Ich hab es nicht ausgemacht!“, begehrte Ariane auf. „Gib es mal her.“, forderte er. „Ich sehe nichts. Du musst erst rausgehen.“ Erik spottete: „Weil du nicht im Dunkeln neben mir stehen willst?“ „Weil die Leute sonst noch glauben könnten, dass du Serena hier drinnen mit mir betrügst.“, konterte sie. Erik schnaubte belustigt. „War das der Plan?“ „In deinen Träumen!“. „Etwa dasselbe geträumt?“ „Ich bin schreiend aufgewacht.“ „Schreiend vor Freude?“ „Freude, dass es nur ein Traum war.“ Ariane sah nicht, dass Erik ein breites Grinsen auf die Lippen getreten war. „Es geht weiter!“, hallte von außen Viviens Stimme. Daraufhin verließ Erik rückwärts den Bau. Ariane folgte und drückte ihm sein Handy gegen die Brust. „Danke!“ Er konnte noch sehen, dass sie lächelte, dann spurtete sie auch schon zu der Treppe. Erik musste schmunzeln und wollte ihr hinterher, als ihn ein stechender Schmerz durchzuckte. Automatisch griff er nach seinem linken Oberarm und erstarrte im selben Augenblick. An der Treppe angelangt, schaute Ariane nochmals zurück. Die anderen waren schon vorgegangen. „Es wird schon nicht kaputt sein!“, rief sie Erik zu. Sie ging davon aus, dass er sie nicht eingeholt hatte, weil er sein Mobiltelefon erst inspizieren musste. Doch es kam keine Antwort. „Erik?“ Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren ängstlich. Ohne noch einen Gedanken zu verlieren, hetzte sie zurück und wäre dabei fast ein zweites Mal mit ihm zusammengestoßen. „Vorsicht.“ Seine Stimme klang normal. „Wieso antwortest du nicht?!“, schrie Ariane ihn heftig an. Das Gefühl, ihn ein zweites Mal in der Finsternis zu verlieren, krampfte ihr Herz zusammen. Dann erkannte sie im Halbdunkel, dass er seinen linken Oberarm festhielt. Doch sobald er ihren Blick bemerkte, ließ er schleunigst von seinem Arm ab. Erik suchte nach Worten. Doch nichts schien ausdrücken zu können, welche Verwirrung in ihm vorging. Schließlich entschied er sich, nicht auszusprechen, was er gerade empfand. „Hältst du es keine Minute mehr ohne mich aus?“, fragte er provokativ. Damit erreichte er exakt das, was er bezweckt hatte: Ariane stellte keine weiteren Fragen, sondern drehte sich schnurstracks um und lief wieder auf die Treppe zu. Besser gesagt: sie rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her – während Erik noch einen Augenblick da stand und sich entsetzt fragte, ob er sich das nicht alles bloß einbildete. Nur mit halbem Ohr folgte Erik den Erläuterungen der jungen brünetten Lehrerin. Sie standen im Freien auf einem breiten Platz mit Brüstungen, von dem aus in verschiedene Richtungen weitere Treppen wegführten. Hier war es wieder hell und der Wind ging. Der Schmerz in seinem linken Oberarm war verschwunden, aber dafür hatten sich viele Gedanken in ihm breit gemacht. Wie konnte es ein Zufall sein, dass ein Schmerz gerade an der Stelle auftrat, von der Vitali am ersten Schultag behauptet hatte, dass er dort eine Wunde hatte? Was war mit der Bemerkung, die er eben gegenüber Ariane gemacht hatte, die für ihn aber überhaupt keinen Sinn ergab? Er war sonst nicht derjenige, der einfach mal drauf los plapperte. Und lag nicht auch in Arianes ängstlicher Reaktion auf sein Zurückbleiben etwas Seltsames? Zudem hatte er momentan das Gefühl, als würden die fünf ihn, wenn auch versteckt, nun vermehrt beobachten. Litt er wirklich an Verfolgungswahn? Sie hatten nicht viel Zeit gehabt, über die Situation zu reden. Justin hatte nur gefordert, dass jemand auf alle Fälle in Eriks Nähe blieb. „Ariane!“, hatte Vivien freudig vorgeschlagen. „Wieso denn ich? Einer der Jungs wäre viel unauffälliger. Oder Serena.“ Ehe sie hatten weiterreden können, hatte Vitali ein Zischgeräusch von sich gegeben, das ihnen verdeutlichte, dass Erik sie jetzt hören konnte. Und so war die Aufgabe doch an ihr hängen geblieben. Die Situation gefiel Ariane nicht, gefiel ihr ganz und gar nicht! Die Gefahr, dass Erik erneut auf die Idee kam, sie wolle sich an ihn ranmachen, war ihr zu groß. Allein bei dem Gedanken schürzte sie empört die Lippen. Außerdem konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass Vivien ihr diese Aufgabe nur zugeschoben hatte, um dadurch den zuvor geäußerten Plan, Erik und sie sollten den Ausflug miteinander verbriingen, doch noch in die Tat umgesetzt zu sehen. Aber das Schlimmste war, dass sie dadurch in ihrem Entdeckerdrang eingeschränkt war. Resigniert ließ Ariane die Schultern hängen. Jäh wurde ihr bewusst, dass sie vor lauter Überlegungen Frau Lange gar nicht mehr zugehört hatte. Sofort konzentrierte sie sich wieder. Die junge Lehrerin war am Ende ihrer Ausführungen angelangt und schien kurz zu überlegen. Sie wirkte etwas unsicher, als merke sie jetzt erst, dass ihre Planung nicht ganz ausgereift gewesen war. Bei einem Rundumblick wurde Ariane klar, dass nicht alle Bereiche für so viele Personen ausgelegt waren und ein Aufstieg immer wieder Zeit kosten würde. „Ihr könnt euch jetzt einfach mal umschauen.“, verkündete Frau Lange. Ariane horchte auf und begann automatisch zu strahlen. „Gehen wir nach oben!“, rief Vivien freudig aus. Begeisterung trat auf Arianes Züge und schwand so schnell wie sie gekommen war. Unglücklich lugte sie zu Erik, schließlich musste sie in seiner Nähe bleiben. Und was, wenn er nicht nach oben wollte? Erik bemerkte ihren Blick. „Was ist?“ Sein Argwohn sprang Ariane an wie eine Raubkatze. Sie musste sich schnell überlegen, wie sie das Ganze kaschierte. „Dein Handy!“, stieß sie heftig aus, heftiger als sie es gewollt hatte. „Ist es kaputt?“, setzte sie dann kleinlaut hinzu. Nun wirkte Erik wieder etwas entspannter. Sie hatte also richtig reagiert! „Wenn es so wäre, hättest du das schon zu spüren bekommen.“, sagte er mit vielsagendem Seitenblick. Entsetzt starrte sie ihn an, was Erik wiederum zu einem amüsierten Schnauben bewegte. Die anderen waren mittlerweile zur nächsthöheren Ebene gestiegen, Ariane sah ihnen sehnsüchtig hinterher. „Warum gehst du nicht auch hoch?“, fragte er. „Ich .. ich warte auf dich.“ Eriks linke Augenbraue hob sich misstrauisch. „Ich will aber nicht hoch.“ Ariane ärgerte sich einen Moment. Warum musste er auf einmal den Außenseiter geben? Sie versuchte, möglichst natürlich zu klingen, was allerdings umso aufgesetzter wirkte: „Komm schon, sei kein Spielverderber!“ Herablassend beugte sich Erik zu ihr. „Ist es dir denn so wichtig, dass ich in deiner Nähe bin?“ Mühsam beherrscht schluckte sie den Kommentar hinunter, der ihr auf der Zunge lag. Normalerweise hätte sie ihn für diese Unterstellung einfach stehen gelassen. Aber das durfte sie jetzt nicht. Dann wurde ihr angesichts Eriks herausfordernden Blickes klar, dass er sie absichtlich reizte. Er spielte mit ihr! Allerdings hatte er sich da mit der Falschen eingelassen. Arianes Siegeswille ließ selbst ihren Stolz erblassen. Selbstsicher reckte sie ihr Kinn. „Und wenn es so wäre?“, antwortete sie mit einem Augenaufschlag, der eindeutig nicht kokett war, sondern auf einen Schlagabtausch abzielte. Sie machte sich auf seinen nächsten Angriff gefasst. Mit einem geradezu amüsierten und zugleich kämpferischen Lächeln nahm Erik offenbar die Herausforderung an. Gemächlich lief er zu der Brüstung links von ihnen, wo bereits ein paar Mädchen aus ihrer Klasse die Aussicht bewunderten. Erik lehnte sich in unmittelbarer Nähe zu seinem Fanclub locker gegen die steinerne Brüstung und warf ihr ein diabolisches Grinsen zu. Das war ein hinterhältiger Schwertstreich! Dieser Kerl legte es doch tatsächlich darauf an, dass sie ihm wie ein Dackel folgte! Vor den Augen der Mädchen, die jeglichen Satz, den er ihr entlockte, aufschnappen und in aufgebauschter Weise weiterverbreiten würden bis schließlich die schlimmsten Gerüchte kursierten! Und dieses Monster wusste das ganz genau! Oh nein! Kampflos würde sie nicht aufgeben! Sie würde diesen Angriff abschmettern. Noch einen Moment stand sie reglos da, dann ging sie langsamen Schrittes auf Erik zu, der sie die ganze Zeit aus den Augenwinkeln beobachtet hatte. In lautem Ton, dass es jeder hören konnte, sagte sie: „Also ich weiß auch nicht genau, was du Serena zum Geburtstag schenken könntest.“ Die Mädchen um sie herum horchten auf und Erik war positiv überrascht wie einfach Ariane die für sie peinliche Situation zu ihren Gunsten entschieden hatte. Sie war nicht nur dem Eindruck entkommen, dass sie ihm hinterherlief, besser noch, sie hatte vorgegaukelt, dass er sie darum gebeten hatte, zu ihm zu kommen und hatte gleichzeitig plausibel gemacht, warum sie beide hier alleine standen und nicht bei ihrer üblichen Clique. Und was gab es Alltäglicheres als eine Freundin der festen Freundin nach einer Idee für deren Geburtstagsgeschenk zu fragen? Gut, aber nicht gut genug, dachte Erik, und führte den nächsten Hieb aus. Wehmütig seufzte er auf. „Ich hatte nie solche Probleme, ein Geschenk zu finden, als wir beide noch zusammen waren.“ Die Ohren der Umherstehenden vergrößerten sich um das Drei- bis Vierfache, während ein unbändiges Verlangen, Erik den Todesstoß zu versetzen, durch Arianes Körper schoss. „Liegt wahrscheinlich daran, dass wir nie zusammen waren.“, entgegnete sie mühsam beherrscht. Auf subtile Weise abgewehrt. Doch schon holte Erik zum nächsten Schlag aus. Geschmeidig glitt er von der Brüstung weg und machte einen ganz entschiedenen Schritt zu weit auf Ariane zu. Sein Gesicht war von ihrem nur noch einen Atemzug entfernt. „Aber das könnte sich ändern.“, hauchte er verführerisch, woraufhin die Mädchen um ihn herum sich nicht mehr zurückhalten konnten und nun ungeniert auf das Paar gafften. Ariane spürte die neugierigen Blicke der Mädchen und hätte Erik nur zu gerne einen entschiedenen Tritt in die Leistengegend verpasst. Angesichts des nahenden Zornesausbruchs, den Erik deutlich in ihren Augen lesen konnte, musste er grinsen, was sie noch mehr in Rage versetzte. Das Spiel war noch nicht vorbei! Sie parierte. Ein hohes gekünsteltes Gekichere ausstoßend, krümmte sie ihren Körper wie vor Lachen, so dass Erik gezwungen war, einen Schritt zurückzuweichen, um nicht ihren blonden Schopf in den Magen gerammt zu bekommen. „Jetzt verstehe ich, was Serena mit deinem Humor meinte!“, lachte Ariane und schüttelte heiter ihren Kopf. Entwaffnet! Damit hatte sie Erik die Möglichkeit genommen, sie durch weitere Annäherungsversuche in prekäre Situationen zu bringen. Mit einer erneuten Zudringlichkeit würde er sich vor allen anderen nur lächerlich machen. Es würde so aussehen, als liefe er ihr hinterher. Erik stimmte in das künstliche Gelächter ein und neigte kurz den Kopf wie zu einer Verbeugung vor seinem Kontrahenten. Er beendete das Gefecht: „Gehen wir hoch.“ Endlich lief Ariane hinter Erik die Treppe mit den schmalen Stufen hinauf. „Ich habe gewonnen.“, verkündete sie zufrieden. Doch Erik vermieste ihr den Triumph. „Du hast es nötig, darauf herumzureiten? Ich könnte auch wieder umdrehen.“ „So haben wir aber nicht gewettet.“, beanstandete Ariane. „Haben wir denn gewettet?“ „Haben wir nicht?“, entgegnete Ariane heiter. Erik war auf dem Treppenpodest angekommen, von dem links und rechts Treppen in zwei Aussichtstürme führten. Geradeaus war ein breiter Platz, in dessen Mitte, ein weiterer großer viereckiger Turm, der so genannte Bergfried, stand. Eriks Blick wurde ernst, drehte sich zu ihr um. „Was war es für eine Wunde?“ Ariane blieb das Wort im Halse stecken. „Ich weiß nicht...“, antwortete sie wahrheitsgetreu. Dann fügte sie schleunigst hinzu: „…wovon du sprichst!“ „Na, die aus deinem Lieblingsbuch. Woher hatte der Schwarzhaarige die Wunde?“, entgegnete Erik jetzt wieder locker und lief geradeaus weiter, wo sich auch einige ihrer Klassenkameraden befanden. Ariane folgte. Wieso hatten die anderen sie auch mit ihm allein gelassen? Das war nicht fair! „Hallo!“, rief eine Stimme von oben. Vivien und Vitali winkten ihnen von dem Bergfried aus zu. Gott sei Dank! Ablenkung! „Hallo!“, rief Ariane zurück. „Wo sind die anderen?“ „Sie sind bei euch unten!“ Vivien deutete auf die Ebene, auf der auch Ariane und Erik standen, nur auf der anderen Seite des Bergfrieds, so dass sie sie von hier aus nicht sehen konnten. „Serena wollte ums Verrecken nicht hoch.“, beschwerte sich Vitali. „Justin ist bei ihr geblieben.“ Ariane musste unwillkürlich lächeln. Natürlich, Justin – ganz Gentleman – hatte Serena nicht allein gelassen, obwohl er sicher lieber bei Vivien gewesen wäre. „Ich will gar nirgendwohin, wo du bist!“, schimpfte Serenas Stimme nicht weit entfernt. „Der Aufgang ist wirklich nicht so steil!“, versicherte Vivien ihr. Zuvor hatten ein paar Klassenkameraden behauptet, der Aufstieg sei sehr unwegsam, wodurch Serena sofort abgelehnt hatte, hinauf zu gehen. Ihr letzter Ausflug in einen Turm vor ein paar Jahren hatte ihr gereicht. Erik und Ariane gingen weiter, woraufhin Serena und Justin in ihr Blickfeld kamen. „Hallo.“, sagte Justin in seiner gewohnt ruhigen Art. Derweil zoffte sich Serena auch noch in dieser Entfernung mit Vitali: „Solange der dort oben ist, geh ich sowieso nicht da hoch!“ Erst im nächsten Moment wandte sie sich Ariane und Erik zu. „Ihr habt euch ja ziemlich Zeit gelassen!“ Erik antwortete nonchalant: „Ich wollte ein bisschen mit Ariane alleine sein. Nur für den Fall, dass du mit Vitali zusammenkommst, und ich einen Ersatz brauche.“ „Wie bitte?!“, stieß Ariane empört aus. Serena schimpfte: „Nie im Leben komme ich mit diesem Obertrottel zusammen!“ Erik grinste amüsiert, als hielte er Serenas Aussage für Selbstbetrug. „Da bin ich ja beruhigt.“ Serena verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist doof.“, maunzte sie. Er lächelte sie an. „Aber verdammt gutaussehend.“ Ariane zischte: „Aussehen ist nicht alles.“ Erik antwortete mit einer aufreizenden Bewegung seiner Augenbrauen. „Deshalb hast du ja auch noch Intelligenz und Schlagfertigkeit, nicht wahr?“ Von dieser Bemerkung irritiert, schwieg sie. Justin schüttelte amüsiert den Kopf. Erik sprach ihn an. „Du darfst auch mal etwas selbstbewusster sein. Sonst zieht sich das noch ewig hin zwischen dir und Vivien.“ Wenn man den darauf folgenden Gesichtsausdruck Justins beschreiben hätte müssen, so wären wohl die Worte: Schock, Scham und Sprachlosigkeit beinhaltet gewesen. Erik war verwundert. Hatte Justin denn wirklich geglaubt, dass es irgendjemanden auf der Welt gab, der noch nicht gemerkt hatte, dass er in Vivien verliebt war? „Dann gehen wir mal hoch.“, beschloss er, um den für Justin unangenehmen Moment zu unterbrechen, und ergriff ohne Weiteres Serenas Hand. „Wer hat gesagt, dass ich da hoch will?“, keifte sie. Eriks Ton wurde sanft und beschwichtigend: „Ich lauf hinter dir, dann kannst du auf mich fallen. Okay?“ Serena sah ihn wehleidig an. Er schenkte ihr ein Lächeln. „Ganz ruhig. Vivien hat doch gesagt, es ist nicht so steil.“ Schon führte er sie mit sich davon. Justin sah ihnen hinterher. „Erik ist wirklich beeindruckend. Nicht mal Vivien hat es geschafft, sie zu überreden.“ „Das heißt noch lange nicht, dass er beeindruckend ist.“, murrte Ariane mit düsterem Blick. Justin sah sie verwundert an. Vermutlich kannte er diesen gereizten Unterton von ihr nicht. Ariane mahnte sich, sich von Erik nicht die Laune verderben zu lassen. Sie lächelte Justin an. „Worauf warten wir noch?“ „Darauf, dass Serena schreiend zurückkommt?“ Justins Scherz verführte sie zu einem Lachen. Sie hatte gar nicht gewusst, dass er solchen Humor besaß. Dann sprach sie mit einer Grabesstimme. „Oh glaub mir, Erik wird sie da hoch zwingen.“ Justins zog ein Gesicht, als mache er sich Sorgen um sie. Sie seufzte. Es gefiel ihr nicht, dass Erik sie zu Verhaltensweisen veranlasste, die an ihr so ungewohnt waren, dass es offenbar auf Justin schon bedenklich wirkte. Justin sah kurz in eine andere Richtung und ergriff dann das Wort. „Das ist eine ungewöhnliche Exkursion.“ Sie ging davon aus, dass er ihr zuliebe das Thema wechseln wollte. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und stieg darauf ein. „Frau Lange ist gerade erst Lehrerin geworden. Sie kennt sich vielleicht noch nicht so gut aus.“, „Hm.“ Gemeinsam begaben sie sich zum Aufgang des Bergfrieds. Ariane hielt nochmals an und sah ernst zu Justin. „Glaubst du, Erik wird sich bald erinnern?“ Unsicherheit machte sich in ihr breit. „Eben hat er mich nach der Wunde gefragt.“ Justin antwortete nicht sofort, denn ein paar Klassenkameraden, die gerade den Bergfried hinabgestiegen waren, kamen ihnen entgegen. Sie machten ihnen Platz. Als sie außer Hörweite waren, setzte Ariane fort. „Vielleicht sollten wir ihm doch alles erzählen. Was wird er sonst denken? Kann er uns dann noch vertrauen?“ „Du weißt, warum wir das nicht machen.“, sagte Justin mit dem strengen Gesichtsausdruck, den sie bisher nur an ihm gesehen hatte, wenn es um Beschützerangelegenheiten ging. „Und dass er jetzt wieder die Wunde spürt, ist auch verdächtig.“ „Aber gerade deshalb wäre es doch…“, begann Ariane. Sie sah kummervoll zu Boden. „Er ist keiner der Feinde.“ Sie dachte erneut an Ewigkeit, die sie zu Unrecht verdächtigt hatten. Justin schwieg und seufzte. „Wir werden ihn beschützen.“, versicherte er schließlich. „Aber warum die Wunde –“ „Hey!“ Vitalis Stimme drang von oben zu ihnen. „Jetzt ist schon Serena oben, jetzt hockt ihr beide noch unten!“ „Wir haben hier oben alles für uns!“, fügte Vivien hinzu „Von hier kann man ganz Entschaithal sehen!“ Ariane blickte nach oben. „Wir kommen!“ Sie sah zurück zu Justin. Er schien in Gedanken versunken. Plötzlich fuhr er auf und drehte sich mit einem schockierten Gesichtausdruck um. Er rannte nochmals zurück zu einer Stelle, von der aus er den restlichen Teil dieser Ebene überblicken konnte, dann lief er zu der Brüstung, um die darunter liegenden Areale in Augenschein zu nehmen. Ariane verfolgte seine Bewegungen verwirrt. Dann sah sie, wie Justin mit aufgerissenen Augen nach oben zu den anderen blickte. „Kommt da runter!“, brüllte er aus Leibeskräften. „Kommt sofort da runter!“ Die anderen vier, die nun allesamt an die Brüstung des Bergfrieds getreten waren, starrten irritiert zu ihm herab. Ehe noch einer etwas fragen konnte, hörten sie Erik einen qualvollen Schmerzensschrei ausstoßen und zusammenbrechen. Im gleichen Atemzug stürmte Ariane die verschlungene Treppe hinauf. Erik lag ohnmächtig am Boden. Vitali hatte bereits versucht, ihn wachzurütteln, aber er kam nicht zu sich. Vergeblich schrie Serena auf ihn ein, während Vivien seinen Puls kontrollierte. Vitali sprang auf, um Hilfe zu holen und erkannte, wie Ariane ihnen entgegen gerannt kam. „Was hat er?“, schrie sie. Vivien informierte sie: „Er kommt nicht zu sich.“ „Wir müssen einen Krankenwagen rufen!“, forderte Ariane. „Zu spät!“, stieß Justin aus. Die anderen bemerkten erst jetzt, dass er ebenfalls die Treppe heraufgestürzt gekommen war. „Die Schatthen!“ Kapitel 49: Sturm auf die Burg ------------------------------ Sturm auf die Burg „Man darf nicht das, was uns unwahrscheinlich und unnatürlich erscheint, mit dem verwechseln, was absolut unmöglich ist.“ (Carl Friedrich Gauß, deutscher Mathematiker) „Ruft die Wappen!“, befahl Justin. Völlig konsterniert starrten die anderen ihn an, als spräche er eine andere Sprache. „Wovon redest du?“, verlangte Ariane zu erfahren, die Eriks Ohnmacht gerade als das wahre Problem ansah. „Eriks Wunde muss auf die Schatthen reagiert haben!“, rief Justin. „Nun macht schon! Sie werden gleich hier sein!“ Er hetzte an die Brüstung, um die Situation zu überblicken und verwandelte sich. Ohne länger zu zögern taten die anderen es ihm gleich, ihre Wappen hüllten sie in ihre Beschützeruniform. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Destiny, die befürchtete, dass im nächsten Moment ein paar Klassenkameraden hoch kamen und sie in ihrer verwandelten Form sahen. „Das alles war ein Trick!“, rief Trust. „Der ganze Ausflug! Frau Langes komisches Verhalten, wie in einer Trance, das hat alles der Schatthenmeister eingefädelt. Deshalb sind dort unten auch keine Leute mehr aus unserer Klasse!“ Sein Blick wanderte über den Bereich unter ihnen. „Anstatt die Leute erst später zu kontrollieren, hat er es diesmal gleich gemacht.“ „Bist du dir sicher?“, fragte Desire. „Hast du eine andere Erklärung?“, entgegnete Trust streng. Die hatte Desire nicht. Für einen Moment waren sie wie erstarrt. „Was soll’s!“, rief Change plötzlich. „Ob heute Nachmittag oder gleich jetzt. Wir machen sie fertig!“ „Genau!“, stimmte Unite ihm zu. Trust lächelte die anderen an. Dann durchfuhr sie der markerschütternde Signalton der Wappen und beseitigte damit jeden Zweifel an Trusts Theorie. Die anderen eilten nun ebenfalls an die Brüstung und betrachteten mit wachsender Unruhe den Aufgang zu der freien Ebene unter ihnen. Ein energischer Ausdruck erschien auf Trusts Zügen. „Sie kommen.“ Die Beschützer erschauderten. Wie in einem Mittelalterfilm, in dem die feindlichen Truppen über die Burg herfielen, bahnte sich eine ganze Horde Schatthen in ungestümen, gewaltigen Sprüngen ihren Weg die Treppe hinauf, zu dem Bereich unter ihnen. Die Hoffnung, dass die Schatthen bei hellem Sonnenschein weniger angsteinflößend sein würden, starb. Von der Sonne beschienen kamen die grausigen Details des abscheulichen kadavergleichen Erscheinungsbilds nur noch mehr zur Geltung und brannten sich unweigerlich ins Gedächtnis ein. Die Herzen der Beschützer pochten hektisch, als wären sie Beutetiere, die sich der drohenden Nähe des todbringenden Feindes bewusst wurden. Sie mussten ihre Nerven beruhigen, sonst würden sie nicht in der Lage sein, ihre Kräfte einzusetzen. Desires Blick glitt zurück zu dem Ohnmächtigen. „Was ist mit Erik?“, rief sie eilig. „In die Mitte!“, befahl Unite. „Wir verteilen uns am Rand und beschießen die Schatthen von dort aus.“ Gehetzt packte Change den Ohnmächtigen und hievte ihn mit Destinys und Desires Hilfe von der Brüstung weg. Derweil begaben sich Unite und Trust in Stellung. Das Brüllen der Schatthen fuhr ihnen durch Mark und Bein. Unite ergriff Trusts Hand. Obwohl sie ihre Attacke mittlerweile auch ohne die Hilfe eines anderen Beschützers einsetzen konnte, hatte sie in diesem Moment das innige Verlangen, seine Hand zu halten. Noch einmal warf ihr Trust einen entschlossenen Blick zu, der ihr ins Wanken geratenes Herz wieder stabilisierte, dann riefen beide mit fester Stimme ihre Attacken herbei. Die Worte Vertrauensband und Vereinte Kräfte flirrten durch die Luft. Und tatsächlich gelang es ihnen, die Energien in diesem Moment freizusetzen. Doch noch ließ die Anspannung nicht von ihnen ab. Würde der Angriff wirklich einen Effekt haben? Und wenn nicht, was würden sie tun? Fieberhaft folgten ihre Augen der farbenfrohen Energiewelle. Unite spürte wie Trust ihre Hand unwillkürlich fester drückte. Der Moment, in dem sich alles entschied, kam schneller als gedacht. Die Schatthen schrien nicht, noch verzerrten sich ihre Gesichter in Todesqualen wie sie es bei ihren letzten Kämpfen getan hatten. Als die Kreaturen von den leuchtenden Energiewellen erfasst wurden, umhüllte das Licht sie einen Atemzug, als wolle es sie liebevoll umarmen. Es zerquetschte sie nicht wie die violette Kraft von damals. Stattdessen schien es die Kreaturen von innen heraus zu erfüllen, sodass die Schatthen selbst zu leuchten begannen. Dieses Mal war es kein grauer Dunst, der von den Schatthen übrig blieb, sondern ein Glitzern und Schimmern, das zu den Beschützern heraufstieg, als wolle es sich aufrichtig dafür bedanken, endlich von seinen Qualen erlöst zu sein und sich geliebt zu wissen. Dann war es auch schon für ihre Augen nicht mehr sichtbar. „Es klappt!“, schrie Change überschwänglich, nachdem er und die beiden Mädchen wieder an die Brüstung geeilt waren. Doch die Euphorie nahm ein jähes Ende, als ihm und den anderen wieder bewusst wurde, wie viele Schatthen noch übrig waren. Sofort machten die Beschützer, rund um die Brüstung verteilt, sich daran, ihre Kräfte herbeizurufen. Ein Schwall an glitzerndem Schimmer hüllte bald den Bergfried ein. Doch immer wieder scheiterten ihre Versuche an ihrer emotionalen Aufgewühltheit, was ihrer Konzentration noch zusätzlich abträglich war. Beim Anblick der trotz ihrer Bemühungen immer noch überwältigenden Überzahl an Schatthen kam eine unheimliche Unsicherheit in ihnen hoch und ihre Gedanken überschlugen sich wie in einem Wahn. Hitze stieg in ihnen auf und ließ sie hektisch nach Luft schnappen. Ihr Inneres verkrampfte sich. Wieder und wieder zog ihre Angst das vergebliche Rufen ihrer Attackennamen nach sich. „Verdammt!“, fluchte Change in sich hinein und schlug mit seiner Faust auf die steinerne Brüstung. Es ging nicht! Wie sollte er sich in dieser Situation auch freuen!? Seine Erfolge im Heraufbeschwören seiner Attacken waren immer weniger geworden und schließlich ganz ausgeblieben. So ging es nicht weiter! Wütend biss er die Zähne zusammen und sah zu Destiny und Desire, die offensichtlich ebensolche Probleme mit ihren Fähigkeiten zu haben schienen. Destiny sackte für einen Augenblick in sich zusammen, mit den Händen an die Brüstung geklammert, verzweifelt darum bemüht, wieder zur Ruhe zu kommen. Dann hievte sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder hoch. Change fühlte Wut in sich aufsteigen. Wieso waren diese Scheißkräfte nur so verdammt nutzlos!? Ein weiteres Schimpfwort schoss ihm durch den Kopf. Dann war es wieder da, das Pulsieren in seinen Adern. Das zornige Pochen, das ihn schon einmal beherrscht hatte und angesichts der zahlreichen Angreifer und seiner eigenen Machtlosigkeit zum einzigen Ausweg heranwuchs. Change rannte los, auf den Abgang des Bergfrieds zu. Desires Schrei drang ihm in den Rücken, doch er ignorierte sie. Er wusste, dass die Schatthen sich durch das Auflösen ihrer Kumpanen nur im ersten Moment hatten erschrecken lassen. Bald würden sie den Eingang zum Bergfried erreicht haben, besonders da die Attacken der Beschützer immer weniger wurden. Diese Bestien würden schneller sein als Unite und Trust ihre Kräfte einsetzen konnten. Er hastete einige der Stufen hinunter, bis er auf der gewundenen Treppe stehen blieb und sich postierte, um einen weiteren Vormarsch der Schatthen zu unterbinden. Egal wie! „Change!“ Hektische Schritte drangen an sein Ohr, ehe Desire an seine Seite kam. Heftig packte sie ihn am Arm, wie um ihn davon abzuhalten, den Schatthen noch weiter entgegen zu rennen. „Du musst den anderen oben helfen!“, schrie Change sie harsch an. „Ich lasse dich nicht alleine!“, begehrte Desire nicht minder willensstark auf. Sie hatte das ungute Gefühl, dass Change eine Dummheit begehen wollte. „Deine Kräfte…“, begann sie. „Deine doch auch!“, unterbrach Change sie. „Warum rennst du ihnen dann auch noch entgegen!?“ „Warum rennst du mir nach!“, gab er zurück. Desire sah ihn streng an. „Weil wir Freunde sind.“ Change seufzte und wandte sich wieder der Treppe zu. Desire ließ seinen Arm los. Ihre Blicke waren auf die Stelle der Wendeltreppe fixiert, die am weitesten von ihnen entfernt war. Schon hörten sie das donnernde Geräusch von heftigen, stürmischen Schritten auf den Steinstufen und rückten Halt suchend näher aneinander. „Und der Muskelprotz schläft natürlich.“ Verdattert starrte Change Desire an. Ihr Gesicht blieb ungerührt, als sei an ihrer Aussage nichts Besonderes. Mit einem verstohlenen Grinsen wandte sich Change wieder zurück zu der Treppe. Und das keinen Moment zu früh. Die ersten Schatthen stürzten herauf, wie Raubtiere auf allen Vieren. Doch Desire konnte nur einen kurzen Blick auf sie erhaschen, ehe sie nur noch Goldstaub vor sich sah. „Ha! Damit habt ihr wohl nicht gerechnet!“, grölte Change, riss die Arme in die Höhe und erlag anschließend einem jungenhaften, siegessicherem Lachen. Dann setzte er auch schon ein zweites Mal seinen Wind der Veränderung ein. Desire freute sich über Changes jähen Wandel. Verändern war wirklich ein passender Name für ihn. In Gedanken dankte sie Unite. Als sie Change nachgeeilt war, hatte diese ihr noch zugerufen: ‚Bring ihn zum Lachen!‘ Von seinem Erfolg angestachelt, konnte Desire nur noch zusehen, wie Change einen Schatthen nach dem anderen erlöste. Er schien sich in der Rolle des Retters, der die schöne Maid beschützte, äußerst wohl zu fühlen. In diesem Fall ließ sie ihm den Spaß, zumal sie nicht davon ausging, dass ihre eigenen Probleme im Einsatz ihrer Fähigkeiten genauso schnell verschwunden waren wie die seinen. Schließlich verebbte der Strom an Schatthen. Noch einen Moment horchten sie gespannt. Doch der Lärm, der mit den Bestien einherging, war verstummt. Sofort hetzten sie wieder die Treppe hinauf zu den anderen, um von dort aus die Lage zu überprüfen. „Sind sie weg?“, rief Desire hoffnungsvoll. Sie sah, dass Trust noch angespannt an der Brüstung stand, während Unite sich auf die andere Seite zu Destiny gestellt hatte und ihre Hand hielt. „Da stimmt was nicht.“, murmelte Trust argwöhnisch. Der Schatthenmeister hatte die Situation mitangesehen. Mit höchster Unzufriedenheit mitangesehen! Wutentbrannt hatte er auf die Lehne seines Sessels eingeprügelt. Aber was will man tun? Sessel haben in diesem Land keine Rechte und so musste die Lehne die Drangsalierungen und Zornesrufe kommentarlos über sich ergehen lassen. Wie! Wie zum Teufel hatten diese gottverdammten Gören es geschafft, nach den letzten beiden Angriffen plötzlich andere Kräfte einzusetzen, verflucht nochmal!? Das war doch unmöglich! Der Schatthenmeister schnappte hektisch nach Luft. Es war noch nicht vorbei! Und wenn er jetzt sämtliche seiner Schatthen auf einmal auf sie hetzen musste!!! Das Portal in der undurchdringlichen Schwärze im Untergeschoss der Burg Rabenfels war für die Augen eines normalen Menschen nicht sichtbar. In den Schatten verbarg es sich und stellte einen Zugang zwischen der Schatthenwelt und der Burg her. Nun ging in dem Portal eine plötzliche Bewegung vor, wie das Anschwellen des Meeres, wenn es sich zu einer tödlichen Riesenwelle auftürmte. Das Tosen ging langsam auf die Umgebung über und deutete ein leichtes Schaudern an, das rasch zu einem Beben heranwuchs. Dann jagten unzählige Kreaturen der Finsternis unter einem donnernden Getöse aus der Schleuse hinaus in die neu gewonnene Freiheit, um ihrer Mordlust endlich freien Lauf zu lassen. Die Beschützer fühlten den Boden unter sich leicht erzittern und eilten gemeinsam zu Trust hinüber. Grauenhaft verzerrtes Brüllen schnitt durch die Atmosphäre und zerriss in den fünfen den Glauben, noch einmal lebend davonzukommen. Als ob die Hölle selbst ihre gesamte Armee auf die Jagd nach ihnen geschickt hatte, wurde die Luft durchwirkt von den Schreien der Todesboten, ihrem Gestank nach verfaulenden Kadavern, und dem Donnern, das die aufgebracht hektischen Schläge ihrer Pranken auf dem steinernen Boden erzeugten. Ein weiteres ohrenbetäubendes Brüllen drang zu ihnen empor, dieses Mal lauter und näher als zuvor. Anschließend sahen die Beschützer es – das Ausmaß des Schreckens, dem sie jetzt gegenüberstanden. Und egal welche Kräfte sie einsetzten, ob diejenigen, die Eternity ihnen gezeigt hatte, oder diejenigen, die der Schatthenmeister selbst ihnen zugespielt hatte, eins wurde ihnen schlagartig klar: Sie hatten keine Chance. Unwillkürlich traten die Beschützer von der Brüstung zurück, zitternd, von Entsetzen gezeichnet. „Es sind zu viele.“, hauchte Desire atemlos. Selbst Trust hatte jegliches Vertrauen in einen Sieg verloren. Weiterzukämpfen würde ihren Untergang nur hinauszögern. „Ein Kreis!“, rief Unite übertrieben laut, wie um ihren eigenen Gedankensturm zu übertönen. „Stellt euch in einen Kreis um Erik auf!“ Sie begegnete leeren Blicken. „Macht schon!“ Die Beschützer hetzten um den Ohnmächtigen herum, der noch immer leblos am Boden lag. Begaben sich, den Rücken zu ihm, in einen Kreis, ergriffen die zitternden Hände voneinander. Noch einmal zuckte der Gedanke in ihnen auf, was das bringen sollte. Aber schlussendlich war das wohl auch egal. Von dem Brüllen der Schatthen eingekeilt, von dem näher kommenden Lärm ihrer Bewegungen, standen die fünf blind vor Angst da. Ihre Umgebung rückte für einen Moment in eine unsagbare Ferne. „Zuversichtlich bleiben!“, schrie Unite gegen die eigene Verzweiflung an. „Konzentriert euch! Es hat noch einen Sinn. Vertraut mir! Hört ihr! Vertraut mir!“ Ihre Stimme erstickte fast und nur schwerlich konnte sie ihre eigene Unsicherheit unterdrücken. Dann fühlte sie an ihrer Linken den fester werdenden Druck einer Hand und sah daraufhin in Trusts braune Augen, die etwas Sanftes, Liebevolles in sich hatten und ihr Kraft spendeten. Unite schnappte nach Luft und schenkte ihm das beste Lächeln, das sie in diesem Zustand zustande brachte. Eternitys Worte ertönten in ihrem Kopf. ‚Vereinen, bitte bleib deinem Namen treu.‘ Ja! Sie hatte die Kraft, die fünf miteinander zu vereinen und ihnen ihre Gefühle zu übertragen. Aber dazu musste sie selbst stark sein. Ihre Gefühle mussten stark genug sein, um den anderen Hoffnung zu spenden. Und das würden sie auch! Plötzlich wurden die Beschützer von einem Gefühl durchflutet, das selbst die überwältigende Angst in ihnen in ihre Schranken verwies. Ein Gefühl, das ihnen im tiefsten Inneren Wärme spendete und ihnen wieder die Augen für die Realität öffnete, an dem die Schreie der Schatthen abprallten und das in ihnen eine ungeahnte Stärke weckte. Sie fühlten mit einem Mal wieder den Kern ihres Wesens, schlossen die Augen, ohne Furcht, gingen dem Empfinden nach und fanden was Eternity ihnen zu beschreiben versucht hatte. Etwas, so gewaltig, dass es sich nicht in Worte fassen ließ. Und ganz leise, dass sie nicht wussten, ob es sich um ihre eigenen Gedanken, oder um eine Stimme handelte, hörten sie Worte. ‚Ihr könnt es. Ich weiß es. Ich bin bei euch.‘ Es klang nach Eternity. Dann wandelte sich die Stimme zu dem kindlichen Ton Ewigkeits: ‚Ich hab euch lieb!‘ Es war keine Trauer, die der Gedanke an das Schmetterlingsmädchen in ihnen auslöste, sondern Rührung. Und trotz des Wissens, dass die Schatthen sie jetzt erreicht hatten, trotz des abartigen Gestanks, der ihnen die Atemwege fast verätzte, und des Brüllens, das nun direkt bei ihnen war, blieb ihr Herz stark. Die Schatthen, die nicht mehr in den engen Aufgang zu den Beschützern gepasst hatten, hatten kurzerhand ihre kraftvollen Pranken in den Stein geschlagen und so in ungeahnter Geschwindigkeit den Bergfried kletternd erklommen. Nun bei der Gruppe Jugendlicher angelangt, zögerten sie keine Sekunde sich auf die scheinbar in eine Trance verfallenen Beschützer zu stürzen. Doch schon der erste Schatthen prallte an einer unsichtbaren Wand ab und verdampfte zu einer grauschwarzen Rauchschwade. Weitere Schatthen, die den Tod des Kameraden in ihrer Raserei nicht mit dem Angriff auf die Beschützer in Verbindung brachten, erlagen demselben Schicksal, ehe die durchdringende Stimme ihres Meisters ihnen fast das nicht wirklich arbeitende Hirn zerfetzte. Grauen-Eminenz war von seinem Sessel aufgesprungen und starrte auf die unzähligen in der Luft schwebenden Bildflächen vor ihm. Die Mehrzahl davon ermöglichte es ihm, die Lage aus der Sicht der Schatthen zu beobachten. Bei anderen handelte es sich um Blickfenster, die er zuvor im Inneren von Rabenfels justiert hatte. Seine Muskulatur war aufs Äußerste angespannt und auf seinen Kräfteeinsatz konzentriert. Er durfte sich jetzt auf gar keinen Fall auch nur den geringsten Fehler erlauben. Warum passierte ihm das eigentlich ständig, dass er völlig überstürzte, bescheuerte Entscheidungen traf!!! Es war doch alles so gut geplant gewesen! Aber jetzt hatte er diese unkontrollierbaren ersten Kreationen von sich ins Spiel gebracht. Seine ersten Schatthen hatte er damals aus besonders heftigen und überwältigenden Emotionen des Zorns und des Hasses geschaffen. Der innere Trieb dieser Kreaturen war so gewaltig, dass kein Schatthenmeister der Welt sie unter Kontrolle halten konnte, selbst wenn sie dafür mit der sicheren Zerstörung als Strafe rechnen mussten. Der Drang zu töten war größer als ihre Angst vor Auslöschung. Um so vieles größer. Deshalb hatte er sie bisher auch nie eingesetzt. Aber das hatte er natürlich nicht bedacht, als er die Schleusen seiner Schatthen-Gehege geöffnet hatte, um die Bestien auf seine Auserwählten zu hetzen. Das durfte doch nicht wahr sein! Tot brachten seine Auserwählten ihm überhaupt nichts! Und jetzt musste er sie schon mit einem Schutzwall davor bewahren, von diesen hirnlosen Schatthen zerfleischt zu werden! Denn eines war klar, wenn sein Schild den Schatthen nicht standhielt, waren diese Kinder verloren. Als die fünf ihre Augen öffneten, verschlug es ihnen den Atem. Selbst die Stärke, die sie in sich selbst gefunden hatten, konnte ihr kurzzeitiges Entsetzen nicht unterbinden, als sie sich einer Horde Schatthen gegenübersahen, die von allen Seiten auf sie eindringen wollten. Plötzlich verdampften ein paar Schatthen an einem unsichtbaren Schutzwall. Andere hielten Abstand und warteten auf den Moment, da die schützende Hand über den fünfen sich zurückzog. Und in den Augen der Bestien stand ganz deutlich geschrieben, dass diese Hand sich zurückziehen würde. Sie durften sich nicht länger damit aufhalten! „Vereinte Kräfte!“ Ein Ruck ging durch die Beschützer. Etwas schoss durch ihre Körper, dass sie vor Überraschung fast aufgeschrien hätten, als Unites Angriff ihre Energien mit einem Schlag bündelte. Ihre Körper begannen hell zu erstrahlen. Als wären sie Spiegel, die das Sonnenlicht reflektierten und mit enormer Kraft auf die Schatthen schleuderten, schoss das Licht von ihrer Körperoberfläche weg und tauchte die gesamte Umgebung in ein helles Leuchten, das sowohl durch Wände, als auch durch sonstige Widerstände, wie unsichtbare Schutzwälle, ohne jeglichen Energieverlust hindurch drang. Das Licht nahm den gesamten Burgtrakt ein und durchflutete ohne Zeitverzögerung jeden Winkel des Bauwerks mit solcher Intensität, dass kein Schatthen ihm entkommen konnte, und löste zeitgleich das schwarze Portal, durch das die Höllenkreaturen gekommen waren, in Luft auf. Als die Macht wieder von ihnen abließ, sanken die Beschützer überwältigt zu Boden. Mit einer Bewegung so leicht wie eine Feder umfassten sie ihre Brust, die noch immer auf wohlige Art und Weise glühte und konnten nicht anders als ihren ehrerbietigsten, innigsten Dank auszusprechen. Und so vergaßen sie einen Moment alles um sich herum, auch den Jungen in ihrer Mitte, dessen Licht keiner von ihnen bemerkt hatte. Fassungslos und schwer atmend starrte Grauen-Eminenz auf das grauschwarze Geflimmere vor ihm. Das letzte intakte Blickfenster zeigte die Burg in einiger Entfernung aus der Vogelperspektive. Aufgrund seiner Entfernung zur Burg war es als einziges der reinigenden Kraft der Lichtsäule entkommen, die eben noch den mittelalterlichen Bau eingehüllt hatte. Das Licht… So etwas hatte er noch nie gesehen. Diese unbeschreibliche Macht. Für einen Moment spürte er Erleichterung. Dann kam die Wut. Unbändige Wut auf sich selbst, auf das, was gerade fast passiert wäre, auf alles! In einem Ausbruch der Ohnmacht und Verzweiflung ließ er einen Schrei los, der die Umgebung erfüllte und zu einem unmenschlichen Brüllen heranwuchs. Seinem Körper entsprang eine gewaltige Energiewelle, die jegliche Inneneinrichtung in seiner unmittelbaren Nähe mit einem lauten Bersten zerstörte. Sekundenlang ergab er sich seinem Gefühlschaos. Dann begriff er, dass er erneut die Kontrolle zu verlieren drohte. Nein! Der Energiestrom riss ab. Entsetzt sank er zu Boden, doch die Erregung ließ nicht von ihm ab. Erinnerungen schossen durch seinen Geist. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er biss die Zähne zusammen. Zitternd berührte er etwas an seiner Kleidung. Nach und nach entspannten sich seine Glieder daraufhin wieder. Er durfte nicht vergessen, wofür er das alles tat. Ruhig bleiben. Keine überstürzten Handlungen mehr. Er tat weitere Atemzüge, mit denen er sich zu beruhigen suchte. Die Kräfte der Beschützer – er musste mehr darüber herausfinden. Aber zunächst brauchte er einen neuen Plan. Und er brauchte Zeit. Sein Vorrat an Schatthen war nun vollständig aufgebraucht. Und das für nichts, nichts und wieder nichts! Erneut kam die Wut in ihm hoch. Doch dieses Mal gelang es ihm, sich direkt wieder unter Kontrolle zu bringen. Neue Schatthen zu erschaffen war zeitaufwändig und er fragte sich, ob es wirklich von Nutzen war. Diese verfluchten Kreaturen waren bisher keine Hilfe gewesen! Er stand auf und wollte wieder Platz nehmen, als ihm klar wurde, dass er selbst seinen Sessel gerade zerlegt hatte. Grummelnd stieß er die Luft aus und fuhr erneut Hilfe suchend über die Stelle auf Herzhöhe. Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Dann erschien ein gefährliches Funkeln in seinen Augen, als ihm bewusst wurde, dass sich seine eigene Schachfigur gegen ihn gewandt hatte. Sie konnte nichts sehen, konnte nichts spüren und doch sah sie, fühlte sie. Sie war da, wo sie schon einmal gewesen war – früher, konnte nicht sagen, wo das war, wann das war: Bevor sie auf die Suche gegangen war, bevor Ewigkeit geboren wurde. Sie fühlte die Präsenz von jemandem, jemandem, den sie kannte oder kennen sollte. Einmal gekannt hatte? War es eine Person? War da noch jemand anderes? War sie selbst eine Person oder nur ein Teil des anderen? Wie schön war es, diese Nähe zu fühlen, die doch keine Nähe war, obwohl sie nicht wusste, ob sie überhaupt irgendwo war. War sie an einem Ort? An mehreren Orten zugleich? Sie wollte einen Moment verweilen, auch wenn sie kein Verständnis mehr hatte, wie lange oder kurz ein Moment war. Sie wusste nur eins: Sie musste bald zurück. Schnell zurück. Aber für wen? Für sich? Für die Beschützer? Oder für denjenigen, dessen Nähe sie fühlte? Schämst du dich nicht! Ein Schlag auf die Brust, nicht körperlich, aber nicht minder brutal. Der Blick von unten hinauf, wie wenn man auf Knien rutscht. Eine hochgewachsene Männergestalt vor sich mit Abscheu im Gesicht. Du bist es nicht wert mein Sohn zu sein! Der Versuch, sich an dem Mann festzuhalten. Der Versuch, sich aufzurichten? Oder der Versuch, um Verzeihung zu bitten? Um Zuneigung? Angeekelt schlägt der Mann die Hand weg. Fass mich nicht an! Hilfloses, verzweifeltes Schluchzen. Hör auf zu jammern! Hör auf zu jammern! Hör auf zu jammern! Hör auf zu jammern! Die Worte in Endlosschleife. Alles dreht sich. Aufwachen! Bitte! Aufwachen!!! Die Beschützer drehten sich zu dem Ohnmächtigen um, dessen Atem unruhig geworden war und in ein Röcheln und Stöhnen überging. „Erik?!“ Desire stürzte an seine Seite. „Er wird gleich aufwachen.“, vermutete Trust. „Er darf uns nicht in dieser Kleidung sehen.“ Die anderen bewunderten, dass Trust in solchen Momenten noch an diese Dinge denken konnte. Sie folgten seiner Anweisung und nahmen wieder ihr normales Aussehen an. Noch immer gab Erik erstickte und unterdrückte Klagelaute von sich. Ariane, die das nicht tatenlos mit anhören konnte, rutschte näher an ihn heran und fuhr ihm beruhigend über die linke Wange. „Erik, Erik, komm zu dir. Es ist alles gut. Alles ist gut.“ Wieder und wieder strich sie ihm über das Gesicht. Seine Augenlider flatterten. „Er hat einen Albtraum.“, vermutete Serena. „Erik. Erik.“ Erik konnte die Stimme in der Ferne hören, auch wenn er nicht wusste, von wem sie stammte. Er wollte aufwachen, war aber gleichzeitig noch gefangen in seiner Traumwelt, spürte schon halbwegs wieder seinen Körper und eine fremde Berührung und riss in einem verzweifelten Befreiungsversuch die Augen auf. Ariane erschrak durch seine ruckartige Reaktion, aber vor allem durch die Angst, die in seinen Augen stand. Er starrte sie an, ohne sie wirklich zu erkennen und schloss dann wieder die Augen. Sein Atem wurde ruhiger. Einige tiefe Atemzüge folgten, in denen die fünf Erik verwirrt musterten. Vivien gab den anderen zu verstehen, dass sie aufstehen sollten, da es wohl etwas seltsam für Erik wirken würde, wenn sie alle um ihn herumsaßen. Dann schlich sie so leise wie möglich zu der Treppe hinüber, die den Bergfried hinabführte, und gab Justin mit einem Blick zu verstehen, was sie vorhatte. Nur Ariane bekam von den Anweisungen nichts mit, sie war weiterhin auf Erik fixiert, sodass ihr nicht einmal auffiel, dass ihre rechte Hand noch immer auf seiner Wange ruhte. Langsam öffnete Erik wieder die Augen und betrachtete seine Umgebung wie durch einen Nebel. In der gleichen Minute ertönte Justins absichtlich übertrieben lauter Ruf: „Vivien warte! Er kommt wieder zu sich!“ Daraufhin kam Vivien mit gekünstelt geräuschvollen Schritten wieder zu der Gruppe gerannt. „Tatsächlich!“, rief sie überrascht aus. Erst im nächsten Augenblick registrierte Erik, was hier überhaupt vorging und im selben Moment nahm er auch wahr, dass die Hand, die er gespürt hatte, nicht seiner Einbildungskraft entsprungen war, sondern zu Ariane gehörte. Der Blick, den Erik daraufhin auf sie richtete, war anders als alles, was sie bisher an ihm gesehen hatte und ließ eine unbekannte Hitze in ihr aufsteigen. Es war kein richtiger Unglaube und auch keine bloße Überraschung. Dazu war der Blick zu zärtlich. Ariane schluckte bei dem Gedanken und zog hastig ihre Hand weg, von der sie erst jetzt wieder gemerkt hatte, wo sie sich befand. In einer ungeschickten Bewegung sprang sie auf. Erik sah wieder die anderen an und hievte sich dann schwerfällig in eine Sitzposition. „Was ist passiert?“ „Du bist umgefallen!“, rief Vivien in gespielter Überraschung und hielt ihre Rechte vertikal vor sich. „Einfach so!“ Daraufhin ließ sie die Handfläche langsam nach links klappen, wobei sie ein Pfeifgeräusch von sich gab, bis die Handfläche horizontal stand, was sie mit einem krachenden Geräusch untermalte. „Bloß schneller!“ Argwöhnisch starrte er sie an und hielt sich dann den Kopf. Er fühlte sich nicht schwach oder krank. „Mann, du solltest mit den Dopingmitteln aufhören, die Muskeln sind das echt nicht wert!“, kommentierte Vitali. Erik schnaubte. „Ich werd’s versuchen.“ „Sollen wir Frau Lange rufen?“, fragte Justin. „Nein.“, sagte Erik entschieden und erhob sich, wie um dem Nachdruck zu verleihen. Er sah auf seine Armbanduhr. „Wie lange war ich weggetreten?“ „Ein paar Sekunden.“, antwortete Vivien. Eriks Augenbrauen zogen sich zusammen. War es nicht kurz nach zwölf gewesen, als er das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte? Jetzt war es bereits nach halb eins. Aber so lange konnte er nicht ohnmächtig gewesen sein. Die anderen hätten ansonsten doch die Lehrerin informiert. Und wieso hätten sie ihm vorgaukeln sollen, kürzer bewusstlos gewesen zu sein, als er es war? Doch wieso war er überhaupt ohnmächtig geworden? Das war ihm noch nie passiert. Außer das eine Mal vor über sieben Jahren, als ihn mehrere Jungs verprügelt hatten. Damals war es der Schmerz gewesen, der ihm die Sinne geraubt hatte. Der Schmerz… Unwillkürlich wandte Erik seinen Kopf zu seinem linken Oberarm, aber er spürte dort nichts mehr. Er konnte sich das doch nicht eingebildet haben. Hatte dieser Schmerz ihn bewusstlos werden lassen? Aber ein solcher Schmerz würde doch nicht von einem Schlag auf den anderen verschwinden. Wie hing das alles zusammen? „Wir sollten wieder zu dem Rest der Klasse.“, sagte Justin und wandte sich an Erik. „Kannst du laufen?“ Erik antwortete mit einem Gesichtsausdruck, als empfände er die Frage als Beleidigung. Sein Blick wanderte zu Ariane, doch sie schenkte ihm keine Beachtung. Fast als wäre er für sie unbedeutend. Das Gefühl seines Albtraums kam erneut in ihm hoch. „Ich hoffe, du hast die Situation nicht ausgenutzt.“ Ariane riss den Kopf zu ihm herum. Vor Empörung war ihr die Kinnlade runtergeklappt. Doch ehe sie etwas entgegnen konnte, hatte schon Vitali das Wort ergriffen: „Ich hab sie gerade noch davon abgehalten, dich wachzuküssen!“ „Was?!“, entfuhr es Ariane, wobei ihre Stimme einen schrillen Klang bekam. „Das ist überhaupt nicht wahr! Glaub ihm kein Wort!“, kreischte sie. Im gleichen Moment stockte sie. Vitali lächelte vielsagend. Und Ariane begriff, dass sie sich diese Situation selbst eingebrockt hatte. Kaum zu glauben, dass es ihm gelungen war, es ihr mit den gleichen Worten heimzuzahlen, die sie zwei Tage zuvor im Scherz zu Destiny gesagt hatte. Und sie hatte auch noch mit den gleichen Worten darauf reagiert wie er! Okay, vielleicht hatte sie es verdient, aber diese Erkenntnis, machte die Situation nicht weniger unangenehm. Sie wandte sich wieder Erik zu. „Ich würde dich nicht mal küssen, wenn du wach bist!“ Erik grinste belustigt. „Wann dann?“ „Nie!“, schrie sie energisch. Erik nutzte seine linke Hand als Stütze für sein Kinn. „Ganz sicher?“ Bei seinen Worten ließ er wie beiläufig seinen Daumen über seine linke Wange streichen, wobei ein gefährliches Glitzern in seinen Augen erschien. Angesichts der Anspielung auf ihre Berührung war Ariane unfähig darauf zu reagieren. Ungeniert beugte sich Erik zu ihr vor und flüsterte ihr ins Ohr. „Eins zu eins.“ Lächelnd ließ er sie stehen und lief auf die Treppe zu. „Gehen wir.“ Die anderen vier hielten noch einen Moment inne und betrachteten Ariane, die mit aufgerissenen Augen dastand, ohne sie wahrzunehmen. Dann blinzelte sie und drehte ihren Kopf in gespenstischer Langsamkeit zu Erik, woraufhin ein noch viel gespenstischeres Lächeln ihre Lippen umspielte – grimmig und zugleich begierig, es dem Angreifer heimzuzahlen. Aber für den Bruchteil einer Sekunde meinten die vier, auch etwas Weiteres darin aufflackern zu sehen. Etwas wie abenteuerlustige Vorfreude. Ha! Das Spiel hatte gerade erst begonnen! Kapitel 50: [Entwicklungen und Verwicklungen] Talentsucher ---------------------------------------------------------- Talentsucher „Wo Liebe und Talent zusammenkommen, darf man ein Meisterstück erwarten.“ (John Ruskin, engl. Schriftsteller, 19.Jhr.) Auf dem großen Platz am Eingang der Vorburg waren sie auf die Klasse und ihre Lehrerin gestoßen, die natürlich von den ganzen Ereignissen nichts mitbekommen hatten. Die ganze Gruppe glaubte doch tatsächlich, nur zur vereinbarten Uhrzeit am ausgemachten Treffpunkt zusammengefunden zu haben. Entsprechend wurden den sechsen Vorhaltungen gemacht bezüglich ihres vermeintlich verspäteten Eintreffens. Also wirklich! Auf Eriks ausdrücklichen Wunsch hin hatten sie auch seine Ohnmacht nicht als Entschuldigung nutzen können. Als sie wieder in den Bus einstiegen, machte auch der Busfahrer nicht den Eindruck, etwas von dem Lichtspektakel, das die Burg eingehüllt hatte, bemerkt zu haben. Die fünf fragten sich, ob dieser Mensch einfach nur nichts von seiner Umgebung wahrnahm oder ob er ebenfalls vom Schatthenmeister manipuliert worden war. Dann kam ihnen der Gedanke, dass möglicherweise keine der beiden Optionen zutraf. Wussten sie denn, ob andere Menschen das Licht sehen konnten? Aber schlussendlich war das unwichtig. Die Hauptsache war, dass sie die Situation wohlbehalten überstanden hatten, genauso wie Erik. „Hast du schon für Wirtschaft gelernt?“, hörte Vitali eine Klassenkameradin in der Sitzreihe vor ihm zu ihrer Sitznachbarin sagen. „Wann schreiben wir überhaupt Wirtschaft?“, fragte er daraufhin Erik neben sich. „Übernächste Woche Montag.“, antwortete Erik, ohne lange zu überlegen. Vitali machte große Augen. „Echt?!“ Serena, die mit Ariane in der Sitzreihe hinter ihm saß, spottete: „Hast du schon mal was von einem Schülerkalender gehört?“ „Davon gehört hab ich schon.“, meinte Vitali locker. „Aber …“ Er drehte sich zu Serena um und schüttelte sachte und ernst den Kopf. „Ich glaub nicht wirklich dran.“ Dabei machte er ein Gesicht, als habe sie ihn nach dem Yeti gefragt. Serena verzog den Mund. „Wir könnten doch zusammen lernen!“, schlug Vivien von der gegenüberliegenden Sitzreihe vor. „Dafür brauchst du viel Platz.“, entgegnete Erik. Vivien grinste vergnügt. „Deshalb gehen wir auch zu dir!“ Erik konnte nicht umhin kurz aufzulachen. „Schon mal was davon gehört, dass es unhöflich ist, sich selbst einzuladen?“ „Schon.“, entgegnete Vivien leichthin. „Aber…“ Sie sah ihn verschwörerisch an. „Ich glaub nicht wirklich dran!“ Amüsiert schüttelte Erik den Kopf „Hey, das war mein Spruch!“, rief Vitali gut gelaunt. „Ich verlange Schadensersatz!“ Vivien lachte. Als der Bus vor ihrer Schule wieder zum Stehen kam, hatten sie miteinander ausgemacht, sich am Samstag in einer Woche bei Erik zu treffen. Die Lehrerin entließ ihre Klasse, woraufhin jeder seines Weges ging. Auch Erik löste sich von ihnen und wünschte ein schönes Wochenende. Nachdem ihre Klassenkameraden außer Hörweite waren, wandten die fünf sich aneinander. „Wir müssen zum Park gehen!“, rief Vivien. „Wozu?“, fragte Vitali irritiert. „Ihr habt doch auch ihre Stimme gehört.“, sagte Vivien und senkte den Blick. Die anderen erinnerten sich an die Worte, die während dem Kampf ihren Geist berührt hatten. Es war die Stimme des Schmetterlingsmädchens gewesen. Ganz sicher! Ariane legte ihre Hand auf Viviens Schulter. „Vivien, das heißt nicht…“ Bevor sie weiterreden konnte, hatte Vivien wieder das Wort ergriffen. „Dass wir letztes Mal nicht in unser Versteck konnten, war sicher nur, weil wir nicht daran geglaubt haben. Diesmal klappt es ganz sicher!“ Keiner der anderen antwortete. Dann holte Serena ihr Handy hervor und betätigte die Kurzwahl. „Mama, ich bin’s. Es könnte etwas später werden, ich geh noch kurz mit zu Vivien. – Nein, ich esse dort nichts. – Ja, ich bleib nicht so lange. Bis dann. Tschüss.“ Anschließend beendete sie das Telefonat und sah die anderen an. „Worauf warten wir noch?“ Daraufhin sprang Vivien ihr in die Arme. Vor ihrem kleinen Holzhäuschen angekommen, ging Vivien langsamen Schrittes auf die alte, knarrende Türe zu und ergriff zuversichtlich die metallene Türklinke. Dann hielt sie ihre Linke hinter ihren Rücken, um den anderen zu verdeutlichen, dass sie eine Kette bilden sollten. Als sie Vitalis Hand spürte, öffnete sie schließlich die Tür, ohne jeden Zweifel, dass sich ihr daraufhin das zeigen würde, was sie sehen wollte, und trat hindurch. Vivien stand im Aufenthaltsraum, dem Aufenthaltsraum, den sie gemeinsam entworfen hatten. Daraufhin zog sie an Vitalis Hand, sodass er mit den anderen ebenfalls die Schranke übertrat. Tatsächlich war alles da, als wäre nie etwas passiert. Die fünf sahen einander wortlos an und liefen dann wie auf Kommando allesamt nach links zu ihren Räumen, wo am breitesten Punkt des Ganges die gläserne Konstruktion stand, die wie eine Mischung aus Schloss und Kinderwiege wirkte und mit weißem Stoff ausgelegt war. Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Keine Ewigkeit, kein gar nichts. Sie ließen die Schultern hängen. Nur Vivien starrte weiterhin auf die kleinen Kissen, als müsse sie nur lange genug hinsehen, um Ewigkeit doch noch zu entdecken. „Wir…“, sagte sie leise. „Wir haben sie ja noch nicht gerufen!“, stieß sie mit einem Mal aus. „Wir müssen sie rufen! Dann kommt sie ganz bestimmt!“ Sofort machte sie sich an die Umsetzung dieser Idee. „Ewigkeit! Ewigkeit, komm her!“ Sie sah in die Höhe, als würde die Kleine in der nächsten Sekunde auftauchen. „Komm bitte zurück! Wir warten alle auf dich!“ Weitere Momente verstrichen. „Bitte komm doch! Hörst du mich, Ewigkeit?! Wir brauchen dich!“ Dann verstummte sie und die fünf warteten… Und warteten … Stumm standen sie da und sahen sich um nach jeglichem Zeichen des kleinen Schmetterlingsmädchens. Sie wussten, wie lächerlich es war, und gaben bald die Hoffnung auf. Einzig Vivien wollte es nicht wahrhaben und keiner der anderen wollte sie aus ihrer Illusion reißen. Doch als auch nach drei Minuten – drei endlos langen Minuten! – keine Reaktion kam, hörten sie leises Schluchzen aus Viviens Richtung. „Vivien…“ Justin streckte seine Hand nach ihr aus, getraute sich jedoch nicht, sie zu berühren. „Sie ist nicht gekommen.“, flüsterte Vivien. Im nächsten Moment war sie, ehe Justin es recht erfasst hatte, auch schon in seine Arme gesprungen. Verzweifelt klammerte sie sich an ihn und drückte sich gegen seine Brust. „Ich war mir so sicher.“, schluchzte sie. Während die anderen nur hilflos zusehen konnten, schloss Justin, zuerst noch zaghaft, schließlich seine Arme sachte um sie. Viviens herzzerreißendes Schluchzen tat ihm in der Seele weh. Zaudernd und unbeholfen strich er ihr über das orangefarbene Haar, um sie zu beruhigen. Ihre Tränen tränkten sein Sweatshirt. „Vivien.“ Er suchte verzweifelt nach Worten. „Du…“ Er schnappte nach Luft. „Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Sie ist bei uns. Sie wird immer bei uns sein. Sie ist uns nicht böse wegen dem, was geschehen ist.“ Er machte eine kurze Pause und spürte Viviens heftiges Zittern. Seine Worte brachten überhaupt nichts! Wieso konnte er ihr nicht helfen? Er drückte sie fester an sich und hielt inne. Als er anschließend weitersprach, klang seine Stimme genauso ruhig, entschlossen und vertrauensvoll wie es sein Blick gewesen war, als Vivien auf dem Bergfried schon fast selbst aufgegeben hatte. „Auch wenn wir sie jetzt nicht mehr sehen können, können wir sie immer noch in unseren Herzen spüren. Nicht wahr?“ Vivien schniefte und er spürte ein schwaches Kopfnicken an seiner Brust. Dann ließ sie jeglichen Widerstand gehen und sank ermattet vollends in seine Arme. Erst als weitere Momente verstrichen waren, in denen Vivien die Geborgenheit in Justins Nähe genossen hatte, löste sie sich langsam und ganz vorsichtig von ihm, wischte sich die Tränen aus den Augen. Ein aufrichtiges, scheues Lächeln huschte kurz über ihre Lippen, als sie mit unsicherem Blick aus ihren tief dunkelblauen Augen zu Justin aufsah. „Tut mir leid, ich hab dein Oberteil total durchnässt.“, hauchte sie schüchtern. Justin dachte für einen Moment, bei ihrem Anblick müsse er vor Glück sterben. Er schluckte heftig und musste seinen Blick von ihr abwenden. Er spürte jetzt schon die Hitze in seinem Gesicht und konnte nicht auch noch riskieren, dass Vivien seine Gefühle in seinen Augen ablesen konnte, zumal er Gefahr lief, einem Schwindelanfall zu erliegen. Eben hatte er sich noch unter Kontrolle halten können, um ihr beizustehen, aber jetzt genügte allein ihr Anblick, um ihn vollkommen aus der Bahn zu werfen. „Das .. das macht doch nichts.“, sagte er stockend und lächelte verlegen. „Ja.“, mischte sich Vitali ein. „Es ist wohl eher so, dass er das Teil jetzt nie mehr waschen wird!“ Vitali lachte herzhaft, während Justin im Erdboden versinken wollte, was man seinem Gesichtsausdruck auch deutlich ansehen konnte. Ariane gab Vitali einen Klaps gegen den Oberarm wie es sonst Serena tat. „Bist du zu Serena mutiert?“, fragte er verständnislos, während Serena Vivien eine Packung Taschentücher entgegenhielt, die diese dankend annahm, um daraufhin mächtig zu schnäuzen. Serena drehte sich mit abweisendem Blick zu ihm. „Ich hätte fester zugeschlagen.“ „Justin weiß, dass ich das nicht so gemeint hab.“, verteidigte sich Vitali. „Stimmt’s? Justin! Kumpel!“ Ungläubig sah Justin zu ihm. Plötzlich brach Vivien in lautes Gelächter aus. Verwirrt starrten die anderen sie an. Sie fing sich langsam wieder und atmete befreit auf. „Ich hab euch furchtbar lieb.“ Für einen Moment waren sie sprachlos. Dann ging Vitali zu ihr und verwuschelte ihr Haar. „Was redest du denn da? Das hört sich ja an, als würden wir dich gleich alle verlassen!“ Vivien lachte auf. „Das sollte man sich viel öfter sagen!“ Vitali drückte ihren Kopf spielerisch zur Seite. „Ach Quatsch.“ Er lächelte sie an. „Wir haben dich auch lieb.“, sagte Ariane zärtlich. Vitali warf seine Arme in die Höhe. „Mann, Mann. Gefühlsduselei über Gefühlsduselei!“ „Kann man dich irgendwo abschalten?“, ächzte Serena. „Jetzt, wo du’s sagst!“, rief Vitali, als hätte er eine jähe Erkenntnis gehabt. „Bei manchen Menschen wäre das echt nützlich!“ „Ja, bei dir!“, zischte Serena. Vitali schien sie gar nicht zu hören und grinste sie an. „Wäre praktisch, dich abschalten zu können.“ Serena warf ihm einen wütenden Blick zu. „Natürlich, dann müsstest du noch weniger denken!“ Vitali zog eine gewollt dümmlich Grimasse und sagte in unterbelichtetem Tonfall: „Noch weniger?“ Serenas Gesicht zuckte, hastig biss sie sich auf die Unterlippe, um ihren Mund vor ungewollten Regungen abzuhalten. „Wollen wir noch etwas hier bleiben?“, fragte Justin. Vitali lachte: „Bis dein Oberteil getrocknet ist?“ „Bis dir die dummen Sprüche ausgegangen sind.“, konterte Justin. Serena schrie entsetzt auf: „Ich will hier drin nicht sterben!“ Vivien und Ariane brachen daraufhin in ein Lachen aus, während Vitali Justin freundschaftlich angrinste. Gemeinsam gingen sie zurück in den Aufenthaltsraum und breiteten sich auf der wunderbar gemütlichen Couch aus. „Hach, so könnt es bleiben.“, seufzte Vitali zufrieden und streckte seine Arme und Beine weit von sich. Ariane neben ihm sah ihn schmunzelnd an. „Schön wäre es.“ „Wir haben doch heute bewiesen, dass wir alles schaffen können!“, rief Vivien. Ihre Traurigkeit war verflogen, zumal Justin ihr gestattet hatte, sich dichter neben ihn zu setzen als üblich. Justin klang weniger zuversichtlich. „Wäre dieser Schutzschild nicht gewesen, dann wäre unsere Attacke zu spät gekommen. Dann hätten uns die Schatthen ...“ Vivien stupste ihn an und zog einen verspielten Schmollmund. „Sei doch nicht so pessimistisch! Vielleicht haben wir ja das Schutzschild ausgelöst.“ Justin fuhr sich verlegen durch die Haare, ehe er antwortete. Es war ihm ein wenig peinlich, Vivien zu widersprechen. „Die Schatthen sind daran verdampft. Sie sind zu dem gleichen grauen Dunst geworden wie als wir diese anderen Kräfte eingesetzt haben.“ Ariane schaute schockiert. „Du meinst, jemand von uns hat wieder diese Kräfte benutzt?“ Justin schüttelte den Kopf. „Ich glaube eher, dass der Schatthenmeister selbst das gemacht hat.“ „Hä?!“ Vitali verzog das Gesicht. „Er hat die Dinger doch auf uns gehetzt! Wieso sollte der uns beschützen?!“ „Er hatte nie vor, uns zu töten.“, meinte Justin. „Von Anfang an nicht. Sonst würden wir nicht mehr hier sitzen. Er will uns in seine Gewalt bringen oder uns manipulieren oder beides. Keine Ahnung. Aber auf alle Fälle will er uns nicht tot sehen.“ Arianes Stirn legte sich in Falten. „Das ist auf erschreckende Weise positiv.“ „Fragt sich bloß, wie lange es dauert, bis er seine Meinung ändert.“, warf Serena ein. Justin fuhr fort. „Auf jeden Fall wird er nicht aufgeben, bis er das hat, was er will. Als er gemerkt hat, dass wir nicht seine Kräfte einsetzen, hat er nochmals Nachschub an Schatthen geschickt. So viele wie noch nie.“ „Gehen dem die Dinger denn nie aus?“, schimpfte Vitali. „Wir müssen auf alles gefasst sein.“, sagte Justin. „Der Schatthenmeister ändert seine Strategie. Er wird nicht nochmals das Gleiche versuchen. Vielleicht hat er sogar schon eine neue Idee, wie er uns einfängt. Wenn das überhaupt noch sein Ziel ist.“ „Was, wenn er nächstes Mal nicht mehr die Schatthen schickt?“, überlegte Ariane laut. Vitali sah sie irrtiert an. „Das wäre doch gut!“ „Ja, aber nützen unsere Kräfte überhaupt gegen etwas anderes?“, entgegnete sie. „Wie, was anderes?“, fragte Vitali. „Na, gegen andere Monster.“, antwortete sie. Vitalis Gesicht verzerrte sich. „Du meinst, es gibt noch mehr solcher Viecher?“ „Wer weiß.“ „Wir wissen auch nicht, ob unsere Kräfte etwas gegen den Schatthenmeister selbst ausrichten würden.“, fügte Serena hinzu. „Aber wir haben doch noch andere Kräfte!“, rief Vivien optimistisch wie eh und je. „Damals im Schatthenreich haben wir sie doch automatisch eingesetzt!“ „Toll.“, spottete Vitali. „Kräfte, bei denen wir nicht wissen, was für welche es sind, und auch nicht wie sie funktionieren.“ Vivien zuckte locker mit den Schultern „Dann müssen wir es eben ausprobieren!“ „Ausprobieren?“, fragte Ariane verwundert. „Ja, so wie wir in unsere Gefühlswelt gekommen sind und dort unsere Wappen wiedergefunden haben. Wir wussten doch auch nicht, wie das geht.“, erwiderte Vivien siegessicher. Ariane sah sie fragend an. „Also sollen wir einfach auf gut Glück etwas ausprobieren und hoffen, dass dabei etwas rauskommt?“ „Genau!“, rief Vivien freudig. Serena warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich sollte langsam heim.“ Justin nickte und stand auf. „Treffen wir uns morgen wieder hier. 13 Uhr?“ Die anderen nickten und erhoben sich. Ariane wandte sich an Serena. „Du hast doch noch das Heftchen mit dem Artikel über Außersinnliche Wahrnehmungen.“ Serena horchte auf. „Stimmt.“ „Vielleicht wäre es hilfreich.“, meinte Ariane. „Ich bring es mit.“ Vivien strahlte über das ganze Gesicht. „Ich freu mich schon drauf!“ Den Tag drauf saßen die fünf wie geplant erneut auf ihrem Sofa. Serena hatte das Heft vor ihnen auf dem Couch-Tisch ausgebreitet und auf einen Extrazettel die einzelnen Außersinnlichen Wahrnehmungen, die in dem Artikel genannt wurden, aufgelistet. „Es stehen leider nicht viele verschiedene drin. Das Übliche eben: Telepathie, Telekinese, Hellsehen, Hellhören und Präkognition.“ „Was genau bedeuten diese Begriffe?“, hakte Ariane nach, die sich damit nicht auskannte. Serena setzte zu einer Erklärung an: „Telepathie ist Gedankenübertragung, also Gedankenlesen und Gedankensenden. Und Telekinese oder auch Psychokinese genannt, das ist, wenn man einen Gegenstand bewegt, ohne ihn anzufassen.“ „Cool!“, rief Vitali. „Lässt du mich ausreden?“, beschwerte sich Serena. Vitali schaute mürrisch. „Also Hellsehen heißt, dass man etwas weiß oder sieht, was gleichzeitig stattfindet.“, erklärte Serena. „Wie Secret mit der Kugel.“, vermutete Justin. Serena nickte. „Ich denke schon.“ Sie fuhr fort. „Hellhören ist, wenn man dieses gleichzeitige Ereignis hört. Und Präkognition ist, wenn man über Ereignisse aus der Zukunft schon vorher Bescheid weiß.“ Vitali streckte seine Rechte in die Höhe, als wäre er in der Schule. „Also ich nehm die Telekinese!“ „Das ist keine Versteigerung.“, zickte Serena ihn an. „Wisst ihr noch? Secret hat das eingesetzt.“, brachte Ariane vor. „Er hat die Schatthen mit einer einzigen Bewegung wegschleudern können.“ „Typisch.“, maulte Vitali. „Ich will was und der Muskelprotz kriegt es.“ Ariane schüttelte belustigt den Kopf. „Er hatte diese Fähigkeit schon vorher.“ „Wir können sicher noch ganz viel mehr als diese Sachen!“, rief Vivien freudig aus. Ariane packte aus ihrer Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier und hielt es den anderen hin. „Wir haben auch noch die Texte aus der Ausgrabungsstätte.“ „Die bringen doch sowieso nix.“, meckerte Vitali. Vivien hatte einen anderen Vorschlag. „Ich bin dafür, dass wir uns einfach so noch ein paar Kräfte überlegen!“ Eifrig holte sie ihren Collegeblock und etwas zu schreiben aus ihrem Rucksack. „So, und jetzt schreiben wir alles auf, was uns einfällt!“ „Wie jetzt? Einfach alles?“ Vitali schaute verdutzt. „Jupp. Einfach alles!“, stimmte Vivien zu. „Was Superhelden eben so können.“ „Fliegen natürlich!“, stieß Vitali aus und Vivien schrieb auf. „Und superstark sind sie! Und können mit ihrem Röntgenblick durch Wände sehen. Und die hören alles supergenau. Und haben Eisatem. Und können mit ihrem Atem einen Sturm machen.“, ratterte Vitali herunter. „Du bist nicht Superman!“, bremste Serena ihn. „Wieso denn nicht?“, grinste Vivien, als wäre Serenas Einwand ihr vollkommen unverständlich. Ariane lächelte. „Versuchen kann man es ja.“ „Wenn wir jetzt geklärt hätten, dass ich Superman bin, kann ich ja weitermachen.“, sagte Vitali in selbstherrlichem Ton. „Also was hätten wir da noch. Hmm... Ein superelastischer Körper, ein Laserblick, sich unsichtbar machen, sich verflüssigen, im Dunkeln sehen, die Gestalt von jemand anderem annehmen, Wände hochgehen, Unverwundbarkeit, Energie absaugen-“ „Wem willst du denn Energie absaugen?“, unterbrach Ariane. „Etwa den Schatthen?“ „Das ist ja nur eine Auflistung.“, entgegnete Vitali. „Liste aber etwas langsamer auf.“, bat Justin. „Vivien kommt sonst nicht mit dem Schreiben nach.“ „Ja, ja, ja. Immer nur meckern.“ Auf diesen Kommentar hin kicherte Vivien leise. Anschließend setzte Vitali seine Aufzählung in gemäßigterem Tempo fort. „Gedankenkontrolle. Hypnose. Superschnell sein. Sich vervielfältigen“ „Noch mehr von deiner Sorte?“, schrie Serena. „Das hat mir gerade noch gefehlt!“ „Ja, ich weiß, dass dir das fehlt. Das brauchst du nicht extra erwähnen.“, konterte Vitali lässig. Serena funkelte ihn grimmig an. „Woher hast du all diese Ideen?“, fragte Justin ihn interessiert. „Comics, Videospiele, Serien. Das übliche.“, antwortete Vitali. „Wir sollten aber auch die Kräfte bedenken, die wir schon einmal eingesetzt haben.“, wandte Ariane ein. Vivien zählte auf und kritzelte eifrig auf ihren Block. „Also ein Schutzschild, … Lähmung, … Gedankenlesen, … Fliegen, aber das haben wir schon, und Gefühle und Kräfte teilen. Und dann kommen noch die Fähigkeiten mit unseren Elementen hinzu.“ „Wie genau stellt ihr euch das jetzt überhaupt vor?“, wollte Serena wissen. „Wie wollt ihr denn rausfinden, welche Fähigkeiten wirklich klappen?“ „Erstens: Nicht ‚ihr‘. Wir! Und zweitens, wir versuchen’s einfach!“, meinte Vivien. „Vielleicht kommen die Kräfte ja ganz automatisch zu uns!“ „Wäre es nicht doch sinnvoller, zunächst unsere anderen Kräfte besser unter Kontrolle zu bringen?“, wandte Ariane ein. „Ich konnte sie kaum einsetzen.“ Justin nickte. „Das werden wir auf alle Fälle weiterhin trainieren. Wir müssen das täglich üben.“ „Wie sollen wir das denn machen?“, fragte Vitali irritiert. „Ich vermute, dass unsere Kräfte für andere Menschen gar nicht sichtbar sind.“, eröffnete Justin. Die anderen sahen ihn an. „Ich bin mir dabei zwar nicht sicher und wir sollten dennoch vorsichtig sein, aber es ist notwendig, dass wir diese Kräfte auch zu Hause einzusetzen üben und das konsequent.“, verkündete er. „Aber wenn es nicht klappt, klappt es nicht.“, warf Vitali ein. „Jeder von uns weiß, wie er die Kräfte auszulösen hat, was schwierig ist, ist die Kontrolle der eigenen Gefühle.“, erwiderte Justin. „Man darf sich nicht von den Umständen durcheinander bringen lassen.“ „Leichter gesagt als getan.“, antwortete Ariane. „Das stimmt.“, gestand Justin ein. Er erhob sich. „Aber wir sollten anfangen. Langes Reden bringt uns nicht weiter.“ „Genau was ich hören wollte!“, rief Vitali und sprang auf. Die fünf entschieden sich, in den Trainingsbereich anstatt in den Meditationsraum zu gehen – zumal sie nicht einmal wussten, ob dieser überhaupt noch existierte, schließlich hatte Eternity ihn erfunden und sie war nicht mehr da. Sie verwandelten sich. „Wir stellen uns in einer Reihe auf!“, rief Unite. Die anderen folgten der Anweisung. „Und jetzt –“, Unite stockte kurz. „Schließt die Augen und hört auf euer Inneres.“ Sie machte es den anderen vor. Ihre Stimme wurde zu einem esoterischen Flüstern, das wohl Eternity nachahmen sollte. „Hört in euch hinein. Da ist etwas in euch, das euch ruft. Etwas, das darauf wartet, von euch entdeckt zu werden. Etwas, das nur ihr finden könnt, wenn ihr euch nur darauf einlasst.“ Change und Destiny kam das Ganze ziemlich lächerlich vor. Unites Stimme schwoll zu pathetischer Größe an. „Ruft eure Kraft zu euch! Ruft sie her und lasst sie durch euren Körper fließen!“ „Ich hoffe, mit meiner Kraft, kann ich sie davon abhalten, noch länger in diesem Ton zu reden.“, wisperte Destiny, woraufhin Change neben ihr prusten musste. Trust wurde streng. „Unite gibt sich wirklich Mühe. Ihr könntet dankbarer sein.“ Desire ergriff das Wort. „Was ist, wenn man die Auswirkung der Kräfte nur an jemand anderem sehen kann? Zum Beispiel die Lähmung, von der Serena erzählt hat.“ „Hey, ich spiel nicht das Versuchskaninchen!“, rief Change. „Am Schluss setzt sie mich noch in Brand oder sonst was!“ Destiny grinste unheimlich. „Weißt du, die Idee find ich jetzt gar nicht schlecht.“ Change warf ihr einen mürrischen Blick zu. „Wir versuchen es erst mal so.“, beendete Trust das Thema. Daraufhin konzentrierten sich die fünf erneut. Als sich nach einiger Zeit noch immer kein Effekt zeigte, entschied Unite, dass sie sich auf den Boden setzen sollten. Mit geschlossenen Augen schlugen sie, jeder für sich, erneut den Weg ein, der sie sonst immer zu ihren Wappen führte. Irgendwo in ihrem Inneren blieben sie stehen, wie an der Pforte zu ihrer Seele. Sie warteten und unausgesprochen ließen sie ihren Wunsch, ihre Kräfte zu entdecken, erklingen, gleich einer Schwingung, die zum Ton eines Liedes wurde. Dann verharrten sie, lauschten auf die Antwort, die weder in Worten, noch Bildern kam, sondern so nebelhaft und ungreifbar war wie alles, was sie hier in ihrem Innern fühlten. Ihre Brust begann zu glühen. Es war keine unangenehme Hitze. Um genau zu sein, handelte es sich vielleicht gar nicht um Wärme, die sie da verspürten. Aber es war das einzige, das sie benennen konnten und dem, was sie empfanden, noch halbwegs nahe kam. Es war ein Druck, als wolle etwas aus ihnen heraus, etwas Drängendes, etwas das eine Form bekommen wollte. Als sie noch näher hinsahen, wenn von ‚sehen‘ die Rede sein konnte, zeigte sich jedem von ihnen etwas anderes. Nicht dass es allen gleichzeitig gelungen wäre, es in sich zu finden, aber die Zeit war nun ohnehin bedeutungslos und was die anderen machten, war für die eigene Erkundung unwichtig. Was zählte, war allein das eigene Erleben. Change fühlte etwas Leichtes in sich, das sich auf seinem gesamten Körper ausbreitete. Mit jedem Atemzug schien er mehr Teil der Luft zu werden, die er in sich aufnahm. Das Gefühl seines Körpers änderte sich allmählich. Sachte, angenehm kühl und erfrischend ließ das übliche Körperempfinden von ihm ab, bis er schließlich an einen Punkt kam, der ihm für einen kurzen Moment Angst einjagte. Es war ein Punkt, an dem er alles loslassen musste. Ohne jeden Halt, wie schwankend auf einem Drahtseil stehend, sah er verängstigt in das Ungewisse, das ihn zu sich rief. Dann, wie von taumelnder Vorfreude gepackt, ließ er los, sprang, ließ alles gehen und war frei. Mit einem nie zuvor verspürten Gefühl in sich sog Change nochmals die Luft ein und öffnete langsam die Augen, doch sein Blick war anders als sonst. Ungläubig gaffte Change auf die Beine, die er eben noch im Sitzen untergeschlagen hatte, doch diese Beine, obgleich er sie noch fühlen konnte, waren mit einem Mal verschwunden! Gleiches galt für seine Hände und den restlichen Teil seines Körpers. Nichts an ihm war mehr sichtbar. Nach dem ersten Augenblick des Schocks und der Sprachlosigkeit, wollte Change schon vor freudigem Erstaunen und Aufregung laut auflachen, drückte aber im letzten Moment seine unsichtbaren Hände auf seinen ebenfalls nicht länger sichtbaren Mund und betrachtete mit einem Grinsen die anderen. Die übrigen Beschützer hatten allesamt ihre Augen geschlossen und daher noch nicht bemerkt, dass eines ihrer Mitglieder verschwunden war. Changes Grinsen wurde noch ein wenig breiter. Mit schelmischem Blick wandte er sich in Destinys Richtung und rieb sich die Hände in böser Absicht. Was gab es Besseres als jemanden zu erschrecken, wenn man unsichtbar war? Ja, vielleicht war es ein billiger Einfall, aber das machte es nicht weniger spaßig! Change lachte lautlos in sich hinein. So leise als möglich erhob er sich und trat dann auf Zehenspitzen hinter Destiny. Kurz noch überlegte er, was er ihr antun würde, ehe er sich für das altbewährte An-den-Haaren-Ziehen entschied. Und schon schnellte seine Hand zu Destinys braunem Haarschopf vor. Sobald Changes Fingerspitzen Destiny berührten, ging ein fürchterlicher Schlag durch seinen Körper, sodass er sich nicht länger rühren konnte. Doch was viel schlimmer war, war das entsetzliche Gefühl, das ihm augenblicklich die Luft abschnürte. Wie ein Dolch war etwas in ihn hineingefahren und in ihm stecken geblieben. Übelkeit kam in ihm hoch und ließ seine Umgebung verblassen, bis er nur noch den Fremdkörper wahrnahm, der sich immer tiefer in ihn hineinbohrte, ehe er an einer Stelle verharrte, die so grausam persönlich war, dass niemals, niemals, etwas dorthin hätte finden dürfen! Kapitel 51: Eindringling ------------------------ Eindringling „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.“ (Sprichwort) Destiny schreckte auf. Noch ehe sie die Augen geöffnet hatte, wusste sie, dass sie sich nicht länger bei den anderen im Trainingsraum befand. Sie sprang auf, sah sich einer Stellwand voller Fotos gegenüber, die in einer schwarzen Weite stand. Sie beachtete sie nicht, denn eine unheimliche Schwärze lauerte in ihren Augenwinkeln, ließ Angst in ihr aufkommen. Hektisch wirbelte sie zu ihr herum. Vor ihr standen mit einem Mal Sportwagen in knalligen Farben, eher einem Rennspiel als der Realität entsprungen. Sie betrachtete sie nur kurz, denn noch immer war da die Schwärze in ihren Augenwinkeln. Sie begab sich zurück in ihre Ausgangsposition. Zu ihrem Entsetzen war dort nicht länger die Wand von zuvor. Eine riesige Videospiel-Ansicht zeigte sich ihr. Ihr Kopf schnellte in die andere Richtung. Schnell wechselnde Bilder von Landschaften, Szenerien, die alles einzunehmen schienen. Destiny wich zurück, atmete hektisch. Wieder drehte sie sich. Eine Meute jubelnder Menschen: 'Du bist der Größte! Du bist toll! Wir lieben dich!' Drehung. Ein Mann mittleren Alters, der auf seltsame Weise völlig unrealistisch wirkte, noch unrealistischer als die anderen Bilder. 'Ich bin stolz auf dich.' Panisch wandte sich Destiny in alle Richtungen. Ein Kinderzimmer. Wieder eine Landschaft. Zwei Erwachsene mit einem brünetten Jungen. Ein Piratenschiff. Jedes Mal drangen neue, unbekannte Eindrücke auf sie ein, bis sie es nicht mehr aushielt. Die Arme schützend über ihren Kopf haltend, kauerte sie sich zusammen, die Augen fest verschlossen. Ein lauter Schrei entstieg ihrer Kehle. Trust riss die Augen auf. Hatte er eben Destiny schreien hören? Desire und Unite, zwischen denen er Platz genommen hatte, schienen jedenfalls nichts davon mitbekommen zu haben. Sie saßen seelenruhig mit geschlossenen Augen da. Desire verlor sich in ihrer inneren Ruhe. Ein reines Gefühl floss durch ihren Körper wie kristallklares Quellwasser und erfrischte ihren Körper und ihre Seele, spülte alles hinweg und läuterte ihr Inneres. Gerade war sie vollkommen in ihrer Meditation aufgegangen, als Trusts Stimme sie aus der Trance riss. „Wo ist Change?“ Desire und Unite waren augenblicklich wieder voll da. „Was ist?“, fragte Desire, ehe auch sie erkannte, dass Change nicht mehr neben Destiny saß. Unite blieb unbekümmert. „Vielleicht ist er auf die Toilette.“ „Destiny.“, rief Trust. Sie hatte im Gegensatz zu den beiden anderen auf seine Frage nicht reagiert. Doch auch sein Ausruf ließ sie nicht zu sich kommen. Nun doch beunruhigt, kroch Unite, die durch Changes Verschwinden nun direkt neben Destiny saß, zu ihr hinüber und berührte sie am Arm. Wie unter Hieben zuckte sie zusammen. Hitze stieg in ihr auf und ließ alles in ihr sich verkrampfen. „Angst!“, stieß sie aus und zog ihren Arm zurück. „Sie hat schreckliche Angst.“ Desire und Trust sprangen auf und rannten zu Destiny. Erneut hallte ein Hilferuf durch Trusts Gedanken. „Sie ruft nach Hilfe!“ Verwirrt sah Desire ihn an, offensichtlich hatte sie den Ruf nicht vernommen. Ängstlich rüttelte sie an Destiny. „Destiny! Komm zu dir!“ Es half nichts. „Geh du Change suchen.“, sagte Unite zu ihr und rückte näher an Destiny heran. Desire sah im ersten Moment nicht sehr begeistert aus, nickte aber und rannte in Richtung ihrer Zimmer. „Was sollen wir tun?“, fragte Trust mehr sich selbst als Unite. „Versuch mit ihr Kontakt aufzunehmen!“, rief Unite. Verständnislos blickte Trust sie an. Unite wirkte überzeugt. „Du kannst sie hören, dann kannst du sicher auch mit ihr sprechen!“ „Aber wie?“, fragte Trust. „Versuch es einfach.“, bat Unite. „Konzentrier dich.“ Trust biss die Zähne zusammen und wandte sich Destiny zu. Die Luft ausstoßend setzte er sich vor ihr auf den Boden und schloss die Augen. Mit tiefen Atemzügen versuchte er, sich zunächst zu beruhigen. Als er langsamer ausatmete als ein, entspannte er sich wieder ein wenig und begann nun sich auf Destinys Geist zu konzentrieren. Er dachte ganz fest an Destiny und rief die Beschützerin zunächst ohne Worte herbei, allein durch den Gedanken an sie. Die Dunkelheit hinter seinen Augenlidern zeigte ihm keine Bilder. Er suchte nach etwas, nach einem Hinweis. Doch da war nichts. Um nicht panisch zu werden, konzentrierte er sich wieder auf seine Atmung. Unter Druck war es unmöglich, seine Kräfte einzusetzen. Ruhig werden. Momente verstrichen. Ein ungewohnter Frieden nahm seine Sinne ein. Seine Gedanken – ein fernes Echo. Er konnte seine Gedanken noch hören und war doch von ihnen gelöst. Ebenso verlor die Situation ihre Bedrohlichkeit und Zeit ihre Bedeutung. Er vertraute. Und wusste, dass er in etwas eintauchte, das nicht länger nur seine Bewusstseinsebene war. Destiny schnappte nach Atem. Bildete sie es sich ein oder kam ein Laut aus der Ferne? Der Klang näherte sich ihr. Erst getraute sie sich nicht die Augen wieder zu öffnen, ehe sie Trusts Stimme gewahr wurde. „Justin!“ Destiny stand auf, musste aber sofort wieder die Augen schließen. Die fremden Eindrücke hielt sie einfach nicht aus. ○ Destiny. Ich bin hier. Hab keine Angst. „Justin!“, rief sie abermals, ignorierend, dass er in seiner verwandelten Form einen anderen Namen trug. „Justin, wo bin ich? Ich weiß nicht, wo ich bin!“ Sie konnte ein Schluchzen kaum unterdrücken. „Wo seid ihr alle? Was ist passiert? Bitte hilf mir!“ Trusts Stimme war sanft. ○ Bleib ruhig. Der Klang seiner Stimme hatte etwas so Tröstliches, war das einzige Vertraute in dieser völlig fremden Welt um sie herum. ○ Du sitzt noch hier im Trainingsraum, in einer Trance. Du bist anscheinend nur im Geist woanders. Wie als wir auf die Suche nach unseren Wappen gegangen sind. „Ich will hier raus!“, schrie Destiny. ○ Wir holen dich da raus. Hast du eine Idee, was passiert sein könnte? Change ist auch verschwunden. „Ich weiß nicht, was passiert ist!“, kreischte sie. „Auf einmal war ich hier! ○ Wo bist du, wie sieht es dort aus? „Ich werde hier wahnsinnig! Die Umgebung verändert sich ständig. Das ist alles so fremd. Ich weiß nicht, wo ich hier bin!“ ○ Okay. Kurzes Schweigen, das in Destiny die Angst weckte, die Verbindung zu ihrem Freund sei abgebrochen. ○ Versuch dich zu konzentrieren. Du musst mir sagen, was du siehst. Destiny wollte ihre Augen nicht nochmals öffnen. Aber es blieb ihr wohl keine andere Wahl. Wieder dasselbe Spiel wie zuvor. Sobald sie sich abwendete, veränderte sich das Bild. Dieses Mal zeigten sich ihr Actionfiguren und Spielzeugautos, danach Schulsachen, anschließend ein kleiner Junge mit braunem Haar, den sie vorhin auch bei der Familie zu sehen geglaubt hatte. Schnell drehte sich Destiny wieder weg. „Es geht nicht! Sobald ich mich wegdrehe, sehe ich etwas anderes! Da ist Spielzeug, und Autos, und Physikaufgaben!“ Trust antwortete nicht sofort. ○ Versuch dich auf einen Punkt zu fixieren, schau nirgends anders hin. Vielleicht kannst du mit deinen Gedanken auch etwas steuern. Wenn du in dir selbst bist, dann müsstest du die volle Kontrolle ausüben können, wenn du nur willst. „Ich bin ganz sicher nicht in mir!“, brüllte Serena und stieß einen Seufzer aus. Wieder öffnete sie die Augen. Vor ihr stand nun ein Schränkchen mit dem Bild einer alten Frau in einem Bilderrahmen, doch das Bild war mit schwarzem Filzstift verschmiert. Der Frau war ein Bart aufgemalt worden und Hörner, auch war das Glas des Rahmens zersprungen, als hätte es jemand mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert. Das Schränkchen hatte Schubladen. Serena sog Luft ein und schenkte der Schwärze in ihren Augenwinkeln keine Beachtung. Wenn das eine Gedankenwelt war, konnte sie wirklich mit ihren Gedanken etwas kontrollieren? Sie konzentrierte sich auf die Schubladen und zog gedanklich die oberste auf. ‚Du kleiner Münchhausen!!!‘ Destiny schreckte von dem lauten Schrei und dem grimmigen Gesicht der gleichen Frau zurück, deren Foto, sie eben noch betrachtet hatte. Sofort sprang die Schublade wieder zu. ○ Was ist passiert?, erkundigte sich Trusts Stimme besorgt. Destiny versuchte sich zu beruhigen. „Ein kurzer Filmausschnitt oder so. Keine Ahnung. Ich habe eine Schublade aufgemacht.“ Sie entschloss sich, die übrigen Schubladen nicht anzurühren und drehte sich in eine andere Richtung. Desire kam zurück in den Trainingsraum gerannt. Nirgends auch nur eine Spur von Change! Auch vor ihrem Hauptquartier nicht. Und telefonisch hatte sie ihn ebenfalls nicht erreicht. „Ich kann ihn nicht finden!“ Keiner der beiden anderen beachtete sie. Trust saß mit geschlossenen Augen vor Destiny und Unite bewegungslos an ihrer Seite, die Hand auf Destinys Oberarm. Desire lief das restliche Stück zu ihnen. Zuerst wollte sie wieder etwas sagen, entschied sich dann aber Trust nicht in seiner Konzentration zu stören und wandte sich Unite zu. Bei näherem Blick stellte sie fest, dass Unite vollkommen steif geworden war, wie eingefroren, ihr Gesicht starr auf Destiny gerichtet, als sei sie eine Statue. „Unite?“, flüsterte sie. Die Beschützerin reagierte nicht. In diesem Moment fiel Desire wieder Destinys Fähigkeit der Lähmung ein. Was, wenn Destiny die Kräfte unwillentlich eingesetzt hatte? Vielleicht hatte sich Destiny irgendwie erschreckt und Unite, die ihren Arm festhielt, daraufhin paralysiert. „Unite...“ Vorsichtig berührte Desire Unites Rücken. Unverhofft kam das Gefühl von zuvor zu ihr zurück, als fließe etwas durch sie hindurch, nur dass es sich dieses Mal so anfühlte, als ginge es auf Unite über. Die läuternde Frische erquickte Unites Glieder und befreite sie von dem Bann, den Destiny ihr nach ihrem Schreck auferlegt hatte. Unite zog ihre Hand von Destiny weg und sah etwas verdutzt zu Desire hinüber. Dann machte sich wieder ihr typisches Lächeln auf ihrem Gesicht breit. „Danke.“, flüsterte sie. Desire verstand nicht so recht. „Für was?“ „Dass du mich geheilt hast.“, meinte Unite überzeugt. Weiterhin in Flüsterton. Desire schaute skeptisch. Doch sie wusste, dass man mit Unite nicht diskutieren konnte. Sie sah zu Trust hinüber. „Was tut er?“ „Er spricht mit Destiny.“ „Ich weiß einfach nicht, wo Change sein kann.“, klagte Desire. Nun machte auch Unite ein besorgtes Gesicht. „Vielleicht findet Trust etwas heraus.“ Atemlos stand Destiny vor einer Wand, die mit Postern behängt war. Nur das diese Poster keine Film- oder Musikstars zeigten. In der Mitte hing ein riesiges Plakat, auf dem sie selbst, Ariane, Vivien, Justin und Erik zu sehen waren. Und um dieses hatte jeder von ihnen noch ein etwas kleineres eigenes Poster. Ungläubig sah Destiny auf das Bild, das sie selbst zeigte. Es war ein etwas seitliches Foto, auf dem sie ziemlich zickig aussah, mit argwöhnischem, abweisendem Blick. Was hatte das hier zu suchen? Als hätte ihre Aufmerksamkeit einen Mechanismus in Gang gesetzt, kam das Bild näher und begann, sich zu bewegen, baute sich zu einer regelrechten Leinwand vor ihr auf. „Du bist ein Idiot!“, schimpfte die Serena in dem Film und warf dem Betrachter einen zornigen Blick zu. Eine weitere Szene folgte. „Halt die Klappe!“ Und noch einmal Serenas wütendes Gesicht. Destiny stellte mit einigem Unwillen fest, wie schrecklich sie aussah, wenn sie so schaute. Nach zwei weiteren Bildern fand die Aneinanderreihung ihrer bösen Blicke ein Ende und im nächsten Moment hatte sie ihr eigenes weinendes Gesicht vor sich. Etwas, das sie noch weniger hatte sehen wollen. Es waren zwei verschiedene Szenen, in denen sie weinte. Die Szene wechselte und es folgte ein scheuer Seitenblick von ihr. War das nicht auf dem Balkon ihres Hauses? Und schließlich ein Filmausschnitt, der ihr die Sprache ganz verschlug. Das war sie, wie sie unsicher eine Faust ballte und diese der vermeintlichen Kamera zaghaft entgegenstreckte. Die Hand des Betrachters war nun auch zu erkennen. ‚…Freunde.‘ ‚Willkommen im Team!‘ „Trust!“, brüllte Destiny. „Es ist Vitali! Change! Ich bin in Change!!!“ ○ Wie ist das möglich? „Keine Ahnung!“ ○ Aber Change ist nicht hier. Destinys Herzschlag setzte für einen Moment aus. „Aber er ist doch nicht… Ich hab doch nicht…“ Sie schnappte nach Luft und versuchte die Tränen zu unterdrücken. Die Panik ließ sie zittern. ○ Destiny, er lebt noch. Ansonsten könntest du nicht in ihm sein. „Und wenn ich ihn getötet hab?“ ○ Sag sowas nicht! Das ist Unsinn. „Aber wie ist es möglich, das er verschwindet und ich in seiner Seelenwelt bin!“, schrie sie. ○ Ich weiß es nicht, aber du hast ihn nicht umgebracht. Destiny schluchzte. ○ Destiny, nicht weinen. Es wird alles gut. Hab Vertrauen! Sie schniefte. „Du bist doch Vertrauen.“ Seine Stimme wurde aufmunternd. ○ Na siehst du, und ich bin bei dir. Wir holen dich jetzt erst mal zurück. „Nein!“, kreischte sie. „Dann finden wir Change vielleicht nie wieder!“ Es brauchte einen Moment, ehe Trust darauf antwortete. ○ Was sollen wir sonst tun? „Trust, wie sprichst du mit mir?“ ○ Ich denke, durch Telepathie. „Dann versuch damit Change zu finden!“ ○ Aber er ist nicht hier. Du sitzt vor mir. „Du musst es wenigstens versuchen!“, forderte sie. „Keine Ahnung. Ich… warte solange hier. Vielleicht finde ich hier etwas heraus.“ Wieder kehrte eine kurze Pause ein. ○ Gut. „Trust?“ ○ Ja? „Bleib nicht zu lange weg.“ ○ Ich verspreche es. Obwohl Destiny nur Trusts Stimme hören konnte, hatte sie das Gefühl, dass er ihr nun ein liebevolles Lächeln schenkte. ○ Wir sind alle bei dir. Dann war seine Stimme verschwunden. Destiny spürte wieder die Angst in sich aufkommen, hier drinnen völlig alleine und verloren zu sein. Nein! Sie musste sich zusammenreißen! Sie war in Changes Seelenwelt! Und sie musste ihn finden! Sie seufzte und stand kurz bewegungslos da, anschließend ballte sie die Hände zu Fäusten. „Change! Du Trottel! Antworte!“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Wo bist du???!!!!!“ Ihre Stimme verhallte in der unbekannten Weite. Trust öffnete die Augen. „Was ist?“, fragte Desire eilig. „Sie ist in Changes Seelenwelt.“, antwortete er ruhig. „Wie kann das sein?“, rief Desire hektisch. Trust zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ „Vielleicht hat sie ihn ja in sich aufgesogen!“ Unite gab ein saugendes Geräusch von sich und untermalte ihre Behauptung mit einer Bewegung ihrer Hände. Desire sah Unite empört an. „Wie soll sie das denn gemacht haben?“ „Das ist ja wohl eher zweitrangig.“, entgegnete Unite leichthin. „Wir müssen sie da rausholen!“, verlangte Desire. Trust schüttelte den Kopf. „Sie will, dass wir zuerst Change finden.“ Auf Desires Gesicht zeigte sich jäher Unglaube. „Und du bist sicher, du hast mit Destiny geredet?“ Er ging auf ihren Kommentar nicht ein. „Ich muss nach Change suchen.“ „Ich habe schon überall nachgesehen, aber er ist nirgends zu finden.“, informierte Desire. „Er meint mit seiner Telepathie.“, erklärte Unite. Schon hatte Trust wieder die Augen geschlossen und versuchte sich zu konzentrieren, was im nächsten Moment von Unite vereitelt wurde. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und seine Hand ergriffen. Irritiert sah Trust sie an. „Ich versuche deine Kräfte anzuzapfen.“, erläuterte Unite. „Dann kannst du nach Change suchen und ich gehe solange zu Destiny.“ Erst wollte Trust dem widersprechen, schließlich wusste er nicht, wie er sich konzentrieren sollte, während sie seine Hand hielt. Dann fiel ihm wieder Destinys ängstliche Stimme ein. Es war vielleicht wirklich das Beste, wenn jemand bei ihr war. „Also wie machst du das?“, fragte Unite, als würde es sich dabei um ein einfaches Handwerk handeln. „Ähm, ich .. ich konzentriere mich. Ich werde ganz still und… Ich weiß nicht genau. Ich habe an Destiny gedacht und sie dann gerufen.“, gab Trust unsicher von sich. Es war schwierig, das Gefühl zu beschreiben, das er gehabt hatte, als er mit Destiny Kontakt aufgenommen hatte. So hörte es sich geradezu wie ein Spaziergang an. „Okay.“, meinte Unite locker. „Probieren geht über Studieren.“ Desire fragte sich wirklich, wie Unite es immer schaffte, so gelassen zu bleiben. „Und was mache ich solange?“, wollte sie wissen. „Du wartest und wenn irgendwas schief geht, dann weckst du uns mit deiner Superkraft.“, entgegnete Unite fröhlich. Desire hob die Augenbrauen. „Superkraft?“ „Ja, dieses Läuterungs-Dingsda, was du vorhin gemacht hast. Diese Neutralisation.“ „Das war vielleicht nur Zufall!“, antwortete Desire. „Nicht so viel reden, sondern tun!“ Mit diesen Worten beendete Unite das Gespräch und schloss die Augen. Trust folgte ihrem Beispiel und versuchte seine Aufmerksamkeit weg von der Empfindung ihrer Haut zu lenken. Leider hatte das den gegenteiligen Effekt. Auf einmal spürte er an seiner Hand eine zusätzliche Wärme, die nicht allein von Unites Haut kam. So als fließe eine Energie von seinem Körper in den ihren und umgekehrt. Der Gedanke an diese Verbindung wühlte ihn auf, er wollte die Augen aufreißen, seine Hand zurückziehen. Dieses Gefühl, mit ihr eins zu sein, ließ seinen Atem flach werden. Er schämte sich! Sein Herzschlag brach in seinen Gedankensturm ein, doch auf ganz andere Weise als sonst, wenn er nervös war. Er hatte fast den Eindruck, dass sein Herz auf das reagierte, was Unite tat. Kurz schmerzte seine Brust bei seinem Versuch, sich dagegen zu wehren. Sein Herz antwortete mit einer Ruhe und Geborgenheit, die seinen Atem wieder tiefer werden ließ und seine Nervosität und Unsicherheit vergessen machte. Es war angenehm. Er atmete tief aus und ein und gab sich dem Frieden in seinem Inneren hin. Unite tat, was Trust ihr erklärt hatte, allerdings fiel ihr der Eingang in Destinys Gedanken weitaus schwieriger als gedacht. Daraufhin konzentrierte sie sich ausschließlich auf die Verbindung zu Trust über seine Hand. in dem Versuch, statt ihren eigenen Willen durchzusetzen, Trusts Gabe einfach durch sie hindurchfließen zu lassen. Sie spürte den Energiefluss zwischen ihnen. Im gleichen Moment empfand sie eine innere Ruhe, die sie an Trust erinnerte. Dieses Gefühl hatte er ihr gegeben, als sie geweint hatte, bloß auf andere Art und Weise. Diese Ruhe konzentrierte sich nicht auf sich selbst, sondern ging darüber hinaus. Sie begriff, dass sie sich selbst verlieren musste, um Destiny finden zu können. Die angenehme Stille breitete sich in ihr aus und bedeckte ihre übrigen Sinne, so dass sie sich allein auf den Gedankenstrom konzentrieren konnte und auf die Wärme von Trusts Hand. Doch auch die musste sie hinter sich lassen, um schließlich zu Destiny vorzudringen. „Change! Vitali! Hörst du mich?!“ Erneut war Destiny den Tränen nahe. Egal wie viel sie schrie und rief, es kam keine Antwort. Und den Versuch, ihren jetzigen Standpunkt zu verlassen, hatte sie gleich wieder abbrechen müssen, weil das Eindringen in andere Winkel seiner Seele ihr Angst eingejagt hatte. Was sollte sie bloß tun? Niedergeschlagen blickte sie zu Boden. ♪ ...tiny. Destiny… „Change!“ Jähe Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit. Ein Lachen erklang so weit entfernt, das sie es nicht einordnen konnte. „Du Idiot! Was lachst du?! Wo bist du?!“, kreischte sie. Erst dann kam die Stimme nahe genug, dass Destiny sie identifizieren konnte. ♪ Tut mir leid. Ich bin nicht Change. „Unite? Wie …? Fantasier ich jetzt?“ ♪ Ich hab mir nur kurz Trusts Kräfte geliehen. „Geliehen?“ ♪ Er sucht nach Change. Genau wie du. Unites heitere Stimme nahm eine verschlagene Tönung an. ♪ Das wird Change sicher gefallen, wenn er das hört. „Halt die Klappe!“, blaffte Destiny, dann kam wieder die Unsicherheit in ihr hoch. „Ich finde das nicht lustig. Vielleicht lebt er nicht mal mehr…“ ♪ Ach Quatsch! Ist doch voll cool, dass du in Changes Seelenwelt bist! „Cool?!“, kreischte Destiny. „Du hast sie wohl nicht alle!“ ♪ Da kannst du jetzt alles über ihn rausfinden, was du wissen willst! „Erstens, verstehe ich hier drinnen gar nichts! Und zweitens, ist es mir vollkommen egal, was dieser Idiot denkt.“, schimpfte Destiny. Unites Stimme klang immer aufgeregter. ♪ Erzähl mir, was du siehst! Destiny stand noch vor der Posterwand. Erst wollte sie Unite davon berichten, aber gleichzeitig kam ihr das falsch vor. „Das sind seine Gedanken.“ Unite schien ihren Einwand nicht zu verstehen. ♪ Ja und? „Man schnüffelt nicht in den Gedanken anderer Leute rum.“ ♪ Willst du nicht wissen, was er über dich denkt? Auch ohne ihr Gesicht zu sehen, konnte Destiny erraten, dass Unite ein schelmisches Grinsen aufgesetzt hatte. Destiny schürzte unzufrieden die Lippen bei dem Gedanken, dass sie dieser Frage schon ungewollt nachgegangen war. Aber sie hatte das nicht beabsichtigt gehabt! „Wieso sollte ich das wissen wollen!“, stieß sie aus. Pure Begeisterung sprach aus Unites Stimme. ♪ Du hast schon nachgeschaut! „Hab ich nicht!“, kreischte Destiny hilflos. Dann fiel ihr Blick wieder auf das Poster, das sie selbst zeigte, wie sie geschaute hatte, als Vitali sie im Team willkommen geheißen hatte. Ein unsicherer Blick, ein nicht ganz geschlossener Mund. Aber sie rief das Bild nicht dazu auf, seine weiteren Geheimnisse zu enthüllen. Warum diese Wand im Gegensatz zu allem anderen hier drin nicht einfach wieder verschwunden war, war ihr schleierhaft. Vielleicht weil sie nicht wollte, dass diese Wand verschwand, schließlich war sie in diesem Wirrwarr noch das einzige, das ihr halbwegs heimisch vorkam. Das einzige, das sie mit Change teilte. „Es war bloß eine Erinnerung. Und ich hatte es nicht geplant.“, verteidigte sie sich. ♪ Wie ist das so in der Seelenwelt von jemand anderem? „Es ist unangenehm.“, sagte Destiny kurz. ♪ Vielleicht weil du dich gegen die Eindrücke wehrst. „Hey, bin ich hier drin oder du?!“, meckerte Destiny. ♪ Versuch mal, es weder zu steuern, noch dich davon überrennen zu lassen. „Was?“ ♪ Wenn es so ist wie letztes Mal, dann bist du doch in irgendeiner Welt, oder? „Es ist … anders. Das ist keine richtige Welt, also nicht wie damals. Alles ist schwarz wie in einem Planetarium. Die Bilder kommen und gehen einfach so, wenn ich mich umwende. Alles verändert sich ständig.“ ♪ Du bist ja auch in Verändern., lachte Unite. Destiny seufzte. Der Gedanke, dass Change ihr noch viel fremder war als sie je für möglich gehalten hatte, tat ihr weh. ♪ Du hast doch eben nach Change gerufen. Vielleicht kann er dir nicht mit Worten antworten wie Trust und ich, aber vielleicht kann er dir Bilder schicken! Destiny horchte auf. ♪ Versuchen kann man’s doch. „Ja.“, stimmte Destiny zu. Bloß war sie sich unsicher, wie sie das jetzt anstellen sollte. Möglicherweise sollte sie hier drin gar keine Worte verwenden, sondern ebenso Bilder. Das würde sie versuchen. Desire saß da und ärgerte sich, dass sie nicht helfen konnte. Sie kam sich so furchtbar nutzlos vor. Jeder tat etwas. Nur sie nicht. Sie wollte Destiny und Change auch helfen! Ein Seufzer entfleuchte ihr. Sie sah Destiny an, die dasaß, als wäre sie während der Meditation eingeschlafen. Ihr Kopf war auf ihre Brust gesunken. Erneut fragte sich Desire, wie es möglich war, dass Destiny in Changes Gedanken- oder Seelenwelt oder wie auch immer gelangen konnte, wo er doch verschwunden war. Aber vielleicht hatte Unite doch Recht und beides hing miteinander zusammen und Destiny war für Changes Verschwinden verantwortlich. Desire schüttelte den Kopf. Wie hätte Destiny ihn verschwinden lassen sollen? Sie dachte daran, dass sie letztes Mal alle gemeinsam in ihre Seelenwelt gelangt waren. Vermutlich war das durch die Mischung von Destinys und Unites Kräften gelungen. Nur brachte sie diese Überlegung nicht weiter, schließlich konnte sie nicht sagen, ob sie damals alle verschwunden waren wie Change oder sich nur in einer Trance befunden hatten wie Destiny jetzt. Change war neben Destiny gesessen, daher war es schon möglich, dass ihre Kräfte versehentlich ihn erfasst hatten, so wie es bei Unite der Fall gewesen war, die von Destiny paralysiert worden war. Doch Unite hatte Destiny berührt! Ooooh! Wieso fiel ihr nicht ein, was passiert sein könnte! Nervös tippte sie mit den Fingern geräuschlos auf den Boden. Sie überlegte. Unite hatte die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu fühlen und die Kräfte mit anderen zu teilen. Trust konnte Gedankenlesen und Gedanken übertragen. Destiny war fähig, andere zu lähmen und irgendwie in ihre Seelenwelt einzudringen. Sie selbst hatte, zumindest laut Unite, die Fähigkeit, andere Kräfte zu neutralisieren. Doch was war mit Change? Sofort starrte Desire hinauf an die Decke, um zu prüfen, ob Change irgendwo dort oben schwebte. Natürlich fand sie dort nichts, zumal es nicht erklärt hätte, warum er sich nicht gleich lautstark gemeldet hatte, als sie zuvor auf die Suche nach ihm gegangen war. Dennoch. Vielleicht hatte es gar nichts mit Destiny zu tun, dass Change nicht mehr da war, sondern mit Changes eigenen Kräften. Trust war noch immer auf der Suche nach Changes Bewusstsein. Er wusste nicht genau, wie er das überhaupt machen sollte. Was, wenn Change ganz woanders war? Wie sollte er ihn erreichen? Dass die Telepathie auf die kurze Distanz zwischen ihm und Destiny funktioniert hatte, grenzte für ihn ja schon an ein Wunder, aber wie sollte er Change finden, ohne zu wissen, wo er sich überhaupt aufhielt? Gedanklich rief er Changes Namen in alle Richtungen, dann wartete er. Doch es erfolgte keine Reaktion. Vielleicht musste er sich einfach mehr auf Changes Person konzentrieren, anstatt auf seinen räumlichen Standort. Was würde er bei Change erwarten? Change war ungeduldig und überschwänglich, jemand, der seinen Impulsen folgte. Er tat, was er gerade im Kopf hatte. Und das konnte sich von einer Sekunde zur nächsten ändern. Lag es vielleicht daran, dass er ihn nicht finden konnte? Möglicherweise verbaute er sich selbst den Weg, in dem er sich auf eine Seite von Change konzentrierte. Change war wechselhaft. Aber wie konnte er ihn dann ausfindig machen? Er dachte nach. Wenn Change etwas zugestoßen war, dann würde er vielleicht ebenfalls nach Hilfe rufen, so wie es Destiny getan hatte. Vielleicht brauchte er gar nicht nach Change suchen, vielleicht musste er einfach nur genau hinhören! Destiny hatte sich so gut es eben ging das Bild von Change vorgestellt, besser gesagt Vitali, denn ihre Fantasie hatte ihm automatisch normale Straßenkleidung gegeben. Zu ihrem Erstaunen hatte sich das Bild vor ihren Augen aufgebaut. Sie hatte sich nicht darum bemüht, eine gedankliche Fotografie mit allen optischen Merkmalen zu erstellen. Stattdessen hatte sie sich auf ein gewisses Gefühl konzentriert, das sie mit ihm verband. wie sie es sonst tat, wenn sie Geschichten schrieb. Sie hatte dem Bild dadurch Informationen wie den Klang seiner Stimme und seine typischen Eigenschaften als Attribute hinzugefügt. Als sie glaubte, das Bild fertig zu haben, ergänzte sie ein großes Fragezeichen. ♪ Was machst du?, wollte Unite wissen. „Stör mich jetzt nicht.“, antwortete Destiny knapp. Es war nicht einfach für sie, das Bild aufrechtzuerhalten. Sie sendete das Bild nun in alle Richtungen. Während sie es losschickte, drehte sie sich um ihre eigene Achse. Doch dieses Mal kamen nicht sofort unzählige Eindrücke auf sie zugeflogen, stattdessen schien die Schwärze nun das Bild aufzusaugen, das sie aussandte. Sie stoppte und wartete. „Ich hab ihm ein Bild geschickt.“, sagte sie jetzt zu Unite. ♪ Und was für eins? „Ein Bild von ihm mit einem Fragezeichen.“ ♪ Und was soll das heißen? „Wo er ist!“ ♪ Glaubst du, das versteht er? Also mich würde es eher wundern, wenn plötzlich in meinen Gedanken ein Bild von mir mit einem Fragezeichen auftauchen würde. „Danke!“, schimpfte Destiny. „Wie würdest du’s denn machen?“ ♪ Schick ihm ein Bild von dir. „Was?“ Gut, wenn sie es genau nahm, hatte sie ihm mit dem Bild ein Gefühl von sich geschickt hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass Change es erkennen würde. ♪ Oder schick ihm sonst was, das seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vielleicht was Peinliches. „So ein Quatsch.“ Destiny stockte einen Moment. „Warte mal.“ In der Ferne schien etwas aufzuleuchten, aber nur ganz schwach. Destiny bemühte sich, es mit ihren Gedanken zu fangen und dann zu sich heranzuziehen. Daraufhin stand sie einem Bild gegenüber, das sie selbst zeigte, genauer gesagt, ihren Rücken aus der Vogelperspektive. Sie saß auf dem Boden des Trainingsraums und trug ihre Beschützeruniform. Das Foto musste von heute sein. „Was soll das?“, fragte Destiny laut. Abrupt verschwand das Bild vor ihren Augen. ♪ Was?, wollte Unite wissen. „Ich hab mich gesehen, im Trainingsraum, und zwar von hinten.“ ♪ Vielleicht hat er die Frage einfach falsch verstanden. „Toll. Und was war das dann für eine Antwort?“ ♪ Keine Ahnung. Du bist doch in seinen Gedanken. Geräuschvoll stieß Destiny die Luft aus. Einen Moment herrschte Schweigen. ♪ Du hast doch gesagt, du hättest Changes Erinnerungen gefunden. Vielleicht kannst du ja den Moment finden, bevor er verschwunden ist, oder wo er sich jetzt aufhält. „Sonst noch was? Du stellst dir das ziemlich leicht vor.“ ♪ Du kannst natürlich auch für immer in Changes Seelenleben bleiben. „Überzeugt.“, sagte Destiny. Gerade wollte sie sich ans Werk machen – obwohl sie noch nicht wusste, wie – als Unite sich nochmals meldete. ♪ Destiny? Bist du noch da? „Ja. Wieso?“ ♪ Etwas hat sich verändert. „Ich hab hier schon genug Verändern.“, murrte Destiny. ♪ Ich glaub, Trust hat aufgehört Telepathie zu benutzen. „Ist das gut oder schlecht?“, fragte Destiny. ♪ Keine Ahnung. „Dann schau mal, was los ist.“ ♪ Kann ich dich alleine lassen? „Keine Angst, ich lauf nicht weg.“, sagte sie trocken. Unite kicherte, dann war ihre Präsenz verschwunden. Desire sah, dass Trust wieder die Augen geöffnet hatte. „Was ist?“, fragte sie aufgeregt. Trust sah sie noch ein wenig verwirrt an. „Ich bin mir nicht sicher. Ich hab Changes Stimme gehört, aber er konnte mich nicht hören. Er hat ständig geflucht.“, erklärte er. Er erinnerte sich an Changes Worte: ! Hinter dir! Hinter dir! Du dumme Kuh, raffst du das nicht?! Ich steh hinter dir! Rücken! Rücken! Ist das so schwer?! Dann war Changes Aufmerksamkeit zu etwas anderem geschwenkt. ! Aaaah!!! Verschwinde endlich!!! „Es schien, als würde er mit jemandem reden. Mit einer Frau.“, sagte er zu Desire. „Aber diese Frau konnte ihn anscheinend nicht hören. Das war alles etwas konfus.“ „Und was hat er zu der Frau gesagt?“, wollte Desire wissen. „Dass er hinter ihr steht.“ Trust leuchtete diese Aussage selbst nicht ein. „Wie? Bei was steht er hinter ihr?“, fragte Desire. „Nein, nicht bei einer Sache. Er hat es örtlich gemeint.“, antwortete Trust. Unites Stimme mischte sich ein: „Was hat er örtlich gemeint?“ „Du bist wieder da.“, stellte Trust fest. „Ja, das weiß ich schon. Aber was hat wer örtlich gemeint?“, entgegnete sie. Desire klärte sie auf: „Trust hat Changes Stimme gehört und die hat mit einer Frau gesprochen und gesagt, dass er örtlich hinter der Frau steht. Also in ihrem Rücken.“ „Rücken?“ Unite machte große Augen. „Change hat Destiny ein Bild von ihrem Rücken geschickt!“ „Das erklärt seine Ausdrucksweise.“, murmelte Trust. Es passte zu Change, Destiny als blöde Kuh zu bezeichnen. Er sah nochmals hinter Destiny, als hätte sich Change bisher hinter ihr versteckt. Desire sprang auf die Beine, als ergäbe jetzt alles Sinn. „Wir sehen nur niemanden!“, rief sie eilig aus. „Aber das heißt nicht, dass dort niemand ist!“ Sofort wollte sie hinter Destiny greifen, aber im letzten Moment hielt Unite sie auf. Desire rief eilig: „Versteht ihr nicht? Change kann sich vielleicht unsichtbar machen, deshalb haben wir ihn nicht gesehen. Und möglicherweise hat Destiny ihn ebenso paralysiert wie dich vorhin!“ Trust war verdutzt. Den Vorfall, dass Unite paralysiert gewesen war, hatte er nicht mitbekommen „Du darfst ihn aber nicht anfassen.“, wandte Unite ein. Desire sah sie verständnislos an. Unite erklärte: „Wenn du ihn anfasst, dann hebst du die Paralyse auf und vielleicht seine Unsichtbarkeit. Aber wir wissen nicht, welche Auswirkung es darauf hat, dass Destiny in seiner Seelenwelt ist. Wir dürfen nichts überstürzen, sonst verletzen wir sie noch!“ Auf Unites Aussage hin stand Trust auf und trat neben Destiny. Vorsichtig streckte er den Arm nach dem Bereich hinter ihr aus und stieß gegen etwas. Er hob seinen Arm auf die Höhe, in der er Changes Schulter vermutete und tatsächlich spürte er Entsprechendes an dieser Stelle. „Change ist wirklich hier.“, informierte er. Desire begehrte auf. „Aber jetzt können wir ihnen doch helfen!“ „Warte!“, ermahnte Unite nochmals. „Du musst beide gleichzeitig läutern. Aber du kannst Destiny nicht einfach berühren, denn wenn sie dich versehentlich paralysiert, dann haben wir ein Problem.“ „Aber wie sollen wir es dann machen?“, wollte Desire wissen. „Unite.“, rief Trust aus. „Unite kann deine Kräfte auf die beiden umlenken, ohne dass du Gefahr läufst, paralysiert zu werden.“ Unite nickte Trust lächelnd zu und zeigte ihm damit an, dass sie dieselbe Idee gehabt hatte. Sogleich trat er einen Schritt zurück, so dass Unite den unsichtbaren Change erreichen konnte. Unite fand Changes Arm und streckte dann ihre Linke nach Destiny aus. Glücklicherweise wurde sie dabei nicht gelähmt. „Und jetzt?“, erkundigte sich Desire. „Leg deine Hände einfach auf meine Schultern und mach das gleiche wie vorhin.“ Das gleiche wie vorhin. Das sagte sich leicht. Aber vorhin hatte Desire diese Kraft überhaupt nicht willentlich gebraucht. Sie seufzte und folgte dann Unites Befehl. Zunächst geschah gar nichts. Einige Sekunden standen sie so da, ohne dass sich etwas tat. „Es geht nicht. Vielleicht habe gar nicht ich das vorhin bewirkt.“, meinte Desire. „Ach was. Du konzentrierst dich bloß nicht. Ich hab vorhin ganz deutlich gefühlt, dass etwas aus dir auf mich übergegangen ist.“, erwiderte Unite. Daraufhin schloss Desire die Augen und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie vorhin getan hatte. Da war dieses Gefühl gewesen wie eine Quelle in ihr, die aus ihr herausfloss. Sie horchte in sich, fühlte nach, ob sich die kühle Frische nochmals irgendwo in ihr zeigte, ging dorthin, wo der Zugang zu ihrem Wappen lag und fand endlich, was sie gesucht hatte. Unite fühlte, wie die wunderbare Energie von Desires Händen auf ihre eigenen Schultern überging. Von dort aus sprudelte sie Unites Arme entlang bis in ihre Hände und floss schließlich gleichzeitig in Destinys und Changes Körper. Zwei leise Aufschreie erklangen. Destiny kippte im nächsten Moment nach vorne und stützte sich auf ihre Unterarme, während Trust gerade noch den nun wieder sichtbar gewordenen Change auffangen konnte. Vorsichtig ließ er ihn auf den Boden sinken. Change schnappte gierig nach Atem und hielt sich die Brust. Das, was er bis eben gefühlt hatte, hatte sich zwar nicht in seiner Brust abgespielt, aber er hatte das dringende Bedürfnis die Stelle fest zu umklammern, was an der Tatsache scheiterte, dass diese Stelle nicht materiell war. Die Mädchen kümmerten sich unterdessen um Destiny. „Alles in Ordnung?“, hörte Destiny Desires besorgte Stimme. Unite kniete sich zu ihr. Erschöpft ließ sich Destiny in ihren Schoß sinken. Beruhigend strich Unite ihr übers Haar. „Jetzt ist alles wieder gut.“, versicherte Desire. Destiny fuhr wieder auf. „Wo ist Change?“ Desire erklärte: „Er ist hinter dir. Er war bloß unsichtbar. Es ist ihm nichts passiert.“ „Hinter mir?“ Mit einem heftigen Ruck wirbelte Destiny herum. Ihre Wut brachte ungeahnte Kraftreserven zum Vorschein. „Du blöder Idiot!! Was hattest du hinter mir zu suchen?!!“ Change sah sie halb weggetreten an und schenkte ihr kaum Beachtung. Er kauerte in Trusts Armen – zu erschöpft, um sich über die Unmännlichkeit dieser Pose aufzuregen. „Ist das das einzige, was dich interessiert? Ich wäre fast draufgegangen!“ Trust wandte sich an ihn. „Change, was ist passiert? Von Anfang an, bitte.“ Change murrte. „Ich bin unsichtbar geworden. Und dann wollte ich Destiny erschrecken, - “ „Du wolltest was?!!“, fuhr Destiny ihn lautstark an. „Halt doch mal die Fresse.“, beschwerte sich Change, bereute die Worte allerdings, als ihn einer von Destinys bitterbösen Blicken traf. Aber er hatte jetzt wirklich nicht den Nerv für ihr Rumgezicke. Er sprach weiter. „Als ich sie berührt hab, hab ich mich nicht mehr bewegen können. Und irgendetwas ganz Schreckliches ist – keine Ahnung, in mich rein oder so! Es war ekelhaft! Und es hat wehgetan!“ Desire klärte ihn auf: „Dieses Schreckliche war Destiny.“ „Hä?“ „Destiny war in dir.“, sagte Trust und wunderte sich darüber, wie verstörend sich dieser Satz eigentlich anhörte. Im gleichen Moment legte nun auch Change verstecktes Kräftepotential an den Tag, indem er genauso schnell wieder in die Höhe schoss, wie Destiny zuvor. „Du warst was?!!“ Trust präzisierte: „Sie war in deiner Seelenwelt gefangen und konnte nicht mehr raus.“ „Bist du noch ganz richtig?!“, brüllte Change. Destiny tobte: „Du Asozialer! Glaubst du, das hab ich mir ausgesucht, in deinem kranken Hirn rumzulungern! Ich bin beinah wahnsinnig geworden!“ Change wurde noch lauter. „Wahnsinnig geworden?! Du bist doch schon wahnsinnig! Das hat scheißwehgetan, verdammt!“ Destiny machte den Eindruck, ihn gleich zu erwürgen. „Du Vollidiot! Du bist an allem Schuld!!!“ „Was?!!“, schrie Change. „Wer hat mich denn paralysiert und ist dann in mein Bewusstsein eingedrungen!“ „Das ist nur passiert, weil du mich berührt hast!“, schimpfte Destiny. „Ach, das machst du also mit allen Leuten, die dich berühren!“, spottete Change. „Nur mit den Idioten, die mich berühren!“ Change wurde wieder leiser. „Was hast du überhaupt in meinen Gedanken gemacht? Dir einfach mal alles angeschaut?“ „Als würde man in deinem Gedankenchaos überhaupt etwas anschauen können!“, schrie sie. „Also hast du es offensichtlich versucht!“, blaffte er. Destinys Augen wurden zu zwei Schlitzen. „Es gibt nichts, was mich an deinen Gedanken interessieren würde!“ „Warum bist du dann nicht gleich wieder rausgegangen?!“, warf er ihr vor. „Das wär ich ja gern!“, kreischte sie. Empört stieß Destiny die Luft aus. Change antwortete mit einem Grummeln. Lässig trat Unite zu den beiden und berührte sie gleichzeitig. Im gleichen Moment durchzuckte sie die jeweilige Empfindung des anderen. Destiny verspürte für einen Augenblick das schreckliche Gefühl, sich nicht regen zu können, während etwas abgrundtief Fremdes sich in einem ausbreitete, derweil Change die Angst überkam, von unzähligen unheimlichen Eindrücken heimgesucht zu werden. Unite ließ sie wieder los. „Geht’s euch jetzt besser?“, fragte sie vergnügt, als wäre ihr nicht bekannt, was sie die beiden gerade hatte spüren lassen. Die beiden Streithähne schwiegen. „Also, alles in allem, war das doch ein Riesenerfolg!“, freute sich Unite übermäßig. „Das mit unseren Kräften hat viel schneller geklappt als ich gedacht hatte! Wir sind echt super!“ Die übrigen fanden ihren Optimismus jedoch eher befremdlich. Besonders Destiny und Change warfen ihr feindselige Blicke zu. „Nun kommt schon. Wollt ihr etwa die ganze Zeit jammern, nur weil mal etwas schief geht?“, meinte Unite. „Du kannst ja nächstes Mal neben Destiny sitzen.“, entgegnete Change grimmig. Destiny keifte: „Solange sie mich nicht berührt, passiert auch nichts!“ „Jetzt fangt ihr schon wieder an!“, tadelte Unite sie. Schnellstmöglich zogen Destiny und Change ihre Arme weg, sodass Unite sie nicht nochmals berühren konnte. Auf ihre Reaktion hin musste Unite lachen. Gut gelaunt setzte Unite fort: „He, wenn Change das nicht gemacht hätte, dann hätte Destiny nicht herausgefunden, dass sie in Seelenwelten eindringen kann, Trust hätte seine Telepathie nicht einsetzen können, ich hätte nicht die Kräfte mit jemandem teilen können und Desire hätte nicht entdeckt, dass sie Kräfte neutralisieren kann! Also war das doch das Beste, was uns passieren konnte!“ Sie strahlte und ergänzte: „Wenn man mal von eurer Panik und den Schmerzen absieht.“ Destiny und Change schauten böse. „Seid doch mal etwas positiver!“, rief Unite. „Hat es euch nicht doch ein klein wenig Spaß gemacht?“ „Nein!“, schrien Destiny und Change wie aus einem Munde. Unite zuckte mit den Achseln. „Zumindest seid ihr euch darin einig.“ Nach dem ungeplanten Abenteuer beschlossen sie, das Training für den heutigen Tag als beendet anzusehen. Langsam liefen sie auf den Ausgang ihres Trainingsraums zu. Desire und Trust zuerst, Destiny und Change zuletzt, Unite dazwischen. „Hey.“, flüsterte Change, während er hinter Destiny herlief. Überrascht blieb sie stehen, warf ihm aber einen feindseligen Blick zu. Als Desire und Trust ebenfalls stehen bleiben wollten, schob Unite sie kurzerhand nach draußen und wisperte so leise wie möglich: „Raus.“ Erst als sie vor der Tür angekommen waren, ließ sie von den beiden ab. Desire zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Unite?“ Unite lächelte. „Ich dachte mir, sie bräuchten vielleicht ihre Ruhe.“ „Ruhe, um sich gegenseitig umzubringen.“, wandte Desire ein. „Deswegen bleiben wir ja auch hier stehen und lauschen.“, entgegnete Unite grinsend. „Aber wisst ihr was? Wir haben das richtig gut gemacht! Findet ihr nicht? Also ich fand das war schon richtig professionell! Das sollten wir öfters machen.“ Die anderen beiden schwiegen, während Unite einen seltsamen Tanz aufführte und diesen mit einem ebenso seltsamen Singsang untermalte „Wir waren toooll. Wir waren toooll.“ Change sah sie mit vorgeschobener Unterlippe an. „Sei ehrlich. Was hast du gesehen?“ Destiny zögerte, doch Change schien die Frage wirklich ernst zu meinen. „Was soll ich schon gesehen haben?“ „Die anderen haben doch gesagt, dass du in meiner Seelenwelt warst!“, beharrte Change. Destiny wich seinem Blick aus. „Es gab nicht großartig viel zu sehen, okay? Alles hat sich rasend schnell verändert.“ „Also hast du gar nichts gesehen?“ Destiny schwieg einen Moment. Sie überlegte, wie sie der Beantwortung dieser Frage entgehen konnte. „Darf ich was Bestimmtes nicht wissen?“ „Alter, du würdest mich killen, wenn ich in deinem Privatleben rumschnüffeln würde!“, rief Change. Damit hatte er allerdings Recht. Destiny rang sich zu einer Antwort durch. „Ich hab Autos gesehen und Spielzeug und deine Familie. Zumindest glaub ich, dass es deine Familie war, ich hab sie nur ganz kurz gesehen. Außerdem hab ich einen Mann gesehen, ich glaube, es war dein Vater. Und dann war da noch ein Bild von einer alten Frau. Sie hat furchtbar geschrien. Sie hat dich Münchhausen oder so genannt.“ Changes Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Das war meine Oma. Sonst noch was?“ Für einen Moment stockte Destiny. „Du hattest auch Bilder von uns da.“ „Und weiter?“ „Nichts weiter.“, sagte sie kleinlaut. „Ich wollte es nur wissen.“, sagte er ruhig. „Ich hab das ja nicht willentlich gemacht.“, antwortete Destiny. „Ich weiß.“ Die beiden schwiegen kurz, bewegten sich aber nicht von der Stelle. „Change?“, hob sie zögerlich an. „Hm?“ „Ich bin manchmal ziemlich zickig zu dir, was?“ Change zog eine Grimasse. „Manchmal?!“, stieß er aus. „Es vergeht kein Tag an dem ich nicht ‚Du blöder Idiot!‘, ‚Halt die Klappe!‘ oder ‚Ich hätte dich doch töten sollen!‘ zu hören bekomme!“ Beleidigt schürzte Destiny die Lippen. „Ich hab’s kapiert.“ Change zuckte mit den Schultern. „Mittlerweile weiß ich ja, dass du’s nicht so meinst.“ Unsicher sah sie ihn an. „Am Anfang hat es mich echt angekotzt, aber…“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Man gewöhnt sich wohl an alles.“ Destinys Gesichtsausdruck war anzusehen, dass ihr die Aussage nicht gefiel. Change brachte ihre eingeschnappte Miene zum Lachen. Als er sich wieder beruhigt hatte, lächelte er Destiny an und hielt ihr seine Faust hin. „Freunde?“ Im gleichen Moment entgleisten Destinys Gesichtszüge. Mit großen Augen starrte sie ihn an. Sie spürte Hitze in sich aufkommen. Es war, als wüsste er doch, was sie in seinen Gedanken gesehen hatte und hielte ihr das nun unmerklich vor! Change verstand die Reaktion allerdings nicht. Unglaube machte sich auf seinem Gesicht breit. Destiny nickte eilig. „Freunde.“ Ohne bei ihm einzuschlagen, sauste sie aus dem Trainingsraum und ließ Change verwirrt zurück. Verständnislos kratzte er sich am Hinterkopf. Dieses Mädchen war wirklich verrückt. Kapitel 52: Schatthenspiele --------------------------- Schatthenspiele „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, Dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“ (aus Wallenstein von Friedrich Schiller) Nur ein dämmriger Schein erhellte den Raum. Vier schwache Lichter, die der Aufmachung nach Fackeln nachempfunden waren und mit einem orangeroten Schein flackerten, waren an der kastanienbraunen Wand befestigt, deren Farbe nur in unmittelbarer Nähe der Leuchten erkennbar war. Der Großteil des Raumes lag im Dunkeln, weshalb man dessen Größe nur schätzen konnte. Gegenüber der beleuchteten Wand, einige Meter entfernt in der Finsternis saß eine Gestalt in halbem Schneidersitz. Ihre Hände verharrten in einer seltsamen Geste. Zwischen den beiden Handflächen war ein kleiner Freiraum und bestimmte Finger waren abgespreizt, andere berührten sich. Die Augen des Schatthenmeisters waren geschlossen und wie durch ein Wunder waren ihm nicht bereits sämtliche Körperteile eingeschlafen. Durch vollkommene Selbstbeherrschung übte er absolute Gewalt über sich und seinen Körper aus. In der Finsternis kaum ersichtlich, züngelte eine schwarze Energieform um seine Gestalt, doch sie verblieb nicht an dieser Stelle. Über seine Arme, hin zu dem Fingermudra, floss sie zu einem bestimmten Punkt an der beleuchteten Wand. Es war ein pechschwarzer wabernder und rauchender Energieklumpen, auf den der Energiestrahl gerichtet war, und der in den letzten zwei Stunden erheblich an Größe als auch an Form gewonnen hatte. Ohne die Augen zu öffnen, wusste Grauen-Eminenz, dass sein Werk kurz vor der Vollendung stand. Das Pochen der Energiemasse, die er im vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von mindestens vier Metern manifestiert hatte, spürte er am eigenen Leib. Kein Wunder – Waren die Gefühle und Energien, die sich durch seinen Willen und seine Kräfte zu dem Körper zusammengezogen hatten, doch vor kurzem noch Teil seines Selbsts gewesen. Sein Hass. Sein Zorn. Seine Verbitterung. Doch bei dieser Produktionsreihe hatte er auch auf andere Empfindungen zurückgegriffen. Dies hatte zwar zusätzliche Zeit gekostet, da Boshaftigkeit und Tücke nicht zu den Gefühlen zählten, die für ihn typisch waren, und er sie daher nicht so einfach hatte abrufen können, aber die veränderte Mischung war nun einmal erforderlich, um seiner neuen Schatthenreihe zumindest eine ein wenig höhere Denkfähigkeit einzuarbeiten als den Vorgängermodellen. Die Zusammensetzung der Schatthen bestimmte nicht allein ihre Intelligenz, sondern auch ihre sonstigen Fähigkeiten, und der letzte Angriff auf seine Auserwählten hatte Grauen-Eminenz auf brutale Art und Weise verdeutlicht, wie notwendig es war, neue Wege einzuschlagen, um sein Ziel zu erreichen. Es war ein gewaltiger Kraft- und Willensaufwand vonnöten, um einen Schatthen zu erschaffen, zumindest einen, der auch fähig war zu gehorchen. Und diese Arbeit zehrte langsam aber sicher an seinen Kräften. Eines war klar, das würde sein letzter Schatthen für den heutigen Tag sein, oder zumindest für die nächsten paar Stunden. Er wusste nicht genau, wie spät es war, vielleicht vier Uhr morgens. Also schon Sonntag. Ein Schatthen pro Woche, das galt unter den üblichen Schatthenmeistern schon als wahnsinnig produktiv. Er fand das lächerlich. Okay, es war eine durchaus gefährliche Tätigkeit, diesen Kreaturen eine physische Form zu verleihen, und jedes Mal setzte man sein Leben aufs Spiel – weshalb die meisten Schatthenmeister sich an diese Arbeit nur heranwagten, wenn sie im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte waren. Aber das würde ja ewig dauern! Er wartete eh schon viel zu lange darauf, dass er irgendeinen erfolgsversprechenden Ansatz fand, seinem Ziel endlich näher zu kommen. Wie viel Zeit sollte er denn noch dem Erlernen zahlloser Taschenspielertricks widmen, die ihm zwar ermöglichten, andere Menschen zu manipulieren, eine ganze Welt nach Maß zu erschaffen, oder schlicht und einfach alles Mögliche und Unmögliche explodieren zu lassen – das tat er besonders gern – ihm aber schlussendlich überhaupt nicht weiterhalfen! Das tiefsitzende Verlangen, der Stachel der Pein in seinem Inneren zerfraß allmählich sein Herz. Er wollte, dass alles schneller ging! Doch ihm blieb doch nichts weiter übrig, als sich unter grausamer Selbstkontrolle zu halten, um nichts zu überstürzen. Seit seine Schatthenarmee ausgelöscht worden war, also vor nicht ganz zwei Tagen, hatte er vier Schatthen erschaffen. Dieser hier war der fünfte. Er hörte die Worte aus seiner Ausbildung in seinem Kopf klingen. Nur ein Wahnsinniger konnte eine solche Fließbandproduktion überhaupt wagen! Blabla… Naja, das, was jetzt auf dem Plan stand, zählte wohl wirklich nicht zu den Dingen, die sich ein Normalsterblicher überhaupt hätte antun wollen. Der Energiestrang riss ab. Grauen-Eminenz erhob sich. An der Wand ihm gegenüber lag nun ein fast mannshohes, unförmiges Etwas, das noch mehrmals pulsierte, als wäre es lebendig. Hätte man es mit einem Wort beschreiben müssen, wäre die Wahl höchstwahrscheinlich auf ‚widerlich‘ gefallen. Auf groteske Weise erinnerte es an eine Plazenta und nun lag auch die Assoziation des Energiestrangs mit einer Nabelschnur nicht mehr allzu fern. Das zerfurchte, von Adern durchsetzte Gewebe sah der Nachgeburt bei Säugetieren äußerst ähnlich, im Gegensatz zu dieser barg es jedoch weiterhin das fertige Geschöpf in sich. Eine schwarze Blutlache breitete sich auf dem Boden aus und Grauen-Eminenz, der an den Anblick der Schatthengeburt längst gewöhnt war, machte ein paar Streckübungen, um seine steifen Glieder wenigstens halbwegs wieder verwenden zu können. Denn das war nun unumgänglich. Ein scheußlicher Zornesschrei, der nicht der eines Menschen war, zerriss mit Gewalt die Totenstille und im gleichen Atemzug zerfetzte der Schatthen mit einem gewaltigen Ruck seine Hülle, sodass Gewebefetzen und dunkler Saft umherspritzten. Grauen-Eminenz wurde davon getroffen. Mit einer kurzen Bewegung und einem grimmigen Gesichtsausdruck wischte er sich den grauenhaft stinkenden Saft von der Wange. Zumindest hatte er jetzt keine Sorge mehr, den Schatthen aufgrund seiner Übermüdung möglicherweise nicht in die Schranken weisen zu können. Die Empörung, die er nach dem Beschuss mit stinkendem Schatthenblut empfand, machte ihn hellwach. Es gab eine Regel für Schatthenmeister, deren Bruch üblicherweise den sofortigen Tod nach sich zog und das auf eine Weise, die man lieber nicht näher beschrieb. Niemals, NIEMALS zeige eine Schwäche jeglicher Art vor einem Schatthen. Müdigkeit, Krankheit oder Erschöpfung zählten zu den leicht zu umgehenden Schwächen. Die wirklich gefährlichen waren die Gefühle. Angst, Zweifel, Trauer, Mitgefühl. Sie alle bedeuteten den Tod. Glaubte ein Schatthen auch nur für einen Moment, er sei seinem Gegenüber überlegen, so tötete er seinen Meister ohne zu Zögern. Um Schatthen befehligen zu können, musste man sein ganzes Selbst unter Verschluss halten. Die Bestien durften nur eines in ihrem Befehlshaber sehen: Eine Tötungsmaschine, die schlimmer war als sie selbst. Doch um einen neugeborenen Schatthen unter Kontrolle zu bringen, brauchte es mehr als reine Selbstbeherrschung. Der Schatthen, der sich bei seinem ‚Schlüpfen‘ zu voller Größe aufgerichtet hatte, hatte den Menschen in seiner Nähe nicht nur durch seine die Finsternis mit Leichtigkeit durchdringenden Augen sofort entdeckt, auch sein Geruchssinn und seine Intuition witterten menschliches Leben. Der mordlüsterne Blick der Bestie versuchte, was ihm bei jedem anderen wohl gelungen wäre: die potentielle Beute vor Angst zu lähmen und ihren Geist zu zerquetschen. Halb geduckt und die in Krallen endenden muskelbepackten Arme zum Angriff weit von sich gespreizt stand die verfaulende Leiche da und bot einen Übelkeit erregenden Anblick. Grauen-Eminenz stieß die Luft geräuschvoll aus und musterte den Schatthen abschätzig. Dass diese Schatthen immer so eine Show abziehen mussten! Noch ehe das Scheusal zum Sprung ansetzen konnte, streckte er ihm den Arm entgegen und schoss eine so gewaltige Energiewelle auf den Schatthen, dass dieser vor Schmerz laut aufjaulte. Noch einmal bäumte sich die Kreatur auf und sackte gleich wieder in sich zusammen. Grauen-Eminenz ließ die Linke, seine schwächere Hand, wieder sinken. Schließlich wollte er nicht riskieren, seine neue Schöpfung gleich wieder zu pulverisieren. Zwar war es um einiges einfacher und schneller, aus den Überresten eines Schatthens ein neues Exemplar zusammenzusetzen, als einen ganz neuen zu erschaffen, aber man musste es dennoch nicht darauf anlegen. Der Schatthen musste auch so verstanden haben, wer hier das Sagen hatte. Noch einen Moment wartete er ab, ob die Kreatur sich nochmals gegen ihn auflehnte. Dann geschah etwas Unerwartetes. Schneller als er ihm mit den Augen folgen konnte, hatte sich das Untier in einen Schatten verwandelt und war mit der Dunkelheit verschmolzen. So etwas hatte noch kein Schatthen zuvor getan. Bisher hatte er ihnen diese Fähigkeit stets erst antrainieren müssen, da sie den Bestien überhaupt nicht gefiel. Und jetzt das. Bewegungslos stand er da und betrachtete sorgfältig seine Umgebung. Der Schatthen konnte jetzt überall sein. Ein tödliches, unsichtbares Wesen auf Amoklauf, ein wahr gewordener Albtraum. Erkannte man den Angreifer nicht rechtzeitig, so stand einem der sichere Tod bevor. Grauen-Eminenz ärgerte sich, dass er nicht doch einen hellen Raum gewählt hatte, dann hätte er zumindest den sich bewegenden schwarzen Fleck gleich erkennen können, aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Auch wunderte ihn die Geduld, die der Schatthen an den Tag legte. Seine früheren Schatthen wären nicht auf Anhieb so lange in der Schattenform verblieben und sie hätten nicht versucht, sich an das Beutetier anzuschleichen, sondern wären sofort auf es zugestürzt. Die grauen Augen des Schatthenmeisters wanderten wieder und wieder über den Boden, doch sie konnten keine Regung ausmachen. Plötzlich zuckte etwas direkt hinter ihm. Es war zu spät. Ehe er sich umdrehen konnte, hatte der Schatthen wieder seine ursprüngliche Form angenommen und den tödlichen Sprung vollführt. Ein grauenvoller, einem den Atem zuschnürender Schmerzensschrei erfüllte den Raum. Doch nur einen Moment. Dann war das groteske Geräusch verklungen. Der Schatthen lag auf dem Boden. Grauen-Eminenz blickte auf ihn herab und verdrehte die Augen. Als würde er so ungeschützt dastehen, wenn ein herumstreunender Schatthen in der Dunkelheit auf ihn lauerte. Die Bestie konnte von Glück reden, das er den Schutzschild auf ein niedriges Energieniveau eingestellt hatte. Dass es überhaupt Schatthenmeister gab, die ohne so etwas hantierten! Musste wohl an deren Unfähigkeit liegen. Grauen-Eminenz schüttelte verständnislos den Kopf, dann musste er sich aber doch wieder dem Schatthen zuwenden. Ganz offensichtlich brauchte dieses Exemplar eine Sonderbehandlung. Mit einer Handbewegung seiner Linken ließ er die Kreatur vor sich in der Luft schweben. Der Schatthen war gerade wieder aus seiner kurzen Besinnungslosigkeit erwacht und strampelte wild mit Armen und Beinen, ohne Erfolg. Dieses Mal streckte Grauen-Eminenz die Rechte aus und ließ eine unmenschliche Tortur über seine Bestie ergehen, die diese ihr gesamtes Dasein nicht mehr vergessen sollte. Wie ein nasser Lumpen klatschte der Schatthen auf dem Boden auf und zitterte kurz noch vor Pein. Grauen-Eminenz trat einen Schritt auf ihn zu, mit festem, herablassendem Blick. „Du wirst tun, was ich dir sage.“ Hasserfüllte, tückische Augen funkelten ihn an. Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf Grauen-Eminenz‘ Gesicht und eine erneute Welle an Schmerzhaftigkeit ergoss sich über den Leib des Schatthens. Er fragte sich kurzzeitig, ob man das wohl als Tierquälerei bezeichnen konnte. „Wie war das?“, erkundigte er sich. Ein aufmüpfiger Aufschrei zerfetzte ihm daraufhin fast das Trommelfell. Er stöhnte genervt und war gezwungen, die Prozedur wieder und wieder zu wiederholen und dem Schatthen auch noch den linken Arm auszureißen, bevor der Wille des Ungetüms endlich gebrochen war. Unterwürfig kniete sich der Schatthen vor ihm nieder. „Na endlich.“ Mit einer kurzen Handbewegung und etwas Energie brachte er den Arm wieder an. Anschließend ließ er noch einmal eine gewaltige Energiemenge um seinen Körper erscheinen, die den Schatthen in die nächste Ecke schleuderte. Grauen-Eminenz‘ gesamte Gestalt erstrahlte in einem gespenstischen Licht, das den Eindruck von grenzenloser Macht und Unbesiegbarkeit erweckte. „Vergiss nie, dass ich dich jederzeit vernichten kann!“, donnerte er mit einer verzerrten, durch Mark und Bein gehenden Stimme. Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schnipste er dann mit den Fingern und ließ noch eine letzte Energiewelle den Schatthen quälen. Anschließend brauchte er nur noch eine weitere Handbewegung auszuführen, um die Bestie in einer schwarzen Kugel in das Schatthengehege zu befördern. Also echt. Manchmal kam er sich wie eine Art Entertainer für die Schatthen vor. Unwillkürlich hatte er das Bild von sich in einem Dompteurskostüm in einem Zelt mit Zirkusmusik vor Augen, wo er mit einer Peitsche ausgestattet Schatthen durch brennende Reifen springen ließ. Er prustete und hielt sich die Faust vor den Mund. Vielleicht konnte er ja so Geld verdienen und sich damit selbstständig machen. Hauptsache, der Schatthenmeister-Verband würde sich darüber aufregen! Was tat man nicht alles, um andere Leute zu ärgern. Nun alleine im Raum, stieß er schließlich einen Seufzer aus und fragte sich, wie lange er die Arbeit mit diesen dämlichen Bestien noch würde machen müssen. Er lief auf die beleuchtete Wand zu und öffnete dort eine in die Wand eingearbeitete Tür. Mit dem Betreten des nächsten Raumes brannte die Zimmerbeleuchtung eilig auf, als empfinde sie Ehrfurcht oder auch nur Furcht vor ihm. Der herrliche Duft frischer Luft kam ihm entgegen. Obwohl es sich nicht wirklich um frische Luft handelte – diese gab es in seinem Reich leider nicht – kam es ihm so vor. Nach mehreren Stunden in der von Schatthengestank triefenden Atmosphäre des anderen Raums hätte er wohl auch die Dämpfe einer Kläranlage noch als befreiend empfunden. Durch ein Portal wechselte er in den nächsten Raum, hinaus aus seinem Schatthenreich. Durch die breite Fensterfront konnte er es bereits dämmern sehen. Demnach war es wohl doch später als er gedacht hatte. Erschöpft ließ er sich in den nächsten Sessel fallen. Die Spielereien, die notwendig waren, um die Schatthen zu beeindrucken, waren das für ihn Herausfordernste an dem ganzen Prozess. Dabei musste man stets darauf achten, dass man das Gegenüber nicht tötete, und das fiel ihm äußerst schwer. Wie konnte ein Mensch auch noch stolz sein, einem solchen Handwerk nachzugehen? Sich ewig in den eigenen Hass- und Rachsuchtsgedanken oder in seinem Neid zu suhlen, um damit Schatthen zu erzeugen, war ziemlich bemitleidenswert. Wieder seufzte er. Wie lange noch? Sein Gesicht verzog sich leicht, ein nicht körperlicher Schmerz lag darin. Vielleicht hätte er die ganze Sache anders anpacken sollen. Vielleicht hätte er seine Auserwählten mit Versprechungen locken, ihr Vertrauen gewinnen sollen. Irgendwas dergleichen. Aber dafür war es eh zu spät. Wozu stellte er überhaupt diese widerlichen Schatthen in seine Dienste? Achja, das war Teil der Vereinbarung gewesen. Wie er diese Organisation hasste! Unglückselig blickte er auf seine Hände hinab und fühlte eine unangenehme Melancholie in sich aufsteigen. Warum hatte nicht von Anfang an er selbst alles in die Hand genommen? Warum hatte nicht er diese verfluchten Steintafeln geholt?! Mit voller Wucht schlug seine Faust auf die Lehne. Seine Nerven zitterten vor Erregung und sein Atem ging in unnatürlichem Rhythmus, dann fuhr er sich mit beiden Händen über den Schädel. Unnötig! Unnötig, sich darüber Gedanken zu machen. Dafür war es zu spät! Viel zu spät. Er musste jetzt nach vorne blicken. Was hinderte ihn daran, den nächsten Angriff auf die Auserwählten persönlich durchzuführen? War es etwa Angst vor ihren Kräften? Diesen Kräften, die er, der sich selbst unzählige Fähigkeiten verschiedenster Art angeeignet hatte, nicht einordnen konnte? Würden sie ihn mit ebensolcher Leichtigkeit auslöschen wie die Schatthen? Er musste zunächst mehr über diese Kräfte erfahren. Irgendwie. Er erhob sich und fühlte einen dumpfen, bleischweren Druck in seinem Kopf. In diesem Zustand brachte er ohnehin nichts mehr zustande. Daher entschied er, seinem Körper endlich etwas Schlaf zu gönnen, und wusste dabei gleichzeitig, dass sein Geist nicht zur Ruhe kommen würde. Nicht solange sich der einzige Zweck all seiner Bemühungen nicht erfüllt hatte. Seine Hand tastete bei dem Gedanken nach seinem Herzen. Kapitel 53: Wer ist besser? --------------------------- Wer ist besser? „Um den andern wirklich zu treffen, muss man bei ihm das Schwarze suchen.“ (Gerhard Uhlenbruck) Sonntags trafen sich die Beschützer noch einmal kurz, beschränkten sich dabei allerdings auf das Herbeirufen ihrer ungefährlichen Kräfte, wobei deren Auswirkung auf die Schatthen den Begriff ‚ungefährlich‘ Lügen strafte. Change betonte einmal mehr, dass er nicht Versuchskaninchen spielen wolle und das auch letztes Mal schon ausdrücklich gesagt habe, woraufhin, wie gewöhnlich, ein Streit zwischen ihm und Destiny ausbrach, dem die anderen allmählich keine Beachtung mehr schenkten. Die folgende Woche verging wie im Flug, gerade so als fliehe die Zeit vor ihnen und wolle ihnen somit die Möglichkeit nehmen, sich für die nächste Attacke des Schatthenmeisters vorzubereiten. Sie hatten sich zwar vorgenommen, täglich zu trainieren, aber wie so oft konnten sie diesen guten Vorsatz nicht in dem Maße gerecht werden, wie sie es sich gewünscht hätten. In den nächsten Wochen waren einige Arbeiten anberaumt worden, vor allem die Hauptfachlehrer hatten es auf sie abgesehen, aber auch die Nebenfachlehrer mit ihren teils aufwändigen Hausaufgaben zeigten kein Erbarmen mit ihnen. Die fünfzig-minütige Mittagspause bis zum Sportunterricht am Montag konnten sie genauso wenig zu einem gemeinsamen Training nutzen, da Erik die gesamte Zeit mit ihnen verbrachte. Zumindest hatte er seit dem Vorfall auf Burg Rabenfels keine Fragen mehr bezüglich seiner Wunde oder seiner Ohnmacht gestellt, was ein wahrer Glücksfall war. Doch wie lange würde es dauern, bis er erneut auf die Thematik zu sprechen kam? Mittwochs hätten vier von ihnen zwar Zeit für ein gemeinsames Training gefunden, aber Vivien war verhindert, da sie an diesem Tag mit ihrer Familie unterwegs war. Und obwohl sie die anderen dazu ermunterte, ohne sie zu trainieren, waren diese sich darin einig, dass sie es dann doch lieber ausfallen ließen. Allerdings konnten sie diese Einstellung wohl auf Dauer nicht beibehalten. In Zukunft würde es vermutlich öfter der Fall sein, dass nicht jeder von ihnen zu dem vereinbarten Zeitpunkt dem Training beiwohnen konnte. Aber es war unumgänglich, dass sie ihre Fertigkeiten so oft wie möglich schulten. Des Öfteren fragten sie sich, ob sie die ganze Sache nicht zu locker angingen. Bisher waren sie nur durch Glück den Fängen des Schatthenmeisters entkommen. Wie konnten sie da im nächsten Moment über ihre Hausaufgaben jammern oder von einem freien Wochenende träumen? War das nicht allzu unvorsichtig und selbstbetrügerisch? Konnte das wirklich gut gehen? Aber was war die Alternative? Sollten sie ihr ganzes Leben dem Kampf gegen die Schatthen widmen? Ihre Eltern würden wohl einen Kollaps bekommen, wenn sie ihre Zeit nur noch miteinander verbrachten und mit immer schlechteren Noten nach Hause kamen oder gar die Idee äußerten, die Schule abzubrechen. Höchstwahrscheinlich würde ihnen daraufhin der Umgang miteinander verboten werden. Darüber hätten sie sich zwar hinwegsetzen können, nötigenfalls die Schule schwänzen, aber nach einer Weile wäre das natürlich auffallen. Und was wäre schlussendlich das Ergebnis? – Ständiger Stress zu Hause, ein naher Nervenzusammenbruch ihrer Eltern, möglicherweise die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung oder ein Schwererziehbarenheim. Auf jeden Fall eine verbaute Zukunft. Nur blieb der Einwand weiterhin bestehen: Besser eine verbaute Zukunft, in der man sich mit schlecht bezahlter Arbeit oder gleich Sozialhilfe über Wasser hielt, als überhaupt keine Zukunft, falls die Schatthen einen erwischten! Doch diese Gedanken machten sie nur unglücklich und brachten sie keinen Schritt voran. Die Unsicherheit machte sie verrückt. Ihre Angst schadete ihren Fähigkeiten nur zusätzlich. Und wie sollten sie ihre Kräfte in einem Kampf einsetzen können, wenn sie auf alles verzichteten, was ihnen Freude machte? Dies war Viviens Entgegnung gewesen, als die anderen ihre Bedenken geäußert hatten, und sie hatte dies mit solcher Fröhlichkeit und Entschlossenheit gesagt, dass sie damit den Bann, der die anderen gefangen gehalten hatte, brach. Sie würden ihr Leben leben, sie würden glücklich sein, ihre Träume verwirklichen und kein Schatthenmeister auf der Welt würde sie davon abbringen! Ja, Vivien war wie immer äußerst optimistisch, aber das war genau das, was die anderen gebraucht hatten. Schließlich war das Wochenende gekommen und die Beschützer nutzten den Freitag endlich für eine gemeinsame Übung im Heraufbeschwören ihrer Attacken. Sie gingen dazu wieder in ihr Geheimversteck, auch wenn es noch immer seltsam war, nicht sogleich von Ewigkeit begrüßt zu werden, und der Schmerz des Verlustes und der Schuld dann jedes Mal von Neuem aufflammte. Jeder von ihnen hatte seine Fähigkeit, Energiewellen freizusetzen, zu Hause in den wenigen freien Minuten trainiert, in denen er von niemandem gestört werden konnte. Das war zwar keine besonders große Zeitspanne gewesen, dennoch hatten sie das Gefühl, dass es ihnen mit jedem Mal leichter fiel, ihr Herz und damit den Schlüssel zu ihren Kräften zu finden. Aber würden sie diesen Weg auch so einfach beschreiten können, wenn sie den Schatthen ein weiteres Mal gegenüber standen? Wie sollten sie sich auf diese Situation vorbereiten? „Wir sollten mitten in der Fußgängerzone unsere Kräfte einsetzen!“, schlug Unite vor. „Bist du jetzt total übergeschnappt?“, fauchte Destiny. „Wir hätten doch alle Angst davor, oder nicht?“, meinte Unite locker. Die Mehrzahl der anderen zogen alles andere als begeisterte Gesichter. „Damit könnten wir doch probieren, ob wir unsere Kräfte auch in einer Stress-Situation herbeirufen können!“, freute sich Unite. „Wenn uns jemand sieht…“, brachte Desire vor. Unite kicherte. „Genau das mein ich mit Angst.“ Desire sah sie sorgenvoll an. „Wenn wir auf offener Straße mit Magie hantieren, dann – keine Ahnung, vielleicht werden dann Experimente mit uns gemacht oder wir werden eingesperrt.“ Unite lachte und winkte ab. „Ach was. Wir sind doch nur fünf Superhelden, die mit ihren Kräften angeben.“ „Du bist doch irre!“, schimpfte Destiny. „Ist doch gar keine schlechte Idee!“, meinte dagegen Change grinsend. „Klar, dass du das auch noch toll findest! Du bist ja genauso plemplem wie sie!“, keifte Destiny. Dieses Mal ging Change nicht auf ihren Kommentar ein. „Also ich finde, wir könnten das doch auch morgen bei Erik machen!“ Sein Grinsen wurde noch breiter. Von Destiny kam ein genervtes Stöhnen. Desire schüttelte belustigt den Kopf. „Change, du brauchst dich nicht ständig mit Erik messen.“ Change verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Mund verzog sich säuerlich und er stieß ein Grummeln aus. Er verstand Desires Worte ganz anders: ‚Ach Change, du wirst ihn nie besiegen, gib lieber gleich auf. Er ist einfach toll und du nicht, da kannst du machen, was du willst.‘ Beleidigt schnaubte er und sein Blick verriet seine Gedanken. Im nächsten Moment war Desire neben ihn getreten und legte ihren Arm freundschaftlich um ihn, ließ ihre Hand auf seiner Schulter ruhen. „Du hast es doch überhaupt nicht nötig, dich mit Erik zu vergleichen! Du bist so ein toller Typ! Und witzig. Und lieb. Nicht wahr?“ Ihr letzter Satz war an die anderen gerichtet. Unite nickte sogleich, Trust zeigte keine besondere Regung, als hielte er die Richtigkeit von Desires Aussagen für unbestreitbar, allerdings kam Destiny gar nicht erst auf die Idee, Desires Aufmunterungsversuche zu unterstützen – zumal die Intimität, die Desire Change gegenüber an den Tag legte, sie extrem reizte. Sie verdrehte genervt die Augen und erwiderte dann barsch: „Du wirst ihn nie besiegen. Er ist einfach toll und du nicht, da kannst du machen was du willst. Also gib endlich auf.“ Obwohl sie im Zielen sonst eher stümperhaft war, gelang es Destiny in solchen Situationen mit Leichtigkeit Changes wunden Punkt zu treffen, und das mit einer Genauigkeit, die ans Übermenschliche grenzte. Desire starrte Destiny fassungslos an, dann besah sie sich Changes Gesichtsausdruck, aus dem der Groll einen geradezu ansprang. In ihrer Not gab sie ein gekünsteltes Lachen von sich, für das sie sich vor allen anderen Menschen geschämt hätte. „Das hat sie natürlich nicht so gemeint!“, kicherte sie gestelzt. „Doch hab ich.“, sagte Destiny trocken. Trotz trat in Desires Blick. Sie nahm ihren Arm von Change und begab sich in Angriffsposition. „Was soll denn bitte an Erik so toll sein? Er ist eingebildet, großspurig, verschlossen und boshaft!“ „Und Vitali ist ein Großmaul, ein Angeber, ein Dummschwätzer und ein Trottel!“, konterte Destiny, ohne auch nur einen Moment durch den Umstand gebremst zu werden, dass dieser Junge direkt vor ihr stand. Möglicherweise sprach sie aber auch aus diesem Grund von Vitali und nicht von Change. Derweil verfinsterte sich dessen Mimik zusehends, doch ehe er selbst Destiny anschreien konnte, hatte schon Desire wieder Partei für ihn ergriffen. „So ein Unsinn! Das trifft doch viel eher auf Erik zu! Er ist unerträglich arrogant und nimmt sich einfach alles heraus! Es schert ihn überhaupt nicht, ob er andere in unangenehme Situationen bringt. Ja, er genießt das richtig!“ „Wenigstens spricht er nicht, ohne vorher nachzudenken, oder quatscht ständig dummes Zeug rein! Wenn Erik etwas sagt, dann meint er es so. Und seine Arroganz ist nur aufgesetzt. Er ist nämlich sehr mitfühlend! Im Gegensatz zu gewissen Personen versteht er nämlich die Gefühle von anderen!“ „Waaaaas?!“, schrie Change, wurde aber von Desire unterbrochen. „Im Gegensatz zu Erik ist Vitali nicht bei der kleinsten Kleinigkeit gleich beleidigt! Er ist sehr rücksichtsvoll, immer offen gegenüber jedem, ohne Vorurteile, und verzeiht dir die schlimmsten Dinge in Sekundenschnelle! So gütig und großherzig ist er! Außerdem ist er total mutig, hilfsbereit und lieb! Er ist der beste Freund, den man sich wünschen kann!“ Überwältigt und sichtlich berührt starrte Change Desire an. Das war das erste Mal, dass er aus dem Mund eines anderen so viel Positives über sich gehört hatte. Sonst war er der Einzige, dem es gelang, so viele nützliche Eigenschaften an sich zu finden. Wobei ihm bisher nicht annähernd so originelle Ideen wie ihr gekommen waren... Wie sehr er von ihrer unerwarteten Lobeshymne geschmeichelt war und sich freute, zeigte sich augenblicklich auf seinen Zügen. Angesichts dessen verengten sich Destinys Augen vor unbändiger Wut. „Bild dir nichts darauf ein, du Trottel! Sie sagt das doch nur, um Erik schlecht zu machen!“ „Wie bitte?“, stieß Desire aus. „Du sagst das alles nur um Vitali schlecht zu machen!“ Unites Lachen brach in das Streitgespräch ein. „Das ist zu komisch, wie ihr den Jungen beschimpft, der euch am liebsten ist!“ „WAS?!“, kreischte Destiny. Unite redete weiter: „Auf die ganzen Kleinigkeiten achtet man doch nur, wenn man mehr als Freundschaft von jemandem will.“ „So ein Schwachsinn!“, keifte Destiny. Desire antwortete weitaus weniger lautstark: „Das mag vielleicht auf Destiny zutreffen, aber ein normaler Mensch sieht wohl eher durch die rosarote Brille als dass er auf so kleinen Fehlern herumreitet.“ Destiny durchbohrte sie mit einem bitterbösen Blick. „Ein normaler Mensch?! Das Ganze trifft doch viel mehr auf dich zu als auf mich! Wer regt sich denn hier über Erik auf und betätschelt ihn, wenn er ohnmächtig ist!“ „Ich habe mir bloß Sorgen um ihn gemacht.“, antwortete Desire nüchtern und setzte zum nächsten Schlag an. Um Destiny nicht unnötig zu verletzen, aber ihr dennoch eine Lektion zu erteilen, bediente sie sich kurzerhand Unites üblicher Argumentationskette: „Du fängst doch immer wieder Streit mit Vitali an, weil du mit ihm reden willst, aber kein Gesprächsthema weißt. Du genießt das doch richtig.“ Destiny wurde noch lauter als zuvor, was keiner von ihnen für möglich gehalten hatte. „Von wegen! Ich will überhaupt nicht mit ihm reden! Kein bisschen! Dass das klar ist! Ich kann ihn gar nicht leiden!!!“ „Wenn das wirklich so wäre, dann würdest du ihn ignorieren und nicht ständig auf ihm herumhacken.“, entgegnete Desire kalt und musste kurz überlegen, wie Vivien die Behauptung, Serena und Vitali hätten Gefühle füreinander, üblicherweise begründete. „Das ist Kindergartenniveau, um jemandem zu sagen, dass man ihn gern hat.“ „Klappe! Absoluter Schwachsinn!“, kreischte Destiny. Überlegen sah Desire sie an. Sie hatte jetzt die bessere Position, da Destiny vor lauter Selbstverteidigung den Angriff vergessen hatte. Doch zur Sicherheit legte sie nochmals nach: „Du bist komplett ausgerastet als du gedacht hast, Vicki sei seine Freundin.“ Desire bemerkte, dass ihr dieser Zusammenhang vorher gar nicht in den Sinn gekommen war. „Das ist überhaupt nicht wahr!“ In Destinys Stimme war die Wut einer aufrichtigen Verzweiflung gewichen. Diese Auseinandersetzung war einfach nicht fair! Change konnte alles mithören, was gesprochen wurde, aber egal was sie Desire alles an den Kopf schleuderte, Erik würde niemals etwas davon erfahren! Für gewöhnlich unterbrach Unite solche Streitereien zwischen ihnen. Aber dieses Mal fand sie die Diskussion viel zu spannend und wartete vorfreudig darauf, wohin die Debatte noch führen würde. Wie lange würde Change wohl noch brauchen, um den Andeutungen folgen zu können und zu begreifen, dass Destiny in Wirklichkeit besondere Gefühle für ihn hegte? Sie grinste erwartungsvoll. Allerdings hatte sie nicht mit Trust gerechnet, der sich in solchen Momenten normalerweise im Hintergrund hielt. „Es reicht jetzt!“, befahl er bestimmt. Er war zu den streitenden Mädchen getreten. „Wie eine Person für eine andere fühlt, geht nur sie selbst etwas an. Darüber sollte man sich keine Scherze erlauben.“ Seine Tonlage und sein Blick duldeten keine Widerworte. Der Ernst in seinem Blick machte Desire ein schlechtes Gewissen und sie schämte sich, dass sie ihr Wissen um Destinys Empfindlichkeit, wenn es um die Andeutung ging, sie empfinde mehr für Change, strategisch eingesetzt hatte. Destiny war Trust für seine Einmischung sichtlich dankbar. Doch sie hatte sich zu früh gefreut. „Destiny.“, sagte Trust streng. „Du wirst dich bei Change entschuldigen.“ Destiny machte große Augen, aber Trusts Miene blieb unerbittlich. Unite machte innerlich Freudensprünge. Sie liebte es mitanzusehen, wie aus dem schüchternen Prinz plötzlich der energische Anführer wurde. Er war ja so niedlich! Sie verkniff sich ein verliebtes Kichern, denn das hätte die Atmosphäre ruiniert. „Nicht nötig.“, kam es plötzlich aus Changes Richtung. Destiny sah ihn ungläubig an und bekam von Desire einen vielsagenden Blick zugeworfen. Destiny konnte sie regelrecht denken hören: ‚Siehst du was ich gemeint habe? Er verzeiht dir ständig, ohne dass du das auch nur bemerkst!‘ Dabei war Telepathie doch Trusts Sache. Verdammt. Changes Gutmütigkeit beschämte sie. Unvermittelt fuhr er fort. „Wenn ich darauf warten müsste, dass Destiny sich entschuldigt, würde ich noch in hundert Jahren hier rumstehen.“ Ein Grinsen erschien auf seinen Lippen und er machte eine ausladende Gestik mit seinen Armen. „Sie ist nun mal gehässig, streitsüchtig und viel zu engstirnig, um einen Fehler einzugestehen.“ Ha! Das war seine Rache für ihre Beleidigungen von zuvor! Sofort war Destinys positives Bild von ihm wieder zunichte gemacht. „Was hast du gesagt?!“, stieß sie erzürnt aus. „Was er denken muss, wenn du dich so aufführst.“ Trusts harte Worte durchbohrten sie wie ein Messer. Es schmerzte. Trust setzte fort: „Du kannst nicht einfach davon ausgehen, dass jeder so nachsichtig mit dir ist und kommentarlos über deine groben Worte hinwegsieht.“ Seine Stimme wurde wieder sanft und versöhnlich. Es lag nichts Verletzendes mehr darin. „Es ist zwar schön und gut, sich Rücksichtnahme von anderen zu wünschen, aber dann muss man genauso darauf achten, was man selbst sagt.“ Destiny zog den Kopf ein. „Ich wollte ihn nicht beleidigen.“, sagte sie kleinlaut. Desire konnte sich nur schwer einen Kommentar verkneifen. Und ob sie Change beleidigen gewollt hatte! Sie hatte zwar nicht vorgehabt, ihn zu verletzen, aber die böse Absicht war da gewesen. Zu ihrer Überraschung sprach Change ihren Gedanken aus. „Doch wolltest du. Du willst mich ständig beleidigen, bei jeder noch so kleinen Gelegenheit! Aber wenn ich was sage, tickst du gleich aus.“ „Das ist gar nicht wahr!“, maulte Destiny. „Was? Dass du mich ständig beleidigst oder dass du gleich austickst?“, wollte Change wissen. „Beides!“ Changes Mund verzog sich. „Erst machst du ne Andeutung, dass du zu zickig zu mir bist, und dann führst du dich grad wieder genauso auf.“ Destinys Mimik änderte sich in Notwehr. „Du hast doch gesagt, dass es dir nichts ausmacht!“ Desire mischte sich mit Unglauben in der Stimme ein: „Glaubst du allen Ernstes, er würde dir sagen, dass du ihn damit verletzt?“ Die Worte machten Destiny für einen Moment mundtot. Peinlich berührt sah Change zu Boden. „Es verletzt mich nicht.“, murmelte er und fuhr dann in Normallautstärke fort. „Es ist bloß nervig. Und ich finde, sie sollte dann auch selbst nicht gleich beleidigt sein. Das ist alles.“ „Oooh.“, machte Unite, als habe sie ein kleines Tierbaby vor sich. Dann drehte sie sich zu Destiny. „Ist das nicht süß, wie er dir jetzt sein Herz ausgeschüttet hat!“ „Ich hab nicht mein Herz ausgeschüttet!“, stieß Change aus. Unite hörte nicht darauf, huschte zu Destiny und legte ihr die Hand auf den Oberarm, als wäre sie eine Kummertante. „Er will doch bloß nicht, dass du immer gleich wütend auf ihn bist. Dass du ihn immer anzickst, macht ihm gar nichts aus.“, redete sie auf Destiny ein. „So hab ich das nicht gemeint!“, schimpfte Change. Unite nahm die Hand von Destiny und sah die beiden feierlich an. „Ich bin der Überzeugung, mit etwas Arbeit kann eure Beziehung noch gerettet werden!“ „Welche Beziehung?!“, schrien Destiny und Change. Unite zog ein unschuldiges Gesicht. „Ja seid ihr nun Freunde oder nicht?“ Destinys und Changes Blicke schnellten zueinander, ohne dass einer von ihnen auf Unites Frage geantwortet hätte. Jeder schien die Aussage des jeweils anderen abzuwarten. Change wollte sich ganz sicher nicht vor den anderen blamieren, indem er sich selbst als Destinys Freund betitelte und sie dies daraufhin mit einem gehässigen Kommentar in Abrede stellte. Und Destiny hätte es niemals gewagt, sich einfach so zu der Freundin von irgendwem aufzuschwingen. Aber den Grund dafür konnten die anderen ja nicht wissen. „Natürlich sind sie Freunde.“, rettete schließlich Trust mit fester Stimme die Situation. Schüchtern senkte er dann den Blick und fügte sachte hinzu: „So wie wir alle.“ Seine Worte ließen ein warmes Lächeln auf Desires Züge treten. „Da hast du Recht.“ Anschließend streckte sie ihre Rechte in die Mitte von ihnen. „Alle für einen.“ Die Geste erinnerte an den Moment im Schatthenreich, bevor sie sich auf den Weg zum Labyrinth gemacht hatten. Die anderen kamen heran, um jeweils eine ihrer Hände zu Desire zu gesellen. Auch Destiny zögerte nicht halb so lange wie damals. Allerdings ließ sie Unite den Spruch der drei Musketiere vollenden. „Und einer für alle!“ Unite strahlte die anderen an, dann zog sie ihre Hand zurück, winkelte ihren Arm an und ballte ihre Hand zur Faust. „Balaaaaaance“ Die anderen verstanden und ließen auf Kommando ihre Arme in die Höhe schnellen. „Defenders!“ Die Idee des Kräfteeinsatzes in der Fußgängerzone wurde bis auf Weiteres auf Eis gelegt, wobei Unite darauf bestand, dass es dann zumindest Erdbeereis sein müsse. Den Einwand, es handle sich dabei nur um eine Redewendung, ließ sie nicht gelten. Kapitel 54: Lernen ------------------ Lernen „Einander kennenlernen, heißt lernen, wie fremd man einander ist.“ (Christian Morgenstern, dt. Schriftsteller) Samstags war das Lernen bei Erik anberaumt. Der längste Tisch, den Erik in seinem Zimmer gefunden hatte, war ein ziemlich niedriges Exemplar, das er für gewöhnlich nur als Ablage nutzte und an der Wand stehen hatte. Nun hatte er ihn in die Mitte des Raums gestellt und einige Kissen darum verteilt, die als Sitzgelegenheit dienen sollten. Stühle wären für den niedrigen Tisch zu hoch gewesen. „Du … Das wäre nicht nötig gewesen.“, sagte Justin beschämt, als er und die anderen die Umgestaltung von Eriks Zimmer sahen. Irgendwie waren sie naiverweise davon ausgegangen gewesen, dass sie im Esszimmer des Hauses lernen würden, nicht in Eriks Zimmer. Erik antwortete erst gar nicht darauf und machte auch nicht den Eindruck, als interessiere ihn, was Justin dachte. „Hey! Du hast was zu trinken und Knabberzeugs vergessen!“, bemängelte indes Vitali in gespielter Empörung. Plötzlich gab Erik einen ungewohnten Laut von sich und wirkte mit einem Mal durcheinander. „Einen Augenblick.“ Im nächsten Moment war er aus dem Zimmer gestürmt. Die fünf sahen ihm ungläubig nach. War das wirklich Erik? Sie hatten noch nie erlebt, dass er einen Spruch, und schon gar keinen von Vitali, so ernst genommen hätte. Ariane war der festen Überzeugung gewesen, er würde mit einer coolen Entgegnung aufwarten. Dieses Benehmen schien so gar nicht zu ihm zu passen. Bei dem Gedanken sank Ariane in sich zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte sie tatsächlich ein vorgefasstes Bild von ihm? Das musste sie schnellstens abstellen! Justin machte einen Gesichtsausdruck, als wäre ihm die ganze Situation äußerst unangenehm. „Vielleicht hätten wir nicht … Er hatte so viel Arbeit wegen uns.“ Vitali machte eine ausschweifende Armbewegung. „Ahwa! Der freut sich, dass wir da sind.“ Justin war anzusehen, dass er nicht im Geringsten verstand, worauf Vitali diese Behauptung stützte. Serena verschränkte die Arme vor der Brust. „Wieso sollte sich jemand über dich freuen?“ „Das kann man nicht erklären, das muss man erlebt haben.“, grinste Vitali. Vivien lachte und Serena verzog das Gesicht. Dann hörten sie das Klirren von aneinander stoßenden Gläsern und einen Fluch. Sofort eilten sie Erik entgegen, der mit einem überfüllten Tablett in der Hand die ehrfurchtgebietende Treppe hinauf schritt. Schnellstens nahmen Justin und Vivien ihm ein paar Gläser und Flaschen ab und brachten sie ins Zimmer. Vitali dagegen entschied sich, Erik bloß um Chips und Salzstangen zu erleichtern, die ihm im nächsten Moment von Serena aus der Hand genommen wurden. „Mit vollem Magen kann man nicht lernen.“, belehrte sie ihn. „Und du meinst, das macht bei mir einen Unterschied?“, meinte Vitali locker. Währenddessen wollte Ariane Erik das Tablett aus der Hand nehmen, was dieser allerdings nicht zuließ. Dass er ihre Hilfe nicht annehmen wollte, ärgerte sie. „Du bräuchtest dir wirklich nicht so viel Mühe geben. Wir hätten auch in der Schule lernen können. Und dort wären wir auch nicht bewirtet worden.“ „Und aus diesem Grund seid ihr ja hier und nicht in der Schule, nicht wahr?“, entgegnete er mit überheblicher Miene. Empörung kam in Ariane auf. „Wenn du meinst, dass wir dich nur ausnutzen wollen, dann gehen wir besser gleich wieder.“ Erik blieb gelassen. Im nächsten Augenblick hatte er einen Schritt zur Seite gemacht, um an ihr vorbei zu gelangen, hielt dann aber nochmals in der Bewegung inne. Unversehens beugte er sich zu ihr hinüber und flüsterte ihr in düsterem Tonfall etwas ins Ohr. „Vielleicht bin ich es ja, der die Situation ausnutzen will.“ Perplex drehte Ariane sich zu ihm und erkannte das gefährliche Glitzern in seinen Augen, begleitet von einem Lächeln, das sie nicht einzuordnen vermochte. Dann war Erik auch schon an ihr vorbeigeschritten, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Ein Gedankensturm tobte in ihrem Kopf. Was hatte er vor?! Wollte er sie erneut über seine Wunde ausfragen und die Ereignisse auf der Burg? Würde er dieses Mal nicht locker lassen, ehe er die Wahrheit erfuhr? Oder konnte er sich vielleicht sogar erinnern? Oder waren sie vielleicht in eine Falle getappt und Erik wurde vom Schatthenmeister kontrolliert?! Sie musste die anderen warnen! Aber wie?! „Buh!“ Vor Schreck wäre sie fast von der Treppe gestürzt. „Vivien!“, rief sie wütend, als sie diese kichernd hinter sich entdeckte. Vivien streckte keck die Zunge raus. „Alles okay?“, drang Eriks Stimme zu ihnen. Dass ausgerechnet er sich nach ihnen erkundigte, fand Ariane abermals seltsam und konnte nicht umhin, sich dafür zu rügen. „Jaja!“, rief Vivien ihm zu. Als Erik sich wieder ins Zimmer begeben hatte, wandte sich Ariane eilig an Vivien. „Vivien, Vivien!“, stieß sie im hektischen Flüsterton aus. „Erik hat irgendetwas vor. Vielleicht sollten wir gehen!“ Mit hochgezogenen Augenbrauen und verdutztem Blick sah Vivien sie an. „Wie kommst du darauf?“ „Er hat mir gegenüber so eine Andeutung gemacht.“, flüsterte Ariane. „Was machen wir bloß?“ „Was hat er denn gesagt?“, hakte Vivien nochmals nach. Mit ehrlicher Sorge in den Augen schilderte Ariane, was geschehen war. „Im Vorbeigehen hat er mir ins Ohr geflüstert, dass er die Situation ausnutzen will. Und er hatte dabei diesen Blick!“ Angesichts Arianes verzweifelter Mimik und dem Ernst, mit dem sie diese Angelegenheit sah, hatte Vivien mit einem breiten Grinsen zu kämpfen und dem Lachen, das aus ihr hervorbrechen wollte. Dass Ariane, die mit ihrem Aussehen doch an alle Arten der Anmache gewöhnt sein musste, nicht einmal auf die Idee kam, wie Erik diesen Spruch gemeint hatte! Das war einfach zum Brüllen komisch! Ariane schien ihre Reaktion nicht zu verstehen und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Ganz Schauspielerin hatte Vivien sich schnell wieder gefangen. Auch wenn ihre Gesichtsmuskeln auf eine harte Probe gestellt wurden. Wieder mit ernster Miene legte Vivien bedeutungsvoll die Hand auf Arianes Schulter. „Ich kümmere mich drum.“ Hoffnungsvoll sah Ariane sie an, als wäre sie ihre Rettung, und machte Vivien damit die Maskerade umso schwerer. Eilig drehte Vivien sich um, eilte die Treppe hinauf und konnte ihr Grinsen nicht länger unterdrücken. Alsbald saßen die sechs gemeinsam um den Tisch und hatten ihre Wirtschaftsunterlagen vor sich ausgebreitet. Als Ariane und Vivien in den Raum gekommen waren, hatten sie nur noch zwei Sitzmöglichkeiten gehabt. Und da Ariane um nichts in der Welt neben Erik sitzen gewollt hatte, hatte sie den Platz am Tischende eingenommen. Auf der anderen Seite saß ihr Vitali gegenüber, mit dem Rücken zur Zimmertür. Links von ihr saßen Serena und Justin. Taktischerweise hatte sich Justin zwischen den beiden Streithähnen platziert. An Arianes rechter Seite waren nun Vivien und Erik. Mit größter Mühe unterließ Ariane jeglichen Blickkontakt mit ihm. „Wollen wir als erstes durchgehen, was alles drankommt?“, schlug Justin vor. „Halt!“, warf Vivien ein. „Wir sollten uns als erstes richtig einstimmen für das Lernen mit einer kleinen Meditation!“ Mit diesem Vorschlag erntete sie sarkastische, ungläubige und verwirrte Blicke. „Nun kommt schon!“, rief Vivien sie auf. „Wir nehmen uns jetzt alle an den Händen und konzentrieren uns für eine Minute!“ Die anderen schwiegen. Erst Erik durchbrach die Stille – mit einem Stöhnen. Er zögerte einen Moment, ließ den Blick über Vivien schweifen, die ihn freudig anlächelte, und wandte sich wieder ab. „Schaden kann’s ja nicht.“ „Das meinst du!“, rief Vitali und warf einen bedeutungsvollen Blick zu Serena, woraufhin diese ihn aufgebracht anfunkelte. Erik wollte Vivien gerade seine Hand reichen, als diese nochmals unterbrach. „Erik, tauschen wir die Plätze!“ Ariane wollte protestieren, während Erik Vivien irritiert ansah. „Weißt du, ich muss rechts von dir sitzen, damit mein Qi richtig fließen kann. Das ist so eine Feng Shui Sache.“, erklärte sie überzeugt. „Ah ja.“, sagte Erik gedehnt und mit Misstrauen in der Stimme, machte aber nicht den Anschein, aufstehen zu wollen, ehe er nicht eine bessere Erklärung bekam. Vivien ließ eine weitere Sekunde verstreichen. „Ich will gegenüber Justin sitzen!“ Justin horchte bei ihren Worten auf und sah sie mit errötenden Wangen an. Vivien war es ein wenig unangenehm, ihn als Vorwand zu benutzen, aber es war ihr nichts Glaubhafteres eingefallen. Es wunderte sie ohnehin, dass Erik nicht sofort dankend angenommen hatte, schließlich konnte er jetzt neben Ariane sitzen! Also wirklich! Diese beiden unbeholfenen Stümper! Dieses Mal hatte Erik keine weiteren Einwände und tauschte mit Vivien bereitwillig die Plätze. Daraufhin kam Vivien auf die Meditation zurück, auch wenn Arianes Gesichtsausdruck ihr zu verstehen gab, wie viel sie von der Idee hielt, mit Erik Händchenhalten zu müssen. Aber Vivien bestand natürlich trotzdem darauf. Entgegen der allgemeinen Annahme hatte Vivien diese Situation schon lange im Voraus geplant, und auch der Platzwechsel mit Erik war ursprünglich nicht dazu gedacht gewesen, ihn neben Ariane zu platzieren. Das war nur ein positiver Nebeneffekt. Für ihre wahre Absicht war es nötig, rechts von Erik zu sitzen, wenn sie nicht das Risiko eingehen wollte, dass die unsichtbare Wunde an seinem linken Oberarm ihr Vorhaben behinderte. Als sie alle Hand in Hand dasaßen und die Augen geschlossen hatten, konzentrierte sich Vivien. Sie fühlte Eriks Hand an ihrer Linken, ließ ihre Aufmerksamkeit dorthin wandern und ihre Energien sich dort bündeln. Zunächst spürte sie nur das Pochen von Eriks Blut, doch um seine Empfindungen und, noch wichtiger, seine versteckten Fähigkeiten zu finden, musste Vivien ihre Kräfte tiefer gehen lassen. Sie stellte fest, dass ihr das Erspüren bei Justin sehr viel schneller gelungen war als bei ihm. Sie musste sich beeilen. Nicht nur weil die anderen, allen voran Vitali, die Meditation nicht lange durchziehen würden, sondern auch weil sie sonst Gefahr lief, von Erik entdeckt zu werden. Dass er ein wenig davon spüren würde, was sie da tat, war wohl unumgänglich, aber wenn sie schnell genug war und das Gefühl sofort wieder von ihm abließ, würde er vielleicht nicht weiter darüber nachdenken. Endlich hatte Vivien den Zugang zu Eriks Innenleben gefunden und wollte gerade mit ihren Nachforschungen beginnen, als ein gewaltiger Schlag durch sie hindurch ging. Reflexartig riss sie ihre Hand zurück und gab einen leisen Aufschrei von sich. Sofort rissen die anderen wieder ihre Augen auf. Besonders Erik musterte sie fragend. „Du hast mir eine gewischt.“, sagte Vivien unschuldig lächelnd. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Das passiert beim ersten Hautkontakt, nicht in der Folge.“ „Ich hab eben eine lange Reaktionszeit.“, scherzte sie unbekümmert. Eriks Skepsis sprang ihr ins Gesicht. „Wir sollten jetzt wirklich anfangen!“, mischte sich Justin ein, der Viviens Verhalten als einziger sofort mit ihrer Fähigkeit in Verbindung brachte. Vivien lächelte ihm zu. „Gute Idee.“ Erik stieß die Luft aus und ließ die Sache auf sich beruhen. Während sie die Punkte durchsprachen, die sie für die Arbeit beherrschen mussten, war Vivien mit ihren Gedanken beschäftigt. Dass ein elektrischer Schlag etwas mit Eriks Kräften zu tun hatte, klang einleuchtend. Aber es war ihr mehr wie ein Schutzmechanismus vorgekommen. Weil sie unerlaubt in seine Gefühlswelt hatte eindringen wollen? Das war ihr bei den anderen noch nie passiert, obwohl sie Serena und Vitali auch nicht um Erlaubnis gefragt hatte. Hatte es doch mit der rätselhaften Wunde zu tun? Hing es mit der Gehirnwäsche zusammen, der Secret im Schatthenreich unterzogen worden war? Oder handelte es sich nicht doch viel mehr um etwas, das in Erik selbst begründet lag? Letzteres fühlte sich irgendwie ‚richtig‘ an. Justin warf Vivien einen kurzen fragenden Blick zu, um zu erfahren, was geschehen war. Vivien gab ihm mit einer Bewegung ihrer Augen zu verstehen, dass Erik jedes verdächtige Verhalten registrierte und das seinen Argwohn nur noch verstärken würde. Justin verstand und lauschte wieder den Erläuterungen von Ariane und Serena, die gerade bei dem letzten Punkt angelangt waren. „Hey, wir hätten dieses Zusammen-Lernen früher machen sollen!“, rief Vitali. „Jetzt hab ich ja nur noch einen Tage Zeit, um den ganzen Mist in meinen Kopf zu kriegen!“ Bestürzt blickte Ariane ihn an. „Vitali, zusammen lernen heißt, dass jeder zuerst für sich zuhause lernt und man dann gemeinsam die Probleme durchspricht.“ Vitalis Gesichtszüge entgleisten. „Und warum hat mir das niemand vorher gesagt?! Ich dachte, wir machen das jetzt alles zusammen!“ „Weil es klar war!“, keifte Serena. „Für mich war das nicht klar!“, beharrte Vitali. „Als hättest du mehr als einen Tag gelernt.“, gab Serena zurück. „Manche Menschen haben eben auch noch ein Leben neben der Schule!“, konterte Vitali. „Oh ja. Videospiele!“, erwiderte Serena spöttisch. „Sagt die, die Mangas liest!“, schimpfte Vitali. Ariane unterbrach die beiden. „Wenn ihr weniger Zeit mit Streiten und mehr mit Lernen verbringen würdet, dann könnte das noch was werden.“ Sie entschieden sich, zeitgleich dieselben Übungsaufgaben durchzuarbeiten und bei Problemen einander zu helfen. Nach einer halben Stunde kam selbst Ariane bei einer Frage nach der Auswirkung auf das Eigenkapital-Konto ins Wanken. Sie wandte sich an Serena, doch diese war noch nicht bei der Aufgabenstellung angelangt. „Wo ist das Problem?“, erkundigte sich Erik leise. Ariane erschrak für einen Moment. Sie hatte doch nur kurz zu Serena hinübergesehen, ihren Kopf nicht einmal merklich in ihre Richtung gedreht. Wie konnte Erik das bemerkt haben? Beobachtete er sie? Oder war das wieder sein sechster Sinn? Und wenn ja, was konnte er damit noch ungefragt über sie erfahren? Ohne auf seine Frage zu antworten, wandte sie sich schnellstens ab. Eine Falte bildete sich zwischen Eriks Augenbrauen. Was sollte das? Wieso behandelte diese Person ihn wie einen Aussätzigen? Schon die ganze Zeit schaute sie ihn nicht an und sprach kein Wort mit ihm. Es reichte! Erik erhob sich. „Wir holen noch Getränke. Ariane?“ Ariane starrte ihn fassungslos an. Sein Blick war unmissverständlich. „Das schaffst du doch alleine.“, sagte sie ausweichend. Einer von Eriks stechendsten Blicken durchbohrte sie, sodass sie innerlich zusammenzuckte. Einige Sekunden lang waren Eriks Augen auf sie gerichtet, als wolle er sie allein durch Willenskraft dazu zwingen, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Dennoch oder vielmehr deswegen rührte Ariane sich nicht von der Stelle. Schließlich lief Erik wortlos um sie herum, an den anderen vorbei. Ohne sich nochmals umzublicken, verließ er den Raum. Einen Moment rang Ariane mit sich. Was war schlimmer? Ihn so zu verärgern oder mit ihm alleine zu sein? Beides war gleich schlimm! Im gleichen Atemzug sprang sie von ihrem Platz auf und lief Erik hinterher. Sie öffnete die Tür und hatte eine leere Treppe vor sich. Wo war er? Irritiert schloss sie die Tür in ihrem Rücken, ohne den Blick von der Treppe zu nehmen. „Du hast dir Zeit gelassen.“ Kurz schrak Ariane zusammen. Hinter der Zimmertür war Erik sichtbar geworden, der dort an der Wand lehnte. Augenblicklich glitt er weg von seinem Platz und schritt auf die Treppe zu, drehte sich dann aber nochmals zu ihr um. „Kommst du?“ Wortlos folgte sie ihm in nötigem Sicherheitsabstand. Als sie am Ende der Treppe angelangt waren und weitere Schritte in eine Richtung gemacht hatten, die sie nicht zuordnen konnte, sah Erik sie ernst an. „Was soll das?“ Ariane antwortete nicht, schon allein weil sie keine Ahnung hatte, wovon er sprach. „Wenn das eine neue Taktik von dir ist, dann hab ich’s jetzt verstanden.“ Sie wusste immer noch nicht, was er wollte. Gereizt stieß Erik die Luft aus. „Wenn es dich glücklich macht: Du hast gewonnen! Zwei zu eins. Bist du jetzt zufrieden?“ Arianes Unverständnis nahm kein Ende, und mit ihr auch nicht Eriks Erregung. „Ich finde es jetzt nicht mehr witzig, okay? Könntest du endlich aufhören, mich anzuschweigen! Das macht mich wahnsinnig!“ Wortlos stand Ariane da. „Na fein!“, zischte Erik und ließ Ariane stehen. „Warte!“, rief sie im gleichen Moment, woraufhin Erik sich zu ihr umdrehte und sie erwartungsvoll ansah. Es brauchte einen Augenblick, ehe Ariane die ganze Situation begriffen hatte. Vielleicht hatte sie Eriks Aussage vollkommen falsch interpretiert. Ja! Er hatte damit nur auf ihr Spielchen hinausgewollt! Das war es! Dafür wollte er die Situation ausnutzen! Ein unwillkürliches freudiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Er hatte also nichts Bösartiges vor! Zumindest nichts Bösartigeres als sonst… „Gefällt es dir so sehr, wenn ich eine Niederlage eingestehe?“, fragte Erik angesichts ihres Strahlens. Nun erst bemerkte Ariane die Regung ihrer Gesichtsmuskeln. Schnell brachte sie diese wieder unter ihre Kontrolle und hatte im gleichen Moment ihre Selbstsicherheit gegenüber Erik wiedererlangt. „Das sind die wenigen Momente, in denen du nicht so herablassend tust.“, antwortete sie keck und grinste. Erik warf ihr einen strafenden Blick zu. Die Erleichterung darüber, dass keine Gefahr von ihm ausging, motivierte sie. Spielerisch machte sie ein paar Schritte auf ihn zu. „Aber dass es dich stört, wenn ich dich anschweige, überrascht mich doch ein wenig.“ „Ich kann es nicht leiden, ignoriert zu werden.“, sagte er knapp. „Und letztens hast du noch so getan, als sei es dir lieber, wenn alle Mädchen dich ignorieren würden.“, hielt sie ihm schmunzelnd vor. „Es kommt drauf an.“ „Auf was? Das Mädchen?“, scherzte sie vergnügt. In einer Mischung aus Gereiztheit und Arroganz antwortete Erik: „Auf die Person“ und wartete ihre Reaktion ab. Ariane beugte sich verschwörerisch und ein wenig spöttisch zu ihm vor. „Das solltest du ihr vielleicht sagen.“ Erik tat es ihr gleich und näherte sich ihrem Gesicht. „Vielleicht weiß sie es schon.“ Ariane zog sich zurück. „Dann ist sie wohl nicht interessiert.“ Eriks Gesichtszüge blieben kalt. „Vielleicht spielt sie nur gerne.“ „Ich dachte nicht, dass du jemand bist, der mit sich spielen lässt.“, neckte sie ihn. „Kommt auf das Spiel an.“ Der Wunsch ihn aus der Reserve zu locken, stachelte sie dazu an, ihn weiter zu provozieren. „Keine Angst zu verlieren?“ „Ich verliere nicht.“, verkündete er überzeugt. „Wer nicht verlieren will, sollte nicht anfangen zu spielen.“, warnte sie. „Wer glaubt zu verlieren, fängt nicht an zu spielen.“, konterte Erik und zeigte nun den Ansatz eines Lächelns. Ariane wich angesichts dessen ein wenig zurück. „Glücksspiel kann süchtig machen.“ Die Erheiterung war seiner Stimme nun anzuhören. „Sprichst du aus Erfahrung?“ Nun machte sie einen klaren Schritt von ihm weg. „Ich halte mich von so etwas fern.“ Erik antwortete mit überlegenem Lächeln. „Also hast du Angst zu verlieren.“ „Ganz sicher nicht!“, brauste sie auf. Im gleichen Moment hatte er einen entschiedenen Schritt auf sie zu gemacht. Seine Stimme offenbarte eine bedrohliche Tiefe. „Worauf wartest du dann noch?“ Sein durchdringender Blick und seine abrupte Nähe brachten sie zum Stocken. Wie aus einem Schutzreflex heraus zog sie die Schultern an. Ein breites, belustigtes Grinsen nahm Eriks Züge ein. „Haha.“, knurrte sie und wich zur Seite aus. „Zwei zu zwei.“ Er nahm wieder den nötigen Mindestabstand zu ihr ein. „Lass mal. Den schenk ich dir.“, meinte er gönnerhaft. Anschließend wollte er wieder zur Treppe zurücklaufen. „Wolltest du nicht Getränke holen?“, wandte Ariane verwundert ein. „Wenn du meinst.“, entgegnete er und lief an ihr vorbei in Richtung Küche. „Was soll das heißen: ‚Wenn du meinst‘?“, verlangte Ariane zu wissen und eilte ihm hinterher. „Das war nur ein Vorwand, um mit dir allein zu sein.“, klärte Erik sie ungeniert auf. Darauf konnte Ariane nichts erwidern. Für Momente sprachlos folgte sie ihm. Sie betraten eine unnormal große Küche, die Ariane an die Kochstudios aus dem Fernsehen erinnerte und deren Sauberkeit sie zu dem Schluss brachte, dass dies werktags der Drehort für Putzmittelwerbung sein musste. „Ist deine Mutter Spitzenköchin?“, fragte sie verblüfft. Sein Mund formte das spöttisch arrogante Lächeln, das Ariane immer wieder aufs Neue verärgerte. Ihre Gefühlsregung war ihr wohl deutlich anzusehen, denn Eriks Lächeln wurde zu einem amüsierten Grinsen. „Als Geschäftsführerin steht Kochen nicht grade auf ihrer Prioritäten-Liste. Wir haben eine Haushälterin, die das übernimmt. Am Wochenende wird außerhalb gegessen oder etwas bestellt.“ Ariane sah ihn mit großen Augen an und kam sich vor, als sei sie in einer völlig fremden Welt gelandet. Erik gefiel ihr Blick wohl nicht, denn er wandte sich ab und holte Getränke aus dem Kühlschrank. Sein Schweigen war unangenehm. „Wo sind eigentlich deine Eltern?“ „Meine Mutter ist beim Sport, mein Vater ist sonstwo, wahrscheinlich in der Kanzlei oder auf irgendeiner Veranstaltung. Interessiert mich nicht wirklich.“ „Verbringt ihr das Wochenende nicht zusammen?“, fragte sie bekümmert. Als Antwort stieß Erik Luft durch die Zähne aus. Ein spöttisches Geräusch. Kleinlaut sprach Ariane weiter. „Aber fühlst du dich in diesem riesigen Haus dann nicht einsam?“ Eriks Blick streifte sie einen Moment. „Man kann auch unter Menschen einsam sein.“ Die Worte hinterließen in Ariane einen unangenehmen Nachgeschmack. Kapitel 55: Donner ------------------ Donner „Das Ziel der Erziehung ist, ein Individuum mit der Menge an Neurosen zu beladen, die es gerade ertragen kann, ohne zusammenzubrechen“. (Wystan Hugh Auden, englischer Schriftsteller, 20. Jhr.) Noch einige Zeit verbrachten die sechs mit ihren Aufgaben, ehe sie sich für eine Lernpause entschieden. Nachdem Ariane nicht länger gefährliche Hintergedanken bei Erik vermutete, war die Stimmung deutlich gelassener und sie lachten wieder miteinander. Doch mit einem Mal brachte ein Geräusch Erik zum Verstummen. Während die anderen noch herumalberten, horchte er auf etwas. Nur Ariane bemerkte seine jähe Befangenheit. Dann hörte auch sie die Schritte auf der Treppe. Als Vivien und Vitali einmal mehr so laut loslachten, dass es im ganzen Haus zu hören sein musste, wurde die Tür zu Eriks Zimmer aufgerissen. Sofortige Stille kehrte ein, als sie mit großen Augen auf die Person starrten, die im Türrahmen stand. Ein stattlicher Mann in einem teuren Anzug stand vor ihnen. Er trug noch seinen langen, schwarzen Mantel und hielt eine lederne Aktentasche in der Rechten, was darauf schließen ließ, dass er nicht an der Garderobe Halt gemacht hatte, sondern sofort hinauf gelaufen war. Sein angegrautes dunkles Haar war ordentlich nach hinten gekämmt, an seiner violetten Krawatte war in der Höhe des Herzens ein goldener Krawattenschieber befestigt, dessen einzige Zierde ein einzelner Brillant war. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war unbestreitbar, obgleich sich dies nicht durch das Äußere begründen ließ. Herrn Donners Gesichtszüge waren hart und unerbittlich, sie besaßen nicht die Eleganz und Perfektion, die für Eriks Erscheinungsbild charakteristisch waren. Doch der erbarmungslose Blick, der einen in eiserne Mangel nahm, ließ Secrets Bild in ihren Köpfen erscheinen. Die stahlgrauen Augen von Eriks Vater schweiften abschätzig über sie, ohne sie wirklich als Individuen zu erkennen, und fixierten dann Erik. Herrn Donners Ausdruck wurde noch ein klein wenig grimmiger und schüchterte die fünf noch mehr ein als es seine bloße Erscheinung ohnehin schon getan hatte. Es war nur ein Wort, das die tiefe, grollende Stimme Herrn Donners aussprach, und dennoch ging sie den fünfen durch Mark und Bein. „Erik.“ Arianes Blick schnellte zu dem Jungen neben ihr. Eriks Augen waren abweisend, geradezu feindselig. Als würde er nicht von seinem Vater, sondern seinem Todfeind angesprochen. Mit gebieterischer Haltung entfernte sich Herr Donner wieder aus dem Zimmer und schloss die Tür. Zunächst verstand keiner von ihnen, was es damit auf sich hatte. Im gleichen Moment stand Erik von seinem Platz auf. Mit festen Schritten, umgeben von einer Grabesstille, ging er auf seine Zimmertür zu und verschwand nach draußen. Es folgte eine Sekunde Schweigen, in der sie sich fragende und teils erschrockene Blicke zuwarfen. Dann konnten sie Herrn Donners Stimme durch die Tür vernehmen. Obschon nicht laut, und zusätzlich gedämpft durch Tür und Wand, wirkte Herrn Donners raue Stimme einschüchternd wie die warnende Drohgebärde eines gereizten Rudelwolfes. Der Ton ließ sie ängstlich zusammenzucken. „Was machen diese Leute in meinem Haus?“ „Wir lernen.“, entgegnete Erik in kaltem Tonfall. „Dann ist das Lernen jetzt vorbei.“ An dem Geräusch von Schritten war zu erkennen, dass Herr Donner sich von seinem Sohn abgewandt hatte. Die Diskussion war beendet. „Das ist es nicht.“ Die Schritte verstummten abrupt. Kurzes Schweigen. Die fünf konnten nur vermuten, dass Herr Donner seinen Sohn mit seinen grausamen Blicken traktierte. „Diese Leute“, sprach er langsam und bedächtig. „werden mein Haus verlassen. Sofort.“ Dass Erik es überhaupt schaffte, auf diese Drohung irgendetwas zu entgegnen, wirkte ebenso beeindruckend wie besorgniserregend. „Und wenn nicht?“ Beißender Spott sprach augenblicklich aus der Stimme seines Vaters. „Was glaubst du eigentlich, was du hier spielst? Dass du die Schule schmeißen und hier Kifferpartys geben kannst?“ Dann sackte sein Ton in beängstigende Tiefe ab. „Wenn deine Mutter nicht gewesen wäre, hätte ich dich sofort wieder ins Internat geschickt. Ein Fehler…“ Sarkastisches, hartes Lachen. Es klang so fremd und verkehrt in ihren Ohren, dass sie kurz daran zweifelten, dass es wirklich von Erik kam. „Der einzige Fehler, den du je gemacht hast,“ Seine Stimme wurde eine Mischung aus Bellen und Knurren. „bin doch ich!“ Seine Worte durchschnitten den Moment wie das Beil einer Guillotine, schnürten ihnen die Kehle ab. Das war keine Entgegnung eines trotzigen Kindes gewesen. Das war … Ein Knall zerfetzte die Stille, und ehe die anderen überhaupt registriert hatten, was geschehen war, war Ariane schon aufgesprungen und zur Tür gerannt. Mit einem entschiedenen Ruck riss sie die Türe auf und begann inbrünstig zu sprechen, oder vielmehr zu schreien, bevor Erik und sein Vater sie überhaupt wahrgenommen hatten. „Wie können Sie es wagen! Ihren eigenen Sohn zu schlagen! Sie sind absolut verabscheuungswürdig! Das einzig Gute, das Sie je zustande gebracht haben, ist ihr Sohn! Und Sie können gottfroh sein, dass Erik so überhaupt nichts von Ihnen hat!“ Entsetzen machte sich unter den Anwesenden breit, selbst Erik hatte in Schock die Augen aufgerissen. Herr Donners Augen indes wurden zu zwei Schlitzen. Und die Angst, dass er nun auch Ariane ohrfeigen oder ihr gar Schlimmeres antun würde – nach allem, was sie ihm soeben an den Kopf geworfen hatte – wurde in ihnen wach. Nur Ariane zeigte keine Spur von Furcht. Erik, der als einziger ihr Gesicht sehen konnte, las darin Entschlossenheit und höchste Verachtung für seinen Vater, den sie immer noch mit Blicken durchbohrte. In beherrschter Lautstärke wandte Herr Donner das Wort an sie. „Du wirst sofort mein Haus verlassen. Und es nie wieder betreten.“ Ariane reagierte mit unglaublicher Selbstsicherheit. Sie warf diesem Mann, dessen bloße Anwesenheit einer Züchtigung gleichkam, einen herablassenden Blick zu. „Ich hatte auch nicht die Absicht, länger als nötig in solch übler Gesellschaft zu verweilen. Sie entschuldigen mich, ich hole meine Sachen.“ Erhobenen Hauptes drehte sie sich um. Elegant schritt sie zurück in das Zimmer, an ihren erstarrten Freunden vorbei, und räumte mit flinken Bewegungen ihre Habseligkeiten zusammen. Anschließend ging sie wieder zur Tür und warf Herrn Donner einen erhabenen, geradezu königlichen Blick zu. Dann umging sie ihn gekonnt und lief die große Treppe hinunter. „Warte!“, rief Vivien, als sie aus ihrer Starre erwacht war. Sie und die anderen packten eilig alles zusammen und rannten um Herrn Donner herum Ariane hinterher. Als die Haustür zugeschlagen worden war, wandte sich Herr Donner nochmals an seinen Sohn, der noch immer regungslos dastand und auf die Treppe starrte. „Feine Freunde hast du da.“, spie er aus. Ruckartig drehte sich Erik zu seinem Vater. Sein unverhohlener Hass zuckte aus seinem Angesicht hervor, dann eilte er ebenfalls die Treppe hinunter. Ariane wartete nicht. Erst einige Meter vom Anwesen der Familie Donner entfernt blieb sie stehen und blickte betrübt zu Boden. „Ariane!“ Viviens Schrei drang zu ihr, dann hatten die anderen sie auch schon keuchend erreicht. „Dem hast du’s aber gegeben!“, rief Vitali stolz. „Du bist ja ne richtige Power-Frau! Schlag ein!“ Vitali hielt ihr seine Hand hin, doch Ariane ging nicht darauf ein. „Bist du in Ordnung?“, fragte Justin vorsichtig. „Ja.“, sagte Ariane und lächelte schwach. „Gehen wir nach Hause.“ Sie wandte sich um. „Wollen wir nicht auf Erik warten?“, wandte Vivien ein. „Er kann nichts dafür.“, stimmte Serena zu. Ariane sah es nicht als nötig an, sich nochmals zu ihnen umzudrehen. „Ich bezweifle, dass er kommt.“ Mit diesen Worten setzte sie ihren Weg fort, während die anderen sich fragende Blicke zuwarfen. Im gleichen Augenblick hörten sie eine Haustür mit voller Wucht zuschlagen und eine Person kam an ihnen vorbeigerannt. Erik stoppte, bevor er Ariane erreicht hatte. Er wirkte angespannt, als sei er kurz davor, laut loszuschreien. Von dem Geräusch ebenfalls aufgeschreckt, blieb Ariane abrupt stehen und drehte sich mit unsicherem Gesichtsausdruck zu Erik um, der sie wortlos fixierte. Es herrschte kurzes Schweigen, in dem sie einander einfach nur ansahen. Erik ballte die Hände zu Fäusten. Er war so wütend! So verdammt wütend auf sich selbst! Wie hatte er es zulassen können, dass sein Vater so mit ihr umsprang? Wieso hatte er nicht eingegriffen? Wieso war er so ein verdammter Feigling! Erfolglos suchte er nach Worten. Für sein Verhalten gab es keine Entschuldigung. Und Arianes Reaktion machte ihm das überaus deutlich: Sie wandte ihren Blick ab. Was sonst… Sie musste ihn genauso sehr verachten wie seinen Vater. Wenn nicht noch mehr. „Es tut mir leid.“ Erik stockte. „Was..?“ Ariane sah ihn weiterhin nicht an. „Ich hätte nachdenken sollen, bevor ich etwas gesagt habe. Dass ich ihn beleidigt habe, hat ihn nur darin bestätigt, dass du dich mit schlechten Leuten abgibst. Das macht es nur noch schwerer für dich.“ Erik war verwirrt. „Was redest du denn da?“, rief er erregt. Ariane blickte auf. „So habe ich dir überhaupt nicht geholfen!“ Ihr Kommentar machte Erik für einen weiteren Moment sprachlos. Was sollte das? Er war derjenige, der sich mies fühlen musste, nicht sie! Sie hätte wütend auf ihn sein müssen! Sie hätte ihn beschimpfen müssen! Ihm Vorhaltungen machen, ihn seinetwegen auch ohrfeigen! Alles! Nur nicht sich Selbstvorwürfe machen! Plötzlich begehrte Ariane lautstark auf. In ihren Augen glitzerten Tränen der Wut und der Empörung. „Ich war nur so verdammt wütend, dass er dich so behandelt hat! Ich konnte mich nicht zurückhalten!“ Erik erstarrte. Etwas schnürte ihm augenblicklich die Luft ab und drückte sein Herz zusammen, auf eine Weise, die weniger schmerzhaft als viel mehr verstörend war. Und etwas sagte ihm, dass diese Reaktion auf Ariane zurückzuführen war, wie widersinnig der Gedanke für ihn auch sein mochte. Die Stille zwischen ihnen zog sich in die Länge, ehe sich schließlich Justin einklinkte. Um Ariane und Erik nicht noch weiter damit zu belasten, wollte er das Thema schnellstmöglich beenden. „Wir müssen nicht zu Erik gehen, um zu lernen.“, meinte er. Etwas Besseres war ihm auf Anhieb nicht eingefallen. Erik fuhr herum. „Nein!“, stieß er heftig aus. „Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wen ich einladen darf und wen nicht!“ „Erik.“, unterbrach Ariane ihn. „Ich will nicht, dass du auch noch wegen mir Ärger mit deinem Vater hast.“ Vitali sah das locker. „Der braucht es doch gar nicht mitkriegen.“ Arianes eben noch von Gefühlen beherrschter Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal erhaben und bestimmt. „Ich werde mich nicht vor diesem Mann verstecken!“ Gebieterischer Stolz schwang in ihren Worten. „Wenn ich dieses Haus noch einmal betreten sollte, dann nur erhobenen Hauptes!“ Ihre Entschlossenheit leitete einen weiteren Moment des Schweigens ein. Viviens überschwängliche Stimme ging jedoch in Sekundenschnelle gegen die dramatische Stimmung vor. „Lasst uns in den Park gehen!“ Die anderen sahen sie zweiflerisch an. Vivien ließ sich davon wie gewöhnlich nicht beirren. „Es ist tolles Wetter, es ist warm und wir sind noch nicht mit dem Lernen fertig!“ Plötzlich legte sich Entsetzen auf die Gesichter der vier anderen. Vivien wollte doch nicht etwa Erik in ihr Geheimversteck mitnehmen! „Wir können uns doch einfach auf eine Wiese setzen!“, erklärte sie. Die anderen atmeten erleichtert auf. „An der frischen Luft lernt es sich sowieso viel besser.“, fügte Vivien hinzu. „Wir können auch bei mir vorbeigehen und eine Picknickdecke holen.“ „Hauptsache weg.“, entgegnete Erik. „Willst du noch deine Sachen holen?“, fragte Justin. Erik schüttelte den Kopf. „Ja, ja, willst wieder Blätter und Stifte bei mir schnorren. Das sind mir die Richtigen!“, alberte Vitali grinsend. „Kennst mich ja.“, gab Erik zurük. „Auf geht’s!“, rief Vivien freudig. Es war ungewöhnlich warm für den 29. September und damit perfekt, um auf einer Wiese zu sitzen und die Seele baumeln zu lassen. Leider waren jedoch keine leckeren Gaumenfreuden auf Viviens beiden isolierten Picknickdecken ausgebreitet, sondern unappetitliche Schulsachen. Zumindest wurden die sechs dadurch nicht von Ameisen belästigt. Schnell war die Begebenheit in Eriks Haus vergessen und Erik benahm sich wie immer. Er scherzte, machte selbstgefällige Bemerkungen und war die Selbstsicherheit in Person. Als gegen halb sechs das Licht langsam schwächer wurde, waren sie sich einig, das Lernen hier abzubrechen. Vitali hatte diesen Vorschlag zwar zuvor schon hundertmal unterbreitet, doch ihm hatte natürlich keiner zugehört! Nur Serena, die stets einen zynischen Kommentar dazu abgegeben hatte, woraufhin Justin den sich anbahnenden Streit jedes Mal aufs Neue unterbunden hatte. Gemeinsam verließen sie den Park und verabschiedeten sich voneinander. Anstatt direkt zu sich zu laufen, begleitete Erik Ariane und Serena auf ihrem Heimweg, derweil sie sich über die Schwierigkeiten der Buchungssätze austauschten. Als die drei nicht mehr weit von Serenas Zuhause entfernt waren und kurzzeitig Schweigen herrschte, kam ihnen eine Gruppe von drei Mädchen entgegen. Beim Vorübergehen musterten diese Erik unverhohlen und begannen nach ein paar Schritten Entfernung in ein hohes Gekicher auszubrechen. Serena verdrehte die Augen. „Mit dir kann man echt nirgendwohin, ohne aufzufallen.“ Erik warf ihr einen todernsten Blick zu.. „Ja, ich hab auch schon über SchönheitsOP nachgedacht.“ Prompt erschien ein Lächeln auf Serenas Gesicht, während Erik nachdenklich an sein Kinn fasste. „Aber es wäre ein zu großer Verlust für die Menschheit, wenn ich mein Gesicht verschandeln ließe.“ Serena lachte auf. „Die Auswirkungen auf die gesamte Weltsituation wären nicht auszudenken!“ „Du hast Recht. Ich darf nicht egoistisch sein.“, meinte Erik. „Das Allgemeinwohl hat Vorrang.“ Serena schüttelte amüsiert den Kopf. Geschockt verfolgte Ariane das Verhalten der beiden: Serena – lachte! Nicht nur das. Sie machte auch noch bei Eriks billigen Witzen mit! Was ging hier vor? War das ein Zeichen, dass der Weltuntergang kurz bevorstand? Als sie bei Serenas Haus angekommen waren, verbeugte sich Erik vor Serena. „Es war mir eine Ehre, Euch begleiten zu dürfen.“ Serena antwortete mit einem Hofknicks. „Die Freude war ganz meinerseits.“ Dann lachten beide. Und Arianes Bestürzung nahm immer weiter zu. Sicher war das nicht Serena, sondern ein Alien, das diese Form angenommen hatte, um die Menschheit zu unterwandern! Das war die einzig logische Erklärung. Nachdem Serena im Hausinneren verschwunden war und Ariane sich noch einen Moment hatte zusammenreißen müssen, um zu lächeln, drehte sie sich mit deutlich angespanntem Gesichtsausdruck zu Erik. „Wie machst du das?“ Leicht befremdet zog Erik die rechte Augenbraue nach oben. „Was?“ „Dass sie bei dir so locker ist!“ Arianes gespannter Blick verführte Eriks Mundwinkel zu einem Lächeln, das sich schon im nächsten Moment zu seinem üblichen überlegenen Grinsen wandelte. „Ohne Vitali ist das kein Problem.“ Sofort versuchte Arianes Hirn die Aussage einzuordnen. Dies war tatsächlich das erste Mal, dass Erik und Serena ohne das Beisein von Vitali hatten reden können. Wenn Ariane es recht bedachte, dann hatten die beiden wahrscheinlich noch nie ein Wort miteinander gewechselt, ohne dass Vitali sich prompt eingemischt hätte. Und Serena war in Vitalis Gegenwart eigentlich immer besonders reizbar. Warum auch immer… Vitali konnte so viele Scherze machen wie er wollte, er rang Serena damit höchstens ein leichtes Zucken der Mundwinkel ab, wenn er nicht wie gewöhnlich einen ihrer bitterbösen Blicke erntete. „Du brauchst ziemlich lange.“, kommentierte Erik überheblich. Verstimmt schürzte Ariane die Lippen. „Was hat Serena denn gegen Vitali? Er hat ihr doch gar nichts getan! Er ist immer nett!“ Wie beiläufig meinte Erik. „Er hat’s ihr angetan.“ Schockierung trat in Arianes Gesicht. „Was hat er ihr angetan?“ Unglaube sprach aus Eriks Zügen, dann schüttelte er mitleidig den Kopf. Mehr getroffen als wütend fuhr Ariane ihn an. „Warum hat sie dir etwas erzählt, das sie mir nicht erzählt hat?“ Der Gedanke, dass Serena Erik mehr vertraute als ihr, traf sie schwer. Erik sah sie in einer Mischung aus Be- und Verwunderung an. Ariane wartete auf seine Antwort, aber Erik fuhr nur darin fort, so seltsam zu schauen. Ariane biss sich auf die Unterlippe. „Du willst es mir also nicht sagen.“, schlussfolgerte sie beleidigt. Im gleichen Moment hörte sie ihn leise in sich hineinlachen. Empört gaffte sie ihn an. Erik hatte sein Gesicht mit der Linken beschirmt, doch sein breites amüsiert-mitleidiges Grinsen war deutlich zu sehen. Er lugte kurz zu ihr hinüber, sah ihren angesäuerten Gesichtsausdruck und konnte das Lachen kaum noch zurückhalten. Seine Redewendung war doch nun wirklich nicht schwer zu verstehen gewesen, aber sie …! Dass ausgerechnet sie, die alles andere als auf den Kopf gefallen war, diesen schlichten Humor nicht begriff, war einfach urkomisch! Arianes Laune sank auf den Tiefpunkt. Eriks Verhalten ließ für sie nur einen Schluss zu: Er hatte sich die ganze Zeit bloß über sie lustig gemacht, von seinem ersten Kommentar an. Wütend wandte sie sich ab und ließ ihn stehen. Sie würde kein einziges Wort mehr an ihn verschwenden! Jawohl! Ohne Probleme holte Erik sie wieder ein und lief neben ihr her. Arianes Ärger störte ihn nicht. Dadurch dass sie die Augen starr nach vorne gerichtet hatte – offensichtlich um ihn keines weiteren Blickes zu würdigen – erschloss sich ihm die Möglichkeit, sie ungeniert zu betrachten: Einige Zeit sah er eisige Kälte ihre feinen Gesichtszüge beherrschen, dann nach und nach, Meter um Meter, mischte sich Unzufriedenheit hinein, als sei sie kurz davor, sich zu etwas verleiten zu lassen, das ihr widerstrebte. Vermutlich hatte sie bemerkt, dass er sie die ganze Zeit angaffte, weshalb ein Teil von ihr ihn zusammenstauchen wollte, während ihr Stolz sie dazu mahnte, ihn zu ignorieren. Mittlerweile waren sie nicht mehr weit von ihrem Zuhause entfernt. Als sie eine weitere Strecke hinter sich gebracht hatten, obsiegte ein anderer Gesichtsausdruck, der Erik verwirrte. Im gleichen Moment stoppte Ariane. Ihre Stimme klang verstörend sanft. „Willst du wirklich … nach Hause?“ Mit einem Schlag zerriss ihre Frage die unbeschwerte Stimmung, in die er sich geflüchtet hatte. Zaghaft und mit Sorge in den Augen sah Ariane auf. „Du … kannst auch noch mit zu mir. … Wenn du magst.“ Erik stockte. Von ihrem unerwarteten Angebot überrumpelt, brauchte er eine Millisekunde, um seine Gefühlsregung zu kaschieren. Sein selbstgefälliges Grinsen kam einmal mehr zum Einsatz. „So ein Angebot von dir und das beim ersten Date, das hätte ich nicht erwartet.“ Ariane wütend zu machen, war die beste Möglichkeit, sie davon abzuhalten, ihm weitere solcher Fragen zu stellen. Allerdings funktionierte seine Taktik dieses Mal nicht. „Erik, ich meine es wirklich ernst.“ Sie durchbohrte ihn mit einem durchdringenden Blick. Höhnisch lachte er auf. „Dass du dir solche Gedanken um mich machst!“ Er zog die linke Augenbraue in die Höhe. „Soll ich mir darauf etwas einbilden?“ „Hör auf.“, befahl Ariane. „Glaubst du, du kannst mich mit deinen dummen Sprüchen darüber hinwegtäuschen, wie verunsichert du bist?“ Unglaube zeichnete sich jäh auf seinem Gesicht ab. Wie konnte sie sehen, dass alles nur aufgesetzt war…? Unsinn! „Gibt es einen Grund, verunsichert zu sein?“ „Wenn du nicht mit mir darüber reden willst, dann sag es einfach! Ich habe keine Lust auf deine Spielchen.“ Sie wandte sich ab und beschleunigte ihren Lauf. Grimmig tat Erik es ihr gleich. „Was für Spielchen?!“ Ariane blieb abrupt stehen. „Für wie dumm hältst du mich?“, blaffte sie ihn an. „Du versuchst, aus allem einen Scherz zu machen, um nichts dazu sagen zu müssen! Du willst mich absichtlich wütend machen, damit ich keine Fragen mehr stelle! Das ist unfair!“ Erik war ehrlich sprachlos. Zum einen, weil Ariane so mir nichts dir nichts die Absicht hinter seinen Äußerungen erkannt hatte, und zum anderen, weil sie dieses Verhalten als ‚unfair‘ bezeichnete. Unverhofft wurden Arianes Gesichtszüge wieder weich und ihr Blick glitt zu Boden. Ihre Stimme schrumpfte zu einem Flüstern zusammen. „Entschuldige. Es ist natürlich lächerlich zu erwarten, dass du gerade mir dein Herz ausschüttest, wo ich doch weiß, dass du mir nicht vertraust.“ Wie sie von einem Moment auf den anderen umschalten konnte! War das eine Taktik, um ihn irrezuführen? Er sog scharf die Luft ein. „Glaubst du, ich bin der Typ, der sich widerstandslos verschlagen lässt?“ Sein Tonfall wurde sachter. „Es war das erste Mal… Vorher ist noch nie so etwas passiert.“ Vorsichtig sah Ariane auf, während Eriks Blick in die Ferne schweifte. Komisch, dass er die Ohrfeige nicht einmal als schmerzhaft empfunden hatte. Es hatte sogar etwas wie süßer Triumph darin gelegen, so krank sich das auch anhören mochte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich von seinem Vater nicht einfach übergangen gefühlt wie ein Einrichtungsgegenstand. Ariane erkannte, dass er den Gedankengang unausgesprochen fortgesetzt hatte, wagte aber nicht, weiter nachzufragen. Erik wandte sich wieder an sie und zeigte seine übliche selbstsichere Mimik. „Kein Grund zur Sorge, das passiert nicht noch einmal. Außerdem weiß ich mich zu wehren. Entgegen Vitalis Behauptung sind meine Muskeln nicht nur aufgepumpt.“ „Darum geht es mir nicht.“, sagte Ariane leise. „Es gibt nicht nur körperliche Verletzungen.“ Ohne Eriks Reaktion auf ihre Worte abzuwarten, setzte sie ihren Weg fort. Nach einer Schrecksekunde folgte er ihr. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis sie vor Arianes Haus angekommen waren. „Erik.“, begann Ariane. „Wenn irgendetwas ist“ Sie stockte. „Ich weiß, das hört sich sicher dumm für dich an, aber…“ Mit Scheu in den Augen sah sie zu ihm auf. „Ich bin immer für dich da.“ Eriks Miene entglitt seiner Kontrolle. Abgesehen von dem einen kurzen Moment nach seiner Ohnmacht, war es das erste Mal überhaupt, dass Ariane seine selbstsichere Maske zersplittern sah. Und das bewegte sie zu einer unbedachten Handlungsweise. Ehe sie darüber nachgedacht hatte, hatte sie einen Schritt auf Erik zu gemacht und ihre Arme um ihn gelegt. Die Umarmung dauerte nicht länger als eine Sekunde. Eine Sekunde zu viel… Augenblicklich schreckte sie zurück und verfluchte sich selbst. Was war bloß in sie gefahren? Sie wusste doch, wie er am ersten Schultag darauf reagiert hatte. Er würde sie wieder verurteilen und ihr vorwerfen, sich an ihn ranmachen zu wollen! Eriks Gesichtsausdruck indes machte nicht den Anschein, dass er auch nur jeglichen Gedanken an die Situation verschwendete. Mit regungsloser Miene und leicht zusammengezogenen Augenbrauen stand er da. Doch dahinter spielte sich etwas anderes ab. Da war es wieder! Diese schreckliche Unsicherheit, die ihn seit vorhin unerwartet zu quälen begann, anders als das, was er unter Kontrolle zu halten gelernt hatte. Wie eine bisher unbekannte Bedrohung. Er war Erik Donner! Er zeigte keine Schwäche! Längst nicht mehr… Doch hiermit wusste er nicht umzugehen. Er biss die Zähne zusammen. Dann war es jetzt Zeit, es zu lernen. In seiner Bedrängnis klammerte er sich an den einen Satz, nach dem er sich immer richtete: ‚Angriff ist die beste Verteidigung!‘ Im gleichen Moment ergriff er Arianes Schultern. Eindeutig verwirrt durch Eriks seltsame Anwandlung, starrte Ariane ihn an, konnte seinem Blick jedoch nicht entnehmen, was in ihm vorging. Sein Mienenspiel war ernst, aber gleichzeitig glaubte sie, Besorgnis darin zu erkennen. Im nächsten Moment jedoch schwand jeder Zweifel und Eriks entschlossener Ausdruck, Secrets entschlossener Ausdruck, erschien auf seinen Zügen. Für einen Atemzug war Ariane von dem Anblick wie gelähmt. Diesen Moment nutzte Erik, um sein Gesicht dem ihren zu nähern. Mit ungeheurer Heftigkeit stieß Ariane ihn von sich. „Das ist nicht witzig!“ Sie begann zu schreien. „Ich hatte es wirklich ernst gemeint! Warum musst du dich immer über alles lustig machen!“ Sie war kurz davor, vor lauter Zorn und verletztem Stolz loszuweinen. Ihre Erregung hinderte sie daran, Eriks Mimik zu lesen, denn die hätte ihr mit Leichtigkeit zu verstehen gegeben, dass er so gar nicht vorgehabt hatte, sie aufzuziehen. Erik stand wie angewurzelt da. Vollkommen durch den Wind. Die ganze Situation war einen Augenblick lang zu viel für ihn. Erst im nächsten Moment hatte er die Eindrücke verarbeitet, doch da war Ariane schon zur Haustür geflüchtet und hatte aufgeschlossen. Verbittert und verletzt zugleich huschte Ariane ins Haus, zwanghaft den Blick von der Stelle abgewandt, an der Erik stand. Dieser … Mistkerl! Sie hatte es nur gut gemeint! Und er hatte nichts Besseres im Sinn, als sich auf so erniedrigende Art und Weise über ihr Verhalten lustig zu machen! Oh wie sie ihn verabscheute! Gerade wollte sie die Tür zuschlagen und abschließen, als etwas diesen Versuch vereitelte. Ariane sah verdutzt auf und stand Auge in Auge mit Erik, der die Tür gerade noch mit den Händen abgefangen hatte. „Verschwinde!“, schrie sie und versuchte die Tür zuzudrücken, doch Erik stemmte sich dagegen. „Lass los!“ „Nein.“, entgegnete Erik überzeugt. Ariane drückte fester. „Ich will dich nicht mehr sehen!“ Erik war allerdings weitaus stärker. „Dann kannst du mir doch wenigstens zuhören.“ Ariane gab nicht auf. „Ich will aber nicht!“ „Danke!“ Perplex hielt Ariane inne. Dann neigte sie ihren Oberkörper zur Seite, um Erik nun doch wieder in Augenschein zu nehmen. Was sie da sah, erinnerte sie allerdings nicht wirklich an Erik. War es tatsächlich Verlegenheit, die er ihr zeigte? Erik wollte etwas sagen, brach nochmals kurz ab und sprach dann aus, was er ihr noch schuldig war. „Für das, was du heute gesagt hast. Und getan hast. Danke!“ Arianes forschender Blick verhinderte jedes weitere Wort seinerseits. Er ließ die Tür los und machte einen Schritt zurück, darauf vorbereitet, die Tür nun vor der Nase zugeschlagen zu bekommen. Dem war aber nicht so. Unverhofft schwenkte die Tür weiter auf und Ariane betrachtete ihn sprachlos. Dann, von einer Sekunde auf die andere, erschien ein zärtliches Lächeln auf ihren Lippen. „Wozu hat man Freunde?“ Erik glaubte, sein Herzschlag setze für einen Moment aus. Ob aus Freude oder Verzweiflung konnte er nicht sagen. Nur dass er sich wünschte, hier stehen bleiben zu können und Ariane anzusehen, ohne auch nur einen Ton sagen zu müssen. „Willst du jetzt noch hereinkommen oder nicht?“, fragte Ariane plötzlich wieder in dem verspielt fröhlichen Tonfall, der für ihre Unterhaltungen schon typisch geworden war. Doch Erik machte jäh einen Rückzieher. „Schon okay. Ich will nicht stören.“ Ariane lachte hell auf. „Aber du störst doch nicht!“ Er schluckte und schüttelte den Kopf. „Trotzdem nicht.“ Der Wunsch, noch etwas in Arianes Nähe zu sein, kämpfte mit der Gewissheit, dass er in der Folge mehr von sich selbst offenbaren würde als er wollte. Er durfte sich keine Blöße geben. Niemals. Er machte einen weiteren Schritt zurück. Diesen Schritt machte Ariane allerdings vorwärts. „Bist du sicher?“ Ihre großen blauen Augen und ihr nur leicht geschlossener roter Mund wirkten einladend. Erik konnte es nicht fassen! Erst hatte sie seinen Kuss abgewiesen und nun schien sie ihn regelrecht verführen zu wollen! War das eine der berüchtigten Waffen einer Frau?! Andererseits: War er denn wirklich davon ausgegangen, dass sich Ariane so leicht von ihm küssen lassen würde? – Er hatte nie darüber nachgedacht! Er konnte nicht einmal sagen, ob er gerade eben wirklich vorgehabt hatte, es zu versuchen. Allein aus der Zwangslage heraus war es dazu gekommen. Mit einem Mal war seine Überzeugung, jeder Situation gewachsen zu sein, zerstört, und das Ich, das er so gewissenhaft vor Angriffen hatte zu schützen gelernt, lag blank. Darauf musste er sich erst einstimmen, musste geeignete Schutzmaßnahmen treffen gegen das, was in ihm vorging. Plötzlich hatten seine Beine aus eigenem Antrieb einen Schritt nach vorne gemacht. Das war wohl eine ‚Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach‘–Sache. Ariane, die diesen Zug wohl als Annahme ihrer Einladung deutete, lächelte über das ganze Gesicht. Und obwohl Erik dieses Lächeln am liebsten noch ewig angestarrt hätte, kam es ihm gleichzeitig wie das heimtückische Grinsen einer dicken, fetten Spinne vor, deren Beute gerade in ihr Netz gegangen war. „Ganz sicher!“, sagte er mit fester Stimme. Dann drehte er sich ohne Weiteres um und ließ die verwirrte Ariane stehen. Kapitel 56: Betreten verboten! ------------------------------ Betreten verboten! „Reiße niemals einen Zaun ein, bevor du nicht weißt, warum man ihn aufgestellt hat“ (Gilbert Keith Chesterton) „Vitali! Telefon!“, rief Vicki durch den Flur des Hauses Luft. Sein großer Bruder kam die Treppe herunter. „Wer ist es denn?“, fragte Vitali. „Keine Ahnung. Irgendein Mädchen.“, gab Vicki zurück und hielt ihm das schnurlose Telefon hin. Vitali ergriff es und hob es mit nervösem Gesichtsausdruck ans Ohr. „Hallo?“ „Hallo!“, drang Arianes freundliche Stimme vom anderen Ende des Hörers. „Ach du bist es.“, sagte Vitali geradezu desinteressiert. „Hast du jemand anderen erwartet?“, wollte Ariane belustigt wissen. „Quatsch! Wen soll ich denn erwartet haben?“, rief Vitali energisch. Dann fügte er in normaler Lautstärke an: „Ich dachte bloß, du hast noch keinen Telefonanschluss.“ Es klang fast, als wolle er sich rechtfertigen. „Ich hab eine Festnetz-Flat auf dem Handy.“, erklärte Ariane. „Du hast auf deinem Handy nicht abgenommen.“ Da Vitali sein Handy grundsätzlich auf lautlos gestellt hatte und oft genug vergaß, es rechtzeitig aufzuladen, war es nicht verwunderlich, dass er den Anruf nicht mitbekommen hatte. „Was gibt’s?“ „Tut mir leid, wenn ich dich vom Lernen abhalte.“, entschuldigte sich Ariane, schließlich war es Sonntag und sie wusste, dass Vitali noch einiges an Arbeit vor sich hatte. „Ich werd’s überleben.“, entgegnete Vitali. „Schieß schon los.“ „Es geht um Erik.“ „Huh?“ „Was ist, wenn Eriks Vater der Schatthenmeister ist?“, stieß Ariane aus. Unglaube sprach aus Vitalis Stimme. „Weil er ihm ’ne Ohrfeige gegeben hat?“ „Findest du das etwa normal?“, fragte Ariane entsetzt. „Deswegen ist er noch lange nicht der Schatthenmeister.“, meinte Vitali spöttisch. „Aber das ist doch nicht alles, das gegen ihn spricht.“, beharrte Ariane. „Wir hatten ihn schließlich schon zuvor im Verdacht. Und jetzt…“ Sie stockte. „Wir können doch nicht zulassen, dass Erik die ganze Zeit in den Fängen des Schatthenmeisters ist.“ „Wir wissen doch gar nicht, ob er das ist.“, wandte Vitali ein. „Ich weiß, deshalb rufe ich an.“, eröffnete Ariane. „Hä?“ „Kannst du nicht mehr über Eriks Vater in Erfahrung bringen?“, bat sie. „Und wie soll ich das machen?“ „Du kannst doch Erik über ihn ausfragen.“, schlug Ariane vor. „Wieso machst du das nicht?“, versetzte Vitali. „Du sitzt neben Erik. Deshalb hast du viel öfter die Gelegenheit, mit ihm zu reden.“, begründete Ariane ihren Vorschlag. „Kerle reden nicht über so was!“, wehrte sich Vitali. „Oh Vitali, das sind bloß Klischees! Du möchtest dein Verhalten doch nicht von so etwas abhängig machen!“, plädierte Ariane. „Stimmt.“, sagte Vitali. „Mein Verhalten sollte unabhängig sein. Deshalb wird es dir auch nichts ausmachen, dich selbst um die Sache zu kümmern.“ „Vitali, komm schon!“, bat Ariane. „Mann, Erik merkt doch sofort, das was nicht stimmt, wenn ich ihn so ’nen Blödsinn frage.“ „Das ist kein Blödsinn!“, beschwerte sich Ariane. „Sei doch mal ehrlich. Glaubst du wirklich, Erik würde sich nicht wundern, wenn gerade ich ihn so was frage?“ Ariane gab ein resignierendes Geräusch von sich. Dann kam eine erneute Welle des Optimismus‘ in ihr hoch. „Wo du schon so selbstreflektiert bist, kannst du doch einen neuen Weg einschlagen, über dich selbst hinauswachsen, dein Ich neu definieren, und Erik nach seinem Vater fragen.“ „Ariane.“ „Ja?“ „Nein!“ „Och bitte, Vitali.“, flehte Ariane. „Nein.“ „Bitte, bitte.“ „Nein!“ „Bitte, bitte, bitte!“ „Nein, nein und nochmals nein!“ Ariane ließ nicht locker. „Tu es mir zuliebe!“ Genervt stieß Vitali die Luft aus. „In der Zeit, in der du mich hier voll laberst, könntest du genauso gut Erik anrufen.“ „Es ist doch noch viel auffälliger, wenn ich ihn deswegen anrufe.“, erwiderte Ariane. „Du traust dich bloß nicht.“, zog Vitali sie auf. „Hm.“, gab Ariane kleinlaut von sich. „Jetzt ehrlich?“, fragte Vitali. „Du weißt doch, dass wir nicht das beste Verhältnis haben.“ Vitali klang amüsiert: „Dafür hast du dich gestern aber ganz schön für ihn ins Zeug gelegt.“ „Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn jemand ungerecht behandelt wird. Da könnte ich aus der Haut fahren!“ „Das hab ich gesehen.“, lachte Vitali. „War es so schlimm?“ „Sagen wir so, du hast Erik damit ziemlich entmannt.“, alberte Vitali. „Entmannt?“, fragte Ariane verständnislos. „Ja. Du hast ihm die Männlichkeit genommen, ihn wie einen Schwächling hingestellt, ihn zum Waschlappen gemacht.“, umschrieb Vitali. „Ich habe es verstanden! Ich weiß nur nicht, wie du das meinst.“, präzisierte Ariane. „Na hör mal, du hast ihn vor seinem Vater verteidigt! Ein kleines, schwaches Mädchen hat den großen, starken, supertollen Erik Donner vor seinem Papi beschützt und er ist nur daneben gestanden und hat zugeguckt und hat keinen Ton rausgekriegt. Für uns Kerle ist das tödlich!“ „Das ist doch lächerlich!“, rief Ariane aus. „Im Kampf beschützen wir uns die ganze Zeit gegenseitig!“ „Jo, aber das war kein Kampf. Das war sein Vater.“ „Ach und weil ich ein Mädchen bin, muss ich da still bleiben?“, brauste Ariane auf. „Mann, wenn ich das gemacht hätte, wäre das genauso peinlich für ihn gewesen.“, stellte Vitali klar. „Warum?“, forderte Ariane zu erfahren. „Weil es sein Problem ist! Kapierst du das nicht?“, rief Vitali. „Es ist peinlich, dass du dich da eingemischt hast. Du hast ihn dadurch so hingestellt, als wäre er ein kleiner Junge, der sich nicht selbst wehren kann.“ Von der anderen Hörerseite kam für einen Moment keine Reaktion. „Äh, hallooo?“ Erst jetzt meldete sich Ariane wieder. Doch in ihrer Stimme schwang Unsicherheit. „Glaubst du das wirklich?“ „Was?“ „Dass ich Erik damit gekränkt habe?“ „Nicht gekränkt, eher naja… beschämt.“, verbesserte Vitali. „Das wollte ich nicht.“, sagte Ariane kleinlaut. „Willst du, dass er sich in dich verliebt?“ „Ganz sicher nicht!“, schimpfte Ariane empört. „Na also. Nach der Aktion brauchst du dir darüber auch keine Sorgen mehr machen!“, scherzte Vitali und prustete los. „Haha.“, zischte Ariane erbost. „Du bist echt doof.“ „Ihr wollt doch ’nen Kerl, der euch überlegen ist und euch beschützen kann. Wo kommen wir denn da hin, wenn die Frauen plötzlich die Männer beschützen.“ „Zur Gleichberechtigung!“, rief Ariane überzeugt. Höhnisch stieß Vitali Luft durch die Zähne. „Tss...“ „Was sollte das jetzt?“, rief Ariane ärgerlich. „Frauen wollen keine Gleichberechtigung. Frauen wollen nur eine Sonderbehandlung.“ „So ein Blödsinn!“ „Gibt es spezielle Männerbeauftragte? Oder Männerparkplätze? Nein! Gleichberechtigung würde doch heißen, dass Männer und Frauen überall die gleichen Rechte und Pflichten kriegen müssten. So ist es aber nicht. Ihr wollt immer ’ne Extrawurst.“ „Das stimmt überhaupt nicht! Frauen sind jahrhundertelang unterdrückt worden! Und jetzt müssen sie sich den Platz in der Arbeitswelt und überall sonst erst erarbeiten! Gleichberechtigung heißt nicht, dass Frauen zu Männern werden, sondern dass sie gleiche Chancen haben möchten!“ „Solange ihr die Kinder kriegt, werdet ihr nie die gleichen Chancen haben.“, entgegnete Vitali. Ariane stieß ein aufgebrachtes Geräusch aus und wurde laut. „Du bist ein Ignorant!“ „Ich sage nur, was Sache ist. Außerdem wisst ihr doch selbst nicht, was ihr wollt. Einmal macht ihr einen auf große Selbstständige und dann takelt ihr euch total für ’nen Kerl auf. Wenn das nicht widersinnig ist.“ „Mädchen machen sich für sich selbst hübsch!“, widersprach Ariane. „Ah ja, und die Stöckelschuhe tragt ihr auch zum Vergnügen.“, höhnte Vitali. „Ja, manche Frauen tun das.“, entgegnete Ariane. „Außerdem gibt es auch Männer, die gerne Frauenkleider tragen!“ „Das sind keine Männer!“, begehrte Vitali heftig auf. Ariane antwortete leicht spöttisch. „Ich weiß nicht, ob du es wusstest, aber ob du phänotypisch ein Mann oder eine Frau bist, entscheidet ein einziges von 46 Chromosomen. Und ob du dich in diesem Körper richtig fühlst, steht noch mal auf einem anderen Blatt.“ „Ein Y-Chromosom allein macht einen noch lange nicht zu einem richtigen Mann!“, beanstandete Vitali. „Vitali, du denkst ständig in solchen Klischees! Ein richtiger Mann! Was ist denn ein falscher Mann? Du bist du! Du musst nichts Bestimmtes dafür tun! Man selbst entscheidet, was man ist.“ „Ja klar.“, spottete Vitali. „Wenn’s drauf ankommt, würdet ihr Weiber den Megamacho doch dem Weichei vorziehen.“ „So ein Unsinn!“, stieß Ariane aus. „Du kannst doch nicht einfach, alle in einen Topf werfen! Zu was für einer Gruppe zählst du mich denn? Tussi? Zicke? Dummes Blondchen?“, wollte sie entrüstet wissen. „Du bist was anderes.“, entgegnete Vitali kleinlaut. „Dich kann man nicht so einfach einordnen.“ „Das kann man bei keinem Menschen!“, sprach Ariane energisch. „Wenn du jemanden näher kennst, dann findest du immer ganz verschiedene Seiten an ihm. Und solche Begriffe wie Macho und Weichei sind nur abwertende Zuschreibungen, von denen man sich freimachen muss!“ „Meinetwegen…“, beendete Vitali das Thema. „Aber weißt du was?“ Seine Stimme wurde mit einem Mal erstaunlich positiv. „Du hast mich überzeugt! Frauen brauchen mehr Chancen, um sich beweisen zu können. Und um meinen Beitrag zur Emanzipation zu leisten, überlasse ich es dir, Erik auszufragen!“ „Das ist nicht fair!“, rief Ariane erregt aus. „Du hast mir das Wort im Mund umgedreht!“ „Willst du jetzt etwa wieder einen Rückzieher machen?“, fragte Vitali hämisch. „Das ist die Gelegenheit deine Gleichberechtigung zu beweisen!“ „Das hat überhaupt nichts mit Gleichberechtigung zu tun!“, schimpfte Ariane. „Du wälzt das einfach nur auf mich ab!“ „Ha! In Wirklichkeit hast du es doch auf mich abwälzen wollen. Ist ja schließlich deine Idee.“ „Ich finde das total gemein von dir!“, jammerte Ariane. „Tja, wie du gesagt hast, wenn man Menschen näher kennst, findet man die verschiedensten Seiten an ihnen!“, neckte Vitali sie. Ariane gab ein Grummeln von sich. „Na danke!“ Kurzes Schweigen trat auf. Geräuschvoll stieß Vitali schließlich die Luft aus. „Können wir’s so machen: Jeder von uns versucht, mehr darüber herauszufinden?“ „Und wer es als erstes schafft, bekommt vom Verlierer eine Pizza spendiert!“, erweiterte Ariane die Spielregeln. Vitali klang nicht begeistert. „Sonst noch was?!“ „Ansonsten versuchst du es erst gar nicht!“, sagte Ariane ihm auf den Kopf zu. Vitali ärgerte sich, dass sie damit genau den Punkt getroffen hatte. „Na fein.“, stimmte er widerwillig zu. Montags nach der Wirtschaftsarbeit war Vitali zunächst viel zu K.O., um sich der Befragung von Erik zu widmen. Erschöpft nahm er auf seinem Stuhl eine mehr liegende als sitzende Position ein. „Wenigstens ist es jetzt rum.“, seufzte er erschlagen. „Freu dich nicht zu früh.“, warnte Erik. „Da kommen noch ein paar Arbeiten.“ Vitali gab ein halb genervtes, halb jammerndes Geräusch von sich. „Erinner mich nicht dran. Ich brauche Ferien!“ Von der Wandseite drang Justins Stimme zu ihm. „Den einen Tag musst du noch durchhalten.“ Verwirrt blickte Vitali zu ihm nach hinten. „Hä?“ „Am Mittwoch ist der dritte Oktober.“, informmierte Justin. Hoffnungsvoll raffte sich Vitali wieder auf. „Ist das ein Feiertag?“ Ariane sah ihn ungläubig an. „Vitali, das ist unser Nationalfeiertag. Der Tag der Deutschen Einheit.“ „Ist doch egal. Hauptsache schulfrei!“, freute Vitali sich. Fröhlich mischte sich Vivien ein. „Und morgen ist der zweite Oktober!“ „Wow und heute ist der erste Oktober.“, meinte Serena sarkastisch. „Haben wir jetzt die Daten durch?“ Erik drehte sich zu Vivien um. „Hast du morgen Geburtstag?“ „Nee nee.“, antwortete Vivien. „Aber in meinem Kalender steht, dass morgen das Schutzengelfest ist. Ist doch cool!“ „Ja, und so weltbewegend.“, spottete Serena. „Wenn wir da nicht schulfrei haben, ist es unwichtig.“, stimmte Vitali zu. Vivien blieb euphorisch. „Ich finde, es ist eine tolle Idee, den Schutzengeln zu danken.“ Erik schnaubte spöttisch. „Wenn du meinst.“ „Glaubst du nicht an Schutzengel?“, wollte Vivien von ihm wissen. Erik antwortete nüchtern. „Für mich ist das religiöser Unfug. Der einzige, der auf einen aufpasst, ist man selbst.“ Vivien kicherte hell. „Bestimmt hast du bisher nur nicht richtig darauf geachtet. Also ich kann deine Schutzengel ganz genau sehen!“ Zynismus zeigte sich auf Eriks Gesicht. In diesem Moment kam der Sportlehrer der Jungs ins Klassenzimmer. „Der Sportunterricht heute Mittag entfällt. Auch für die Mädchen.“, verkündete er. „Sagt’s weiter.“ Und schon ging er weiter zur nächsten Klasse. Vitali stieß einen Freudenruf aus. „Es gibt Engel!“ Nach dem Unterricht verließen sie gemeinsam das Schulgebäude. Die fünf warteten darauf, dass sich Erik von ihnen verabschiedete, damit sie sich noch kurz über Beschützerangelegenheiten unterhalten konnten. Er machte jedoch keinerlei Anstalten, sich von ihnen zu trennen. „Willst du nicht heim?“, fragte Vitali irritiert. Erik hob die linke Augenbraue. „Willst du mich loswerden?“ Vitali grinste spitzbübisch. „Immer.“ Erik grinste zurück. „Ich dachte mir, von jetzt an sollte ich meine Freundin nach Hause begleiten.“ Ohne zu zögern legte er seinen Arm um Serena, woraufhin diese ihn missbilligend ansah, derweil Vitalis Gesicht sich unschön verzog. Bevor Vitali jedoch etwas sagen konnte, rief Ariane freudig aus: „Du willst mit uns mitgehen?“ Dass sie so begeistert darüber sein würde, hatte Erik nun wirklich nicht erwartet. Aber von jetzt an würde er auf alles vorbereitet sein! „Nein.“, sagte er überheblich. „Ich will nur mit Serena mitgehen. Mit dir hat das nichts zu tun.“ Arianes Freude schlug in Empörung um. „Worauf wartest du denn dann noch?“, zischte sie. Erik sah daraufhin auf Serena. „Ja, worauf warten wir eigentlich noch?“ Genervt rollte Serena mit den Augen. „Wenn ihr beide euch streiten wollt, lasst mich da raus.“ Vivien klang vergnügt. „Lass ihnen doch den Spaß! Wenn du und Vitali euch streitet, sagen wir doch auch nichts,.“ „Was, ihr sagt da nichts?!“, stieß Serena aus. „Wie oft krieg ich denn zu hören, dass wir uns vertragen sollen!“ Vivien zog ein argloses Gesicht. „Oh. Du hättest doch sagen können, dass es dich stört, wenn wir eure Flirtversuche unterbrechen.“ „Wir flirten nicht!“, schrie Serena. „Das will ich doch hoffen, Schatz!“, sagte Erik in gespieltem Ernst. „Ach, halt die Klappe.“, grummelte Serena halblaut. Erik grinste amüsiert. Schließlich trennte sich die Gruppe. Ariane drehte sich nochmals zu Vitali um und zeigte ihm den erhobenen Daumen. Wehleidig sah Vitali ihr nach, denn er wusste, dass Ariane sich als Belohnung nicht gerade die billigste Pizza aussuchen würde. Aber noch war ja nicht gesagt, dass es ihr wirklich gelang, Erik auszuquetschen. Hätte sie doch bloß Serena vorher eingeweiht! Ariane ärgerte sich über sich selbst. Gemeinsam mit Serena wäre es ein Leichtes oder zumindest leichter gewesen, im Gespräch mehr über Eriks Vater herauszufinden. Aber so war sie nun gezwungen, abzuwarten, um nicht Gefahr zu laufen, dass Serenas Kommentare unbeabsichtigt ihre Pläne durchkreuzten. Der Heimweg zog sich hin und als sich Serena schließlich verabschiedet hatte, kam endlich Arianes Gelegenheit. „Erik, was ich dich noch fragen wollte.“, begann sie und bemühte sich, ihre Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.. „Du und dein Vater… Habt ihr eigentlich gemeinsame Interessen? Ich meine, was macht dein Vater denn so in seiner Freizeit?“ Nicht dass sie davon ausging, dass Erik etwas antwortete wie: ‚Er erschafft Schatthen und versucht die Weltherrschaft an sich zu reißen.‘ Eriks Gesicht verzog sich in Unglauben. „Was?“ Ariane versuchte sich an einem unschuldigen Lächeln. „Hat dein Vater irgendwelche Hobbys?“ „Wie kommst du jetzt darauf?“ Skepsis legte sich auf seine Züge. „Es interessiert mich einfach.“, entgegnete Ariane, noch immer lächelnd. „Und wieso?“ Langsam aber sicher wurde Ariane das künstliche Lächeln anstrengend. „Einfach so eben!“ Noch einen Moment sprach kompletter Zweifel aus Eriks Miene, dann wurde daraus Unwille. „Wenn du dir irgendwelche Pläne ausdenken willst, damit ich mich mit meinem Vater besser verstehe, vergiss es sofort wieder!“ Die Lässigkeit war aus seiner Stimme gewichen, doch Ariane registrierte es nicht. Zu überrascht war sie über seinen Einfall. Seine Idee war ein gutes Alibi für ihre Befragung! Daher griff sie den Gedanken kurzerhand auf. „Man könnte es doch versuchen! Wenn du dich etwas anstrengst, dann –“ Mitten im Satz brach sie ab. Eriks mörderischer Blick schnürte ihr die Luft ab. Purer Zorn sprach augenblicklich aus seiner gesamten Erscheinung. „Halt dich da raus!“, stieß er scharf aus. Es war eine unmissverständliche Drohung. Schockiert und eingeschüchtert wurden Arianes Schritte langsamer. Wie hätte sie auch verstehen können, was ihr Kommentar aus den Tiefen seiner Seele schlagartig ans Tageslicht zerrte. Ohne auf ihre Reaktion zu achten, lief Erik mit unvermindertem Tempo weiter – sein Gesicht eine Maske des Zorns. Ariane verspürte eine Mischung aus Entrüstung und Unruhe. Empört und verängstigt durch Eriks plötzliche Aggressivität biss sie die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Mit großen Schritten holte sie ihn wieder ein. „Glaubst du, es wird besser, wenn du deine Probleme verdrängst?“ Überreizt stoppte Erik in der Bewegung, drehte sich abrupt zu ihr um und hielt ihr warnend die Hand entgegen. Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. „Das geht dich überhaupt nichts an!“ Aufgebracht schlug Ariane seine Hand beiseite. „Benimm dich nicht wie ein Kind!“ Das hätte sie nicht tun sollen… Eriks Reaktion war beängstigend. Sein Hass fiel Ariane an und versuchte ihr Innerstes zu zermalmen. Von Eriks Stimme war nur noch ein tobsüchtiges Knurren geblieben. Langsam und bedrohlich spie er die Worte aus: „Wag es nicht, mich noch einmal so zu nennen.“ Seine Raserei weckte umso mehr Widerstand in Ariane. „Warum? Weil du die Wahrheit nicht ertragen kannst?“ Ein Augenzwinkern lang starrte Ariane in Eriks wutverzerrtes Gesicht und obwohl ihr Gesichtsausdruck nicht an Unbeugsamkeit verlor, zitterte sie innerlich vor Angst, dass Erik seine Wut nicht unter Kontrolle halten und sie sich in roher Brutalität entladen würde. Brutalität, die sich gegen sie richtete. Und wie nah sie damit an der Wahrheit lag. Nur mit größter Mühe gelang es Erik, sich abzuwenden. Tonlos, die Zähne fest zusammengebissen, und den Blick starr nach vorne gerichtet, entfernte er sich mit festen Schritten von ihr. „Erik!“, schrie sie ihm hinterher, doch er reagierte nicht. Ariane konnte nicht mehr zurück. Ein innerer Drang hielt sie davon ab, die Sache einfach auf sich bewenden zu lassen. Obwohl sie nicht wusste, was geschehen würde, wenn sie nicht endlich stoppte, konnte und wollte sie hier nicht abbrechen. Sie rannte Erik hinterher und packte ihn entschlossen am Arm. Mit einer harschen, brutalen Bewegung riss sich Erik los. „Fass mich nicht an!!!“ Seine Stimme war so erschütternd und gewaltbereit, dass Ariane vor Entsetzen fast schwarz vor Augen wurde. Im gleichen Moment kreischte sie schrill auf. „Hör auf!“ Ihre Züge konnten ihre Gefühlsregung nicht länger vertuschen. „Siehst du denn nicht, was du tust? Du wirst genau wie dein Vater!“ Schlagartig erstarrte Erik. Der Zorn in seinem Gesicht wandelte sich jäh zu einer Art Ohnmacht. Durch ihre brennenden Tränen hindurch sah Ariane, wie sein Blick zu Boden glitt. Halb erstickt hauchte sie. „Es … tut mir leid.“ Alles war zu viel. Eriks Wandel zu einem komplett Fremden, jemandem, von dem sie sich bedroht fühlte, der ihr Angst machte! Mit wirrem Kopf wich sie vor ihm zurück. Wie vor einer wilden Bestie. Etwas packte sie am Handgelenk! Ariane stieß einen heiseren Schreckenslaut aus. Eriks erbarmungsloser Griff hielt sie fest, ohne dass er dabei aufblickte. Panisch sog Ariane Luft in ihre Lungen, aber auch das half nichts. Sie hatte erdrückende Angst! Und konnte das Schluchzen nicht länger zurückhalten. Im gleichen Atemzug ließ Erik von ihr ab. Sie sah, dass seine Hand leicht zitterte. Noch immer starrte er zu Boden. Eine Sekunde wollte Ariane weglaufen. Ganz weit weg. Weg von Erik. Aber gleichzeitig konnte sie es nicht. Sie hatte furchtbare Angst, in seiner unmittelbaren Nähe zu sein, und doch … Ariane hörte Erik nach Atem ringen. Er schluckte hart. Und so groß und durchtrainiert er war, und so große Angst er ihr machte, in diesem Augenblick bildete sie sich ein, etwas ganz anderes in ihm zu sehen: ein kleines verschüchtertes Kind, einsam und verlassen, unfähig sich zu regen. Vielleicht war es Mutterinstinkt, vielleicht Beschützer-Instinkt, Atem holend kratzte Ariane allen ihr verbliebenen Mut zusammen, dann streckte sie zaghaft ihre Hand aus. Noch einmal stockte sie in der Bewegung, kam Furcht in ihr hoch, ehe sie vorsichtig Eriks Hand berührte. Als hätte sie ihm einen schmerzhaften Hieb versetzt, schnellte Eriks Kopf zu ihr, sodass sie fast vor Schreck ihre Hand wieder zurückgezogen hätte. Sie sah in seine Augen und erkannte darin mindestens genauso viel Furcht wie sie selbst hatte. Erik blinzelte und schlug die Augen nieder, woraufhin sie seine Hand nun vollends ergriff. Ganz fest. Für Augenblicke drückte sie seine Hand. Schwach kam ein Flüstern aus seinem Mund. „Warum tust du das?“ Kurz suchte Ariane nach Worten. Nein, sie suchte nach einer Antwort! „Ich weiß nicht.“, gestand sie. Wieder herrschte Schweigen. Langsam blickte Erik auf, blickte sie an, und die Qual, die Ariane in seinen Zügen las, raubte ihr den Atem. Sie konnte nicht anders. Sie trat einen Schritt weiter auf ihn zu, überwand die Distanz zwischen ihnen, ohne zu wissen, was jetzt zu tun war. Darüber brauchte sie sich auch nicht länger Gedanken machen. Noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, fand sie sich in Eriks Armen wieder. Er drückte sie so fest an sich wie es nur ging ohne schmerzhaft zu sein. Mit der rechten Hand hielt er ihren Kopf fest, mit der anderen ihren Oberkörper. An ihrer linken Wange fühlte sie sein glühendes Gesicht, das er fiebrig an ihres presste. Und ob es ihr unbändiges Herzklopfen war oder seines, konnte sie nicht mehr sagen. Das heftige Rauschen ihres Blutes, der Geruch seiner Haut und seine hilfeflehende, innige Umarmung ließen alles zu einem seltsamen Mischmasch verschmelzen, so dass sie nicht länger sicher war, ob sie wachte oder träumte. Sie wusste auch nicht, wie lange dieser Zustand andauerte, wie lange sie seine Körperwärme spürte, wie lange das unbekannte Schwindelgefühl in ihrem Kopf und ihrem ganzen Körper anhielt. Es konnten mehrere Minuten gewesen sein, aber genauso gut ein Augenzwinkern. Sie wusste nur, dass sie die Augen geschlossen und nicht länger darüber nachgedacht hatte; bloß noch Eriks schwächer werdendes Zittern, seinen anfangs hektischen Atem und schließlich seinen wieder ruhiger werdenden Herzschlag in sich aufgesogen hatte, während das heiße, bebende Pochen in ihren Adern ihr schwummrig werden ließ. Zu einem ungewissen Zeitpunkt hatte sich Eriks Griff gelockert und nach und nach waren sie voneinander weg getorkelt, stumm und wirr. Für Momente standen sie sich wortlos gegenüber, ohne einander anzusehen. „Sprich ... es nie wieder an.“, sagte Erik schleppend und heiser. Reflexartig nickte Ariane. Weitere Sekunden verstrichen, dann machte Erik einen Ausfallschritt und lief an ihr vorbei. „Lass uns gehen.“ Perplex starrte Ariane ihm nach und brauchte noch einen Moment, bevor sie ihm zaghaft folgte – immer in wenigen Schritten Abstand. Minutenlang fiel kein einziges Wort. Keiner sah den anderen an. Nur ab und zu hob Ariane den Blick und beobachtete, wie er vor ihr lief. Etwas an Eriks Art, an seinem Gang, an seiner ganzen Ausstrahlung, erinnerte sie so heftig an Secret, dass sie sich des absurden Gedankens nicht erwehren konnte, er könne sich plötzlich wieder an alles erinnern. Der Drang, diese Vermutung bestätigt zu wissen, wurde übermächtig. Ariane holte Luft. „Secret…“ Der Junge vor ihr blieb abrupt stehen. Ariane kam es wie eine Ewigkeit vor, bevor er sich endlich zu ihr umdrehte. Secrets gefühlsleerer Blick begegnete ihr – ohne Erkennen. Ariane schluckte. Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, dann erschien ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen. „…So hieß er. Der Junge aus dem Roman.“ Der Schwarzhaarige nahm ihren Kommentar stumm zur Kenntnis, drehte sich wieder um und ging weiter. Diesmal schloss Ariane zu ihm auf. Grauen-Eminenz saß in einem abgedunkelten Raum, einen imaginären Bildschirm vor sich. Er ging nochmals die Aufnahmen durch, die er von den Kämpfen seiner Auserwählten gemacht hatte. Es waren insgesamt drei. Ein Video vom Supermarkt, eines vom Entschaithaler Kurpark und schließlich jenes von der Burg Rabenfels. Letzteres hatte ihm keinerlei neuen Erkenntnisse geliefert. Auch der Angriff im Kurpark war nicht sehr aufschlussreich gewesen. Die Bilder waren nicht von Blickfenstern eingefangen worden, sondern stammten aus der Sicht der Schatthen. Entsprechend hatte die Aufnahme jedes Mal gestoppt, wenn der jeweilige Schatthen zerstört worden war. Daher wusste Grauen-Eminenz nicht, was nach diesem Kampf geschehen war. Was zum Teufel diese plötzliche Sinneswandlung in seinen Auserwählten ausgelöst hatte! Er wusste überhaupt nicht, wie sie die Kräfte, die er ihnen verliehen hatte, einfach so wieder unter Kontrolle hatten bringen können. Wie auch immer. Er wandte sich der Aufnahme vom Supermarkt zu. Diese lieferte eindeutig das beste Bildmaterial. Für gewöhnlich dauerte ein Blickfenster zu erzeugen zwar eine Weile, je nachdem wie geübt man darin war, aber wenn sich elektrische Leitungen in der Nähe befanden, an die man andocken konnte, war das etwas anderes. Daher hatte er die zahlreichen Leuchten im Supermarkt angezapft und so trotz der sehr kurzfristigen Entscheidung, den Angriff im Supermarkt auszuführen, das gesamte Innere überwachen können. Im Park und in der Burg war dies natürlich nicht möglich gewesen. Er spielte das Video ganz zurück. Leider hatte er die Blickfenster erst kurz vor dem Einschleusen der Schatthen aktivieren können. Es hatte alles sehr schnell gehen müssen, daher war auch keine Tonspur aufgezeichnet worden. Zunächst hatte er nun das gesamte Innere der Filiale aus der Vogelperspektive vor sich, zoomte dann aber zu der Ecke, in der die fünf mit einem Einkaufswagen standen. Sie unterhielten sich augenscheinlich und liefen dann weiter. Auf einmal machten sie seltsame Bewegungen, als würde etwas sie in Panik versetzen. Anschließend ließen sie ihren Einkaufswagen stehen und rannten auf den Hauptgang des Supermarkts zurück, sprachen dort mit einer Kundin, die sich ohne Antwort schnell von ihnen entfernte, und liefen dann mit einem Mal wieder zurück in die Ecke, aus der sie gekommen waren, als wollten sie sich verstecken. Er hielt das Bild an. Dieses Verhalten seiner Auserwählten hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht mitbekommen, da er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, die Schatthen einzuschleusen und zu befehligen. Ansonsten hätten diese verdammt dummen Kreaturen noch ein Blutbad angerichtet, das er im Gegensatz zu ein paar umgestürzten Regalen nicht mehr hätte rückgängig machen können. Das war interessant. Diese abrupte Verhaltensänderung war eingesetzt, bevor die fünf etwas von den Schatthen hatten wissen können. Hatten sie etwas davon gespürt? Vielleicht hatten sie einen sechsten Sinn. Aber warum waren sie dann nicht sofort geflohen? Unwichtig. Wie es schien, hatten diese Bälger die Fähigkeit, die Präsenz der Schatthen zu erspüren, und das war entscheidend. Mehr konnte er aus den Videos auch nicht erfahren. Außerdem lieferten sie ihm keinerlei Hinweise auf die Kräfte seiner Auserwählten. Grauen-Eminenz hielt kurz inne. Was war mit dem Zeitraum, in dem sie in seinem Reich eingesperrt waren? Das Labyrinth hatte nichts Großartiges gezeigt, nur ein paar spontan eingesetzte Taschenspielertricks, und das Spiegelkabinett hatte ihm zumindest gezeigt, dass ungeheures Potential in ihnen schlummerte oder zumindest in dem dunkelhaarigen Mädchen. Aber was war mit vorher? Was war mit der seltsamen Verwandlung? Er hatte sie bisher ganz außer Acht gelassen. Er machte eine Handbewegung und der Bildschirm veränderte sich. Die Gedanken aufs Äußerste konzentriert ging er seine Aufzeichnungen durch. 31. August. Die Unendlichen Ebenen. Da war es. Die Aufnahme war um einiges besser als alle anderen Videos, schließlich handelte es sich hier um sein Reich und damit hatte er vollkommene Befehlsgewalt über alles. Doch wirklich aufschlussreich war sie auch nicht. Wieder sah er das helle Licht, das seine Schatthenarmee vor über einer Woche ausgelöscht hatte, aber wie dieses Licht entstanden war, woher es stammte, war nicht ersichtlich. Die fünf hatten nicht einmal den Ansatz dazu gemacht, eine Macht herbeizurufen und dennoch war sie erschienen. Und dann waren da noch diese runden Lichter, die er nicht erkennen konnte und die anscheinend für die Verwandlung verantwortlich waren. Gereizt stieß er den Atem aus. So kam er nicht weiter. Er musste ihre Kräfte im konkreten Fall analysieren. Ihre Essenz, ihre Zusammensetzung, den Akt des Heraufbeschwörens. Sein Versuchskaninchen kam ihm wieder in den Sinn. Erik saß in seinem Zimmer auf einem Sessel und las einen Artikel auf seinem Smartphone, als seine Zimmertür geöffnet wurde. Er drehte sich um. Ohne ein Wort des Grußes legte sein Vater ihm ein großes Kuvert auf das Sideboard. „Das gibst du morgen bei Finster ab.“ Sein Vater wartete erst gar nicht seine Reaktion ab, sondern wandte sich zum Gehen. Wütend ballte Erik die Hände zu Fäusten und wollte gerade Widerspruch einlegen, als ihm Arianes Bild durch den Kopf schoss und er zögerte. Im nächsten Atemzug war sein Vater auch schon aus seinem Zimmer verschwunden. Erik stand auf und lief hinüber zu dem Kuvert. Er nahm es in die Hand und betrachtete es unwillig. Arianes Worte ertönten in seinem Kopf: ‚Wenn du dich etwas anstrengst, dann ...‘ Aufgebracht warf er das Kuvert zurück auf das Sideboard und biss die Zähne zusammen. Ein Zittern ging über seinen Körper und er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Das hatte er längst hinter sich! Kapitel 57: Schutzengelfest --------------------------- Schutzengelfest „Für die Seele gibt es zu keiner Zeit Geburt oder Tod.“ (Bhagavad-gita, altindische Wissensschrift) Unterrichtsende. Gemeinsam mit Erik verließen sie das Schulgebäude. Doch zu ihrer Überraschung verabschiedete er sich direkt von ihnen. Besorgnis machte sich in Ariane breit. „Willst du nicht mit uns gehen?“ Vielleicht war das eine dumme Frage. Nach allem, was am Vortag geschehen war, nur weil sie ihn unbedingt über seinen Vater hatte ausfragen wollen, war es wohl logisch, dass er ihre Nähe meiden wollte. „Ich muss ein Kuvert für meinen Vater abgeben.“, erklärte er, als wäre nichts weiter dabei. Die anderen nickten nur, doch Ariane machte große Augen. Erik begegnete ihrem Blick, sagte aber nichts. Während er sich umwandte, hob er die Hand zum Abschied und ging davon. Als er außer Hörweite war, seufzte Vitali. „Na gut. Was für ne Pizza willst du?“, murrte er. Erst schaute Ariane ihn verdutzt an, dann vollführten ihre Mundwinkel einige unschlüssige Bewegungen, die in einem unschuldigen Grinsen endeten. „Äh, na ja, … gar keine.“ Vitali zog eine Grimasse. „Wie jetzt?“ „Ich finde, wir sollten die ganze Sache abblasen!“, verkündete sie entschieden. „Hä!“ Mit reichlich unwilligem Gesichtsausdruck mischte sich Serena ein. „Wovon redet ihr?“, knurrte sie. Brühwarm erzählte Vitali ihr von ihren Plänen. „Ariane und ich haben darum gewettet, wer Erik als erstes über seinen Vater ausgefragt kriegt.“ Serenas Wut wich Unglauben. „Wozu?“ „Ariane wollte unbedingt rauskriegen, ob er vielleicht der Schatthenmeister ist.“, erklärte Vitali spöttisch. „Was nicht gerade unwahrscheinlich ist!“, warf Ariane ein. „Du wolltest es doch gerade noch abbrechen.“, hielt Vitali ihr entgegen. Ariane zog einen Schmollmund. „Aus anderen Gründen...“ „Und die wären?“, wollte er wissen. Ariane bemühte sich um einen möglichst beiläufigen Tonfall. „Er will nicht über seinen Vater reden.“ „Achsoooo! Er will nicht darüber reeeden!“, sagte Vitali langsam und gedehnt. Schlagartig wurde er laut. „Erst machst du mir die Hölle heiß, dass ich ihn ausquetschen soll und dann kommst du mir mit ‚Er will nicht darüber reden‘?! Soll das ein Scherz sein!“ Ariane lächelte beunruhigend freundlich. „Wenn du so scharf auf Eriks Reaktion bist, dann“, bei den nächsten Worten verzerrte ein geisteskrankes Grinsen ihre Mundwinkel, als würde ihr die Aussicht auf brutale Verstümmelung Freude bereiten, „will ich dich nicht aufhalten.“ Entsetzen verformte Vitalis Gesicht. In blankem Horror riss er die Arme vors Gesicht, als hätte er aus Arianes Worten den Leibhaftigen herausgehört. Er wandte sich für eine Millisekunde theatralisch ab, um Ariane anschließend verständnisvoll und entschuldigend auf die Schulter zu klopfen. „Mein Beileid.“ Ariane schaute bemitleidenswert und nickte unglücklich. „Was ist denn passiert?!“, forderte Serena zu wissen. Ariane und Vitali warfen ihr einen seltsamen Blick zu und wandten sich dann wieder aneinander. „War es der Dämonenfürst?“, fragte Vitali mitfühlend. „Schlimmer.“, jammerte Ariane, während Serena der Geduldsfaden riss. „Hey! Wovon redet ihr!“ Die beiden gingen nicht auf ihre Frage ein. Unbeirrt setzten sie ihre Unterhaltung fort. „Vielleicht ist sie immun dagegen.“, meinte Ariane nachdenklich. „Das liegt daran, dass sie dieselbe Spezies ist.“, war Vitalis These. Serena ließ einen tobsüchtigen Schrei los. Bevor sie allerdings auf die beiden losgehen konnte, ergriff Justin das Wort. „Wir sollten wirklich mehr über Herrn Donner herausfinden. Nur für den Fall, dass er tatsächlich mit dem Schatthenmeister zusammenhängt oder es sogar selbst ist.“ Vitali widersprach: „Du hast doch gerade gehört, was Ariane gesagt hat. Wir können Erik nicht fragen. Das wäre reiner Selbstmord!“ Er schaute, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen, derweil Ariane bestätigend nickte. „So schlimm kann es doch wohl nicht sein.“, grummelte Serena. Wieder bedachten Vitali und Ariane sie mit undeutbaren Blicken, sodass Serena aufschrie. „Hört auf damit!!!“ Fröhlich wie immer mischte sich Vivien ein. „Es gibt doch auch andere Möglichkeiten, mehr über Herrn Donner herauszufinden!“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn wir Erik direkt fragen, wird er doch nur wieder misstrauisch.“ Vitali und Ariane atmeten erleichtert auf, während Serena von den beiden extrem genervt war. „Wir sollten auch Infos über Herrn Finster sammeln.“, schlug Justin vor. Ariane meldete sich. „Darum kümmere ich mich.“ Serena bedachte sie mit einem kritischen Augenaufschlag. „Obwohl du ihn so gut leiden kannst?“ „Glaubst du, ich würde absichtlich den Schatthenmeister decken, weil er mir sympathisch ist?“ Serenas Gesichtsausdruck gab ihr die Antwort. Ariane war davon empört. „Es geht nicht darum, dass du ihn deckst, sondern dass du die Informationen anders auswertest.“, berichtigte Serena. Vivien trat zwischen sie. Mit der Rechten deutete sie auf Serena. „Du klagst ihn an!“ Ihre Linke zeigte auf Ariane. „Du verteidigst ihn!“ Zufrieden verschränkte sie die Arme. „Zusammen haben wir dann für beides Argumente.“ Justin beschloss: „Ich suche die Informationen über Herrn Donner.“ „Hey, seid ihr mal auf die Idee gekommen, dass es jemand ganz anderes ist?“, bemängelte Vitali. „Noch ein Freiwilliger!“, freute sich Vivien. „Du sammelst die Indizien, die für einen anderen als Schatthenmeister sprechen. Vielleicht findest du ja weitere Verdächtige.“ „Muss das sein?“, klagte Vitali. „Japp.“ Vitali stöhnte. „Und was machst du, bitteschön?“ „Ich beaufsichtige das Ganze!“, grinste Vivien. „Von wegen!“, schrie Vitali. Vivien streckte ihm die Zunge raus. „Eine Pro und Kontra Liste, ob wir Erik die Wahrheit sagen sollen, wäre sinnvoll.“, kam es Ariane. „Klar!“, stimmte Vivien freudig zu. „Und am Samstag tauschen wir unsere Ergebnisse aus.“ Die anderen waren einverstanden. Anschließend warf Justin Vivien einen ernsten Blick zu. „Wegen Erik...“ Vivien nickte sofort. Kleinlaut fügte Justin an. „Du hättest es ihnen schon längst sagen sollen.“ Als Antwort kicherte Vivien bloß. „Müssen heute alle in Rätseln sprechen!“, tobte Serena. „Ist heute der Tag des Insiderwissens?!“ „Heute ist immer noch der Tag des Schutzengelfests!“, entgegnete Vivien überzeugt. „Schieß schon los!“, blaffte Serena. Vivien drehte sich nochmals zu Justin. „Du erklärst das viel schöner.“ Justin wurde verlegen. „Fangt endlich an!!!“, kreischte Serena. Vitali wandte sich an Ariane. „Und ich dachte immer, ich sei ungeduldig.“ Serena platzte der Kragen. „Ihr mit euren blöden Pärchenbildungen! Ihr könnt mich mal!!!“ Wutentbrannt stapfte sie davon. Dass Vivien und Justin zusammenklebten, war ja nichts Neues, aber dass sich jetzt auch noch Ariane und Vitali hinter ihrem Rücken zusammengetan hatten! Serena verspürte das Gefühl des Ausgeschlossenseins so heftig, dass sie nicht wusste, ob sie jemanden verprügeln oder heulen wollte. „Serena!“ Eine schwere Klette stoppte Serenas Bewegungen. Vivien hatte ihre Arme um sie geschlungen. „Renn doch nicht wieder weg!“ Vitali kam hinterher gestapft. „Das macht sie ständig.“, kommentierte er gelangweilt und brachte damit das Fass zum Überlaufen. Serena tickte aus. „Wir sollten Erik doch die Wahrheit sagen! Dann hätte ich auch jemanden, mit dem ich mich zusammentun kann!“ Auf diese Aussage hin verzog sich Vitalis Gesicht unschön. Ariane jedoch strahlte. „Stimmt, du würdest dich wirklich super mit ihm verstehen!“ Für einen Moment von Arianes ehrlicher Begeisterung über ihren Vorschlag geplättet, reagierte Serena umso gereizter. „Toll! Dann kannst du doch mit Vitali in ein Team gehen!“ Vitali war nun vollends beleidigt. „Das wäre wohl besser so!“, schrie er. „Ja, wäre es!“, schrie sie. Überschattet von dem Geschrei der beiden, wie schrecklich sie doch einander fänden und wie gut es wäre, wenn sie einander los hätten, presste Justin leise Worte hervor. „Wie kommt es, dass jede Unterhaltung zwangsläufig auf einen Streit zwischen Serena und Vitali hinausläuft?“ „Keine Ahnung.“, antwortete Ariane resigniert. Beide seufzten zeitgleich. „Stopp!“, schrie Vivien so laut, dass sie selbst Serena und Vitali damit übertönte. Sogleich wurde sie von den finsteren Grimassen der beiden fixiert. Vivien grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Ihr habt sowieso nicht zu entscheiden, wer euer Beschützerpartner ist. Solange ich es will, bleibt ihr ein Zweier-Team. Und ich will das noch seeeehr, seeeehr lange!“ „Du bist nicht der Anführer!“, keifte Serena. Vivien belehrte sie: „Justin ist der Anführer!“ Der erklärte Anführer schaute völlig überrumpelt drein. „Hey, wer hat das entschieden?!“, beschwerte sich Vitali. „‘Wird Vertrauen euch leiten bis zur Ewigkeit‘. So steht es in der Prophezeiung!“, klärte Vivien die anderen auf. „Hast du diesen Schwachsinn etwa auswendig gelernt?“, fragte Vitali mürrisch. Vivien grinste bloß. „Tja. Und da Justin das macht, was ich will, habt ihr beiden Pech gehabt!“ Sie brach in schadenfrohes Gelächter aus, während Justin schamrot in sich zusammenschrumpfte. Ariane, die dies mit einiger Besorgnis registrierte, versuchte Justin, aus der Schussbahn zu manövrieren. „Ähm, könnten wir zurück zu dem kommen, was ihr uns erzählen wolltet?“ „Natürlich!“, rief Vivien. „Und nun wird unser Anführer euch erzählen, was am Samstag passiert ist!“, kündigte sie an und präsentierte Justin, als wäre er ein berühmter Popstar, der nun seinen Auftritt hatte. Kleinmütig setzte Justin zu einem Widerspruch an: „Ich … Ich bin doch gar nicht der …!“ Vivien strahlte ihn erwartungsvoll an. Justin seufzte und ließ es dabei bewenden. Solange Vivien sich in den Kopf gesetzt hatte, dass er der Anführer war, war jeder Widerspruch ohnehin zwecklos. Nach einem weiteren Seufzer begann er seine Rückblende. „Ihr wisst doch noch bei Erik zu Hause, als Vivien die Idee mit dem Meditieren hatte und wir einander an den Händen nehmen sollten.“ Die anderen nickten. „Vivien hatte das Ganze geplant, sie wollte ihre Kräfte bei Erik einsetzen.“ Prompt schnellten alle Blicke zu Vivien. Dann fixierte Serena wieder Justin an. „Warum habt ihr uns nichts gesagt?!“ Die vorwurfsvolle Kränkung, die aus ihren Worten sprach, machte ihn für einen Moment mundtot. Getroffen sah er Serena an und hatte dabei den hilflosen Blick eines Hundewelpen. Aber Serena konnte das nicht gnädig stimmen. Sie war enttäuscht. Sonst hatte Justin immer gesagt, dass sie keine Schritte ohne das Wissen der anderen unternehmen sollten, und jetzt das! „Justin hat nichts davon gewusst.“, klärte Vivien das Missverständnis auf. „Er ist von alleine darauf gekommen, als ich vor Erik zurückgeschreckt bin. Und ausgeschimpft hat er mich auch, dass ich euch nicht eingeweiht habe.“ Sie kicherte und klopfte Serena gegen den Oberarm. „Er würde nie etwas vor euch geheim halten!“ Serenas Mund verzog sich. „Im Gegensatz zu dir, was?“ Vivien streckte erheitert die Zunge heraus. „Wenn ich euch vorgewarnt hätte, dann hättet ihr vielleicht verdächtig erwartungsvoll geschaut oder irgendwie überreagiert. Außerdem hätte dann niemand der Idee mit dem Meditieren widersprochen, das hätte auch unecht gewirkt.“, rechtfertigte sie ihre Vorgehensweise. Justin schaute unzufrieden. „Es hätte gefährlich sein können.“ „Dann hättet ihr mich doch sicher gerettet!“, lachte Vivien unbekümmert. „Das ist nicht lustig, Vivien.“, sagte Justin. Vivien versuchte ihn mit einem treuen Blick zu besänftigen. „Ich hab dir doch schon versprochen, dass ich ab jetzt immer Bescheid sage.“ Im nächsten Atemzug machte sie jedoch einen Schwenker. „Zumindest einem von euch, der in besagtem Fall am wenigsten auffällt.“ Die anderen machten misstrauische Gesichter. Wahrscheinlich würde Vivien das nächste Mal einfach behaupten, sie habe spontan gehandelt, um so das Versprechen zu umgehen. „Aber was ist denn nun passiert?“, wollte Ariane endlich wissen. Vivien begann zu berichten. „Als ich gerade seine Gefühlsebene gefunden hatte, hab ich plötzlich diesen Elektroschock abgekriegt.“ „Erik ist ein Pikachu!“, lachte Vitali. Ariane ging nicht darauf ein. „Waren das seine Kräfte?“ Vivien schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Aber irgendwie schon. Bloß nicht wie die Kräfte von uns. Anders.“ Die anderen schauten verwirrt. Ariane hakte weiter nach. „Meinst du, das hängt mit der Wunde zusammen?“ „Auch nicht richtig.“ Vivien wurde nachdenklich. „Es ist … Wie soll ich das sagen. Es ist etwas, das zu Erik gehört und doch nicht. Es ist irgendwie fremd, als wäre es nicht aus freiem Willen entstanden. Es ist wie ein Schutzschild, aber gleichzeitig auch ein Gefängnis. Das ist schwer zu erklären. Als würde jemand etwas verstecken, das man nicht verstecken sollte. Etwas, das traurig macht, wenn man es anderen nicht zeigen kann. Aber man hat auch Angst, es zu zeigen. Vielleicht Angst, weil es jemand anderes kaputt machen könnte… Ja. Man will es beschützen und gleichzeitig ist man unglücklich dabei!“ „Huäh?“ Vitali verstand nur Bahnhof. „Etwas, das er niemandem zeigen will.“, wiederholte Ariane und sah gedankenverloren zu Boden. Eriks Reaktion vom Vortag kam ihr in den Sinn. Seine hilfesuchende Umarmung… Schnell schüttelte sie die Erinnerung ab. Zu befremdend war die Reaktion, die sie in ihr auslöste. „Erik und Secret.“, murmelte sie. „Woran denkst du?“, erkundigte sich Justin bei ihr. „Ich weiß nicht genau, aber irgendwie hängt es zusammen. Erik und Secret, etwas, das er nicht zeigen will.“ „Seine Gefühle.“, sagte Serena, als wäre das doch wohl offensichtlich. „Secret hat sie nie gezeigt.“ Ariane machte große Augen. „Das ist es! Wie ein Schutzmechanismus!“ Aufgeregt teilte sie ihre Erkenntnis mit den anderen. „Wenn er seine Gefühle verstecken muss, wird er zu Secret!“ Das erklärte sein gestriges Verhalten nach dem Vorfall. Justin versuchte, daraus schlau zu werden. „Dann setzen seine Kräfte automatisch ein? Meinst du das?“ „Das weiß ich nicht.“, gestand Ariane. „Aber er benimmt sich wie Secret, wenn er sich bedroht fühlt.“ Justin zog ein ernstes Gesicht. „Was genau ist gestern passiert, als du ihn ausgefragt hast?“ Ariane wich seinem Blick aus. „Er … ist wütend geworden.“ Sie schluckte. Für einen Moment rang sie mit sich. Einerseits war sie den anderen die ganze Wahrheit schuldig, andererseits kam es ihr falsch vor, geradezu verräterisch, ihre Erlebnisse preiszugeben. Für Erik war es sicher schlimm genug, dass sie ihn so gesehen hatte, wenn er wüsste, dass sie den anderen … Nein, das konnte sie nicht! Das durfte sie nicht. „Dann war er mit einem Mal Secret, natürlich ohne Erinnerung.“ Kurz herrschte Stille. „Wir werden ihm helfen!“, beschloss Vivien entschieden. „Und wie?“ Vitali wirkte wenig überzeugt. „Ganz einfach!“ Vivien strahlte einmal mehr über das ganze Gesicht. „Wir machen ihn glücklich! Schließlich sind wir doch seine Schutzengel!“ Ihre Aussage ließ die anderen aufhorchen. Schutzengel? Sie warfen sich verblüffte Blicke zu. „Hey, Serena hat schon wieder ihre Flügel vergessen!“, beanstandete Vitali lachend. Serena schlug nach ihm, konnte sich aber selbst das Grinsen nicht verkneifen. „Und wo findet nun das Fest für uns statt?“, alberte Vitali weiter. Vivien schien nur auf diese Frage gewartet zu haben. „Im Park natürlich!“ Aus der gläsernen Tür der Finster GmbH trat Erik. Er hatte das Kuvert im dritten Obergeschoss bei der Sekretärin von Herrn Finster abgegeben. Dem Unternehmensleiter persönlich war er heute nicht begegnet, was Erik nicht als sonderlich bedauerlich empfand. Das geradezu freundschaftliche Verhalten dieses Mannes machte ihn ganz krank! Genauso wie der Geiz seines Vaters, der die Unterlagen nicht einfach mit der Post schicken konnte. Eriks Blick fiel auf den Baugrund neben dem Firmengebäude. Momentan wurde dort aus unerfindlichen Gründen nicht gearbeitet. Wie wollten die Bauarbeiter es bloß schaffen, bis zu dem vereinbarten Termin fertig zu werden, wenn jetzt noch nicht einmal das Fundament stand? Aber was interessierte ihn das? Er hatte schon zu viel Zeit für diesen Mist verschwendet. Den Gedanken verdrängend wandte er sich ab und wollte gerade seines Weges – Ein grauenhafter Schmerz durchschoss seinen linken Oberarm. Es ging zu schnell, als dass er auch nur hätte aufschreien können. Reflexartig riss er seinen Kopf in Richtung Baustelle, als stünde dort ein Schütze, dessen Waffe seinen Arm mit einer unsichtbaren Bleikugel durchbohrt hatte. Nichts. Rein gar nichts. Der Lärm vorbeifahrender Autos und Menschen drang wieder an sein Ohr. Schwer atmend betrachtete er seinen Arm, nichts war von dem Schmerz geblieben, als wäre er nur eine Wahnvorstellung gewesen, ein Phantom. Er biss die Zähne zusammen. Nochmals betrachtete er den Baugrund und ärgerte sich über sich selbst. Eilig überquerte er anschließend die gerade frei gewordene Straße. Während er sich entfernte, regte sich etwas auf der Baustelle. Etwas Kleines, Leuchtendes, das jammernde Geräusche von sich gab, die an ein Glockenspiel erinnerten. „Danke!“, rief Justin und sprang aus dem Lieferwagen seiner Eltern. Vor der auf vier Uhr anberaumten Feier hatte er noch bei der Ernte helfen müssen, weshalb er – sehr zu seinem Leidwesen – dieses Mal nicht gemeinsam mit Vivien zum Park hatte laufen können. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr begann Justin zu rennen. Zwar hatte Vivien ihm versichert, dass es nicht so schlimm war, wenn er etwas später kam, aber beim Anblick ihres Lächelns war aus seinem Mund unwillkürlich das Versprechen gekommen, auf alle Fälle pünktlich zu sein. Warum arbeitete sein Körper bloß gegen ihn? Während dem Rennen fiel ihm außerdem auf, dass er nicht vom Acker gleich zur Feier hätte gehen sollen – in seinen Uralt-Jeans, dem Schlabber-Shirt, dem ramponierten Anorak und den nur behelfsmäßig vom größten Schmutz befreiten Joggingschuhen. War er ein Idiot? Keine Zeit für – Ein schriller, durchdringender Ton ging ihm durch Mark und Bein. „Wo ist Justin?“, fragte Vitali deutlich verwundert, als er als letzter bei den anderen dreien vor ihrem Hauptquartier ankam. Vivien ohne Justins Begleitung war ein ungewohnter Anblick. „Er kommt später. Er muss seinen Eltern noch bei der Ernte helfen.“, informierte Vivien. Ariane schaute verdutzt. „Hast du eben nicht noch zu uns gesagt, dass er dir versprochen hat, pünktlich zu sein?“ Vivien kicherte vergnügt. „Justin würde mir auch versprechen, mir den Mond vom Himmel zu holen!“ Die Selbstverständlichkeit in ihrer Stimme hatte eine verstörende Wirkung auf die anderen. Serena zog eine Grimasse. „Ich kann mir auch noch vorstellen, dass er das dann wirklich versuchen würde.“ Vivien lachte. „Aber nein! Er weiß, was das für verheerende Auswirkungen auf die Gezeiten hätte!“ Die Tüte mit Obst für die Feier fiel zu Boden. Panisch blickte Justin sich um. Er stand inmitten des Parks, links von ihm Bäume, in denen sie sich verstecken konnten, rechts von ihm der Fluss, die Brücke, Bänke, menschenleer. Das Piepsen der Alarmanlage in seinem Kopf wollte nicht verstummen. Wo waren sie? Er musste sich beruhigen. Um seine Kräfte einsetzen zu können, musste er konzentriert sein. Sich zwanghaft beherrschend, suchte er nochmals die Gegend ab. Wieso jetzt? Wieso hier? Hatten die Schatthen gewusst, dass er hierher kommen - Entsetzen machte sich in ihm breit. Das Hauptquartier! In blindem Wahn hetzte er los. Es war ihm egal, dass die Schatthen ihn nun hinterrücks attackieren konnten. Seine Freunde! „Gehen wir dann schon rein?“, fragte Vitali, der im Rucksack Saft- und Wasserflaschen mitgeschleppt hatte. Argwöhnisch musterte er dann Vivien. „Hast du nicht gesagt, du bringst die Gläser mit?“ Vivien hatte heute nicht einmal eine Tasche bei sich, den Haustürschlüssel hatte sie in ihrer Cargohose verstaut. Keine Spur von Gläsern. „Ich habe gesagt, ich sorge für Gläser, nicht dass ich sie mitbringen würde.“, berichtigte sie. „Hä?“ Vivien grinste. „Wozu hat man denn ein Haus, das alles macht, was man will?“ „Dann hoffe ich mal, dass es da drin wärmer ist als hier draußen.“, beschwerte sich Serena. „Du hast doch eh gesagt, Justin kommt später, wieso warten wir noch?“ Verstohlen linste Vivien auf ihre Armbanduhr und drehte den Kopf leicht zur Seite, wandte sich wieder vollständig den anderen zu und lächelte unbeschwert. „Gehen wir rein!“ Serena waren ihre flüchtigen Gesten nicht entgangen. Vivien hatte wohl doch gehofft, dass Justin ihr zuliebe pünktlich sein würde. Auch wenn Vivien es nicht zeigte, ging Serena davon aus, dass sie sehr viel unsicherer bezüglich Justins Gefühlen war, als sie vorgab zu sein. So oft wie Justin ihr bei ihren Annäherungsversuchen eine Abfuhr erteilte, war das wohl auch nicht weiter verwunderlich. Serena hätte an ihrer Stelle längst aufgegeben. Andererseits: Hätte Serena derartige Gefühle für Justin gehabt, wäre sie mit ziemlicher Sicherheit einfach so unausstehlich zu ihm gewesen, dass er Grund gehabt hätte, ihr aus dem Weg zu gehen. Die anderen stellten sich in einer Reihe auf. Nur zur Sicherheit wollten sie sich über ihre Hände mit Vivien verbinden. Zu diesem Zweck hielt Vitali Serena die Hand hin, Doch ein böser Blick von ihr genügte und er tauschte seinen Platz mit Ariane. Serena seufzte lautlos. Hand in Hand, gingen sie zum Eingang, wie immer Vivien voraus. Alles war wie gewohnt. Vitali stellte die Flaschen auf den Tisch, Ariane die Snacks und Serena Servietten und eine Plastikschüssel. Triumphierend holte Vivien aus einem Schrank fünf Gläser. „Tadaa!“ Vitali warf ihr einen geringschätzigen Blick zu. „Jetzt fühlst du dich toll, was?“ Vivien grinste. „Ja.“ Plötzlich fuhren die vier zusammen. Ein seltsames Geräusch war aus Richtung des Trainingsraums gekommen. „Was war das?“, fragte Ariane. „Vielleicht Justin?“, mutmaßte Vitali, klang aber alles andere als überzeugt. Er und die Mädchen warfen sich fragende Blicke zu. Mit klopfenden Herzen entfernten sie sich von dem Tisch und waren zunächst unsicher, ob sie zur Tür zurückweichen oder dem fremden Geräusch nachgehen sollten. Einen weiteren Moment standen sie bewegungslos da und lauschten. Dann hörten sie es erneut. Aber es war kein Geräusch, das man versehentlich verursachte, viel mehr ein Ton, nein, ein Klang – traurig und hilflos. Sofort griffen sie nach den Händen von einander, als ein Laut sich hinzumischte, den sie nur allzu gut kannten – Ein Glockenspiel! „Ewigkeit!“, kreischte Vivien und wollte hinrennen, doch sie kam nicht dazu. Die Tür hinter ihnen wurde aufgerissen. „Vivien!!!“ Justin kam in den Raum gestürmt. Er hetzte auf die anderen zu. „Ist alles in Ordnung?“ Seine Stimme war ohne Kraft, sein Gesicht gezeichnet von Panik und Entschlossenheit. Ehe die anderen nach der Ursache seines Zustands fragen konnten, erklang erneut das Glockenspiel. Justin starrte zum Trainingsbereich. Vivien wandte sich strahlend zu ihm. „Ewigkeit! Ewigkeit ist wieder da!“ Sie lachte, ließ die Hände der anderen los und lief. Justins Hand auf ihrer Schulter brachte sie nur Schritte später grob zum Stehen. „Nicht!“, befahl er. Sein Blick und sein Griff waren so bestimmt, dass Vivien ihn nur verunsichert anstarren konnte. In diesem Moment kam etwas aus dem Bereich, in dem einst auch der Mediationsraum gewesen war, in den Aufenthaltsraum. Es hielt sich in der Luft, aber von fliegen konnte keine Rede sein. Es wirkte wie ein uraltes Flugzeug, dem gerade der Treibstoff ausging. Sekundenbruchteile später stürzte es zu Boden. Justin vereitelte einen erneuten Versuch Viviens, sich nach vorne zu bewegen. Mit dem ausgestreckten Arm verdeutlichte er auch den anderen zurückzubleiben. „Wir wissen nicht, ob das wirklich Ewigkeit ist.“ Vivien begehrte auf. „Justin!“ Mit Leid in den Augen sah sie ihn an. Ihr flehender Anblick schmerzte. Justin wandte sich ab. „Wartet hier.“ Er zog die Hand von Viviens Schulter zurück. Vorsichtig näherte er sich dem abgestürzten Licht. Schritt um Schritt, darauf bedacht, nicht unvorbereitet einem plötzlichen Angriff entgegenzugehen, darauf gefasst, dass er die anderen schützen musste. Sein Atem wurde flacher je näher er kam, während die jammernden Glöckchenlaute immer deutlicher wurden. Er stockte, jetzt war der Moment gekommen. Die anderen würden hoffentlich rechtzeitig flüchten können. Er holte Atem, obwohl sein angespannter Körper es nicht zuließ, dass viel Luft in seine Lungen kam. Er sah es jetzt genau, das kleine Etwas. Fast hätte er alle Vorsicht fahren lassen, als er Ewigkeits Gestalt erkannte, hätte sich hingeworfen und ihren Namen geschrien. Aber das durfte er nicht. Wachsam kniete Justin sich zu ihr. Sie war auf dem Bauch gelandet, wodurch er ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber ihre Flügel, der weißblonde Lockenkopf und ihr Klang waren unverkennbar. Zögerlich streckte Justin seine Hand nach ihr aus und berührte sie zaghaft. Die Kleine regte sich nicht und Justin spürte Sorge seine Brust zusammenschnüren. Jeglicher Zweifel fiel von ihm ab und machte einer Sehnsucht Platz, die jedes andere Gefühl verschwimmen ließ. Behutsam ergriff er mit der Linken den schmächtigen Körper und bettete ihn auf seine Rechte, wie damals, als Ewigkeit ihnen das erste Mal begegnet war. Justin versuchte, tief ein und aus zu atmen, um nicht völlig von seinen Gefühlen überrannt zu werden. Er ermahnte sich, dass das alles zu unwahrscheinlich war: Das Warnsignal in seinem Kopf. Das plötzliche Wiedererscheinen Ewigkeits. „Passt auf! Das ist vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver!“, rief er den anderen zu. Ihren Blicken war deutlich anzusehen, dass sie seinen Kommentar nicht richtig einordnen konnten. „Behaltet den Eingang im Auge! Und den Weg zu unseren Zimmern!“ Nun endlich nickten sie. Ariane und Vitali drehten sich in besagte Richtungen. Justin betrachtete erneut Ewigkeit. Selbst in dem Schatten, den sein über sie gebeugter Kopf verursachte, leuchteten ihre Konturen wie von einem inneren Licht erhellt. Dann öffneten sich langsam ihre Augen. Justin schrak zusammen. Das waren nicht Ewigkeits leuchtend blaue Augen! Durch ihre Iris schien er direkt in eine unbekannte Dunkelheit sehen zu können. Gleichzeitig verblasste ihr Körper, wurde durchsichtig, drohte zu verschwinden. „Was ist los?“, rief Serenas Stimme von hinten. Entsetzt riss Justin seinen Kopf zu ihr herum, kam aber nicht dazu, auch nur ein Wort hervorzubringen. „Vertrauen?“ Sein Blick zuckte zurück zu der Gestalt in seiner Hand. Große blaue Augen musterten ihn. „Justin!“, rief Serena fordernd, aber er reagierte nicht. Serena reichte es! Sie packte Vivien an der Hand und zog sie mit sich an Justins Seite. Nach einem kurzen Blickwechsel zwischen Ariane und Vitali folgten sie. Und sahen Ewigkeit auf Justins Hand sitzen. Beim Anblick der fünf nahm ein so freudiges, herzensfrohes Lächeln Ewigkeits gesamtes Gesichtchen ein, dass ihre Herzen Freudensprünge machten, ehe ihr Verstand überhaupt richtig verarbeitet hatte, was sich ihnen da zeigte. Ewigkeit stieß einen Jauchzer aus und erhob sich von Justins Hand, wollte auf die anderen zufliegen – und wurde von einer Hand aus der Luft gefischt. Jäh fand sie sich an Viviens Wange gedrückt wieder. „Ewigkeit! …“ Die Kleine kämpfte gegen den übergroßen Druck an und zappelte wild mit Armen und Beinen. „Auaaaa …“ „Bist du es wirklich?“, fragte Ariane atemlos. Ewigkeit war zu sehr damit beschäftigt, nicht zerquetscht zu werden, um auf die Frage zu antworten. Im nächsten Augenblick drückte auch noch ein Finger gegen ihren Schädel. „Sie ist wirklich echt!“, stieß Vitali aus. Hilflos jaulte Ewigkeit auf. „Ihr bringt mich um!“ Schlagartig herrschte betretenes Schweigen. Endlich konnte Ewigkeit Viviens Griff entschlüpfen. Schwebend begab sie sich auf Sicherheitsabstand und schnappte nach Luft. Derweil hatte sich auch Justin wieder beruhigt und stand von seinem Platz auf. Fragend betrachtete Ewigkeit die Beschützer, die so betretene Gesichter machten, als befänden sie sich auf einer Beerdigung. „Was ist denn?“ Plötzlich stieg ein Schluchzen auf und die Gruppe sah sich fragend um, bevor sie erkannten, dass Serena die Tränen gekommen waren. „Schicksal!“ Besorgt schwirrte Ewigkeit zu ihr. „Es tut mir so leid…“, japste Serena und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ewigkeit tätschelte mit ihrer winzigen Hand Serenas Stirn. „Ist ja gut. Was tut dir denn leid?“ Sprachlos gafften die fünf die Kleine an, während diese ahnungslos lächelte. Serena gelang es nicht, auf ihre Frage zu antworten. Diese Aufgabe übernahm Vitali, auf seine Art. „Dass wir dich gekillt haben!“ Prompt erntete er Serenas und Arianes böse Blicke. „Ist doch so!“, verteidigte er sich. Ewigkeit blinzelte ihn freundlich und verständnislos an. „Gekillt?“ Ihre Unwissenheit plättete die anderen. Vitali jedoch versuchte Ewigkeit auf die Sprünge zu helfen. „Wir haben dich getötet! Gemeuchelt! Abgemurkst!“ Ewigkeits Augen wurden groß, ein erkennendes Lächeln erschien auf ihren Lippen, das sofort wieder erstarb. „Das versteh ich nicht.“ Nun war selbst Vitali sprachlos. Nachdenklich schürzte Ewigkeit die Lippen. „Ihr habt mich aber nicht gut gekillt, sonst müsste ich doch tot sein, oder?“ Die Beschützer waren sichtlich um eine Antwort verlegen. Dann schien Ewigkeit eine Erklärung gekommen zu sein. „Vielleicht habt ihr mich ja nur fast gekillt!“ Sie stockte. „Wieso habt ihr mich gekillt?“ In ihrer Frage klang nicht der Hauch eines Vorwurfs, sondern pures Interesse. „Es war keine Absicht!“, begehrte Ariane auf. Ewigkeit lächelte erneut. „Dann habt ihr mich versehentlich gekillt!“ Die Beschützer machten gequälte Gesichter. „Äh, ja …“, machte Vitali. „Ihr seid aber ungeschickt!“, kicherte Ewigkeit. Frustration drückte die Stimmung der fünf nieder. Schließlich ergriff Ariane das Wort. „Aber wo warst du die ganze Zeit?“ Ewigkeit blinzelte verständnislos, antwortete jedoch nicht. Als sie nach einigen Sekunden noch immer nichts sagte, versuchte Ariane es erneut. „Ewigkeit, wo du warst…“ Die Kleine legte den Kopf schräg. „War ich denn weg?“ „Erinnerst du dich nicht? Du bist verschwunden!“, sagte Ariane. Ewigkeit überlegte, ihre Finger spielten mit dem Medaillon um ihren Hals, während ihre Augen mal hier-, mal dorthin wanderten. Plötzlich schreckte sie auf und schwirrte durch die Gegend wie eine wild gewordene Hummel. „Die Schattheeen!!!“ Die fünf schraken zusammen, schauten sich reflexartig um. „Ihr! Ihr habt sie …! Und dann …!“ Ewigkeit jagte im Zickzack durch die Luft, dann zischte sie auf Vitalis Gesicht zu und packte ihn panisch an den Backen. „Diese Kräfteeee!!!“ Mit einer raschen Handbewegung zupfte Vivien sie von Vitali weg. „Schon in Ordnung. Das ist alles vorbei.“ Hektisch atmend gaffte Ewigkeit sie bloß an. Vitali verschränkte die Arme vor der Brust. „Erst hockst du zwei Wochen weg und dann kommst du mit so altem Zeug.“ „Zwei – zwei Wochen?“, stotterte Ewigkeit. „Aaaaaaah!!!!!!!“ Wieder schoss sie durch die Gegend wie ein außer Kontrolle geratener Gummihüpfball. „Euer Training!!! Wir müssen die Versäumnisse aufholen!!“ Vitali zog eine Grimasse. „Ist das ihre größte Sorge?“ Justin wandte das Wort an das kleine umherfliegende Geschoss. „Ewigkeit, erinnerst du dich an nichts, was in dieser Zeit passiert ist?“ Ewigkeit blieb zwar endlich wieder stehen, aber eine Antwort konnte sie nicht geben. „Vielleicht war sie solange Eternity, daran erinnert sie sich doch auch nie.“, überlegte Ariane laut. Den anderen fiel auch keine bessere Begründung ein, daher ließen sie es dabei bewenden. Sie setzten sich an den Tisch, auf den sie zuvor Getränke und Snacks gestellt hatten, und ließen sich von Ewigkeit über die Erlebnisse in der Zeit ihrer Abwesenheit ausfragen. Sie erzählten ihr von den Gefahren, die sie gemeinsam gemeistert hatten. Aufmerksam und voller Spannung verfolgte Ewigkeit ihre Schilderungen, die vor allem von Vivien und Vitali immer wieder etwas aufgebauscht wurden. Als Vivien zu dem Teil kam, an dem sie auf Burg Rabenfels von einer Unzahl Schatthen eingekeilt worden waren, was Vitali auch mimisch und gestisch dramatisch in Szene setzte, machte Ewigkeit ein so geschocktes Gesicht, dass nicht zu sagen war, ob sie vor Aufregung nicht gleich wieder in der Gegend herumflitzen würde. Stattdessen bewegte sie sich nur hektisch und flatterte mit ihren Flügeln. Als sie ihr von ihrem unglaublichen Triumph berichteten, leuchteten Ewigkeits Augen vor Begeisterung. Daraufhin wollte die Kleine von den Trainingserfolgen der Beschützer Bericht erstattet bekommen und auch dieses Mal war sie ganz aus dem Häuschen, als sie von den neuen Fähigkeiten erfuhr, die die fünf eher versehentlich eingesetzt hatten. Sofort wollte sie diese Kräfte in Aktion erleben! Und wurde daraufhin von Serena und Vitali lautstark angeschrien. Dann sprang Vivien von ihrem Platz auf, wie sie es –ebenso wie Vitali – während ihrer Erzählungen immer wieder getan hatte, und hielt ihr Glas in die Höhe, um einen Trinkspruch aufzusagen. „Darauf, dass heute unser Schutzengel zu uns zurückgekommen ist!“ Bei ihren Worten schaute sich Ewigkeit, die sich in der Mitte von ihnen auf den Tisch gesetzt hatte, fragend um. „Auf Ewigkeit!“ Die anderen prosteten ihr zu. „Auf Ewigkeit!“ So machte die Freude über Ewigkeits Rückkehr jeden Gedanken an den ungeklärten Signalton vergessen. Kapitel 58: Spielwiese ---------------------- Spielwiese „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich Schiller, dt. Dichter und Denker) Ariane saß vor dem Computer. Sie überflog die Webseite der Finster GmbH, aber über Nathan Finster persönlich gab es keine Angaben. Auch bei ihrer sonstigen Internetrecherche fand sie nichts Brauchbares. Ihr Blick fiel auf den Block neben ihr, auf dem sie die spärlichen Informationen festgehalten hatte, die sie ihrem Vater hatte entlocken können. Ihr Vater hatte mit einiger Belustigung auf ihr reges Interesse an seinem Chef reagiert, woraufhin Ariane behauptet hatte, sie müsse für die Schule ein Referat über die Finster GmbH schreiben. Für Ausreden war die Schule gut. Ariane seufzte. Gerne hätte sie mehr über Nathan erfahren, dann wäre ihr die Argumentation für seine Unschuld vielleicht leichter gefallen… Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie hatte doch die perfekte Quelle! Wer könnte ihr mehr über Nathan Finster erzählen als Nathan Finster? Sofort öffnete sie ihr E-Mail-Postfach und tippte eine Nachricht ab. Hallo Nathan! Einen schönen Feiertag! Ich hoffe, ich nerve nicht, aber ich würde gerne um einen riesengroßen Gefallen bitten: Für das Fach Wirtschaft müssen wir ein Referat über einen Unternehmer aus unserer Gegend halten, und da bin ich prompt auf dich gekommen! Allerdings kann ich im Internet keine biografischen Daten über dich finden und weiß nicht, wo ich sonst suchen soll. Du hast nicht zufällig eine Autobiografie geschrieben? ;) Es wäre wirklich toll, wenn du mir weiterhelfen könntest. Natürlich nur, wenn es nicht zu viele Umstände macht, nicht dass deine Firma wegen mir noch pleite geht. ^^ Vielen Dank schon einmal im Voraus! Freundliche Grüße Ariane „Heute trainieren wir im Freien!“, verkündete Vivien quietschfidel. Einmal mehr standen die fünf vor ihrem Hauptquartier. Und einmal mehr warfen sie einander skeptische Blicke zu. „Im Freien…?“, wiederholte Vitali kritisch, während sich Justin seltsam unbeteiligt umsah, als suche er etwas. Serena schimpfte. „Komm ja nicht wieder mit dem Kräfteeinsatz in der Fußgängerzone!“ Mit einer lässigen Handbewegung winkte Vivien ab. „Wir gehen in den Wald!“ Abrupt hörte Justin damit auf, die Umgebung abzusuchen, und warf Vivien einen befremdend strengen Blick zu, ohne etwas zu sagen. Doch keiner der anderen sah in seine Richtung. „Dort sieht uns auch keiner.“, setzte Vivien fort. „Ich bin dagegen.“ Völlig überrumpelt drehten die vier sich zu Justin, von dem sie diesen Kommentar am wenigsten erwartet hätten. Der Ernst in seinen Zügen wirkte besorgniserregend. „Im Hauptquartier sind wir am sichersten.“ Vivien begegnete ihm mit Überraschung, dann gewann sie ihr unbeschwertes Lächeln zurück. „Ewigkeit wird sich schon was dabei gedacht haben!“ Augenblicklich wirkte Justin verunsichert. „Das war Ewigkeits Idee…?“ Viviens Lippen formten einen Schmollmund. Mühelos verlieh sie ihrer Stimme einen zutiefst verletzten Ton. „Soll das heißen, …“ Ihre großen runden Kulleraugen wurden feucht. „dass du mir weniger vertraust?“ Ihre Mimik war so echt, dass selbst die anderen drei für einen Moment verwirrt waren, Justin brachte sie völlig aus dem Konzept. „Nein!“, rief er hastig. „Nein, nein, nein!“ Aufgeregt gestikulierten seine Arme, ohne dass er darauf Einfluss nehmen konnte. „Ich vertraue dir! Ich vertraue dir voll und ganz! Absolut! Es gibt niemanden, dem ich mehr -“ Zu spät registrierte er seine Worte. Hitze schoss ihm im gleichen Atemzug in den Kopf, und Viviens Reaktion sorgte nicht gerade für eine Abkühlung. In völliger – wenn auch gespielter – Überraschung strahlte sie ihn überglücklich an und trat näher an ihn heran. „Wirklich?“ Justin wurde flau im Magen. Ebenso Serena und Vitali – ihnen kam fast das Mittagessen hoch! Zu Justins Glück tauchte in diesem Moment aus dem Nirgendwo Ewigkeit auf und unterbrach Viviens oscarreife Darbietung. „Training!!!“, kreischte die Kleine begeistert und riss damit selbst Justin aus seiner Besinnungslosigkeit. „Kommt! Kommt!“ Sie zappelte ungeduldig durch die Luft, voller überschwänglicher Vorfreude. „Los! Los! Mir nach!“ Schon flog sie auf die Bäume hinter dem Häuschen zu. Für die kleine Ewigkeit war es natürlich kein Problem, durch die Baumlücken hindurch zu huschen, und dabei ihren tönenden Bewegungen die Anmut einer Sinfonie zu verleihen. Weit träger und langsamer kämpften sich die fünf durch das Dickicht der Bäume. Schritt für Schritt drangen sie tiefer in das Grün ein, das sich an manchen Stellen in ein Rotbraun wandelte. Die herbstfarbenen Blätter der Laubbäume säumten an vielen Stellen den Boden, gemischt mit den Tannenzapfen der Nadelbäume, die ihrem satten Grün treu geblieben waren. „Was für eine blöde Idee!“, schimpfte Serena lauthals, als sie über eine Wurzel stolperte. Der Geruch von verschiedenen Pflanzen stieg ihr in die Nase, gemischt mit dem von Harz. Lächelnd drehte sich Ariane zu ihr um. „Das Training hat wohl schon angefangen.“ Elegant schritt sie zwischen zwei Bäumen hindurch, was Serenas schlechte Laune nicht gerade besserte. Mit der Grazie eines Nilpferds folgte sie. „Ich find’s toll!“, rief Vivien zu den beiden Mädchen nach hinten und duckte sich, um einem Ast zu entgehen. „Wie bei den Pfadfindern!“ „Ja. Da würdest du hinpassen.“, schnaubte Serena verächtlich, ohne den Blick von dem tückischen Boden zu nehmen. „Ich bin bei den Pfadfindern.“, informierte Vivien. Vitali lugte hinter einem der Bäume zu ihnen. „Hey, wenn du noch eine gute Tat für heute brauchst, könntest du meine Hausaufgaben machen!“, rief er. Vivien lachte. Ariane wich einem Ameisenhaufen aus. „Was macht man eigentlich als Pfadfinder?“, erkundigte sie sich. „Man lernt coole Sachen wie Knoten knüpfen und lustige Lieder! Und dann gibt es da Aktionen und Wanderungen und verschiedene Lager. Das ist ein Riesenspaß!“ Serenas mürrische Stimme triefte vor Sarkasmus. „Ich bin begeistert.“ Vivien kicherte kurz, dann klang ihre Stimme nachdenklich. „Ich sollte mich mal abmelden.“ Schuldbewusst drehte sich Justin zu ihr. „Wegen uns?“ „Wohl eher wegen den Schatthen.“, vermutete Serena. Belustigt schüttelte Vivien den Kopf. „Keins von beidem. Aber ich hab ja jetzt euch!“ Die anderen verstanden den Kommentar nicht wirklich, doch Viviens munteres Lächeln ließ sie von weiteren Fragen absehen. Nach einigen Metern, während denen sie auf Baumwurzeln, Sträucher und Äste achtgeben und Serenas Gezeter aushalten mussten, hörten sie Ewigkeit ein glockenhelles „Hier! Hier!“ schreien. Zwischen den Bäumen hindurch erblickten sie eine Lichtung. Vitali war der erste, der die Wiese betrat. „Hey! Da wäre auch ein Weg hergegangen!“, beschwerte er sich. Rechts führte neben hohen Büschen ein wagenbreiter Trampelpfad zu der Waldschneise. Die übrigen traten hinzu und Serena funkelte Ewigkeit zornig an. Die jedoch schien nicht zu verstehen, was das Problem der Beschützer war. „Der direkte Weg ist immer schneller.“, meinte sie überzeugt. Die fünf legten ihre Taschen ab und blickten sich um. Vor ihnen erstreckte sich eine große viereckige Wiesenfläche. An der linken und der rechten Seite waren jeweils abgesägte Holzstämme aufeinandergetürmt. Auf der Wiese selbst hatte jemand mit Tannenzapfen zwei rechteckige Bereiche gelegt. Und an den Bäumen, die die Lichtung abgrenzten, hingen Papierzettel mit Aufschrift. Unweit von ihnen lag ein sonnengelber Rucksack im Gras, der ihnen sehr bekannt vorkam. „Ewigkeit und ich haben schon alles vorbereitet.“, erklärte Vivien ihnen. Die Kleine lächelte begeistert. „Wann?“, fragte Justin verwirrt. Er war wie gewohnt zusammen mit Vivien zum Park gelaufen. „Oh, ich war vorhin schon hier.“, informierte Vivien. Justin war verwundert. „Du bist extra noch mal nach Hause?“ „Es sollte doch eine Überraschung werden!“, lachte Vivien. „Ewigkeit hat solange auf alles aufgepasst.“ „Und was soll das nun darstellen?“, drängte Serena zu wissen. „Ist das ein Spielfeld?“ „Ein Trainingsfeld!“, frohlockte Ewigkeit. „Hä?“, gaben Serena und Vitali zeitgleich von sich. Ewigkeit stieg in der Luft auf und ab und hin und her. „Ich erklär’s euch! Ich erklär’s euch!“ Sie kicherte aufgedreht. In einer hohen Geschwindigkeit umkreiste sie die fünf. „Ihr seid jetzt im Schutzbereich.“ Die fünf betrachteten das mit weiteren Baumzapfen gelegte Rechteck, in dem sie standen, während Ewigkeit weiterschwirrte zu einem Spielraum unweit links vor ihnen. „Das ist der Kräfte-Einsatz-Bereich.“ Schnurstracks düste sie weiter nach rechts hinten in das letzte Eck am Ende der Lichtung. „Der Wappen-Ruf-Bereich!“ Sie flog die rechte aus Bäumen bestehende Grenze der Lichtung ab bis sie über den aufgetürmten Baumstämmen schwebte. „Die erste Station!“, verkündete sie, änderte die Richtung und flog gegen den Uhrzeigersinn den Rand der Lichtung entlang, so als sei ihre Erklärung völlig ausreichend. „Die zweite Station!“, rief sie an einer anderen Stelle, die sich nur durch einen am Boden liegenden Apfel von den anderen abhob. Insgesamt flog sie fünf Stationen ab, ohne dass die fünf – bis auf Vivien – irgendeinen Sinn darin erkennen konnten. Zwischen den Stationen hingen an den Bäumen die Papierzettel. „Auf dem Weg zu der nächsten Station müsst ihr die Anweisungen auf den Schildern befolgen.“, setzte Ewigkeit fort. Ah jaaaa… Was?!! „Während der Runden rufe ich hinein: Kräfte! Wappen! oder Schutz! Und dann müsst ihr alles stehen und liegen lassen und so schnell wie möglich zu dem richtigen Bereich rennen!“, führte Ewigkeit weiter aus. „Im Kräfteeinsatz-Bereich müsst ihr dann eure Kräfte rufen, im Wappen-Ruf-Bereich eure Wappen, und im Schutzbereich müsst ihr euch auf den Boden legen.“ Serena verfolgte die Aussagen mit eindeutiger Unzufriedenheit. „Und was soll das bringen?“, brummelte sie. Ewigkeit strahlte. „Dadurch lernt ihr, schnell eure Fähigkeiten einzusetzen und Teamfähigkeit!“ Serenas Widerwille wurde zu Abscheu, ihr linker Nasenflügel zog sich nach oben. „Müssen wir das etwa wieder in Teams machen?“ „Hey!“, stieß Vitali eingeschnappt aus. „Ich bin hier ja wohl derjenige, der durch dich behindert wird!“ „Du wirst nicht behindert, du bist behindert!“, berichtigte Serena mit arrogantem Augenaufschlag. Umgehend gab Vivien ein verzücktes Gequietsche von sich: „Oh, es ist so süß, wie ihr beide vor uns immer so tut, als würdet ihr nicht gerne zusammenarbeiten!“ Sie kicherte als würde sie von einem ultrakitschigen Liebesroman schwärmen. „Wir tun nicht nur so!!!“, brüllte Serena. Vivien machte eine wegwerfende Handbewegung, ihre Antwort klang künstlich gedehnt. „Aber sicher doch.“ Sie grinste wissend, als hätte sie die beiden längst durchschaut. Wütend blitzte Serena sie an. „Anfangen, anfangen!“, drängte Ewigkeit. Als stünde sie unter Zuckerschock, konnte sie sich einfach nicht ruhig an einer Stelle halten. Daraufhin packte Vivien schnurstracks Serena und Vitali, die gerade griffbereit waren, und schleifte sie mit sich zu dem Wiesenfleck, den Ewigkeit zuvor als Wappen-Ruf-Bereich bezeichnet hatte. Ariane und Justin sahen einander kurz fragend an und folgten ihnen. „Wappen!“, befahl Ewigkeit. Dank ihres momentanen Stimmungshochs hörte sich allerdings alles aus ihrem Mund eher wie ein Freudenjauchzer an. Wieder schwirrte sie über die Köpfe der fünf. Mehr oder minder bereitwillig folgten sie dem Aufruf. Nach den zahlreichen Übungen der letzten Wochen war das Heraufbeschwören der geheimnisvollen Kugeln zwar noch keine Routine, aber eindeutig unproblematischer geworden. Sie konzentrierten sich auf ihr Inneres bis sie den Punkt gefunden hatten, an dem das drängende Gefühl immer stärker wurde. Das drängende Gefühl, dass etwas aus ihrem Herzen an die Oberfläche brechen wollte. Mit einem markerschütternden Schlag schoss die Empfindung aus ihnen hervor und formte das strahlende Licht der Wappen. Sie schnappten nach Luft. Die Empfindung war stets aufs Neue überwältigend, und so konnten sie nicht anders, als eine Sekunde lang regungslos die hypnotisierende Schönheit ihrer Wappen zu betrachten. Dann streckten sie geradezu triebhaft ihre Hände nach ihnen aus. Als ihre Fingerspitzen die Oberfläche ihrer Wappen zu betasten suchten, bekamen sie auch dieses Mal nicht Festes, Materielles zu spüren. Die Berührung war ein wohliger Gefühlsrausch, der von ihren Fingern über ihren gesamten Körper raste und ihr ganzes Wesen in sich verband. Ein zarter Hauch wie milder Sprühnebel an einem Sommertag benetzte ihre Haut und formte sich zu ihrer magischen Kleidung, machte die Kälte des Oktobertages vergessen. „Unite!“, verkündete Viviens verwandelte Form und warf sich in eine extravagante Pose. Leicht befremdet musterten die anderen sie. „Schaut ihr keine Animes? Am Ende müssen wir eine charakteristische Haltung einnehmen!“, belehrte sie die anderen vier und demonstrierte ihnen dies anhand einiger schnell wechselnder Posen, die seltsame Streckungen ihrer Arme und Beine beinhalteten. Destiny verzog das Gesicht, um sich keinesfalls anmerken zu lassen, dass Unites Herumgehopse exakt ihren peinlichen Verwandlungsspielereien entsprach. „Superhelden machen das nie.“, war Changes Kommentar. Er demonstrierte eine breitbeinige Heldenpose mit in die Seiten gestemmten Fäusten. „Superman!“ Er hielt inne. „Ah, vielleicht doch.“ Unite lachte. Desire wirkte nicht wirklich begeistert. „Müssen wir das machen?“ „Es wäre lustig.“, meinte Unite. „Du findest alles lustig.“, entgegnete Destiny grimmig. Unite strahlte sie erwartungsvoll an. „Wie sieht deine Pose aus?“ Destiny wandte das Gesicht ab. „Ich habe keine Pose.“ „Du kennst dich am besten mit Magical Girls aus!“, erinnerte Unite. Warum musste sie das jetzt so laut herumposaunen? Destiny ärgerte sich, dass sie nicht doch alles in ihrem Zimmer versteckt hatte, bevor die anderen damals bei ihr übernachtet hatten. „Eher das?“ Unite stand breitbeinig und hielt einen Arm in die Höhe, den anderen winkelte sie ab. Es sah aus, als würde sie jubeln. „Oder das?“ Sie hielt beide Arme nah an ihrem Körper, die niedlich geballten Fäuste an ihrem Gesicht und stand nur noch auf einem Bein. Sie schien explizit Destiny um ihre Meinung zu bitten. Destinys Gesichtszüge entgleisten. „Du bist kein kleines Mädchen, sondern eine Beschützerin!“, schimpfte sie. „Je mehr du dich klein machst, indem du deine Arme und Beine an deinen Körper ziehst, desto niedlicher und verletzlicher wirkst du. Je mehr Platz du einnimmst, desto dominanter die Pose!“ Auf Destinys Beschreibung hin stellte Change die Beine weit auseinander und streckte die Arme übertrieben weit von sich, nach oben, zur Seite, vor sich, hinter sich, wechselte den Stand seiner Beine, und schien dabei viel Spaß zu haben. Destiny beobachtete es ungläubig. Das war so was von bescheuert!!! Warum konnte sie nicht umhin, es trotzdem beeindruckend und irgendwie cool zu finden? „Kampftechnisch ist das aber nicht von Vorteil.“, merkte Desire an und ging dazu über, Changes Posieren zu kommentieren. „Du hast so überhaupt keine Deckung. Es ist besser, einen lockeren Stand zu haben und die Arme zum Schutz vor dem Körper zu haben.“ Destiny verengte die Augen. Es ärgerte sie ungemein, dass Desire es besser wissen musste und es so hinstellte, als wären ihre Aussagen unsinnig und damit das, was Change tat. „Es geht um Ästhetik und nicht um Pragmatik.“, knurrte sie. „Wollen wir ein Photoshooting machen?“, fragte Desire ungläubig. Ihr Kommentar verärgerte Destiny noch mehr. Change grinste breit. „Lass uns doch etwas Spaß haben. Wozu sind wir denn sonst Superhelden?“ Desire seufzte. Destiny verschränkte übellaunig die Arme vor der Brust. Unite sprach sie darauf an: „So machst du dich unnötig klein, oder?“ Destiny stockte. Es stimmte, dass sie mit dem gesenkten Kopf und den verschränkten Arme so aussehen musste wie eine beleidigte Außenseiterin. Die Erkenntnis ärgerte sie ungemein. Desires Besserwisserei hatte sie einfach an das oberschlaue Geschwätz ihrer älteren Schwester erinnert, neben der sie sich oft dumm vorkam. Sie wusste, dass offene Arme und ein stolz erhobener Kopf eine ganz andere Präsenz erzeugten. Sie hatte bloß Angst, sich damit lächerlich zu machen. Denn was für einen Grund hatte sie schon, stolz erhobenen Hauptes, ohne schützende Mauer um sich herum, da zu stehen? Liebevoll lächelte Unite sie an. Seufzend ließ Destiny die Arme sinken. Daraufhin wandte sich Unite an die anderen. „Wenn wir im Wappenruf-Bereich sind, müssen wir jedes Mal eine Pose einnehmen, die uns gefällt!“, entschied sie. „Und jetzt.“ Unite setzte zu ihrem Gruppen-Ruf an. „Balaaaaance… Defenders!“ Ihr Arm flog in die Höhe und die anderen, die ihren Einsatz verpennt hatten, streckten ihren hinzu. „Ach.“, seufzte Unite befreit. „Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht!“ Desire stieß belustigt die Luft aus. „Das machen wir doch bei jedem Training.“ „Aber es ist lange her, dass Ewigkeit dabei war!“, rechtfertigte sich Unite. Plötzlich machte sie ein entsetztes Gesicht und begann zu schreien: „Wir haben einen Gruppenruf-Bereich vergessen!“ Ewigkeit riss schockiert ihre Hände in die Höhe und surrte planlos durch die Gegend. „Tannenzapfen! Wir brauchen Tannenzapfen!“ Sofort düsten Unite und Ewigkeit in verschiedene Richtungen davon. Die anderen schauten ihnen verdutzt nach. Change zuckte belustigt mit den Schultern. „Wieso nicht?“ Er hob den Arm wie zum Angriffsbefehl. „Lasst uns Tannenzapfen suchen!“ Destiny maunzte wie ein Kätzchen. „Das ist doch bescheuert.“ Change klopfte ihr auf den Rücken und grinste sie an, wohl um sie zu motivieren. Sie wich seinem Blick aus, ließ sich aber dazu breitschlagen, sich der Suche anzuschließen. In kürzester Zeit hatten sie dem Spielfeld ein neues Tannenzapfen-Viereck hinzugefügt, direkt in der Mitte. „Jetzt kann’s losgehen!“, verkündete Unite. Sie führte die anderen zu den aufeinandergetürmten Holzstämmen rechts von ihnen, die Ewigkeit als erste Station bezeichnet hatte. „Polonäse über den Baumstamm! Dann auf dem Boden rüber zur nächsten Station robben. Dort müssen wir den Apfel, der da liegt, mit dem Kinn an unseren Sitznachbarn weitergeben. Dann auf einem Bein hüpfend an den Baumzapfen vorbei weiter zu Station Drei. Dort setzen wir eine Gruppenattacke ein, gehen rückwärts zu Station Vier und jeder lässt sich mit geschlossenen Augen von einem anderen über den Baumstamm da drüben führen. Anschließend müssen zwei sich auf alle Viere lassen und sich von den anderen, die ihre Beine nehmen, wie eine Schubkarre zur letzten Station bewegen lassen. Als nächstes müssen wir schnellstmöglich alle Hände aufeinanderschlagen und dann binden wir alle unsere Beine aneinander und müssen so wieder zu Station Eins laufen. Und dann alles von vorne!“ Den anderen war anzusehen, dass ihnen diese Anleitung zu schnell gewesen war. „Ihr versteht es, wenn wir es machen.“, meinte Unite enthusiastisch und bestieg den Baumstamm. „Mir nach!“ Destiny seufzte. Die fünf ließen sich auf die Aufgabe ein und liefen, die Hände auf den Schultern des anderen, über den Stamm. Doch während sie noch auf dem Boden zu Station Zwei robbten, rief Ewigkeit ein lautes „Kräfte!“ dazwischen. Irritiert blickten sie auf, während Unite schon wieder auf die Beine gesprungen war. „Schnell! Zum Kräfte-Ruf-Bereich!“ Sie sprintete los, während die anderen wieder auf die Füße kamen. Im richtigen Tannenzapfen-Viereck angekommen, setzten sie nach Unites Vorbild ihre Attacken frei. Augenblicklich gab ihnen Ewigkeit einen neuen Befehl. „Schutz!“ Also hetzten sie Unite hinterher zum Schutz-Bereich und legten sich, Unite nachahmend, auf den Boden. „Wappen!“ Unterschiedlich schnell kamen sie wieder auf die Beine und hetzten zum dritten Bereich, wo sie ihre Wappen erneut beschworen. Bisher waren sie sich nicht einmal klar gewesen, ob dies möglich war, wo sie doch bereits ihre Verwandlung hinter sich hatten. Aber es funktionierte. Change und Desire waren schon drauf und dran, zum Gruppenruf-Bereich zu spurten, aber Ewigkeit gab keinen entsprechenden Befehl. „Zurück zu Station Zwei.“, ordnete sie stattdessen an. Nun mussten sie sich allesamt in einer Reihe auf den Boden setzen. Unite nahm den Apfel aus dem Gras zur Hand. „Ihr nehmt den Apfel so.“ Sie legte sich die Frucht an ihre Kehle. Zwischen Kinn und Schlüsselbein hielt sie den Apfel fest. „Und versucht ihn an den nächsten weiterzugeben.“, Sie ließ den Apfel in ihre Hand plumpsen. „Trust.“ Sie streckte dem Jungen links von ihr die Frucht hin. Im gleichen Moment wurde Destiny und Change klar, warum Unite, anstatt auf die andere Seite neben Trust zu sitzen, sich zwischen Desire und ihn gedrängt hatte. Mit unsicher gesenktem Blick nahm Trust den Apfel entgegen und setzte Unites Anweisung in die Tat um. Er bewegte sich zaghaft zu ihr, mit dem Apfel unterm Kinn, neigte dann den Kopf, um es ihr zu erleichtern, ihn entgegenzunehmen. Und zuckte mit puterrotem Kopf zurück, als Unite ihm dazu näher kam, als jemals zuvor. Der Apfel fiel zu Boden „Entschuldigung!“, stieß Trust viel zu laut und hektisch aus. Unite kicherte. „Wenn es zu schwierig ist: Wir könnten auch ein Blatt nehmen und es durch Saugen und Blasen von Mund zu Mund weitergeben!“, scherzte sie. Trust Gesicht wurde starr. „Ganz bestimmt nicht!“, schrie Destiny lautstark. Als Unite sich zu ihr drehte, wurde ihr erst bewusst, dass Destiny geschickterweise zwischen Desire und Change saß. Ein hinterhältiges Grinsen erschien auf Unites Zügen. „Du kannst ja den Platz mit Desire tauschen.“ Augenblicklich hatte es Destiny die Sprache verschlagen, was Unites Grinsen noch breiter machte. Trotzig zog Destiny die Augenbrauen zusammen. „Tausch du doch mit mir!“ Unite strahlte sie lässig an. „Wo wäre da der Reiz?“ Destiny hätte sie würgen können! Ohne weiteren Kommentar drückte Unite Trust erneut den Apfel in die Hand, und sie setzten die Übung fort. Es brauchte noch mehrere Versuche bis Trust sich traute, ihr so nahe zu kommen, dass er den Apfel an sie weitergeben konnte. Nicht nur weil der Hautkontakt, der bei manchen der Versuche stattfand, ihn aus seiner Komfortzone zwang, sondern auch weil Unite die Situation schamlos ausnutzte. Bei der ersten geglückten Übergabe ließ sie den Apfel fallen und erzwang damit eine erneute Wiederholung. Hätte Destiny nicht lauthals geschimpft, dass sie den Apfel nicht absichtlich fallen lassen sollte, hätte sie das wohl mehr als einmal gemacht. Der Übergang zwischen Unite und Desire gelang dagegen in Rekordzeit. Doch Destinys Tollpatschigkeit und Scheu vor Nähe machte ihr einmal mehr das Leben schwer. Desire lachte belustigt, als der Apfel ein weiteres Mal herunter fiel. Destiny hingegen war gar nicht nach Lachen zumute. „Das kriegen wir auch noch hin.“, versicherte Desire aufmunternd. Destinys Gesichtsausdruck verriet ihre Frustration. „Ich helfe dir.“ Desire klemmte sich wieder den Apfel unter und zeigte Destiny mit einer Bewegung der Finger an, sie solle näher kommen. Destiny tat wie ihr befohlen wurde und neigte den Kopf auf die andere Seite. Desire fasste sie an der Schulter und am Hinterkopf, was Destiny äußerst verlegen machte, und führte sie näher an ihren Hals bis zwischen ihren Kehlköpfen nur noch der Apfel war. „Jetzt festhaken.“ Destiny war das Ganze extrem peinlich. So nah war sie noch nie irgendwem gekommen, sie konnte den Duft von Desires Haaren und ihrer Haut wahrnehmen. Sie durfte sich davon nicht irritieren lassen! Sie gehorchte. „Nicht bewegen. Bleib so.“ Desire entfernte sich. „Vorsicht. Langsam.“ Sie half Destiny den Kopf in die richtige Position zu bringen, um sich allmählich in Changes Richtung drehen zu können. Destiny sah nicht auf, als Change sich ihr näherte und presste ängstlich die Augen zu. „Du musst den Kopf drehen.“, sagte Desire hinter ihr. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck tat Destiny wie geheißen. „Schutz!“ In ungeahnter Schnelligkeit ließ Destiny den Apfel fallen und sprang auf, um mit den anderen zu dem entsprechenden Bereich zu eilen. Mit einem Mal waren ihr Ewigkeits bekloppte Befehle richtig sympathisch! Anschließend sollten sie im Bereich zwischen Station Zwei und Drei hintereinander auf einem Bein durch einen Tannenzapfen-Parcours hüpfen, wieder Hände auf Schultern. Danach war der Gruppenangriff an der Reihe. Hand in Hand beschworen sie ihre Kräfte und mit Unites Fähigkeit, bündelten sich die Energiewellen tatsächlich zu einer beeindruckenden Flut an buntem Glitzer. Ewigkeit quittierte diesen Erfolg, indem sie die Beschützer zu einem Gruppenruf aufforderte. Es ging damit weiter, dass sie mit geschlossenen Augen von einem der anderen über den Baumstamm geführt wurden. Jeder musste einmal Lotse sein. Als Destiny an der Reihe war, klammerte sie sich verkrampft an Trusts Hand fest und kam kaum voran. Auch seine beruhigenden Worte halfen nicht weiter, bis er ebenfalls auf den Baumstamm stieg. Rückwärtsgehend führte er sie und wurde nicht müde darin, ihr gut zuzureden und sie bei jedem winzigen Schritt zu loben. „Du solltest das beruflich machen!“, scherzte Change. „Diplom-Andere-über-Baumstamm-Führer!“ Trust lachte. Desire lächelte. „Diplom ist ausgelaufen. Jetzt gibt es nur noch Bachelor und Master.“ Change ließ ihr einen blasierten Blick zukommen. „Besserwisserin.“ „Es sollte ein Scherz sein.“, rechtfertigte sich Desire. Change machte ein gekünstelt belustigtes Gesicht. „Ach, jetzt wo du’s sagst!“, rief er laut. „Ein echter Brüller ist das!“ Er klopfte sich demonstrativ auf den Oberschenkel. Desire konnte nicht anders als zu lachen. „Wer schneller bei Station Fünf ist!“, forderte sie ihn heraus. „Destiny und ich gegen dich, Unite und Trust!“ „Hey, der mit zwei Leuten hat es schwerer!“, nörgelte Change. Desire hob die Augenbrauen. „Willst du lieber Destiny?“ Sofort wehrte Change ab. „Neee!“ „Danke, dass ihr an meine Fähigkeiten glaubt!“, schimpfte Destiny eingeschnappt. „Hey, wenn es darum ginge, Leute zu lähmen, würde ich dich niemals einem anderen Team überlassen!“, meinte Change grinsend. „Wenn es darum ginge, wer den meisten Blödsinn erzählt, ich dich auch nicht!“, konterte Destiny. Die anderen lachten. Dann waren sie bereit für das Wettrennen. Desire stützte sich auf ihre Hände und wurde von Destiny an den Beinen gehalten. Changes eines Bein wurde von Unite, das andere von Trust genommen. Ewigkeit gab das Startzeichen. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Oder Krabbeln. Doch der Vorteil die Beine nicht von verschiedenen Personen gehalten zu bekommen, machte sich bezahlt. Desire und Destiny gewannen. Desire sprang auf und ließ ein triumphierendes Johlen los. „Hey Tiny, nächstes Mal sind wir wieder ein Team!“, meinte Change. „Von wegen!“, rief Desire und legte ihren Arm um Destinys Schultern. „Erst sie nicht haben wollen und dann angekrochen kommen!“ Destiny warf ihr einen vielsagenden Blick zu, schließlich hatte Desire sie auch nur als das kleinere Übel angesehen. Schnurstracks war Unite zur Stelle und umarmte Destiny überschwänglich. „Nächstes Mal gehört Destiny mir und Trust! Dann könnt du und Change uns mal gewinnen sehen!“, prophezeite Unite. „Und jetzt…“ Sie löste sich von Destiny und streckte ihre Rechte in die Mitte zwischen ihnen. „Alle Hände aufeinander!“ Die anderen gesellten ihre Rechte hinzu. Unite legte ihre Linke oben auf, die anderen folgten dem Beispiel. Unite zog ihre Rechte wieder hervor und legte sie oben drauf, einer nach dem anderen tat es ihr gleich. Sie beschleunigten die Geschwindigkeit, bis es nur noch ein großes Kuddelmuddel war und alle lachend mit den Händen nacheinander schlugen. Als nächstes lief Unite kurz hinüber zu ihrem Rucksack und kam mit vier kurzen Seilen zurück. „Beine aneinander binden!“ Sie halfen einander. Schließlich bildeten sie eine aneinanderhängende Kette und versuchten, vergeblich loszumarschieren. „Wie soll denn das klappen?“, rief Destiny, die an die beiden Jungs gebunden war, und konnte sich kaum vom Lachen abhalten. Sie war noch nie Teil solcher Gruppenspiele gewesen, nicht mit Menschen, denen sie vertrauen konnte. Das war das erste Mal. „Wir müssen uns absprechen.“, erklärte Trust und blickte auch zu Desire und Unite zu seiner Rechten. „Unite zuerst.“ Unite bewegte das rechte Bein nach vorne. „Jetzt.“, sagte sie dann zu Desire. Mit ihr gemeinsam machte sie den nächsten Schritt. „Jetzt.“, gab Desire an Trust weiter. Schritt. „Jetzt.“ So setzte sich die Kette fort, bis sie bei Change angekommen war und es von vorne begann. Schnell war diese Methode nicht, aber zumindest kamen sie etwas voran. „Wappen!“, brüllte Ewigkeit in Changes Ohr, als sie zu ihnen geflogen kam. Bei dem Versuch loszurennen, verhedderten sich alle ineinander und fielen zu einem großen Haufen verknotet auf den Boden. Unite und Desire fingen laut an zu lachen. „Ewigkeit!“, schimpfte Destiny. Doch als sie Change, auf dem sie gelandet war, und Trust, der auf ihr gelandet war, lautstark beziehungsweise leise lachen hörte, fiel auch sie mit ein. Einige Momente blieben die Beschützer so liegen und lachten ausgelassen. Dann kam Unite auf alle Viere und wies die anderen dazu an, sich krabbelnd fortzubewegen, was mit zusammengebundenen Beinen ebenfalls problematisch war, dennoch schlossen sich die anderen ihr an. In verspielter Laune krochen sie gemeinsam zum Wappen-Ruf-Bereich. Nach der Wappen-Beschwörung ließen sie sich nochmals ins weiche Gras fallen. Dieses Mal nicht aufeinander, sondern nebeneinander. Sie nahmen sich bei den Händen. Unite stimmte den Beschützer-Ruf an. „Balaaaance…“ Die anderen stimmten mit ein. „Defenders!“ und hoben die Hände, so dass sie wie besoffene Fußballfans aussahen, die noch in ihrem Rausch ihre Mannschaft anfeuerten. Ewigkeit landete auf den ausgestreckten Händen von Trust und Desire. „Seht ihr! Eure Teamfähigkeit hat eine konjunkturelle Steigerung erfahren und befindet sich auf dem Weg aus der Rezession!“ Die Beschützer gafften sie sprachlos an. Destiny drehte sich halb in Unites Richtung. „Du solltest sie nicht fernsehen lassen!“ „Das hat sie aus unserem Wirtschaftsbuch.“, kicherte Unite. „Verdammt! Warum bin ich nicht darauf gekommen!“, rief Change. „Das ist der perfekte Spickzettel! Keiner sieht sie und sie kann sich hin- und herteleportieren, um im Buch nachzuschauen!“ „Und sie bringt alles durcheinander.“, lachte Unite. „Schlimmer als ich?“, scherzte Change. „Das dürfte schwerfallen.“, ärgerte Destiny ihn amüsiert. Zur Strafe stupste er ihr mit dem Ellenbogen spielerisch in die Seite, was sie zum Grinsen brachte. Ewigkeit klatschte in die Hände, und Desire und Trust fragten sich, wann sie die Arme, auf denen Ewigkeit immer noch stand, endlich wieder runternehmen konnten, die fingen nämlich mittlerweile an zu kribbeln. „Das Training ist noch nicht zu Ende! Raus aus der Inflation, rein in die Deflation!“ Ihre absurde Verwendung von Wirtschaftsbegriffen machte die fünf einmal mehr sprachlos. Auch wenn sie sich selbst nicht ganz klar waren, was man unter einer Deflation verstand. Endlich schwebte Ewigkeit von Desires und Trusts Händen. Erleichtert ließen die beiden die Arme sinken. „Um eure Kräfte zu trainieren, spielen wir jetzt eine Runde Fangen!“, kündigte das Schmetterlingsmädchen an. Wie sollten sie beim Fangenspielen ihre Kräfte trainieren können? Ewigkeit setzte zu einer Antwort an: „Zwei Teams. Verändern, Vereinen und Schicksal – Team eins. Wunsch und Vertrauen – Team zwei. Verändern macht sich unsichtbar, Vereinen setzt ihre Kräfte ein, um die Unsichtbarkeit auf sich selbst und Schicksal zu übertragen. Euer Ziel ist es, Vertrauen zu paralysieren. Wunschs und Vertrauens Ziel ist es, euch ausfindig und wieder sichtbar zu machen. Dazu benutzt Vertrauen seine Telepathie und Wunsch ihre läuternden Kräfte. Wer sein Ziel als erstes erreicht, gewinnt. Alles klar?“ Bemerkenswerter Weise hatten die Beschützer keine Probleme damit, die deutschen Namen einander sofort zuzuordnen. Sie lösten die Seile, die ihre Beine zusammengebunden hatten und machten sich an die Umsetzung von Ewigkeits Anweisungen. Kapitel 59: Fangen ------------------ Fangen „Spielen ist eine Tätigkeit, die man gar nicht ernst genug nehmen kann.“ (Jacques-Yves Cousteau) Change, Unite und Destiny stellten sich Desire und Trust gegenüber. „Die müssen aber wegschauen, wenn wir uns unsichtbar machen, damit sie nicht gleich wissen, wo wir sind!“, bemängelte Change. „Klar, und dann stürmt ihr gleich auf uns zu und gewinnt!“, hielt Desire dagegen. „So einfach ist das nicht.“, meinte Trust. „Die drei müssen es erst mal schaffen, sich ohne einander zu sehen und ohne einen Mucks zu machen, untereinander zu verständigen, wo sie hinlaufen. Die Hände loslassen können sie nicht. Besonders schnell werden sie nicht sein.“ Destiny und Change schauten ihn baff an. Ganz offensichtlich war keiner von ihnen auf die Idee gekommen, dass die Erfüllung ihrer Mission solche Schwierigkeiten mit sich brachte. Unite ruckte an den Händen von Destiny und Change. Zweimal nach rechts, zweimal nach links, nach vorne und nach hinten, je zweimal. Eindeutig verständnislos glotzten die beiden sie an. „So zeigen wir einander, wo’s lang geht. In die Richtung, in die gezogen wird.“, klärte Unite sie auf. „Damit es nicht durcheinander gerät, darf aber nur einer führen, sonst zieht ihr noch in verschiedene Richtungen.“ „Ich führe!“, rief Change, als hätte er nur darauf gewartet. „Du solltest dich besser darauf konzentrieren, unsichtbar zu bleiben.“, kam es von Trusts Seite. „Ich brauche keine Tipps vom Feind!“, gab Change zur Antwort. „Umso besser für mich.“, meinte Desire mit in die Seiten gestemmten Fäusten und siegessicherem Lächeln. „Wart’s ab!“, schimpfte Change. Desire wandte sich an Trust. „Du solltest ihnen nicht so viel helfen, sonst verlieren wir noch am Schluss.“, flüsterte sie ihm hinter vorgehaltener Hand zu. Trust lächelte bloß sanft. Ihm schien das Siegen nicht wichtig zu sein. Change unterhielt sich ebenfalls im Flüsterton mit seinem Team. „Und wie machen wir’s?“ „Destiny! Sie muss sich nicht die ganze Zeit auf ihren Kräfteeinsatz konzentrieren.“, stellte Unite fest. „Ich soll führen?!“, rief Destiny entsetzt. „Shhh…!“, machte Change und hielt sich den Zeigefinger an die Lippen. „Die brauchen nicht gleich wissen, was wir planen! Überhaupt, du willst doch sonst immer, dass alles nach deinem Kopf geht! Da hast du’s!“ Destiny zog eine Schnute. Dass sie eine eventuelle Schlappe verantworten musste, gefiel ihr gar nicht. Wenn ihr Team verlor, war zwar so oder so sie die Schuldige – ihre Erfahrungen im Schulsport hatten sie das gelehrt – aber auch noch offiziell die Dumme zu sein, das … Change riss sie aus ihren Gedanken. Mit verstimmter Miene war er zu ihr getreten und verwuschelte mit einer groben Bewegung ihren Pony. „Du denkst zu viel!“ Die Antwort kam automatisch. „Und du denkst zu wenig!“ „Deshalb passt ihr ja auch so toll zusammen!“, jauchzte Unite. Change und Destiny legten ihr drohend eine Hand auf den Kopf, um sie zum Schweigen zu bringen. Neben ihnen sah Unite mit ihren eins fünfzig sehr klein aus. Change hielt Destiny den Zeigefinger vor die Nase. „Du bist die Anführerin, Tiny!“ „Nenn mich nicht so.“, beschwerte sie sich. „Dann eben der Leitwolf. Der Boss.“ „Ich meinte das andere!“ Change drehte die Augen nach oben und zählte an seinen Fingern scheinbar die Worte ab, die er gerade verwendet hatte. „Tiny!“, schrie Destiny ihn an. Er streckte ihr die Hand entgegen. „Change. Sehr erfreut dich kennenzulernen!“ Destiny schlug seine Hand beiseite, während Unite neben ihr kicherte. „Also, du bist die Anführerin.“, wiederholte Change, dann drehte er sich um, um wieder seinen Platz an Unites Seite einzunehmen. „Und wenn was schief geht,“, er stoppte nochmals in der Bewegung und drehte sich mit finsterem Blick zu Destiny. „dann…“ „…knuddeln wir dich durch!“, beendete Unite seinen Satz. „Genau!“, stimmte Change zu, als hielte er das für eine schlimme Strafe für Destiny. Destinys Mimik konnte sich nicht zwischen verwirrt und verstimmt entscheiden. „Wir wären fertig.“, drang Desires Stimme zu ihnen. Destiny drehte sich zu dem gegnerischen Team. „Wir auch!“ Ihre Stimme klang herausfordernd. Als sie sich wieder zu den anderen beiden wandte, sah sie Change ihr mit erhobenen Daumen zugrinsen. „So gefällst du mir!“ „Hast du gehört, du gefällst ihm!“ „Unite!“, mahnten Change und Destiny zeitgleich. Unite zuckte mit den Schultern. „Ich wollte es nur gesagt haben.“ Change schloss die Augen und konzentrierte sich, fühlte wie der Wind ihm durch das hellbraune Haar fuhr. Er erspürte die Luft um sich herum, nahm ihre unsichtbare Präsenz in sich auf, atmete tief ein und stellte sich vor, wie bei jedem Atemzug die Unsichtbarkeit des Sauerstoffs auf ihn übertragen würde. Alles Schwere, Sichtbare wurde ausgeatmet, bis er vollständig von Leichtigkeit erfüllt war, mit ihr verschmolz, und sich so leicht fühlte, so leicht, als könne er fliegen. Die Augen noch immer geschlossen, hörte er Überraschungslaute von den anderen kommen. Sein Name wurde mit Unglauben in der Stimme genannt. Change grinste breit und selbstherrlich, es konnte ja keiner sehen. Doch wie immer musste Destiny ihm den Triumph verderben. Von wegen beeindruckt! Ihre Stimme klang mal wieder genervt. „Du solltest dich unsichtbar machen, nicht schweben.“ Change riss die Augen auf und erkannte, dass er immer noch genauso sichtbar war wie zuvor, aber unter seinen Füßen kein Boden mehr war. „Ich flieeeege!!!“, schrie er euphorisch. „Wuuuhuuuu!!“ Er streckte den rechten Arm in die Höhe, als wäre er Superman oder Peter Pan. „Falsch.“, entgegnete Destiny ernüchternd. „Du schwebst. Und das keine zehn Zentimeter.“ „Ich fliege!“, beharrte Change. „Nein, du schwebst.“ Change warf ihre einen strafenden Blick zu. „Weißt du, was ich am besten an dir leiden kann?“ „Dass ich dich am laufenden Band beleidige?“, schlug Destiny vor. Gerade setzte er zu einer Antwort an – stockte. „Das auch.“, gab er unzufrieden zu. „Aber –“ „Dass ich deine Erfolge abwerte und schlechte Laune verbreite?“ „Dass du mir das Wort aus dem Mund nimmst!“, schimpfte Change. „Dann kann ich ja mit allem anderen weitermachen.“, meinte Destiny zufrieden. Change verzog das Gesicht. „Ich finde es toll, wie du fliegst!“, rief Unite strahlend. „Wenigstens einer.“, schmollte er und kam wieder auf den Boden. Destiny verschränkte die Arme vor der Brust. „Was willst du hören?“ Sie verstellte ihre Stimme. „Oh Change! Du bist so fantastisch! Du kannst fliegen! Ich bin völlig hingerissen!“ Sie untermalte ihre Worte mit dramatischer Gestik. „Sowas in der Art.“, antwortete Change und begann wieder zu grinsen. „Nur etwas mehr Begeisterung und Geschleime!“ „Du könntest ihm um den Hals fallen!“, war Unites Vorschlag. Destiny und Change warfen ihr strenge Blicke zu. Unite schaute verdutzt. „Würdest du dich nicht darüber freuen?“, fragte sie Change, als könne sie das nicht glauben. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck wandte sich Change ab, was wiederum Destiny aus dem Konzept brachte. Ewigkeit sauste über sie hinweg wie ein Kunstflieger. „Das Spiel muss weitergehen!“, jauchzte sie und flog, einen Salto schlagend, wieder in die andere Richtung. Change kam es so vor, als hätte sie sich mit ihrer Luftakrobatik über seinen kleinen Flugerfolg lustig gemacht. Er bemühte sich, dieses Mal tatsächlich unsichtbar zu werden. Es klappte. „Super!“, freute sich Unite und wollte Changes Hand ergreifen, die allerdings nicht dort war, wo sie sein sollte. Ziellos tastete sie umher. „Hey!“, beschwerte sich Changes Stimme. „Ups.“ Unite grinste arglos, dann wurde ihre Hand von etwas Unsichtbarem ergriffen. Augenblicklich wurde sie von der Unsichtbarkeit verschluckt und leitete diese an Destiny weiter. Keiner der drei war mehr zu sehen. „Können wir jetzt anfangen?“, fragte Desire. „Du weißt ja jetzt genau, wo wir sind!“, schimpfte Change. „Ist doch praktisch.“, scherzte Desire. Ewigkeit schwebte zwischen die beiden Gruppen und flog ziellos nach rechts und nach links. Desire verfolgte ihre Bewegungen etwas verwirrt, während Trust neben ihr bereits versuchte, die Gedanken des anderen Teams ausfindig zu machen. Trust war sich nicht sicher, wessen Gedanken er lesen sollte, wusste nicht einmal, ob er sich das willentlich aussuchen konnte. Er dachte an Change, Destiny und Unite, die irgendwo da vorne stehen mussten, oder sich auch schon wegbewegt hatten. „Jetzt!“, gab Ewigkeit das Startsignal. Desire wollte schon vorpreschen, um die anderen sofort zu fassen zu bekommen, ehe diese sich weit von ihrem Ausgangspunkt wegbewegt hatten, entschied sich dann aber um. In der Zeit, in der sie hinüber rannte, konnten die anderen sich unbemerkt auf Trust stürzen, dann wäre das Spiel verloren. Also blieb sie in seiner Nähe. Trust indes suchte weiter nach den Gedankensträngen der anderen drei Beschützer. Bisher hatte er keinen Erfolg gehabt. Wie bei einem Radio, das nicht auf einen Sender eingestellt war, empfing auch er nur leere, gehaltlose Stränge, die sich bei ihm nicht in Rauschen äußerten, sondern in Stille. Sobald eine Welle sich zu formen begann, lief sie auch schon wieder aus, wie eine Woge auf dem Meer, die plötzlich verschluckt wurde. Zahllose Linien zogen an ihm vorbei, keine ergab einen Sinn, keine gab sich die Mühe, sich ihm verständlich zu machen. Links. Die Eingebung kam plötzlich. Es war nicht so sehr ein Wort gewesen, nicht der Gedanke eines einzelnen, der sich herauskristallisiert hatte, sondern drei Fäden, die nur aufgrund ihrer Gleichartigkeit hervorgestochen waren und sich zu dieser Idee geformt hatten. Das musste daran liegen, dass die drei anderen sich beim Gehen auf das Gleiche konzentrieren mussten. Das war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte. „Sie laufen nach links.“, sagte Trust leise. „Also rechts von uns.“, übersetzte Desire. Trust nickte, ohne die Augen zu öffnen. Desire stellte sich vor ihn. „Merkst du es, wenn sie näher kommen?“ „Nur wenn sie es alle gleichzeitig denken.“, antwortete Trust. „Geradeaus.“ Die Beschützerin nahm Trust bei der Hand. „Wir gehen ein Stück zur Seite.“ Vorsichtig führte sie ihn ein paar Schritte weg. „Ich kann mich während dem Gehen nicht so gut konzentrieren.“, informierte Trust. Seine eigenen Gedanken behinderten ihn. Doch sein Denken auszuschalten hätte bedeutet, über seine eigenen Beine zu stolpern. Desire blieb stehen, stellte sich wieder vor ihn. „Okay.“ Sie betrachtete den Boden, um die Schritte der anderen drei eventuell zu erkennen. Wo würden sie langgehen? Was wäre wohl der geschickteste Weg? Sie würden versuchen, an ihr vorbeizukommen, das hieße, die Richtung ändern. Oder sie umgehen. Geradeaus, rechts oder links? „Desire.“, setzte Trust an, stoppte dann jedoch. „Ja?“ Trust zog ein unsicheres Gesicht. „Tut mir leid. Wenn du so viel denkst, ... Das ist etwas schwierig.“ „Oh. Entschuldige.“ Trust schüttelte bloß den Kopf. Es herrschte Stille. Desire kam sich blöd vor. Sie konnte gar nichts tun – mal wieder. Und ihre Überlegungen waren für Trust auch noch hinderlich. Was sollte sie denn dann tun? Sie stieß die Luft aus. Dann entschied sie, das Risiko einzugehen. Ohne Weiteres stürmte sie in die Richtung, in der sie die anderen vermutete und fuchtelte wild mit den Armen, um sie zu fassen zu bekommen. Aber da war nichts. Jetzt! Schnell! „Desire!“, schrie Justin. Er hatte die Augen jetzt geöffnet und ging schleunigst seitwärts nach links. Desire machte eine Kehrtwendung und rannte auf ihn zu. Als ihr klar wurde, dass sie Trust nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, änderte sie die Richtung und stürmte auf die Stelle zu, wo vielleicht noch die anderen zu finden waren, schließlich waren sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Wenn sie sich von ihr bedroht fühlten, würden sie den Angriff auf Trust vielleicht abbrechen. Der Plan ging nicht auf. Sie sah, dass Trust von etwas, davon abgehalten wurde, weiterzugehen, jemand hatte ihn wohl am Arm gepackt. Ihr Team-Partner versuchte sich loszureißen. „Tiny!“, drängte der unsichtbare Change, der Desire natürlich kommen sah. Desire entriss Trust im letzten Moment Changes Griff. Das Risiko, Zeit damit zu verschwenden, Changes unsichtbare Hand zu suchen, war ihr zu groß gewesen. Nun aber stürzte sie sich auf ihn, und fiel zu Boden. Kein Change. „Weg!“, rief Change und ging vermutlich nach hinten, dabei brachte er wohl den ganzen Zug durcheinander, denn Destiny machte einen geschockten Laut. „Du Idiot!“, hörte man Destinys Stimme. Desire war wieder auf den Beinen und schlug nach der Luft. Als müsse sie sich gegen ein imaginäres Bataillon Fliegen zur Wehr setzte, fuchtelte sie umher. Man hörte Unite leise kichern. „Trust, lauf auf die andere Seite!“, befahl Desire. Anstatt sich in Sicherheit zu begeben hatte Trust erneut versucht, die Gedanken der drei ausfindig zu machen, doch diese waren ein heilloses Durcheinander gewesen. Nun schreckte er auf, und wollte Desires Anweisung folgen, als ihn etwas am Knöchel packte. „Trust!“ Desire machte den ersten Schritt, um zu ihm zu rennen, und stolperte über etwas Großes, das am Boden lag. Der am Boden liegende Unsichtbare stöhnte laut, als sie ihm beim Fallen das Knie in die Seite rammte und dann noch halb auf ihm landete. Desire griff nach ihm. Dieses Mal verfehlte sie ihn nicht. Vor allem da er keine Möglichkeit mehr zur Flucht besaß. Ihre Beine lagen ja auf ihm. Doch während noch ihre läuternden Kräfte auf Change über gingen, hörte man einen Körper zu Boden gehen. Daraufhin war es nicht mehr nötig, dass sie die anderen wieder sichtbar machte. Vor Schreck ließ Unite Change und Destiny los, wodurch sie und Destiny wieder sichtbar wurden. Desire konnte nun erkennen, dass alle drei sich auf allen Vieren auf dem Boden befunden und sich kriechend weiter zu Trust vorgekämpft hatten. Und sie sah noch etwas – den am Boden liegenden Trust. Der Beschützer war direkt neben Destiny in sich zusammengesackt. Destinys Linke hielt noch seinen Knöchel umfasst. Wie eine der Energieversorgung beraubte Maschine rührte Destiny sich nicht mehr, als habe ihr eigenes Werk sie erstarren lassen. Unite sprang auf und rannte an Trusts Seite. Change, weiterhin unter Desire begraben, konnte sich nicht verkneifen, die noch immer bewegungslose Destiny aufzuziehen. „Du hast ihn umgebracht!“, kreischte er gewollt melodramatisch. Zu spät erkannte er die Ernsthaftigkeit der Situation und dass sein Scherz das letzte war, das Destiny gebrauchen konnte. Entsetzt starrte Destiny auf ihr Werk. Sie hatte gerade noch Trusts Fußgelenk zu fassen bekommen und eilig ihre Kräfte bei ihm angewandt. Sie hatte sich extra darauf konzentriert, dass er keinerlei Schmerzen dabei empfand! Hatte seinem Körper den Befehl gegeben, sich zu entspannen! Übelkeit und Schuldgefühle schossen in ihr hoch. Alles schien sich um sie herum zu drehen und sich in einen albtraumhaften Strudel zu verwandeln, von dem sie hinfortgesogen zu werden drohte. Sie bekam kaum noch mit, wie sich Unite um den Jungen am Boden kümmerte. „Er atmet!“ In der Zwischenzeit mussten sich Desire und Change entwirrt haben, denn als nächstes hörte sie Desires Stimme neben sich. „Was ist passiert?“ „Was hast du gemacht?“, ertönte auch Changes ungläubige Stimme und brach abrupt ab. Doch all das war unwichtig geworden. Destiny wollte sterben... Immer wenn sie ihre Kräfte einsetzte, passierte etwas Schreckliches! Immer tat sie jemandem weh! Das wollte sie nicht. Das wollte sie nicht. Plötzlich erschallte Ewigkeits quietschfidele Stimme. „Team 1 hat gewonnen!“ Ihr Kommentar machte die Beschützer sprachlos. „Bist du bescheuert?!“, schrie dann Change. Nachdem er Destinys plötzliches Zittern bemerkt hatte, hatte er sich wie Desire neben sie gekniet, was sie allerdings auch nicht mehr wahrzunehmen schien. „Was ist mit Trust?“, forderte Desire von Ewigkeit zu wissen, und hatte dabei nicht bedacht, dass diese mit dem Namen Trust nichts anzufangen wusste. Dafür bekam sie eine Antwort von Unite. „Es geht ihm gut.“, rief Unite und bewies einmal mehr, dass sie wohl bei jeder Situation zuerst vom Besten ausging. Wie gewöhnlich klang ihre Stimme normal, als wäre die unerwartete Situation für sie mehr aufregend als erschreckend. „Er kommt zu sich.“ Trust gab ein Stöhnen von sich, dann hob er seinen Arm und bedeckte damit seine Augen, wie um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen. „Trust!“, schrie Unite freudig auf ihn ein. „W… Was?“ Seine Stimme klang verschlafen. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und öffnete dann langsam die Augen. Unite beugte sich über ihn. „Vivien…?“ Verwirrt blinzelte er. Er schien noch immer nicht ganz bei sich zu sein, sonst wäre er wohl aufgrund der Nähe zu ihr verängstigt zusammengezuckt und puterrot angelaufen. „Kannst du aufstehen?“, erkundigte sich Unite nun mit erstaunlich sanfter Stimme. „Was?“, sagte er zum zweiten Mal. Desire kniete sich ebenfalls zu ihm. „Geht es dir gut?“ „Eh…“ Er schien zu überlegen. Unite wandte sich an Desire. „Setz deine Läuterung bei ihm ein.“ „Wozu?“ Unite zuckte lächelnd mit den Schultern. „Vielleicht hilft es.“ Mit leicht skeptischer Miene sah Desire sie an und folgte schließlich dem Vorschlag. Sie legte beide Hände auf Trusts Brustkorb, schloss die Augen, um sich zu sammeln, und ließ die frische Energie, wie kühlendes Quellwasser, in sein Inneres fließen. Der benebelte Ausdruck wich aus Trusts Gesicht und die dunklen Augenringe verschwanden. Hellwach sah er die anderen an. „Was ist passiert?“ „Das wollten wir dich fragen.“, antwortete Desire. Ewigkeit schwebte über ihren Köpfen und besah sich die Szene, als verstünde sie die ganze Aufregung nicht. Trust setzte sich auf. „Etwas hat mich am Fußgelenk gepackt. Und dann, bin ich plötzlich so müde geworden. Schrecklich müde.“ Er sah die anderen an. Links und rechts von ihm knieten Unite und Desire. Hinter Desire sah er Change hocken, neben Change auf allen Vieren kauerte Destiny, tränenüberströmt. Sofort sprang Trust auf, sodass die beiden Mädchen an seiner Seite überrascht nach hinten wichen, und war mit einem Satz bei Destiny, kniete vor ihr. Erschrocken legte er ihr die Hände auf die Schultern. „Ist alles okay mit dir?“ Mit qualvoll verzerrten Mundwinkeln nickte Destiny. Mehr nicht. Trust musterte die anderen. „Was hat sie?“ Schuldbewusst presste Change Worte hervor. „Ich hab gesagt, sie hat dich umgebracht.“ Kleinlaut fügte er hinzu. „Im Scherz.“ Trust war anzusehen, dass er nicht verstand, wie man darüber Scherze machen konnte! Sanft redete er auf Destiny ein. „Mir geht’s gut. Es ist nichts passiert.“ Er versuchte es mit einem Lächeln. „Sie kann Leute einschläfern!“, schlussfolgerte Unite begeistert. „Ja.“, stimmte Ewigkeit zu, als sei das die ganze Zeit hindurch offensichtlich gewesen. „Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?!“, beschwerte sich Desire bei ihr. Die Kleine legte ihren Kopf schief. „Was?“ Desire sparte sich den Atem. Trust widmete sich weiter Destiny. „Hast du gehört? Du hast gelernt, jemanden in Schlaf zu versetzen. Freu dich. Das wird uns sicher irgendwann helfen. Ja?“ Er sah, wie ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten. Sie schüttelte den Kopf. Einmal. Zweimal. Und bedeckte mit den Händen das Gesicht. Change berührte sie an der Schulter. „Hey, ich hab’s nicht so gemeint.“, sagte er vorsichtig. Ihr Körper erbebte von den Schluchzern. Hilflos sah er zu Trust. „Tu doch was!“ Trust zeigte sich genauso planlos. „Was denn?“ „Keine Ahnung!“, rief Change und zog ein nervöses Gesicht. „Nimm sie in den Arm!“ Trust zögerte, offenbar unsicher, ob das bei Destiny eine gute Idee war. „Du oder ich!“, rief Change gehetzt. Unentschlossen zuckte Trust mit den Schultern, offensichtlich hatte er es als Frage verstanden. „Ihr Idioten!“, keifte Destiny mit einem Mal lautstark. Ihr Aufschrei ließ die Jungs vor Schreck zusammenfahren und in Schutzposition gehen, als stünden sie einem feuerspeienden launischen Drachen gegenüber, während ihr Gegenüber sie aufgebracht anfunkelte. Von dem Anblick erheitert begann Unite zu kichern. Lachend kniete sie sich zu den beiden Jungen und legte ihnen von hinten jeweils einen Arm um die Schultern. Trust und Change sahen sie verdutzt an, ebenso Destiny. Doch Unite lachte einfach weiter, unbeschwert und frei. Change war der erste, auf dessen Gesicht sich ein Grinsen schlich und der in Unites ansteckendes Gelächter einstimmte. Desire folgte. Und als sich Ewigkeit auf Destinys Kopf niederließ, brachte auch sie ein ersticktes Lachen zustande, dem sich Trust anschloss. Ob das eine weitere von Unites Fähigkeiten war oder ein gottgegebenes Talent blieb ungeklärt. „Das Training ist noch nicht vorbei!“, rief Ewigkeit, woraufhin Desire sie packte und ihr mit einem Finger den Mund zuhielt, was eine erneute Lachsalve der anderen zur Folge hatte. Schließlich setzten sie den Stationenlauf fort. Bei dem Apfel-Spiel wollte Unite sich wieder neben Trust setzen, aber Ewigkeit bestand darauf, dass sie die Plätze bei jedem Mal wechselten. Etwas unzufrieden überließ Unite daraufhin Change ihren Platz und setzte sich aufgrund von Destinys hilfesuchender Mimik zwischen ihn und Destiny, Zu ihrer Freude war Destiny ihr gegenüber weniger ängstlich beim Ausführen der Aufgabe. Dann musste sich Unite mit dem Apfel unter dem Kinn aufrichten, um den Größenunterschied zu Change ausgleichen zu können. Anschließend verfolgte sie mit einiger Begeisterung, wie Change den Apfel etwas verlegen an Trust weitergab. Das sah so niedlich aus! Auch wenn sie in einem Shonen Ai Manga Vitali eher mit Erik geshippt hätte, was vor allem an dessen Ähnlichkeit zu Serena lag. Beim dritten Durchgang der Stationen schaffte es Unite, sich bei der Apfel-Aufgabe ans Ende der Kette neben Trust zu schummeln und beobachtete mit diebischer Freude, wie Change den Apfel von Desire an Destiny weitergeben musste. Aufgrund der bereits gewonnenen Übung funktionierte das jedoch deutlich schneller und unspektakulärer als Unite es erhofft hatte. Ihr Shipper-Herz war enttäuscht. Sie hatte sich das so schön ausgemalt! Wie die beiden rot wurden und der Apfel runterfiel, sie beide gleichzeitig danach griffen, dadurch noch verschämter wurden und einander tief in die Augen sahen. Aber Pustekuchen. Zumindest war es ein kleiner Trost, dass Destiny Trust, der den Apfel von ihr entgegennahm, offenbar ziemliches Vertrauen entgegenbrachte, obwohl die Nähe zu ihm Destiny dennoch peinlich berührte. Allgemein schien Desire die einzige der anderen zu sein, die von dieser Art von Tuchfühlung nicht nervös oder verlegen wurde. Endlich war Unite an der Reihe und betete, dass Ewigkeit den Moment nicht durch einen Zwischenruf ruinierte. Trust näherte sich ihr. Unite wechselte von ihrer Sitzposition in eine kniende und griff nach Trusts Kopf, der augenblicklich den Apfel fallen ließ. Sie ließ von ihm ab und gab ihrer Stimme einen möglichst unschuldigen Klang. „Tut mir leid. Desire hat das vorhin bei Destiny gemacht. Ich dachte, das würde helfen.“ Trust schaute beschämt und hob den Apfel auf. In der Sekunde, in der er nicht in ihre Richtung sah, grinste Unite. Trust klemmte erneut den Apfel unter sein Kinn. „Mir würde es helfen, wenn ich mich an dir festhalten könnte.“, behauptete Unite in mädchenhaftem Ton. Von Destiny kam ein Stöhnen. Trust antwortete nicht, wirkte aber so angespannt, dass Unite davon ausging, dass er sich darauf gefasst machte. Sie rückte näher an ihn heran und legte ihm ihre Rechte in den Nacken. Er blieb reglos sitzen, offenbar darauf bedacht, den Apfel nicht nochmals fallen zu lassen. Sie berührte mit ihrer Wange die seine und gab sich nicht die Mühe zu vertuschen, dass das kein Zufall war, schließlich wusste sie nicht, wann sie noch einmal die Gelegenheit bekam, ihm so nahe zu kommen. Sie legte ihren linken Arm um seine Schulter und drückte sich einen Moment an ihn. Dann tat sie ihm den Gefallen und nahm ihm den Apfel ab. Doch anstatt sich wieder von ihm zu entfernen, wich sie nur minimal von ihm zurück, nahm die Hand von seinem Nacken und ließ den Apfel in diese fallen. Sie lachte ihn freudig an. Trust schien nicht zu wissen, wie er darauf reagieren sollte. In einem Anflug von Übermut beugte Unite sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann sprang sie auf die Beine, zu aufgeregt, um sitzen zu bleiben, kurz davor wie ein Gummiball durch die Gegend zu hüpfen, und kicherte aufgekratzt. Neugierig drehte sie sich wieder zu Trust, um seine Reaktion zu sehen. Puterrot im Gesicht starrte er sie an. Strahlend hielt sie ihm die Hände hin, wie um ihm aufzuhelfen. Dazu hatte sie den Apfel zu Boden fallen lassen. Trust war unfähig, irgendetwas anderes zu tun, als sie anzustarren. „Du solltest aufstehen, bevor sie vollends über dich herfällt.“, warnte ihn Destiny und erhob sich. Unite lachte aufgedreht. In dieser dritten Runde des Stationenlaufs funktionierte auch das aneinander gebundene Laufen schon deutlich besser, sie kamen sogar schon einigermaßen flüssig voran, als plötzlich ein Piepsen erklang. Den anderen fiel es gar nicht auf. Aber Trust. Er stoppte in der Bewegung, und noch ehe die anderen ihn nach dem Grund fragen konnten, schoss etwas aus dem Waldstück links von ihnen. Trust packte Change, der neben ihm stand, stieß ihn aus der Schussbahn, und schleuderte seine Attacke auf das Geschoss. Seine Energiewelle schloss die Kreatur ein. Wie gelähmt starrten die Beschützer auf das Ergebnis. Der Glitzer von Trusts Vertrauensband löste sich auf und dahinter wurde Ewigkeit sichtbar. Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Ihr habt die Übung bestanden! Glückwunsch!“ Noch von dem Schock perplex standen die Beschützer bloß da und begriffen nicht, was hier vorging. „Ihr habt schnell genug reagiert und konntet eure Kräfte auch in der Stress-Situation einsetzen. Zumindest Vertrauen.“, referierte Ewigkeit. „Leistungssteigerung klar ersichtlich. Zweck des heutigen Trainings: Erfüllt!“ Noch immer gafften vier der fünf sie bloß an. „Super Idee!“, lobte Unite. „Perfektes Überraschungsmoment!“, Mit einem bescheidenen Lächeln fasste sich Ewigkeit an den Hinterkopf und sah zu Boden. „Bist du bescheuert?!“, schrie Destiny Unite an. „Sie hat uns fast zu Tode erschreckt!“ „Aber das war doch perfekt! Wir waren nicht darauf vorbereitet, keiner von uns hat damit gerechnet und wir mussten unsere Kräfte einsetzen.“, meinte Unite. „Perfekt!“, spie Destiny aus. „Perfekt um mich ins Krankenhaus zu bringen!“ „Allerdings.“ Change baute sich wieder zu voller Größe auf. „Trust ist ziemlich brutal, wenn’s darum geht, einem das Leben zu retten.“ Grinsend wandte er sich seinem Freund zu und erwartete, dass sich Trust, wie es für ihn typisch war, für die harsche Behandlung entschuldigte, aber dem war nicht so. Noch immer war Trust regungslos auf Ewigkeit fixiert, wie in eine Leichenstarre verfallen. Seine Mimik war angespannt, voller Misstrauen, als erwarte er, dass Ewigkeit sich vor seinen Augen häuten und ein Schatthen darunter hervorkommen würde. „Das Piepsen.“, sagte er wie in Trance. „Das Warnsignal.“ Das Schmetterlingsmädchen sah ihn unwissend an. „Warnsignal?“, fragte Desire. „Ich hab es dieses Mal gar nicht gehört.“ Trust riss den Kopf zu ihr herum. „Natürlich! Da war ein Piepsen!“, rief er heftig und begegnete verständnislosen Gesichtern. „Ich hab mir das nicht eingebildet!“ „Ah!“, machte Unite, wollte nach rechts zu ihrer Tasche gehen, merkte, dass sie noch an die anderen gefesselt war, und musste sich erst losbinden. Dann lief sie zu ihrem Rucksack, in den sie vor der Verwandlung ihr Handy gesteckt hatte. Sie öffnete die vordere Tasche und zog ihr Mobiltelefon hervor. Sie hob das Gerät über ihren Kopf, ging zurück zu den anderen und hielt es Trust hin. „Eine Mitteilung erhalten.“ Trust sah sie verständnislos an. Da er noch nie ein Handy besessen hatte, kannte er sich damit nicht aus. Unite zog ihre Hand zurück und tippte ein paar Tasten. Plötzlich erzeugte das Handy ein schrilles Gepiepse, das Trusts Augen groß werden ließ. „Das ist mein Kurzmitteilungs-Signalton.“, erklärte Unite. Ungläubig sah Trust sie an. Unite lächelte. Trust ging nicht darauf ein. Mit bedrückend finsterer Miene senkte er den Blick. Ariane kam aus dem Bad. Ihr blondes Haar war in den Längen noch feucht, weshalb sie sich ein Handtuch um die Schultern gelegt hatte. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer schwirrte Ewigkeit um sie herum, drehte Pirouetten in der Luft und schraubte sich in die Höhe. Selbst nach dem Training war sie noch putzmunter, obwohl sie doch am laufenden Band hin und her geflogen war. Ariane fragte sich, ob sie überhaupt schlafen oder wie ein Glühwürmchen unter Koffeinschock die ganze Nacht lang umherflitzen würde. Sie setzte sich auf ihr Bett und griff nach ihrem Smartphone. Als sie auf ihre E-Mail App tippte, kam leise Vorfreude in ihr auf. Sie wurde nicht enttäuscht. Nathan war wirklich schnell im Antworten. Sie musste lächeln. Während sie las, ließ sich Ewigkeit auf ihrem Kopf nieder, legte sich auf den Bauch und las laut mit. Sie betonte die Sätze nicht, so dass es leicht apathisch klang und Ariane schmunzeln ließ. „Liebe Ariane, nach deiner Interessebezeugung werde ich mir sofort einen Verlag suchen, der meine Autobiografie druckt! - Ist das ein Gesicht?“ „Man nennt das Smiley.“, erklärte Ariane. „Hm.“, machte Ewigkeit verständig und las weiter vor. „Da es bis dahin noch etwas dauern könnte, schreibe ich dir vorerst nur die wichtigsten Details auf. Allerdings wird sich das noch etwas verzögern, weil ich momentan damit beschäftigt bin, einen neuen Steuerberater für die Finster GmbH zu finden. Aber Freitagabend nehme ich mir extra Zeit für dich. Bis dahin noch eine schöne Woche. Freundliche Grüße. Nathan.“ Sofort sprang Ewigkeit auf. „Nathan!“, rief sie wie vom Donner gerührt. „Nathan ist Waise!“ Ariane kicherte. Einmal mehr missverstand sie Ewigkeits Ausruf als ‚Nathan ist weise‘, und fand es süß, dass die Kleine sich diesen Satz gemerkt hatte, der damals bei ihrer Besprechung über Nathans Rolle gefallen war. Es musste einige Stunden später sein, als ein penetranter Laut Ariane unsanft aus ihrem Schlummer zurück in den Wachzustand zerrte. Schwer atmend riss sie die Augen auf und wusste nicht, was geschehen war. Panik ließ ihr Herz hektisch gegen ihren Brustkorb hämmern, als wolle es aus ihrem Inneren flüchten. Ariane wusste nicht, woher diese plötzliche Angst kam. Aufgeregt fuhr sie herum und schaute aus dem Fenster. Für einen Moment erwartete sie, dort auf der Straße einen zwielichtigen Mann mit langem Trenchcoat und Hut zu sehen, aber da war nichts. Nur der Mozartweg im dämmrigen Schein der Straßenlaternen. In ihren Augenwinkeln erkannte sie eine Bewegung. Sie riss den Kopf in die entsprechende Richtung. Fast hätte sie aufgeschrien. „Wunsch?“ Schlaftrunken rieb sich Ewigkeit die Augen Sie lag wieder auf Arianes Nachttischchen in ihrem Bett aus Schals. Ihre Gestalt strömte ein sanftes Licht aus. Ariane hatte völlig vergessen, dass sie hier war, und atmete erleichtert auf. Das Halstuch, das sie Ewigkeit als Decke gegeben hatte, musste ihr Leuchten, das im Schlaf nachließ, so stark gedämpft haben, dass sie es eben übersehen hatte. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Ewigkeit. „Ja…“, antwortete Ariane verwirrt. „Ich muss schlecht geschlafen haben.“ Ihr Blick ging wie automatisch erneut in Richtung Fenster. Kapitel 60: Leichen im Keller ----------------------------- Leichen im Keller „Es schlägt nicht immer ein, wenn’s donnert.“ (Deutsches Sprichwort 1876) „Hast du das Kuvert in den Hochsicherheitstrakt der Finster GmbH geschleust bekommen?“, fragte Vivien, nachdem sie die Doppelstunde Mathe hinter sich gebracht hatten. Erik antwortete so lässig, dass jeder Geheimagent vor Neid erblasst wäre. „Ich musste ein paar Tricks anwenden und die Alarmanlage lahmlegen. Aber du weißt ja: Für mich kein Problem.“ Er unterstrich seine Aussage mit einem gewinnenden Lächeln. „Was habt ihr so gemacht? „Wir haben gespielt!“, rief Vivien. Erik schaute zunächst zweifelnd. Dann zog sich sein linker Mundwinkel zu einem schrägen Grinsen nach oben. Seine Augen wanderten zu Ariane. „Und? Muss sich Ariane mir wieder an den Hals werfen?“ Die Empörung über seine Anspielung auf den ersten Schultag war Ariane deutlich anzusehen. Warum hatte Vivien auch so eine superpeinliche Geschichte erfinden müssen, um zu erklären, warum sie sich damals so verhalten hatte? Wenn sie sich an die Behauptung erinnerte, sie habe eine von Vitali und Vivien ausgedachte Pflicht erfüllen müssen, nachdem sie beim schnellstmöglichen Aufblasen eines Kondoms die Langsamste gewesen war, schämte sie sich immer noch! Doch es lag ihr fern, Erik gegenüber Schwäche zu zeigen. Sie schenkte ihm ein kühles Lächeln. „Keine Sorge. Das eine Mal hat mich für alle Zeit vom Glücksspiel geheilt.“ Erik stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Schulbank ab und ließ sein Kinn auf seinem Handteller ruhen. „Schade.“ Er lächelte auf gehässige, bedrohliche Weise. „Dann werde ich ab jetzt wohl mitspielen müssen. Um meine Schulden zu begleichen.“ Für einen Moment wollte Arianes Kopf sich weigern, die Bedeutung dieser Bemerkung zu verarbeiten. Er… wollte es ihr zurückzahlen? Dass sie ihn damals umarmt hatte? Tausend Horrorszenarien, wie seine grausige Rache aussehen könnte, schossen ihr augenblicklich durch den Kopf. Ihre Stimme schrillte in einem Akt purer Notwehr auf: „Wir sind schon quitt!“ …Stille Die jähe Erkenntnis, was sie gerade wieder in sein Gedächtnis gerufen hatte, traf sie. Selbst Erik sah kurzzeitig völlig baff aus, eine wahrlich ungewohnte Reaktion von ihm. Mit einer fahrigen Bewegung wandte sich Ariane schnellstens ab und war völlig von ihrem Terminkalender eingenommen, als handle es sich dabei um das achte Weltwunder. Wieso hatte sie es bloß erwähnt? Wieso war sie bloß darauf zu sprechen gekommen? Es war nie passiert! Den Vorfall vor drei Tagen, diese Umarmung, gab es nicht! Unwillkürlich schrumpfte sie in sich zusammen. Diese Bemerkung würde er ihr nie verzeihen. Oh, wie gerne hätte sie jetzt Vitalis Kräfte besessen… „Ich zahle meine Schulden immer doppelt und dreifach zurück.“ Ariane horchte auf. Fassungslos wandte sie sich um und Eriks diabolisches Grinsen schlug ihr entgegen. Das durfte doch nicht … Von wegen getroffen und beleidigt! Dieses Scheusal drohte ihr auch noch! „Ich nehme keine Zinsen!“, entgegnete sie mit Nachdruck. Doch Erik legte es offensichtlich auf einen Schlagabtausch an. „Ich bestehe darauf!“ Arianes Stimme bekam den frostigen Klang klirrender Kälte. „Nicht nötig.“ Erik wurde dagegen immer freundlicher. „Dann war das wohl eine gratis Kostprobe.“ „Eher ein Zustellungsfehler.“ „Zu meinen Gunsten.“ „Zu meinem Bedauern.“, gab Ariane zurück. „In diesem Fall sehe ich mich natürlich zu einer entsprechenden Rückzahlung verpflichtet.“ Wieder grinste er. Ariane lächelte künstlich zurück. „Sehr freundlich, aber völlig unnötig.“ „Und doch angebracht.“ „Unwirtschaftlich.“ „Zugunsten zukünftiger Geschäftsbeziehungen.“ Er führte eine vielsagende Bewegung mit seinen Augenbrauen aus. „Die es nicht geben wird!“, sagte sie abweisend. „Wodurch eine korrekte Abrechnung umso wichtiger ist.“, beharrte er. Ariane riss der Geduldsfaden. Sie wurde laut: „Ich bin mit der bereits geleisteten Summe vollauf zufrieden!“ Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, dass der heutige Tag verflucht sein musste. Natürlich war auch Erik die verheerende Doppeldeutigkeit ihrer Worte nicht entgangen. Die bereits geleistete Summe – Die bereits geleistete Umarmung. In unübersehbarer Selbstzufriedenheit strahlte Erik sie an. „Danke.“ Und weidete sich an ihrer zwischen Scham und Entrüstung schwankenden Miene. Vivien mischte sich in heller Begeisterung ein. „Du hast sie umarmt?!“ Freudig klatschte sie in die Hände. Und Ariane war der festen Überzeugung gewesen, dass die anderen das Gespräch nicht verstehen würden! Bestürzt sah sie zu Erik. Er würde vor den anderen nicht zugeben, was am Montag passiert war, ganz sicher nicht! Das war viel zu peinlich! Für sie beide! „Am Montag.“, antwortete Erik leichthin und schlug Ariane damit K.O. Die verwirrten Blicke der anderen hefteten sich auf Ariane. Hatte sie nicht angedeutet, Erik habe eine beängstigende Reaktion auf ihren Versuch, etwas über seinen Vater herauszufinden, gezeigt? „Das ist nicht so wie ihr denkt!“, rief Ariane hektisch. „Aber du bist damit vollauf zufrieden.“, wiederholte Erik. Das reichte! Aufgebracht sprang Ariane von ihrem Platz auf und deutete erbost auf Erik. „Hättest du mich bloß geschlagen, dann hätte ich mich wenigstens wehren können!!!“ Im gleichen Moment galt ihr die Aufmerksamkeit sämtlicher Klassenkameraden. Noch eine Sekunde stand Ariane regungslos da, dann setzte sie sich mit steifen Bewegungen wieder hin und starrte die Schulbank an. Die anderen schauten zu Erik, der tat jedoch, als würde er ihre fordernden Mienen gar nicht bemerken. Den restlichen Vormittag sprach Ariane kein Wort mehr mit ihm. „Wenn Erik mit dir nach Hause läuft, dann kann ich doch den direkten Weg nehmen.“, flüsterte Ariane Serena in Physik zu. „Wegen Erik.“, stellte Serena desinteressiert fest. Ariane schwieg. „Ich sage ihm einfach, wir wollen ihn nicht dabei haben.“, meinte Serena trocken. „Nein!“, widersprach Ariane. Verständnislos sah Serena sie an. „Was ist das Problem?“ „Dass es nur wegen mir wäre!“ Skeptisch zog Serena die Augenbrauen zusammen. „Ist es doch auch.“ „Wenn er dich nach Hause begleitet, hat das nichts mit mir zu tun!“, erwiderte Ariane. Serenas Augenlider senkten sich zur Hälfte, als würde sie nicht glauben können, dass Ariane das gerade von sich gegeben hatte, allerdings verstand Ariane den Blick nicht. Ariane drehte sich wieder nach vorne, um die ellenlange Formel abzuschreiben, mit der gerade berechnet wurde, an welchem Punkt zwei Fahrzeuge sich trafen. Wer die Leute nach der Karambolage aus den Autowracks bergen musste, war in der Aufgabe nicht erwähnt worden. „Meinetwegen.“, zischte Serena zu ihrer Rechten. Ihre Stimme klang wütend, und als Ariane sich ihr wieder zuwandte, wurde ihr zu spät klar, wieso. Serena war eingeschnappt. Natürlich. Ariane hatte nur wegen so etwas Unwichtigem wie Erik den Heimweg nicht mit ihr gehen wollen. „Ich gehe mit!“, versuchte sie eilig, Serena wieder gnädig zu stimmen. „Tu dir keinen Zwang an.“ Die Bitterkeit von Serenas Stimme ließ alle Worte, die Ariane ihr noch gerne zur Entschuldigung gesagt hätte, auf ihrer Zunge zu Asche zerfallen. Auch auf dem Heimweg ließ Serenas schlechte Laune nicht nach. Mit Ariane sprach sie kaum ein Wort, und wenn, dann in einem Tonfall, der das Wiedereinsetzen der bedrückenden Stille geradezu wünschenswert machte. Nicht einmal Erik schaffte es heute, sie zum Lachen zu bringen. Die Verabschiedung war entsprechend kurz. Ein liebloses Tschüss und Serena trennte sich von ihnen, ohne sich nochmals nach ihnen umzudrehen. Erik starrte auf die harsch zugeworfene Eingangstür und wandte sich dann bestürzt an Ariane. „Was hast du mit ihr gemacht?“ Ariane platzte der Kragen. „Ich?! Du! Du bist an allem Schuld!“ Sie machte ihrem Unmut durch einen aufgebrachten Laut Luft, eine Mischung aus Ächzen und Stöhnen. Erik blieb ungerührt. „Das kannst du mir nicht erzählen. Sie hat kein derartiges Interesse an mir. Wieso sollte sie eifersüchtig sein?“ „Wer redet denn von Eifersucht?“ Ariane war nahe am Ausflippen. „Sie ist sauer, weil ich nicht mit euch zusammen laufen wollte! Überhaupt: Nicht jedes Mädchen steht auf dich!“ Erik hob die linke Augenbraue, als wolle er das in Frage stellen. Das regte Ariane nur umso mehr auf. „Ich verstehe nicht, wie ein normaldenkender Mensch an dir interessiert sein kann!“ Erik blieb die Ruhe selbst. „Wie gut, dass du kein normaldenkender Mensch bist.“ Fast wäre sie ihm an die Gurgel gegangen. „Eher würde ich mich in meinen schlimmsten Erzfeind verlieben!“ „Gut zu wissen.“, meinte er nüchtern. „Ich dachte, ich wäre dein Erzfeind.“ Ariane wusste langsam nicht mehr, wohin mit ihrer Empörung. „Kannst du aufhören, so verdammt ruhig zu sein!“ „Kommt drauf an, was du anzubieten hast.“ Er machte eine Armbewegung, als fordere er sie zu ihrem nächsten Schlag auf. Arianes Augen wurden schmal. Dank der Situation am Morgen in Kombination mit der durch Erik verursachten Streitigkeit mit Serena war sie alles andere als friedlich gestimmt. „Wir können über deinen Vater reden!“, zischte sie provokativ. „Und was willst du wissen?“, erkundigte sich Erik lässig. Ihre Augen verengten sich in Argwohn. Sicher war das nur ein Bluff. „Mit was verbringt er seine Freizeit?“, testete sie sein Angebot. „Meistens besucht er irgendwelche Veranstaltungen, um sich mit noch mehr Leuten zu vernetzen. Egal ob Auftritt des Musikvereins, Oper, Wohltätigkeitsveranstaltung, Kunstausstellung oder Sportfest. Ansonsten trifft er sich mit dem Bürgermeister und anderen einflussreichen Personen, geht golfen, spielt Squash, und versucht in unserem Keller, aus Leichenteilen ein Monster zu erschaffen.“ Ariane starrte ihn reaktionslos an. „Nur um sicher zu gehen. Das mit dem Monster -“ „Ist das einzige, das stimmt. Alles andere sollte ein Scherz sein.“ Sauertöpfisch sah Ariane ihn an, dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck. „Wieso erzählst du mir das?“ „Damit du glaubst, dass wir im Keller ein Monster haben.“ Sie sparte sich eine schlaue Antwort. In möglichst entkrampfter Stimmlage setzte sie fort. „Wieso erzählst du mir das jetzt und letztes Mal…“ Sie sprach nicht weiter. „Du hast doch vorhin gesagt, ich hätte dich besser schlagen sollen.“, erwiderte er und sah das offenbar als Antwort an. Ariane teilte diese Ansicht nicht. „Und?“ „Jetzt können wir’s ja drauf ankommen lassen.“ Ariane war sich nicht sicher, ob sie das witzig finden sollte. „Gut.“, sagte sie in einem Anflug von Trotz. „Warum hast du Streit mit deinem Vater?“ Nichts schien Erik heute aus der Fassung bringen zu können. „Weil er dich aus dem Haus geworfen hat.“, sagte er nonchalant. „Vorher!“ Nun wurde er doch still. Ariane musste auf seine Antwort warten. Als sie endlich kam, klang Eriks Stimme nicht mehr so locker. „Weil ich nicht er bin.“ Er wandte sich zum Gehen. Ariane ging davon aus, dass die Fragestunde jetzt vorbei war. Beide setzten sich in Bewegung. „Noch was?“, fragte Erik unvermutet, als habe ihm das gerade entlockte Geständnis nichts weiter ausgemacht. Ja! Hat dein Vater dich zufällig vor fünf Wochen K.O. geschlagen, dich ins Schatthenreich verfrachtet und deine Erinnerungen manipuliert? Sie entschied sich, das nicht zu fragen. „Wie hängen dein Vater und Herr Finster zusammen?“ Langsam wurde Erik skeptisch. „Warum interessiert dich das?“ „Weil…“, Ariane zog das Wort lang genug, um sich eine Erklärung zu überlegen. „…du Finster nicht leiden kannst.“ Eriks Blick wurde kurz kalt, als wolle er sagen, dass diese Tatsache selbsterklärend war. „Sie sind Anwalt und Klient. Und sie treffen sich manchmal auf Ausstellungen. Ansonsten gehen sie ihre eigenen Wege. Finster ist nicht so der gesellige Typ.“ Ariane war verdutzt. „Und dein Vater ist gesellig?“ „Er ist ständig unter Leuten.“ Ariane war anzusehen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es jemanden geben sollte, der sich freiwillig in Herrn Donners Nähe aufhielt. Erik antwortete auf ihre ungeäußerte Frage. „Mein Vater ist ein einflussreicher Mann. Man schneidet ihn nicht.“ Klar. Wer wollte diesen Mann schon zum Feind haben? „Finster kam mir sehr viel umgänglicher vor.“, meinte sie. Spöttisch zog Erik die Stirn kraus. „Ein Typ, der seine Zeit mit alten Schriften und Legenden verbringt?“ Ariane bedachte ihn mit einem strafenden Blick. „Ein Typ, der seine Kinder nicht schlägt.“ „Weil er keine Kinder hat.“, wandte Erik ein. „Warum kannst du ihn nicht leiden?“ „Warum kannst du ihn leiden?“ „Weil er nett ist.“, teilte Ariane ihm mit. „Dito.“ Arianes Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass sie dem nicht folgen konnte. „Er ist zu nett.“ „Wenn Menschen dich nicht wie Dreck behandeln, sind sie dir unsympathisch?“ Erik lächelte süffisant. „Deshalb hab ich ja auch eine Schwäche für dich.“ „Ich behandle dich nicht wie Dreck!“, empörte sich Ariane, ohne Eriks Wortwahl jegliche Bedeutung beizumessen. Er versuchte es mit einer neuerlichen Andeutung. „Aber du könntest ruhig etwas liebevoller sein.“ Erfolglos. Ariane ging nicht darauf ein. „Zurück zum Thema.“ Erik konnte sich seine Belustigung über ihre Immunität gegen jegliche Andeutungen in eine gewisse Richtung nicht verkneifen. Dann setzte er das Gespräch fort. „Er ist falsch. Wie einer der mit seinem freundlichen Gesicht, die hässliche Fratze dahinter verstecken will.“ „Quatsch.“ Erik zuckte mit den Schultern, was darauf hindeutete, dass er nicht vorhatte, sie von seiner Sichtweise zu überzeugen. „Wie kommst du darauf?“, fragte Ariane nun von sich aus. „Sechster Sinn.“ Bei dem Begriff musste Ariane sofort an Secrets Fähigkeiten denken. „Hinter dem, was er den Leuten zeigt, ist etwas anderes.“, versuchte Erik, es verständlich zu machen. Ariane senkte den Blick. „Ist das nicht bei den meisten Menschen so?“ Der weiche Klang ihrer Stimme ließ Erik aufhorchen. Es hörte sich an, als wisse sie, wovon sie sprach. Er sah, dass ihre Augen nun geradeaus gerichtet waren, ihr Haupt stolz erhoben, als müsse sie sich dadurch aufrechthalten. Als sie seine Aufmerksamkeit bemerkte, lächelte sie ihn freundlich an. „Ist doch so.“ Erik musste sich eingestehen, dass dieses Mädchen jedes Mal, wenn er es durchschaut zu haben glaubte, etwas tat, um seine Mutmaßungen durcheinander zu bringen. In ernstem Ton fragte er: „Gehörst du auch dazu?“ Ariane schaute betreten. Sie sagte nichts. Etwas an ihrer Reaktion ließ ihn den Satz bereuen, obwohl ihm das lächerlich vorkam. Ein fast trauriges Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. „Wahrscheinlich nicht so sehr wie du.“ Erik gefiel diese Bemerkung nicht. Für ein paar Sekunden waren seine Augen fest auf sie fixiert, als wolle er sie damit in einen Bann schlagen oder ihr Gedächtnis manipulieren, um diese Erkenntnis aus ihrem Kopf zu löschen. „Wegen Secret…?“ Ariane fuhr zusammen, und hoffte, dass Erik es nicht gesehen hatte, obwohl sie wusste, dass es ihm nicht entgangen sein konnte. Erik verlieh seiner Stimme einen undurchsichtigen Ton. „Wer ist Secret?“ Ariane schluckte und bemühte sich normal zu sprechen. „Die Romanfigur. Das weißt du doch.“ Wo war Vivien wenn man sie brauchte?!! „Aus Balance Defenders?“ Eriks Blick war unglückverheißend. „Ja.“ Ariane verfluchte ihre Stimmbänder, die einfach nicht fürs Lügen gemacht waren. „Kannst du mir das Buch mal ausleihen?“ Panik. „Das – geht nicht.“ „Warum nicht?“ Arianes Herz begann zu rasen. Sie sah auf den Weg. Es war nicht mehr weit. Unwillkürlich beschleunigte sie ihren Lauf. Erik war sofort wieder an ihrer Seite, mit verschlagener Färbung in der Stimme. „Willst du mir nicht antworten?“ „Doch!“, stieß Ariane eilig aus. „Aber ich darf nicht.“ Aaah! Was hatte sie sich bei diesem Satz gedacht?!! „Du darfst nicht?“ Hohn kam in seinen Blick und dahinter eindeutige Schadenfreude. Er wusste, dass er sie in die Enge getrieben hatte. Und die Gewissheit, dass sie ihm nicht mehr entkommen konnte, erfüllte ihn offensichtlich mit einer übergroßen Zufriedenheit. „Nein, ich darf nicht.“, wiederholte Ariane in einem verzweifelten Versuch, Zeit zu schinden. „Und warum nicht?“ „Das darf ich nicht sagen.“ Die Erwartung, seine Beute gleich zu bekommen, ließ Eriks Stimme immer düsterer werden. „Gibt es denn etwas, das du darfst?“ Ariane blieb stehen. „Ich darf mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, ich darf in die Schule gehen, ich darf ohne Beaufsichtigung fernsehen und alleine einkaufen gehen.“, zählte sie sich an den Fingern ab. Aber ihr Versuch, Erik von seinem Ziel abzubringen, scheiterte. Kurz nur lächelte er belustigt, dann war da wieder der gierige Ausdruck des Jägers. Ariane konnte nicht entkommen. In ihrer Not fiel ihr nur eines ein: „Du musst Vivien fragen!“ Wie eine Katze, die kurz überlegen musste, welches Spielzeug sie ergreifen sollte, nachdem plötzlich ein zweites aufgetaucht war, wog Erik seine Möglichkeiten ab. „Dann sollte ich sie vielleicht gleich mal anrufen.“ Er holte sein Handy aus der Hosentasche. „Jetzt?“, warf Ariane in viel zu hoher Tonlage ein. „Soll ich sie dir vorher geben, damit du sie vorwarnen kannst?“, meinte er spöttisch. „Bis morgen ist ihr vielleicht etwas eingefallen.“ Trotz wallte in Ariane auf. Er unterschätzte Vivien gewaltig! Mit wiedergefundener Selbstsicherheit verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Nur zu.“ Wenn ihre plötzliche Überzeugung ihn auch nur ein bisschen verunsicherte, dann zeigte er es zumindest nicht. Mit wenigen Fingerbewegungen hatte er Viviens Nummer herausgesucht. Ariane sah, wie er das Handy von sich weg hielt, bis die Verbindung aufgebaut war. Er legte es sich an die Ohrmuschel und behielt den Blickkontakt mit ihr bei, als wolle er sie dadurch mürbe machen. Doch jetzt da Vivien mit ins Spiel getreten war, strotzte Ariane nur so vor Willenskraft. Sekunden verstrichen. Erik begann ein ungeduldiges Gesicht zu machen. Nach einer Weile gab er es auf. „Tja, geht keiner ran.“ Er nahm das Handy vom Ohr. Ariane rutschte das Herz in die Hose. „W-warte!“, gab sie heiser von sich. „Bei mir nimmt sie bestimmt ab!“ Sie zog ihren Rucksack von den Schultern. „Du hast es sicher nicht lange genug klingeln lassen!“ Sie holte ihr Mobiltelefon hervor und setzte wieder den Rucksack auf. Gerade wollten ihre Finger über das Display fliegen, als Eriks Hand sich auf das Handy legte. „Als würde sie bei dir abnehmen, wenn sie es bei mir nicht tut.“, meinte er großspurig. „Dann versuchen wir es eben auf dem Festnetz!“, rief sie. „Ariane.“ Sein Gesichtsausdruck und sein Ton erinnerten sie an die Art, wie privilegierte Menschen manchmal sprachen. So als wüssten sie alles viel besser und wollten einen beschwichtigen. „Das wird doch jetzt nicht nötig sein.“ Ariane starrte ihn argwöhnisch an. Wenn Menschen auf diese Weise redeten, hatten sie etwas zu verheimlichen! Ihre Augen wurden zu zwei Schlitzen und ihr Mund öffnete sich in Entrüstung. Sie sprach die Worte langsam und schneidend aus. „Du hast gar nicht angerufen!“ Eriks Miene blieb unbewegt, bis auf ein kurzes Zucken. Das genügte völlig. „Du Mistkerl!“ Sie entriss ihm sein Handy, das zu ihrem Glück noch entsperrt war, und hatte einhändig die Anrufliste angewählt, ehe er überhaupt reagieren konnte. Ihr Verdacht bestätigte sich. Wütend drückte sie ihm sein Mobiltelefon gegen die Brust, ihre Augen funkelten ihn so feindselig an, dass jeder andere wohl getroffen gewesen wäre. Aber nicht Erik. Ariane wirbelte herum. Schnellen Schrittes lief sie davon. Dieser Betrüger! Lügner! Heuchler! Das dumme Blondchen wird schon darauf hereinfallen! Sie hätte ihm am liebsten eine gescheuert! Erik steckte sein Handy zurück in seine Hosentasche und beeilte sich nicht, ihr hinterherzulaufen. Gemächlich setzte er den Weg fort. Nur seine Schritte wurden größer und etwas zügiger, wodurch er Ariane trotz ihres Tempos schnell wieder eingeholt hatte. Ohne sie anzusehen, ging er neben ihr her, als wäre nichts gewesen. Als er schließlich das Wort ergriff, war seine Stimme nicht mehr scherzhaft oder durchtrieben. Er klang gedankenversunken, als spräche er mit sich selbst. „Ich habe sie wieder gespürt. Die Wunde…“ Jäh war Arianes Zorn verpufft. Ihre Schritte wurden langsamer. Sie sah Erik an. Sein Gesicht war weiter nach vorne gewandt. Zum Glück. So konnte er nicht ihre besorgte Miene sehen. Kurz davor, sich nach seinem Zustand zu erkundigen, hielt Ariane gerade noch rechtzeitig inne. Er tat es schon wieder! Er log! Um sie zurück in die Falle zu locken! Aber da hatte er sich geschnitten. Dieses Spielchen konnten zwei spielen! „Hast du sie noch alle?“ Sie setzte ihren eiskalten Blick auf und mischte ihn mit dem verächtlichsten Ausdruck, den sie zustande brachte. „Das ist eine Romanfigur! Du solltest echt zum Psychiater.“ Der unausstehliche Ton war ihr richtig gut gelungen. Sie lief weiter und wartete auf Eriks Reaktion, aber es gab keine. In ihren Augenwinkeln erkannte sie, dass er einfach nur stumm geradeaus tarrte. Sein Gesicht – eine undurchdringliche Maske. Er wandte sich ihr nicht zu. Jeden Schritt, den er schwieg, wuchs das nagende Gefühl in Ariane, mit ihren gehässigen Worten etwas Schreckliches angerichtet zu haben. Sie schalt sich selbst: Eben hätte sie ihn für seine Unverschämtheit noch ohrfeigen können und jetzt tat er ihr leid? Trotzdem. Für Erik musste die Sache schon schwer genug sein, auch ohne dass sie ihm einredete, er habe einen geistigen Schaden. Wie musste er sich fühlen? Nach weiteren Schritten in bedrückender Stille erreichten sie Arianes Zuhause. Erik wartete nicht auf eine Verabschiedung. Er lief einfach weiter. „Erik!“ Er blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um. „Es tut mir leid.“ Sie konnte nicht anders. „Was ich gesagt habe… Ich habe es nicht so gemeint.“, stammelte sie. „Ich war wütend.“ Erik rührte sich noch immer nicht. „Du bist nicht verrückt!“ Keine Reaktion. „Vielleicht hast du Schmerzen im Arm vom Training. Muskelkater. Oder du hast einen Muskelriss oder so was. Du solltest vielleicht zum Arzt.“ Er drehte sich einfach nicht um! Ariane spürte Empörung über sein kindisches Beleidigtsein in sich aufkommen. Musste sie ihm denn immer hinterher rennen? Sie stöhnte genervt auf. „Wolltest du mich jetzt nicht schlagen?!“ Dieses Mal drehte er sich um. „Verlockendes Angebot, aber ich stehe leider nicht auf SM-Spielchen.“ Er lächelte wieder. Arianes Mund verzog sich spöttisch. „Dafür bist du aber ziemlich sadistisch.“ Erik grinste kurz. Dann trat wieder das gefährliche Glitzern in seine Augen, das sie nicht zu deuten vermochte. „Aber“ Seine Stimme wurde rau. „wir hätten da noch die ausstehenden Rückzahlungen.“ „Von wegen!“, rief Ariane keck und rannte auf ihr Haus zu. Eriks leises Lachen folgte ihr nach. Kapitel 61: Recherche-Ergebnisse -------------------------------- Recherche-Ergebnisse „Mit dem Wissen wächst der Zweifel.“ (Johann Wolfgang von Goethe, dt. Dichter und Denker) Samstags gab sich Ewigkeit wieder größte Mühe, die fünf auf Trab zu halten. Das Training begann mit schnellem Laufen im Kreis, während dem Ewigkeit zu unterschiedlichen Zeiten das Signal gab, stehenzubleiben und die Beschützer-Kräfte freizusetzen. Auch wenn die fünf mittlerweile an den Kräfteeinsatz gewohnt waren, war es schwierig, die Konzentration so schnell umzulenken. Und nach einigen Runden verlangte Ewigkeit sogar, dass sie nicht mehr stehenblieben, sondern währenddessen weiterliefen. Diese Trainingsmethode erinnerte Destiny sehr an die ungeliebten Schulsportstunden, was den gewohnten Missmut in ihr aufschäumen ließ. In ihrer schlechten Laune – die den Kräfteeinsatz unmöglich machte – war sie zwischendurch nahe dran, alles hinzuschmeißen und in eine Schimpftirade zu verfallen, doch bevor es so weit kam, wandte sich Trust an sie. „Sollen wir eine Pause einlegen?“ „Nein.“, blaffte Destiny griesgrämig und zog dabei ein Gesicht, das Bände sprach. Sie würde schlechter Laune sein, egal was man tat. Change kam herbeigejoggt und grinste mal wieder so schalkhaft und frech wie es Destiny besonders aufregte. „Geht Tiny schon die Puste aus?“, grinste er. Dieses Mal übersprang Destiny den Part, sich über diesen Spitznamen zu beschweren und Change lautstark zu beschimpfen, und ging direkt dazu über, handgreiflich zu werden. Aber Change war zu schnell für sie. Daraufhin zeigte Destiny einmal mehr, dass Streitereien mit Change ungeahnte Energiereserven in ihr wecken konnten, und eilte ihm zeternd hinterher. Trust sah den beiden mit großen Augen nach. Er hörte Unite über den schönen Anblick frohlocken, der auch nach Ewigkeits Aufforderung, ihre Kräfte zu beschwören, nicht abbrach. Die beiden rannten einfach weiter, unter den erfolglosen Befehlsrufen Ewigkeits, Change lachend und Destiny keifend. Change gaffte auf die auf dem Boden vor ihm verteilten Mikadostäbchen „Huäh?“ „Wenn du bei dir selbst die Erdanziehungskraft überbrücken kannst, dann müsste das auch mit anderen Körpern gehen.“, erklärte Ewigkeit. Change sah sie mit aufmerksamem Blick an – und verstand überhaupt nichts. „Sie meint, du sollst die Stäbchen schweben lassen!“, schimpfte Destiny genervt. Changes Gesicht hellte sich auf. „Achso!“ Destiny verdrehte die Augen, schlug sich demonstrativ mit der flachen Hand gegen die Stirn und ächzte. Sie und Change saßen einander gegenüber. Neben Change fanden sich in einer Reihe Unite und Desire. Trust wiederum hatte auf Destinys Seite Platz genommen, gegenüber von Desire. „Hat sie dich schon paralysiert?“, fragte Unite Change schon zum dritten Mal. „Seh ich so aus?!“, gab er langsam genervt zurück. Unite lächelte ihn nur treudoof an und schaute dann erwartungsvoll zu Destiny hinüber. „Darf ich ihn mal paralysieren?!“ „Nein!“, schrien Destiny und Change sie an. Unite zog einen Schmollmund. „Aber mir ist langweilig.“ Sie blickte zu Desire und Trust. Desire hatte eine Karte von dem vor ihr liegenden Stapel gezogen, auf der ein einfaches Symbol abgebildet war. Der ihr gegenüber sitzende Trust hatte die Augen geschlossen, um aus ihren Gedanken erraten zu können, welches Symbol es war. Ewigkeit hatte auf seinem Kopf Platz genommen. Unites Aufgabe war es, sobald Destiny es geschafft haben sollte, Change zu paralysieren, die läuternden Kräfte von Desire auf Change zu übertragen. Gelangweilt wippte sie mit dem Oberkörper von Seite zu Seite. „Hör auf damit!“, schimpfte Destiny. „Hey, ein Stäbchen ist verschwunden!“, rief Change dazwischen. „Du wirst es unsichtbar gemacht haben, du Trottel.“, war Destinys Kommentar. „Cool, ich kann Dinge unsichtbar machen!“, freute sich Change, während Unite weiter vor sich hin wippte. „Ich hab gesagt, du sollst aufhören!“, schrie Destiny sie an. „Womit?“, fragte Unite unschuldig, weiter hin und her wippend. Erbost deutete Destiny auf sie. „Damit!“ Im gleichen Augenblick kippte Unite zur Seite weg und landete mit dem Kopf auf Changes Schoß. Verdutzt sah Destiny auf die paralysierte Unite und hielt noch immer ihren Finger erhoben. „Geh weg mit dem Ding!“, rief Change und meinte damit ihren Zeigefinger. „Ich hab doch nur so gemacht!“, demonstrierte Destiny, indem sie auch auf Change deutete, der daraufhin erstmals still blieb. Verwirrt sah Destiny auf ihren Zeigefinger. „Soll ich sie jetzt läutern oder willst du vorher noch Trust paralysieren?“, lachte Desire. Destiny funkelte sie mürrisch an, woraufhin Desire nochmals kicherte und ihre Pflicht tat. Sobald Change sich wieder bewegen konnte, ließ er seine Rechte in die Höhe schnellen. „Ich will einen anderen Job!“ Unite hievte sich von Changes Schoß und erhob ebenfalls die Hand. „Ich will das nächste Mal neben Trust sitzen!“ Wohl um dann auf ihm zu landen. Trust sah auf und zeigte den gleichen verwirrten Gesichtsausdruck wie Ewigkeit auf seinem Kopf, während Desire erheitert auflachte. Nachdem Ewigkeit fürs Erste zufrieden gestellt war, stand der geplante Austausch ihrer Rechercheergebnisse an. Hierfür machten sie es sich, nun wieder in ihrer unverwandelten Form, auf ihrer Riesencouch gemütlich und nahmen ihre Unterlagen zur Hand. Justin sah fragend in die Runde. „Fangen wir mit der Finster-Gruppe an?“ Serena nickte und begann direkt zu sprechen. „Man findet nicht viele Informationen zu Finster, aber die Fakten –“ Ariane fiel ihr ins Wort. „Hast du meine Mail nicht bekommen?“ „Welche Mail?“, fragte Serena leicht pikiert von der abrupten Unterbrechung. „Oh, ich habe sie dir heute Morgen geschickt.“, sagte Ariane kleinlaut. „Aber ich habe sie auch erst spät gestern Nacht erhalten. Ich hätte dich wahrscheinlich anrufen sollen.“ „Wovon redest du eigentlich?“ Ariane zog einen Mail-Ausdruck hervor und strahlte. „Nathan hat mir einen Lebenslauf geschrieben!“ Serena war kurz davor aufzufahren. „Waaas?!!!“ Eingeschüchtert wich Ariane zurück. „Wieso?!“ Weiter nach hinten gelehnt, antwortete Ariane: „Weil ich ihn darum gebeten habe…“ Dieses Mal sprang Serena endgültig auf. „Du hast WAS?!!!“ Ariane konnte die Aufregung nicht nachvollziehen. Gerade wollte sie erklären, wie sie auf die Idee gekommen war, als Serena bereits wieder zu schreien begann. „Du Trottel! Jetzt weiß er, dass wir Informationen über ihn einholen!!!“ „Ich hab behauptet, es wäre für ein Referat.“, verteidigte sich Ariane. „Ja klar!“, gab Serena zynisch von sich. „Wie wahrscheinlich, dass er das glaubt!“ Nun wurde auch Ariane lauter. „Du gehst wie immer einfach davon aus, dass er der Schatthenmeister ist!“ „Und du bist wie immer so dumm, an seine Unschuld zu glauben!“ Bei dem Wort ‚dumm‘ versteinerte Arianes Miene in einem düsteren Ausdruck. „Jo.“, sagte Vitali locker und machte eine beschwichtigende Geste, wie um Serena den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Sie hat damit doch was rausgefunden.“ „Was rausgefunden?!“, wetterte Serena. „Als würde er irgendetwas Belastendes preisgeben! Dann wäre er ja noch dümmer als sie!“ „Hör auf, sie ‚dumm‘ zu nennen!“, stieß Justin scharf aus. Serena erstarrte. Justins Züge wurden wieder weich, als sei er über seine eigene Reaktion verwundert. „Entschuldige.“ Dann klang seine Stimme wieder gewohnt sanft und bestimmt. „Aber es ist nicht schön, beleidigt zu werden, auch wenn du es nicht so meinst.“ Serenas Gesicht schien zu sagen, dass sie sich der eigenen Wortwahl nicht bewusst gewesen war. Doch wie üblich brachte sie kein Wort der Entschuldigung über die Lippen. „Hey!“, beschwerte sich Vitali. „Sie nennt mich dauernd dumm, warum sagt da keiner was?“ Vivien grinste ihn an. „Weil sie dir damit sagt, dass sie in dich –“ „Vivien!“, schrie Serena so laut, dass sie jedes weitere Wort von Vivien unhörbar machte. Vivien kicherte und wandte sich dann vorfreudig an Ariane. „Was hat er denn geschrieben?“ Ariane, erfreut über das Interesse Viviens, brachte wieder ein Lächeln zustande. „Er hat sich richtig viel Mühe gegeben! Einen richtigen kleinen Bericht hat er geschrieben.“, strahlte sie. „Lies vor!“, forderte Vivien eifrig. „Alles?“ Viviens Miene ließ an der Antwort keinen Zweifel. „Ja!“ Ariane sah auf den Ausdruck und schien kurz zu zögern, ehe sie Luft holte und vorlas, was darauf geschrieben stand: Liebe Ariane, jetzt komme ich endlich dazu, dir deine Bitte zu erfüllen und dir das aufregende Leben des Nathan Finster zu präsentieren. ;-) Ich hatte überlegt, dir einfach meinen alten tabellarischen Lebenslauf zu schicken, aber da er aus der Zeit stammt, bevor ich meine eigene Firma gegründet habe, und damit die wichtigsten Daten nicht beinhaltet, bin ich davon abgekommen – zumal ich ihn nirgends finden kann! Daher schreibe ich dir hier einen „kurzen“ Text über meinen Hintergrund und den der Finster GmbH. Aber Vorsicht! Ich neige zum Ausschweifen. Als mein Geburtstag gilt der 2. November vor dreißig Jahren, was mit dem Datum übereinstimmt, an dem ein kleiner Findling in einer Babyklappe in Entschaithal gefunden wurde. Den Namen Nathan Finster gaben mir die Schwestern und der Arzt des Krankenhauses. Nathan, weil es Geschenk Gottes bedeutet, und Finster anscheinend weil es eine so finstere Nacht gewesen war. Böse Zungen behaupten dagegen, dass es an meinem Blick gelegen hätte. Ich wuchs in einem Kinderheim auf, besuchte Kindergarten, Grundschule und Hauptschule in Entschaithal. Und brach danach fürs Erste meine schulische Laufbahn ab. Eine ordentliche Ausbildung habe ich leider nicht genossen. Ruhelos wie ich war, schlug ich mich mit Gelegenheitsarbeiten an verschiedenen Orten durch, Hamburg, Frankfurt und Mannheim. Erst im Alter von 24 Jahren kam ich zurück nach Entschaithal und wusste erstmals, was ich wollte. Ich gründete meine eigene kleine Firma, die Finster e. K., die sich anfangs vorwiegend mit Anti-Virus-Software einen Namen machte und nach kurzem zur GmbH umgeformt wurde. Von da an wurde das Programm stetig erweitert und wurde zu einem großen Erfolg. Aufgrund seiner relativ kleinen Mitarbeiterzahl, unter der sich zu meinem großen Stolz allein die fähigsten Leute befinden, konnte das Unternehmen selbst der Wirtschaftskrise und der überall zu beobachtenden Entlassungswelle trotzen. Stattdessen durften wir uns sogar über Zuwachs freuen. Die wichtigsten Meilensteine unseres Unternehmens sind sehr schön in einer Tabelle zusammengefasst, die du auch auf der Webseite der Finster GmbH findest, ich hänge sie dir an diese Mail an. Ansonsten zu erwähnen ist wahrscheinlich meine dir bereits bekannte Vorliebe für Legenden und Mythologie. Aus diesem Interesse heraus wollte ich das Produktprogramm um Software erweitern, mit der man Ausgrabungsgegenstände und alte Dokumente einscannen, bearbeiten und archivieren kann. Der Kauf einer Ausgrabungsstätte in Schweigen sollte dazu eine Art PR sein, um Aufmerksamkeit auf die Finster GmbH und diese neuen Produkte zu lenken. Von dieser stammen auch die dir bekannten Steinplatten. Momentan scheint dieser Plan allerdings nicht aufzugehen. Aber das gehört nunmal beim Unternehmertum dazu. Es besteht immer das Risiko, eine falsche Entscheidung zu treffen. Doch sich nicht zu entscheiden, ist immer die schlechteste Entscheidung. Das Wichtigste ist, jedes Mal wieder aufzustehen, wenn man am Boden liegt. Das sollte meines Erachtens das Credo jedes Unternehmers sein. Man muss sich durchbeißen, auch wenn andere einen belächeln und einen nicht für voll nehmen. Jede erfolgreiche Geschäftsidee war irgendwann nur ein verrückter Traum. Ich wünsche dir viel Erfolg für dein Referat! Solltest du noch irgendwelche konkreten Fragen haben, melde dich einfach. Noch ein schönes Wochenende und liebe Grüße, Nathan. „Wie, der hat nur nen Hauptschulabschluss?!“, rief Vitali aus, nachdem Ariane geendigt hatte. „Ich schmeiß die Schule und gründe auch ne GmbH!!!“ Serena setzte schon dazu an, ihn auf seine Unfähigkeit hinzuweisen, das gleiche Kunststück wie Finster zu vollbringen, stoppte aber im dem Moment, als ihr klar wurde, dass sie damit Finster ein Kompliment gemacht hätte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und setzte einen überheblichen Blick auf. „In der Hauptschule hat er sicher die ersten Bekanntschaften mit Gangstern geschlossen.“ Justin warf ihr einen seltsamen Blick zu, eine Mischung aus Getroffenheit und Ungläubigkeit. „Ich war auch auf der Hauptschule.“, sagte er dann etwas kleinlaut. „Meine Mittlere Reife habe ich auf der Werkrealschule gemacht.“ Für gewöhnlich reagierte Serena wie aus einem Reflex heraus immer dann besonders feindselig, wenn sie auf ihre Unverschämtheiten hingewiesen wurde, nun hingegen sprach aus ihrem Gesicht Reue über ihre ungewollte Beleidigung. Justin schien der einzige zu sein, den sie nun wirklich nicht vor den Kopf stoßen wollte. Bevor sie jedoch tatsächlich dazu ansetzen konnte, sich bei ihm zu entschuldigen, ertönte Ewigkeits aufgeregte Stimme. „Nathan ist Waise!“ „Musst du das immer wiederholen?“, fragte Vitali irritiert. Schließlich hatte Ewigkeit diesen Satz schon mehr als einmal gebracht. Nur Justin spießte das Schmetterlingsmädchen plötzlich mit seinen Blicken auf. „Was hast du gesagt?“ „Nathan ist Waise!“, jubelte Ewigkeit glockenhell. „Du wusstest das schon vorher.“, murmelte Justin völlig baff. Ariane war von Justins Reaktion überrascht. „Das hat sie doch aufgeschnappt, als Vitali von Nathan der Weise erzählt hat.“ „Nicht Weise – Waise!“, verbesserte Justin und sah Ariane bedeutungsvoll an. Ariane begriff und betrachtete Ewigkeit nun ebenso schockiert. „Hä? Was?“, rief Vitali dazwischen, der den Bedeutungsunterschied nicht herausgehört hatte. Ariane nahm sich seiner an. „Du weißt doch noch, was Ewigkeit gesagt hatte, als wir sie nach Nathan gefragt haben: Nathan ist Waise.“ „Ja und?“ Vitali blickte nicht durch. „Mit Waise meinte sie Waisenkind!“ Vitalis Augenbrauen verschoben sich mal wieder auf zweifelnde Art und Weise und sein linker Nasenflügel zog sich nach oben. „Sie hätte gar nicht wissen können, dass Nathan Waisenkind ist!“, erklärte Ariane. „Also kennt Ewigkeit Finster!“, triumphierte Vivien. Ewigkeit legte den Kopf schief und zog ein argloses Gesichtchen. „Wen kenne ich?“ Kleingläubig verzog Vitali den Mund. Seine Stimme triefte vor Spott „Ja klar. Sie kennt ihn!“ Für Vivien schien es wie immer keinen Unterschied zu machen, ob jemand etwas ironisch meinte oder nicht. „Ja!“, rief sie begeistert, als wolle sie Vitali zustimmen. „Wir könnten ihn ihr zeigen! Dann erinnert sie sich sicher!“ Sie kicherte vergnügt. „Und riskieren, dass der Schatthenmeister sie sieht?!“, schimpfte Serena. „Wieso sollte Ewigkeit den Schatthenmeister kennen?“, hielt Ariane dagegen. „Kenne deinen Feind wie dich selbst.“, entgegnete Serena trocken. „Das hilft bei Ewigkeit aber nicht viel.“, grinste Vitali und spielte damit auf das Unwissen Ewigkeits über die eigene Herkunft und Vergangenheit an. Ein ebenso geringes Wissen über den Schatthenmeister wäre tatsächlich ziemlich unbrauchbar gewesen. „Wenn sie wüsste, dass er ein Schatthenmeister ist, dann würde ihr wohl nicht als einziges einfallen, dass er ein Waisenkind ist.“, brachte Ariane vor. Serena wusste zu kontern. „Dass sie etwas über ihn weiß, spricht auf jeden Fall nicht für ihn.“ „Vielleicht gehört er ja zu den Guten.“, meinte Ariane. Serenas Sarkasmus erreichte ein Maximum. „Super! Dann geh doch am besten zu ihm und erzähl ihm, dass wir die Beschützer sind. Nicht dass er das nicht schon längst wüsste!“ Ariane warf ihr einen wenig wohlwollenden Blick zu. „Heeeey!“ Vitali verschaffte sich Gehör. „Vielleicht hat sie ja auch einfach gemeint: Nathan ist weise, klug.“, betonte er. „Nix Waisenkind und Verschwörungstheorie.“ „Na fein.“, sagte Ariane und fixierte Ewigkeit an. „Hat Nathan Eltern, ja oder nein?“ Ewigkeit sah sie nur verständnislos an, als wisse sie beim besten Willen nicht, was Ariane nun von ihr wollte. Hatte denn nicht jeder Eltern? „So kommen wir nicht weiter.“ beendete Justin die Diskussion. „Und damit, Ewigkeit mit irgendwem zu konfrontieren, sollten wir vorsichtig sein. Widmen wir uns lieber wieder den Argumenten, die ihr zu Finsters Entlastung beziehungsweise dagegen gefunden habt. Ariane?“ „Ich würde gern Serena den Vortritt lassen, weil ich sicher jedes ihrer fanatischen Argumente widerlegen kann.“, erwiderte Ariane mit herausfordernder Miene. Serenas Augen verengten sich kurz, dann begann sie, ihre Schlussfolgerungen vorzubringen. „Fangen wir doch mit den neuen Erkenntnissen aus dem Bericht an. Finster, ein Heimkind, also traumatisiert.“ „Du willst doch nicht wirklich behaupten, dass jedes Waisenkind einen Schaden hat!“, unterbrach Ariane. „Ein Heimkind, das keine Ausbildung hat und plötzlich eine erfolgreiche GmbH gründet! Das stinkt zum Himmel.“, antwortete Serena. „Es gibt eben ehrgeizige Menschen, die ihr Glück auch ohne akademische Laufbahn machen! Und für die Gründung einer GmbH braucht man nicht irgendeine Ausbildung!“, hielt Ariane dagegen. „Nur genug Geld, das er nicht von seinen Eltern bekommen haben kann.“ „Man nennt es auch Darlehen!“, gab Ariane zurück. „Was die Bank nicht jedem gibt.“ „Ich denke, Nathan macht einen ausreichend souveränen Eindruck, um den Finanzberater von seinen Ideen zu überzeugen.“, entgegnete Ariane bestimmt. Serena lächelte sarkastisch. „Und bei dem Kauf der Ausgrabungsstätte wird er genau so überzeugend gewesen sein.“ „Du hast doch gehört, was seine Beweggründe waren.“ „Ach, und deshalb kauft er gerade diese Ausgrabungsstelle! Die Ausgrabungsstelle mit der Prophezeiung, die Ausgrabungsstelle, auf der wir von Schatthen angegriffen wurden!“, höhnte Serena. „Und woher hat er die verschollenen Steinplatten? Auch wenn er die Ausgrabungsstätte gekauft hat, niemand wusste, wo die Platten geblieben sind!“ Ariane hielt dagegen. „Dabei berufst du dich nur auf diesen Artikel in dem Magazin! Was, wenn sie das einfach nicht ausreichend recherchiert haben?“ „Justin hat in seinem Traum auch gesehen, dass ein Schatthen aufgetaucht ist, um die Platten zu holen, wieso befinden sie sich dann auf einmal in Finsters Besitz?“ „Wir wissen doch überhaupt nicht, was danach geschehen ist. Nochmals: Nathan könnte genauso gut damit zusammenhängen, weil er zu den Guten gehört.“ „Natürlich!“, spottete Serena. „Und das wird er uns sicher demnächst verkünden und uns fantastische Gründe liefern, warum er uns bisher nichts davon gesagt hat!“ „Vielleicht weiß er es nicht. Vielleicht hat sogar er Ewigkeit geschickt!“, kam es Ariane. Serena wehrte ab. „Warum sollte Ewigkeit sich dann nicht daran erinnern?! Außerdem wusste Ewigkeit nicht mal, was sie eigentlich sucht!“ „Eben! Genauso wie Nathan! Er weiß eben auch nicht, wer oder was die Beschützer sind.“, mutmaßte Ariane. „Woher sollte dann Ewigkeit etwas über uns wissen, wenn derjenige, der sie geschickt hat, keine Ahnung hätte!“, schimpfte Serena. Vitali mischte sich in das Streitgespräch ein. „Nicht dass Ewigkeit viel Ahnung hätte.“ Er wurde jedoch ignoriert. Serena setzte ihre Argumentationskette fort. „Außerdem ist es auch verdächtig, dass er dir E-Mails schreibt.“ Entrüstung machte sich auf Arianes feinen Zügen breit. „Was ist daran verdächtig?“ „Wieso sollte er sich mit dir abgeben? Er ist ein vielbeschäftigter Geschäftsmann. Sein ganzes freundliches Verhalten uns gegenüber, das ist total abwegig! Vor allem dass er Vitalis Geschwätz ertragen hat!“ Vitali warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Nur weil etwas nicht in deine Weltsicht passt, ist es abwegig!“, stellte Ariane fest. Serena ging auf ihren Vorwurf nicht ein. „Was war mit der Kunstausstellung? Er ist nur sichergegangen, dass wir sein verfluchtes Rätsel lösen konnen, um uns in die Falle zu locken!“ „Vivien hat ihn danach gefragt!“, widersprach Ariane. Serena setzte einfach fort. „Überhaupt scheint er keine Freundschaften oder zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen.“ „Genau wie du!“, gab Ariane patzig zurück. Vitali stöhnte entnervt. „Können wir das Thema wechseln?“ Justin schien der gleichen Meinung zu sein. „Wie es aussieht, kommen wir zu keinem klaren Ergebnis. Aber wir sollten auf der Hut bleiben. Vorsicht ist besser als Nachsicht.“ „Soll ich etwa wegen Serenas Anschuldigungen den Kontakt abbrechen?“, verlangte Ariane zu wissen. „Auf keinen Fall!“, stieß Vivien aus. Ariane schenkte ihr ein dankbares Lächeln. „Seid ihr total verrückt?! Der Typ ist gefährlich!“, protestierte Serena. „Und wenn wir ihm vertrauen?“, wollte Vivien mit großen Augen von ihr wissen. „Dann tun wir genau das, was er von uns will!“, rief Serena. „Und dann?“ Serena zog die Brauen zusammen, weil sie wieder nicht sicher war, worauf Vivien hinauswollte. „Dann wird er uns in eine Falle locken.“ „Und wenn wir ihm nicht vertrauen?“, fragte Vivien. Justin antwortete an Serenas Stelle. „Wird er sich etwas anderes überlegen.“ Vivien strahlte. „Das heißt, solange er denkt, dass wir ihm vertrauen, wird er sich schon nichts anderes einfallen lassen!“ Serena verzog das Gesicht über diese Logik. „Aber das ist … Ariane tut doch nicht nur so!“ „Deshalb bist du ja da!“, freute sich Vivien. „Du bist ab jetzt die offizielle Finster-Anzweiflerin, damit nichts aus den Rudern läuft.“ Sie nickte Serena feierlich zu. ´ „Und du bist unsere Doppelagentin.“, verkündete sie Ariane. „Du unterhältst eine Verbindung zu Finster und versuchst so viel wie möglich über ihn herauszufinden.“ Auch Ariane sah zweiflerisch aus. „Aber ich glaube wirklich nicht, dass er zu den Feinden gehört.“ „Umso besser! Dann kannst du dich mit ihm anfreunden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.“, grinste Vivien. Nun waren sowohl Serena als auch Ariane sprachlos und warfen einander verwirrte Blicke zu. Vivien übergab das Wort an Justin. „Und nun ist unser Anführer mit seinen Ergebnissen an der Reihe.“ Justin mochte es noch immer nicht, wenn sie ihn als Anführer bezeichnete – und das tat sie mittlerweile bei fast jeder passenden und unpassenden Gelegenheit - ließ es aber wortlos über sich ergehen. Ohne lange Umschweife begann er mit seinen Ausführungen: „Ich habe versucht, mehr über Herrn Donner herauszufinden. Er ist tatsächlich Notar. Ob er den Kauf der Ausgrabungsstelle beurkundet hat, konnte ich aber nicht herausfinden. Wenigstens hatte ich ein paar Informationen durch Ariane.“ „Was für Informationen?“, wollte Serena wissen und sah Ariane leicht skeptisch an, vielleicht weil sie dachte, die Informationsquelle sei einmal mehr Nathan Finster gewesen. Justin gab wieder, was Erik Ariane über seinen Vater erzählt hatte. „Besonders viel ist das ja nicht.“, bemängelte Vitali. Justin fasste zusammen: „Herr Donner hätte auf jeden Fall die beste Möglichkeit gehabt, Erik ins Schatthenreich zu schaffen. Die Frage ist bloß, warum er das seinem eigenen Sohn antun sollte.“ „Du hast doch gesehen, wie er ihn behandelt hat!“, rief Ariane erregt. „Das sah nicht gerade nach Vaterliebe aus!“ Justin sah aus, als wolle er Ariane beschwichtigen, würde sich dann aber eines Besseren besinnen. „Donner besitzt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verbindung zu der Ausgrabungsstelle, den Steintafeln und der Baustelle und natürlich zu Erik. Also allem, was mit unserer Entführung zusammenhängt.“ Ariane teilte ihre Gedanken mit: „Dass er uns unbedingt aus seinem Haus haben wollte, könnte auch ein Indiz sein. Er will nicht, dass Erik zu viel Kontakt hat, weil er sich dann vielleicht erinnert.“ Justin gab zu bedenken: „Das würde der Theorie widersprechen, dass wir das Rätsel bei Erik finden sollten. Dafür muss er nämlich gewusst haben, dass wir dort sein würden.“ Ariane gab ihm Recht. Serena hatte weitere Einwände. „Der Schatthenmeister ist schlau. Zu schlau, als dass er sich so einfach verdächtig machen würde, indem er eine offensichtliche Auseinandersetzung mit Erik vor unseren Augen führt.“ „Vielleicht erwartest du auch zu viel von den Bösewichten.“, hielt Ariane entgegen. Justin war allerdings auf Serenas Seite. „Von dem, was er bisher geplant hatte, müssen wir auf jeden Fall davon ausgehen, dass der Schatthenmeister zu clever ist, als dass er sich so leicht zu erkennen gäbe.“ „Vielleicht arbeiten Finster und Donner auch einfach zusammen.“, fügte Serena an. „Wir wissen überhaupt nicht, wer alles in die Sache verwickelt ist.“ „Aber Donner und Finster scheinen sich nicht besonders gut zu verstehen, wenn Eriks Vater ihn zu einer Feier schickt, anstatt selbst zu kommen.“, war Arianes Antwort. „Das ist wohl kein Argument. Seit wann muss man sich mit seinem Boss gut verstehen?“, antwortete Serena. Ariane schwieg erstmals. Dann wandte sie sich an Vitali. „Was ist dir eingefallen, wer sonst der Schatthenmeister sein könnte?“ Jetzt war Vitalis großer Augenblick gekommen. Die Vorstellung seiner Rechercheergebnisse! Grinsend zog er einen Zettel hervor, ernstlich darauf bedacht, die anderen den streng geheimen Inhalt nicht sehen zu lassen. „Alsooo“, begann er theatralisch lang gezogen, was Serena einmal mehr zu einem missgünstigen Blick veranlasste. „Da wären die üblichen Verdächtigen.“ Er räusperte sich künstlich. „Als erstes: …“ Vitali stellte sich großen Trommelwirbel im Hintergrund vor. „Der Gärtner!“ „Du Trottel!“, keifte Serena ihn an. „Red keinen Blödsinn!“ „Siehst du!“, rief Vitali voller Selbstüberzeugung. „Du würdest ihn auch nicht verdächtigen!“ Serena stieß ein endlos genervtes Stöhnen aus. „Natürlich!“, rief Vivien, als wäre ihr die Erleuchtung gekommen. „Der Gärtner!“ Ihr Lächeln nahm ihr ganzes Gesicht ein. „Ja, sag ich doch.“, antwortete Vitali stolz. Vivien strahlte die anderen an. „Der Gärtner!“ Sie klatschte begeistert in die Hände und drehte sich wieder zu Vitali neben ihr. „Die Lösung!“ Selbstgerecht stemmte Vitali die Fäuste in die Seiten und lächelte. Vivien hakte bei ihm ein und die beiden schunkelten zu Viviens Gesang hin und her: „Die Lösung! Die Lösung!“ Als auch noch Ewigkeit es den beiden gleichtat und begann, in der Luft hin und her zu wippen und „Die Lösung“ zu singen, platzte Serena der Kragen. „Ihr Volltrotteeeel!!!!“, kreischte sie lauthals, woraufhin alle drei innehielten und sie unschuldig anlächelten. „Ich bin im Irrenhaus!!!“ Vivien sprang wie auf Kommando auf. „Die ganze Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale!“ Für einen Moment sah es aus, als würde Serena explodieren, und besonders Justin schien das Sorgen zu bereiten, vielleicht weil er sich in unmittelbarer Nähe befand. Bevor es jedoch soweit war, lenkte Vivien ein. „Vielleicht ist es ja doch jemand anderes.“ Sie tauschte sich über einen Blick mit Vitali aus. „Das wäre natürlich möglich.“, stimmte er schnell nickend zu. Woraufhin auch Ewigkeit oberhalb seines Kopfes eilig nickte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah Vitali wieder auf das Blatt in seinen Händen, als müsse er zunächst entziffern, was darauf stand. „Also, äh, wer noch mit drinstecken könnte… Unser Direktor!“ „Vitali.“, mahnte Serena. „Ach, deshalb sind wir alle in einer Klasse!“ jauchzte Vivien. Vitali nickte. „Ja, genau.“ „Dann lag Ewigkeit mit unseren Lehrern doch richtig.“, sagte Vivien und lächelte die Kleine ermunternd an – auch wenn die anderen sich nur ungern an das Chaos erinnerten, das Ewigkeit bei dem Versuch, ihre Lehrer auf die Besessenheit von Schatthen zu überprüfen, angestellt hatte. „Und was bringt das den Bösen?“, wollte Serena skeptisch wissen. Nicht dass sie es nicht selbst als fragwürdig einstufte, dass sie und Erik allesamt in der gleichen Klasse gelandet waren, aber das hieß noch lange nicht, dass sie Vitalis bekloppten Ideen zustimmen musste. „Hey, meine Aufgabe war es, die Verdächtigen rauszusuchen, nicht ihre Beweggründe.“, schmetterte Vitali ihren Einwand einfach ab. Vivien kicherte. „Serena traut sich bloß nicht damit rauszurücken, sie weiß aber ganz genau, warum die Gegner das tun!“ Voller Erwartung im Blick sah sie Serena an. Serenas Augenbrauen zogen sich zweiflerisch zusammen. Während die anderen ihre Aufmerksamkeit auf sie richteten. „Das ist überhaupt nicht“, begann sie aufbrausend und stockte im gleichen Moment. Zugeben zu müssen, dass sie genauso wenig Ahnung hatte wie Vitali, würde das Letzte sein, was sie täte! „schwierig.“, setzte sie langsam und gedehnt fort. „Es ist – natürlich – ganz klar, warum sie das tun.“ Sie schluckte, lehnte sich an und verschränkte die Arme vor der Brust. Zeitschindend atmete sie aus, wie es Vitali getan hätte, um seinen Worten den Anschein von Wichtigkeit zu geben. „Wenn sie uns über die Lehrer kontrollieren wollen, dann … ist es … ganz schlau, dass … ja …“ Sie biss sich unwillkürlich auf die Unterlippe und hatte ihr Denken von einer Sekunde auf die nächste auf den Modus eingestellt, in dem sie Geschichten erfand, und verfolgte den möglichen Gedankengang, wieso es für sie als Bösewicht sinnvoll wäre, dies zu tun. „Wenn die Beschützer alle in einer Klasse sind, braucht man nicht so viele seiner Leute einschleusen, weil man nur einen Raum beaufsichtigen muss. Es war geplant, dass wir im Schatthenreich schon abgerichtet würden, also wäre unser Zusammensein kein Risikofaktor gewesen, sondern nur das Zusammenwerfen von sechs willenlosen Soldaten des Schatthenmeisters.“ Viviens Strahlen wurde noch breiter. „Und wieso in der Schule?“ Serenas Auge zuckte kurz, den jähen Impuls unterdrückend, aus der souveränen Rolle zu fallen und das Mädchen mit den backsteinfarbenen Haaren zu würgen. Das tat sie absichtlich! Ganz sicher! Serena lächelte besorgniserregend. „Ganz einfach. An welchem Ort sind wir zu festgelegten Zeiten und können nicht einfach wegbleiben – die Schule. Wir sind alle zusammen zur gleichen Zeit am selben Ort. Man weiß also ganz genau, wann wir uns wo aufhalten. Perfekt.“ Viviens Augen wurden groß vor Begeisterung. „Das ist ja so clever!“, rief sie überschwänglich, während Serena innerlich lautstark darüber fluchte, dass man bei dieser Irren niemals wirklich sagen konnte, ob sie einen aufs Heftigste verspottete oder das tatsächlich ernst meinte! Vivien wandte sich kurz in Vitalis Richtung und wieder zu Serena. „Das ist so toll, wie ihr beide zusammenarbeitet! Man merkt richtig, wie gut euch die Teamarbeit tut!“ Sie lachte heiter, und grinste die beiden euphorisch an. Im Akt des Erkennens, dass sie einer niederträchtigen Hinterlist anheimgefallen war, riss Serena die Augen kurzzeitig weit auf, um sie anschließend zu verengen. Von ihrer vor Zorn und Widerwille gekräuselten Nase und den verkrampften Kiefern war die Mordlust deutlich abzulesen. Sie war kurz davor, laut herauszuschreien, dass sie sich das gerade alles aus den Fingern gesogen hatte! – Nur um ja nicht im Verdacht zu stehen, mit Vitali ein gutes Team abzugeben. Wie gewohnt kümmerte sich Vivien nicht um den offenkundig bevorstehenden Wutausbruch und widmete ihr Interesse wieder Vitali. „Sind manche der Lehrer vielleicht im Gemeinderat?“ Zunächst sah Vitali verwirrt aus, dann nickte er überzeugt. „Ja. Ja, bestimmt. Im Gemeinderat.“ Justin kam ein Gedanke. „Der Gemeinderat hat über den Verkauf des Grundstücks neben der Finster GmbH entschieden.“ „Und arbeitet mit dem Bürgermeister zusammen.“, fügte Vivien an. „Der mit Donner befreundet ist.“, ergänzte Ariane. „Und mit der sonstigen Oberschicht Entschaithals.“, meinte Vitali. „Und mit Finster.“, betonte Serena. Vitali ergriff wieder das Wort. „Die Frage ist bloß, mit was für Leuten Finster abhängt.“ „Die Verhandlungen über den Kauf der Ausgrabungsstätte hat er mit den Partnern von Professor Geronimo geführt.“, erinnerte sich Justin an die Details, die er aus seinen seltsamen Träumen erfahren hatte. „Oder Herr Donner.“, gab Ariane zu bedenken. Serena warf ihr einen düsteren Blick zu. „Auf jeden Fall ist Professor Geronimo tot. Und Finster hat die Steinplatten.“ Ariane wurde nachdenklich. „Es ist wirklich die Frage, wie Nathan an die Steinplatten gekommen ist.“ „Das sag ich doch die ganze Zeit!“, rief Serena. Ariane setzte fort. „Etwas muss dahinter stecken. Wenn die Platten in den Besitz des Schatthenmeisters übergegangen waren, warum hat er sie dann Nathan zugespielt?“ „Die stecken unter einer Decke!“, beharrte Serena. „Halloooo.“, unterbrach Vitali abermals die Streitereien der beiden Mädchen. „Das Thema war, wer außer Finster und Donner der Schatthenmeister sein könnte.“ „Wir warten.“, versetzte Serena. „Vielleicht einer der anderen Klienten von Donner.“, brachte Vivien ein. „Ja.“, meinte Vitali. „Oder jemand ganz anderes. Jemand Außenstehendes!“ „Zum Beispiel?“, verlangte Serena zu wissen. „Die Illuminati.“, sagte Vitali mit rauer Stimme. „Vitali.“, knurrte Serena. „Jetzt mal ehrlich, es gibt doch sicher nicht nur einen Schatthenmeister, das müssen doch mehrere sein und die sind doch sicher auch irgendwie organisiert!“, rechtfertigte sich Vitali. Justin sah zu Ewigkeit auf. „Weißt du etwas darüber?“ Ewigkeit blinzelte und spielte nachdenklich mit dem goldenen Anhänger ihrer Kette. „Weitere Verdächtige.“, drängte Serena. „Ja, also wir hätten da: die Bibliothekarin, die Haushälterin von Donner, unseren Klassenlehrer, den Busfahrer, den Pfarrer, die dicke Kassiererin im Supermarkt und natürlich diese dumme, blonde Tussi in der Kosmetikabteilung.“ Bei der Erinnerung an seine Begegnung mit dieser Frau an dem Tag, an dem sie entführt wurden, verzog sich Vitalis Gesicht unschön. Wenn man eines unterlassen sollte, dann seine Männlichkeit in Frage zu stellen! Korallenrot!!! Warum gab es überhaupt verschiedene Bezeichnungen für Rot! Plötzlich wurde ihm mit einem wütenden Grollen das Papier aus den Händen gerissen. „Hey!“, schrie er laut. „Es steht überhaupt nichts drauf!“, erkannte Serena erbost, als sie auf das Blatt sah, das sie Vitali gerade weggenommen hatte. „Das ist mit Zaubertinte geschrieben.“, entgegnete Vitali, so als wisse er beim besten Willen nicht, was Serenas Problem war. „Du Idiot!“ „Ich kann doch nichts dafür, dass du keine Zaubertinte lesen kannst!“ Er stand ebenfalls auf und deutete mit seinem Finger auf die leere Blattoberfläche. „Siehst du, hier steht Lehrer.“ Sein Finger wanderte. „Hier Gemeinderat. Hier Bürgermeister, Oberschicht: Anwälte, Richter, Polizei, hier was ich gerade alles aufgezählt habe.“ Er lächelte stolz. Serena starrte ihn aus verengten Augen nur wortlos an. Vivien sprang plötzlich mit hocherhobenem Arm auf. „Ich bin dran!“ Für einen Moment gaffte Serena sie an und begriff ihre Geste dann als Aufruf, sich hinzusetzen. Sobald Serena und Vitali wieder saßen, huschte Vivien um den Tisch und setzte ohne Vorwarnung Ariane eine grüne Schildkappe auf „Du bist Frau Pro.“ Und hernach Justin eine rote Wollmütze. „Und du bist Herr Contra“. Breit grinsend betrachtete sie das verwirrte Gesicht Justins, der mit der tief in die Stirn gezogenen Mütze wie ein süßer kleiner Schuljunge aussah, besonders mit den sich rötenden Wangen, je länger sie ihn musterte. Mit ihrem üblichen Schwung nahm Vivien wieder eine gerade Körperhaltung ein, ihr zufriedener Blick glitt zwischen Justin und Ariane hin und her. „Das Thema der heutigen Sendung ist: Sollen wir oder sollen wir nicht Erik die Wahrheit sagen!“ Sie deutete wie die Glücksrad-Fee auf Ariane „Pro“, dann auf Justin „und Contra!“ Wieder schlugen ihr verständnislose Blicke entgegen. Doch anstatt weitere Erläuterungen zu geben, setzte sich Vivien kurzerhand auf den runden Tisch hinter ihr und machte den Anschein, als würde sie auf den Beginn einer Fernsehsendung warten. Justin und Ariane tauschten sprachlose Blicke aus. „Wir sollen jetzt miteinander diskutieren?“, hakte Ariane schließlich ungläubig nach. Zur Antwort lächelte Viviens sie nur breit an. Nochmals Blicketausch zwischen den beiden Auserwählten. „Vivien, das war deine Aufgabe.“, grummelte Serena. „Hab ich das nicht fantastisch organisiert?!“, strahlte Vivien in völliger Selbstüberzeugung. „Ich hätte ja ein Drehbuch geschrieben, aber das hätte so unecht gewirkt.“ Sprachlosigkeit. Zumindest schienen sich Ariane und Justin mit ihrem Part abgefunden zu haben. „Na dann.“, meinte Ariane, drehte mit einer Handbewegung die Schildkappe nach hinten und nahm ihre Rolle ein. „Es ist unsere Pflicht, Erik die Wahrheit zu sagen! Ohne ihn hätten wir es niemals aus dem Schatthenreich geschafft. Er gehört zu den Beschützern.“ Justin wirkte noch immer unsicher. Nochmals sah er zu Vivien, als würde er sie unausgesprochen fragen, ob er wirklichen den bösen Cop spielen müsse. Daraufhin stand Vivien auf, beugte sich unverhofft zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr, so dass nur er es hören konnte. „Es ist nicht klar, ob Erik wirklich ein Beschützer ist.“ Überrascht sah Justin sie an, lächelnd nahm Vivien wieder ihren Platz ein. Es brauchte einen weiteren Moment, ehe er nach der plötzlichen Nähe zu ihr verarbeitet hatte, dass sie ihm souffliert hatte. Natürlich. Sie hatte sich alle Argumente genau überlegt, und brauchte Ariane und ihn nur, um die Präsentation interessanter zu machen. Er drehte sich wieder zu Ariane. „Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob Erik zu den Gleichgewichtsbeschützern gehört.“ Ariane fiel es nicht schwer, eine Erwiderung zu finden. „‘Geheim‘ stand in der Prophezeiung, damit muss er gemeint sein. Er war mit uns gemeinsam eingesperrt.“ Noch ehe Justin registriert hatte, dass Vivien sich ihm wieder genähert hatte, spürte er den zarten Hauch ihres Atems am Ohr und ihre warme, heitere Stimme Worte flüstern, die er vor Aufregung fast nicht verstanden hätte. „Das könnte immer noch ein Zufall sein. Ewigkeit hat ihn gesehen, aber nicht auf ihn reagiert.“ Justin schluckte, nahm wahr, wie sich Viviens Hauch und der Duft ihres Haars wieder entfernte, und sah ein, dass es besser war, das nächste Mal sofort eine Antwort auf Arianes Argument zu finden, nur um nicht Gefahr zu laufen, vor allen anderen anzufangen, wie ein Trottel zu stottern, oder gar kein Wort mehr herauszubekommen. „Mit hundertprozentiger Sicherheit können wir nicht sagen, ob mit Geheim Erik gemeint ist und wie viele Leute außer uns in dieser Welt gefangen waren. Theoretisch können es viel mehr gewesen sein. Wir wissen nicht, wie groß das Schatthenreich ist und ob Erik nicht zu einem anderen Zweck dort gefangen war. Auf jeden Fall hat Ewigkeit nicht auf ihn reagiert, als sie ihn gesehen hat. Sie hätte erkennen müssen, dass er zu uns gehört.“ „Ewigkeit könnte auch einfach nicht lange genug hingeschaut haben.“, entgegnete Ariane. Justin antwortete prompt und vereitelte damit Viviens Ansatz, ihm wieder nahezukommen. „Ewigkeit hatte Angst vor ihm.“ „Aber er hatte Kräfte!“, beharrte Ariane. „Die hat der Schatthenmeister auch.“, sagte Justin trocken. Ariane brauste auf. „Willst du jetzt etwa behaupten, dass Erik nur deshalb im Schatthenreich war, weil er dort zum Schatthenmeister ausgebildet werden sollte? Als eine Art Familientradition?!“ Vivien sprang auf. „Stopp! Das war kein Pro-Argument.“ Ariane war außer sich. „Ich finde das nicht witzig!“ „Willst du aussteigen und jemand anderem die Pro-Seite überlassen?“, fragte Vivien unschuldig, als fiele ihr Arianes Aufregung gar nicht auf. „Wieso sollte er sich an nichts mehr erinnern können, wenn er zu den Bösen gehören würde?!“, rief Ariane und ging nicht auf Viviens Frage ein. „Erinnert er sich nicht?“, erkundigte sich Vivien, als wäre ihr diese Info neu. Ariane wurde laut. „Was redest du? Er hat uns überhaupt nicht erkannt!“ Vivien zuckte bloß mit den Schultern. „Soll das heißen, du denkst, dass er das alles nur spielt? Welchen Grund hätte er dazu?“, schrie Ariane und pausierte kurz. „Okay, wenn er ein Schatthenmeister in Ausbildung wäre, hätte er vielleicht Grund dazu.“, musste sie widerstrebend eingestehen. „Aber wieso hätte er uns dann im Schatthenreich helfen sollen?“, hielt sie entgegen und gab sich selbst die Antwort: Um ihr Vertrauen erschleichen zu können. Sie wollte diesen Gedanken nicht wahr haben! „Er wurde einer Gehirnwäsche unterzogen, es war nicht seine Entscheidung!“, rief sie erregt. „Und ob Beschützer oder angehender Schatthenmeister, er gehört zu den Guten! Sonst hätte er uns nicht geholfen!“ Vivien lächelte unbekümmert. „Vielleicht sollten wir entkommen.“ „Was ergäbe das für einen Sinn?!“, verlangte Ariane zu erfahren. Justin klinkte sich wieder ein. „Um uns auszuspionieren.“ „Und was bringt das?“, fragte Ariane. „Informationen über die Gleichgewichtsbeschützer.“, antwortete Justin. Ariane machte ein unzufriedenes Gesicht, ihr Blick schweifte zu Boden. „Secret hat uns nicht betrogen.“, sagte sie gedämpft. „Wieso sollte er uns auch auf die Wunde ansprechen, wenn er das alles weiß, und wieso fällt er in Ohnmacht?“ Sie hielt kurz inne. „Nein, die Ohnmacht war nicht gespielt.“, entgegnete sie auf ihren unausgesprochenen Gedanken. „Das kann nicht, das ist nicht gespielt! Bestimmt nicht! Sonst wäre er doch auch nicht so misstrauisch! Was, wenn sein Vater der Schatthenmeister ist oder er sonstwie unter dem Einfluss des Schatthenmeisters steht? Wir müssen ihm helfen! Wir müssen ihm sagen, was hier vorgeht! Sonst wird er uns nicht mehr vertrauen!“ Justins Stimme blieb ruhig. „Er wird uns auch nicht vertrauen, wenn wir es ihm sagen. Selbst wenn er den Verdacht hat, dass etwas nicht stimmt, die Geschichte, dass wir von Monstern entführt wurden und magische Kräfte haben, ist völlig unglaubwürdig. Wenn du ihm das erzählst, würde er denken, dass du dich über ihn lustig machst, oder würde dich für durchgeknallt halten.“ „Dann beweisen wir es ihm einfach!“, warf Ariane ein. Vitali scherzte: „Soll Vivien ihm zeigen, wie man Gefühle spürt, oder Justin, wie man Gedanken liest. Das glaubt er dir sofort!“ Ariane schaute nicht begeistert, ehe sie den nächsten Einfall hatte. „Und Fliegen? Du könntest das!“ „Das kriegt er niemals hin, wenn er vor Erik steht.“, meinte Serena. „Natürlich krieg ich das hin!“, beschwerte sich Vitali. „Na also.“, sagte Ariane. Justin antwortete: „Serena hat Recht. Im richtigen Moment funktioniert es vielleicht nicht.“ „Deswegen können wir es doch trotzdem versuchen!“, beharrte Ariane. Justin sah Ariane mitfühlend an. „Wenn wir ihm die Wahrheit sagen und er uns meidet, weil er uns für verrückt hält, helfen wir ihm viel weniger, als wenn wir ihn belügen und uns in seiner Nähe aufhalten können, um mehr zu erfahren.“, versuchte er es nochmals. „Außerdem, wie würde er sich fühlen, wenn er erfahren müsste, dass er die ganze Zeit in Gefahr schwebt und sich nicht einmal wehren kann? Solange er unwissend ist, hat er diese Sorgen zumindest nicht.“ Ariane machte einen weiteren Ansatz, die anderen zu überzeugen: „Aber wenn er es wüsste, könnten wir ihm zeigen, wie er sich wehren kann, und wir könnten ihn von der Wunde befreien. Irgendwie!“ Justin sprach in gemäßigtem Ton. „Vivien hat versucht, zu ihm durchzudringen und es ging nicht. Das wäre beim nächsten Mal wahrscheinlich auch nicht besser. Solange wir nicht mehr wissen, sind wir machtlos.“ Ariane resignierte. „Das heißt, wir werden ihn weiter belügen müssen?“ Justin hielt inne, als wolle er die endgültigen Worte so lange wie möglich aufschieben. „Bis auf Weiteres: Ja.“ Mit verkniffenem Gesichtsausdruck senkte Ariane ihr Haupt. Justin legte ihr die Hand auf die Schulter. „Auf diese Weise können wir ihn am besten schützen.“ Ariane sah wenig überzeugt aus. Aber es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als diese Entscheidung zu akzeptieren. Nochmals ergriff sie das Wort. „Aber wenn sich etwas ändert – Wenn wir mehr über das Ganze erfahren, dann werden wir es ihm doch sagen.“ Justin wich aus. „Wir werden das tun, was für Erik das Beste ist.“ „Wieso habe ich dann das Gefühl, dass wir das tun, was für uns das Beste ist!“, rief Ariane. „Die Wahrheit ist einfach für den, der sie ausspricht, aber nicht immer für den, der sie hört.“, sagte Justin ruhig, dann wurde sein Gesichtsausdruck ernst. „Wenn du Erik einen Gefallen tun willst, schluck dein schlechtes Gewissen runter und denke an das, was er jetzt braucht.“ Arianes Hände ballten sich zu Fäusten. Mit zusammengebissenen Zähnen begegnete sie Justins Blick. „Kannst du das?“, fragte Justin sacht. Angespannt nickte Ariane. Vivien klatschte einmal kurz in die Hände, sodass Ewigkeit, die sich vor Langeweile auf der Rückenlehne des Sofas zusammengekauert hatte, erschrocken aufsprang und dabei ein wirres Glöckchenklingeln verursachte. „Bravo! Damit hätten wir das Ergebnis: Bis sich etwas Neues ergibt, werden wir Erik nichts von unserem Abenteuer im Schatthenreich erzählen. Sobald wir neue Informationen haben, entscheiden wir neu.“ Es gab keine Einwände von Seiten der anderen. „Gut, dann würde ich sagen, die heutige Sitzung ist hiermit beendet!“, verkündete Vivien. Sofort startete Ewigkeit in die Höhe und flog in die Mitte der fünf Beschützer. „Morgen trainieren wir noch viel mehr!“, rief sie voller Vorfreude. Ariane ergriff zaghaft das Wort. „Morgen wollten wir eigentlich mit Erik zusammen auf den Jahrmarkt.“ Ewigkeits Augen wurden groß, wie bei einem Kind, dem gerade prophezeit worden war, dass die Autofahrt statt in den Spielzeugladen zu seiner ungeliebten Großtante ging. Dann zog sie einen Schmollmund, als wollte sie ihn als Waffe einsetzen. Dementsprechend zuckte Ariane verängstigt zurück. Hilfesuchend starrte sie die anderen an, doch die wirkten angesichts der unvorhergesehenen Reaktion ihres Helferleins ebenso eingeschüchtert. Ein begeistertes Kichern kam indes von Vivien. Sie lief mit hinter den Rücken gehaltenen Händen auf das Schmetterlingsmädchen zu und blieb dann mit einem reizenden Lächeln vor ihr stehen. „Es sollte ja eigentlich eine Überraschung sein, aaaaber…“ Wieder grinste sie spannungstreibend, dass Ewigkeit sie mit großen, erwartungsvollen Augen anstarrte. Vivien zog den Spannungsbogen noch etwas länger, dann beugte sie sich zu Ewigkeit vor, wie um ihr ein großes Geheimnis anzuvertrauen. Sie senkte ihre Stimme. „Wir gehen auf den Jahrmarkt, um zu überprüfen, ob sich dort Schatthen aufhalten.“ „Schatthen!“, kreischte Ewigkeit. Vivien legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Ja, aber wir müssen aufpassen. Damit wir nicht entdeckt werden, müssen wir so tun, als wären wir nur zum Spaß dort.“ „Ich gehe mit!“, schrie das Schmetterlingsmädchen fest entschlossen. „NEIN!“, kam der entsetzte Aufschrei von Vitali, Serena und Ariane. Ewigkeit machte ein Gesicht, das zwischen Beleidigtsein und Weinen schwankte. Vivien kicherte wieder, um den Schaden, den die anderen angerichtet hatten, rückgängig zu machen. „Weißt du, du hast so toll mit uns trainiert, dass wir austesten wollen, ob wir es auch ohne deine Hilfe schaffen! Aber sobald wir wirklich auf Schatthen treffen, rufen wir dich sofort!“ „Versprochen?“ Vivien strahlte sie an. „Versprochen!“ Kapitel 62: [Mess-Opfer] Viel Rummel um - ----------------------------------------- Viel Rummel um - „Kein Jahrmarkt ohne Diebe.“ (Sprichwort) Der große Messplatz im Süden Entschaithals stand ganz im Zeichen des herbstlichen Jahrmarkts. Der Geruch von Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Magenbrot lag in der Luft. Neben dem von Gebratenem, Langos und anderen deftigen Imbissen. Zahlreiche Stände boten ihre Waren feil. Doch die schönsten Sehenswürdigkeiten waren wie immer die Fahrattraktionen. Neben den Klassikern Riesenrad, Ketten- und Kinderkarussell, Boxautos und Schiffschaukel, lockten wilde Fahrten, die einen von einer Seite zur nächsten schleuderten, im Kreis herum, von der Höhe in die Tiefe, von rechts nach links oder alles gleichzeitig. Allein Erik schien der Anblick kalt zu lassen, selbst Serena widmete den Möglichkeiten des Jahrmarkts mehr Aufmerksamkeit als er. Ihre Augen blieben eine ganze Weile an den schillernden Luftballons in Form beliebter Kinderfiguren hängen. „Gefallen die dir?“, fragte Erik sie. Ertappt und beschämt sah Serena ihn an. Sofort war Vitalis Aufmerksamkeit bei ihnen. „So Zeug liebt sie.“, informierte er Erik, als wäre er ein Serena-Experte. Halblaut zischte Serena: „Halt die Klappe…“ Vitali schaute verständnislos. „Dein ganzes Zimmer ist doch voll mit Einhörnern und Disney und Anime Zeug.“ „Halt die Klappe!“, kreischte Serena nun umso lauter. Erik wandte sich belustigt an Vitali. „Du sollst nicht einfach ihre Geheimnisse ausplaudern.“ Vitali zog einen Schmollmund. „Das ist doch kein Geheimnis.“ Erik grinste. „Aber du findest es süß, dass sie solche Sachen mag.“ Vitali verzog das Gesicht. „Gar nicht!“, rief er viel zu hektisch und flüchtete dann an Justins Seite, als könne sein Freund ihn vor Eriks Scharfsinn bewahren. Erik lachte. „Was wollen wir als erstes machen?“, fragte Ariane mit unverhohlener Vorfreude. Erik hatte sie das letzte Mal so begeistert gesehen, als sie die Exkursion zu Burg Rabenfels gemacht hatten. „Wollen wir etwas fahren?“ „Ich will das fahren!“, schrien Vitali und Vivien gleichzeitig und deuteten in entgegengesetzte Richtungen. Viviens Finger war auf eine Dschungelfahrt gerichtet, die durch eine aufgemalte Urwaldlandschaft jagte, Vitalis auf eine Höhenattraktion, bei der man aus schwindelerregender Höhe in die Tiefe rauschte. Mit großen Augen blickten sie einander an, was bei ihrem Größenunterschied ziemlich niedlich aussah. Im nächsten Moment hatten sie bereits die Hände zum Schere-Stein-Papier-Spielen erhoben. Vivien hatte mehr Glück. Freudestrahlend und überhaupt nicht schadenfroh – denn ‚schadenfroh‘ wäre eine Untertreibung gewesen – hüpfte sie herum. Dann gab sie Vitali, der säuerlich dreinschaute, ein Zeichen und startete zu einem Wettrennen. Ariane lachte vergnügt angesichts ihrer guten Laune, Justin lächelte. Gemeinsam mit Erik und Serena folgten sie den beiden nach. Nach der Fahrt gab Vivien bekannt: „Jeder sagt, was er fahren will, und wir arbeiten das nacheinander ab.“ „Hääää?“, rief Vitali unzufrieden. „Dann muss ich ja voll lang warten, bis ich wieder dran bin!“ „Das ist nur gerecht.“, entgegnete Ariane. Vitali verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. „Mann, dann muss ich mir gut überlegen, was ich machen will.“ „Also willst du jetzt nicht das da fahren?“, fragte Vivien mit Bezug auf die Höhenattraktion. „Nö, ich muss das durchdenken.“, verkündete Vitali entschieden. Dementsprechend liefen sie erst einmal weiter und Serena atmete auf. Allein der Anblick der schwindelerregenden Höhe hatte sie abgeschreckt. Als Erik auf Höhe der Boxautos meinte, er verstehe den Sinn davon nicht, ließ Vitali seinen Vorsatz, eine durchdachte Entscheidung zu treffen, augenblicklich fahren und verkündete, er weise ihn fachmännisch ein. Vivien bestand derweil darauf, dass sie und Justin einen Wagen teilten. Dass in dem Auto nicht gerade viel Platz war und sie jedes Mal aufeinandergepresst wurden, wenn sie mit einem anderen Auto kollidierten, trieb Justin die Schamesröte ins Gesicht, zumal er fürchtete, ihr mit seinem Körpergewicht wehzutun. Doch aus einem ihm unerfindlichen Grund fuhr Vivien dennoch immer in das größte Getümmel. Serena hatte zunächst Ariane das Steuer überlassen und keinen sehr amüsierten Eindruck gemacht. Nachdem Vitali allerdings immer wieder zielsicher auf ihren Wagen gefahren war und dabei laut gelacht hatte, hatte sie Ariane das Steuer entrissen und sich mit Vitali einen Showdown geliefert, der darin endete, dass sie aus einer Ecke der Fahrbahn nicht mehr herauskamen und sich lautstark gegenseitig die Schuld daran gaben, bis Erik aufstand, um die Plätze mit Ariane zu tauschen. Sowohl Vitali als auch Serena hatten alles andere als begeistert gewirkt. Mit der Bitte, sie möge Vitali zur Vernunft bringen, hatte Erik Ariane direkt auf seiner Seite, und die beiden schafften es, die Autos wieder aus der Pattsituation zu manövrieren. Erik gelang es sogar, mit irgendeinem Kommentar, Serena ein Lächeln zu entlocken, was Vitali so gar nicht gefiel. Aber da den Wagen zu rammen, bedeutet hätte, die beiden aufeinander zu drücken, versuchte er das nicht nochmals, auch als Ariane ihm das Steuer anbot. Gut gelaunt klapperten sie weitere Fahrattraktionen ab. Arianes Wahl fiel auf die Schiffschaukeln, die sie von den Messen, auf denen sie gewesen war, nicht kannte. Serena wollte nicht mitfahren und Justin erklärte sich bereit, mit ihr zusammen auf die anderen zu warten. Die beiden beobachteten wie Vivien und Ariane sowie Erik und Vitali ihren jeweiligen Schiffskörper vor und zurück schwingen ließen und dabei viel Spaß zu haben schienen. Besonders Vitali stieß dabei laute Jubelschreie aus. Justin bemerkte, dass Serena ein unglückliches Gesicht zog. „Würdest du doch gerne fahren?“ Serena zog die Schultern an und schüttelte den Kopf. „Ich bin zu verkrampft und hab Angst, rauszufallen, und dann tun mir alle Muskeln weh.“ „Du magst keine Höhen.“, vermutete Justin. Serena verzog das Gesicht und seufzte. „Ich würde es mögen, wenn… ich nicht so angespannt wäre. Es fühlt sich an, wie die Kontrolle verlieren. Und einerseits find ich es schön und andererseits …“ Sie ließ den Kopf hängen. „… kannst du nicht loslassen.“, vermutete Justin. Sie nickte. Er lächelte sie aufmunternd an und gestand ihr: „Ich mag die ganzen Fahrattraktionen gar nicht.“ Sie starrte ihn mit großen Augen an. „Mir wird immer etwas komisch dabei.“, sagte er fast lachend. „Warum fährst du trotzdem mit?“, fragte Serena ihn verwundert. „Euch macht es so viel Spaß und es ist schön, wie ihr euch freut.“ Serena hielt inne. Justin sagte zwar nie was, aber sie hatte mitbekommen, dass er nicht so viel Taschengeld hatte, und die Fahrattraktionen waren nicht billig. Trotzdem gab er das Geld aus, um mit ihnen gemeinsam etwas erleben zu können. Das rührte sie. „Danke.“ Er schien nicht zu verstehen, was sie dazu bewogen hatte, sich zu bedanken. „Weil du immer so lieb bist.“, erklärte sie, ohne ihn anzusehen, doch im gleichen Moment kam der Gedanke, dass das furchtbar dämlich klang, und sie schämte sich. Peinlich berührt sah sie ihn an. Justin lächelte sein aufrichtiges, herzliches Lächeln. „Ich freue mich, dass du dich wohlfühlst.“ Seine Worte machten sie fröhlich und gleichzeitig verlegen. Justin war es immer wichtig, dass sich jeder in der Gruppe wohlfühlte. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sein Beschützername passte wirklich gut zu ihm. Und in der Kombi mit Vivien, die mit ihrer lauten, aufdringlichen Art immer alle miteinbezog, waren die beiden irgendwie der Leim, der die Gruppe zusammenhielt. Serena fühlte sich wirklich wohl und musste Luft holen, um ihre Emotionen nicht überhand nehmen zu lassen. Das Läuten der Schiffschaukelglocke erklang und zeigte an, dass die Runde vorbei war. Die Schiffe wurden gestoppt. „Was willst du fahren?“, fragte Vivien schließlich Erik. „Ist mir egal.“, meinte Erik desinteressiert. Vivien zog einen Schmollmund. Erik stöhnte und sah sich um. Sie waren gerade auf Höhe der Geisterbahn, weshalb er auf diese zeigte. „Echt jetzt?“, rief Vitali. „Das ist voll langweilig!“ Ariane betrachtete das Werbeschild. „Es scheint eine Geisterbahn mit verschiedenen Effekten zu sein und es soll eher schnell gehen.“ „Meinetwegen.“, murrte Vitali. „Ich will neben Justin sitzen!“, rief Vivien begeistert und ergriff Justins Arm, ohne dass dieser gewusst hätte, wie er darauf reagieren sollte. Erik sagte nüchtern: „Und ich will nicht neben Vitali sitzen.“ „Hey!“, schimpfte Vitali säuerlich. Erik sah ihn an. „Du schreist bei jeder Attraktion rum.“ „Das macht man so!“, verteidigte sich Vitali. „Weil das Spaß macht!“ Erik blieb gefühlsneutral. „Mag sein, aber ich will das nicht direkt abkriegen.“ „Ich will eh nicht neben dir sitzen!“, blaffte Vitali beleidigt. „Ich kann neben Vitali sitzen.“, meinte Ariane eilig. Sie wollte Serena und Vitali nicht die Gelegenheit geben, lautstark zu schimpfen, dass sie auf gar keinen Fall nebeneinander sitzen wollten. Vivien ließ von Justin ab und trat hastig zu Vitali. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie ihm zu: „So schreckhaft wie Serena ist, wird sie sicher die ganze Zeit an Erik kleben.“ Sie grinste. Vitalis Gesicht zuckte kurz. Heftig rief er aus: „Ich sitze neben Serena!“ Erik und Ariane starrten ihn ungläubig an. Dann waren alle Blicke auf Serena gerichtet. Regelrecht beschämt wich sie ihren Blicken aus und presste im Ton tiefster Entnervtheit hervor: „Mir doch egal!“ Begeistert klatschte Vivien in die Hände. Sie besorgten sich Fahrchips und warteten bis die nächste Fahrt begann. Vitali und Serena setzten sich in den ersten Wagen – auf Eriks expliziten Wunsch hin, damit Vitalis Schall nach vorne ging, was Vitali mit einem bösen Blick quittiert hatte. Dabei ließen Serena und Vitali möglichst viel Abstand in der Mitte zwischen ihnen. Ganz im Gegensatz zu Vivien und Justin im zweiten Wagen. Vivien klammerte sich an Justins Arm, bevor die Fahrt überhaupt los ging. „Beschützt du mich?“, fragte sie mit ihren großen amethystfarbenen Kulleraugen. Justin wollte weglaufen und hatte weniger Angst vor dem, was in der Geisterbahn auf sie wartete, als vor dem, was Vivien in ihm auslöste. „Wir können noch aussteigen!“, stieß er aus. Vivien ließ von ihm ab und zog den Kopf ein. Justin schämte sich, sie traurig gestimmt zu haben, wusste aber nicht, wie er das rückgängig machen sollte. „Es… es passiert doch nichts.“, versuchte er, sie zu beruhigen. Aber das half nichts. Schließlich presste er halblaut hervor „Ich beschütze dich.“ Vivien sah zu ihm auf. Die Fahrt begann. „Kannst… du den Arm um mich legen?“, bat sie ihn vorsichtig und zog den Kopf dabei ein, als wäre ihr die Frage peinlich. Justin war unfähig, ein Wort herauszukriegen, sein Gesicht musste bereits puterrot sein, nahezu zitternd hob er seinen Arm und ließ Vivien sich an ihn kuscheln. „Danke.“, presste sie hervor. Er wusste nicht, wie lange sein Herz das aushielt. Aufs Äußerste angespannt, hoffte er, dass die Fahrt schnell vorbeiging. Während Vivien hoffte, dass die Fahrt nie endete. Während sie in wechselnder Geschwindigkeit an aus dem Nichts auftauchenden Spukgestalten, Schockmomenten, Dunkelheit, Blitzlichtgewitter, lauten Geräuschen und zahlreichen Effekten vorbeifuhren, legte Ariane keine Anzeichen von Ängstlichkeit jeglicher Art an den Tag. Irgendwie amüsierte das Erik. „Was ist?“, rief sie über den Lärm der Geisterbahn hinweg in kaltem Ton, ohne ihn anzusehen. Seine Aufmerksamkeit war ihr offensichtlich nicht entgangen. Er verlieh seiner Stimme etwas Provokantes. „Bei all den Schreckgestalten wollte ich nur kurz etwas Schönes ansehen.“ Ariane gab ein so tiefes entnervtes Stöhnen von sich, dass sie wie die Stimme aus einer Gruft klang. „Dein Handy hat eine Selfie-Kamera.“ Er musste über ihre Schlagfertigkeit grinsen und setzte zu einem Konter an. „Du bietest mir an, ein Selfie mit dir zu machen?“ Nun drehte sie sich tatsächlich zu ihm um und schaute extrem genervt. Er lächelte sie an, was sie dazu brachte, sich wieder abzuwenden, als wäre ihr das unangenehm. Es war wirklich nicht leicht, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, ohne sich eine Blöße zu geben. Er schmunzelte. Derweil quittierte Vitali die Spezialeffekte mit lautstarken Reaktionen, auch wenn er nicht wirklich erschrak. Er versuchte einfach das Beste aus der Fahrt zu machen. Halblaut zischte Serena neben ihm ein „Halt die Klappe.“ Da sie bis eben in absoluter Finsternis gefahren waren, erkannte er jetzt erst, dass sie in sich zusammengeschrumpft war und sich verkrampft am Wagen festklammerte. Sie sah wirklich nicht gut aus. Davon ziemlich beunruhigt, streckte er seine Hand vorsichtig nach ihrem Oberarm aus. Es wurde wieder dunkel. Serena stieß einen schrillen Schreckenslaut aus, als er sie berührte, und Vitali konnte von Glück reden, dass sie ihn nicht paralysiert hatte. „Das bin doch nur ich!“, rief er aufgebracht – sich der Gefahr, die von ihr ausging, bewusst werdend. Ein bedrohlich rotes Licht wurde angeschaltet und beschien Serenas völlig verängstigtes Gesicht. Vitali biss die Zähne zusammen und rang mit sich und der Frage, wie er sie beruhigt bekam. „Mann!“, schimpfte er lautstark, um die Geräusche der Geisterbahn zu übertönen. „Ich bin doch da! Also…“ Er drehte das Gesicht weg. „…mach nicht so ein Theater.“ Wut kam in Serena auf, doch dann bemerkte sie in dem gespenstisch weiß-blauen Licht, dass Vitali nach ihrer Hand greifen wollte. Er stoppte in der Bewegung. „Alter, wenn du mich paralysierst, bin ich echt sauer!“, rief er, ohne sie anzusehen. Mit voller Wucht schlug Serena ihre Hand auf die seine, dass er fast aufgeschrien hätte. Das verschieden farbige Licht flackerte über ihre Züge, sie funkelte ihn wütend an. Davon zunächst verwirrt, änderte er seinen Gesichtsausdruck zu einem ebenso grimmigen wie dem ihren. Mit einer groben Bewegung umfasste er ihre Hand. Wie auf Kommando wandten sie sich dann beide wieder der Umgebung zu, die erneut in Dunkelheit getaucht wurde. Vitali spürte, wie Serena bei sehr plötzlichen Effekten und lauten Geräuschen zusammenzuckte und drückte dann ihre Hand, woraufhin sie sich wieder zu beruhigen schien. Schließlich kam der Ausgang in Sicht und sie ließen eilig voneinander ab. Wenn einer der anderen, insbesondere Vivien oder Erik, mitbekommen hätte, dass sie Händchen gehalten hatten, hätten sie sich das für immer anhören müssen. Als sie die Geisterbahn wieder verließen, war Vivien noch aufgedrehter als zuvor, während Justin äußerst verlegen wirkte, Vivien zog ihn am Arm auf einen Süßigkeitenstand zu und kaufte ein kleines Lebkuchenherz mit der Aufschrift ‚Mein Schatz‘. Sobald sie es in Händen hielt, verlangte sie von Justin, es sich umzuhängen – aufgrund ihrer Größe konnte sie es ihm nicht einfach überziehen. Justin wagte nicht, nach der Bedeutung zu fragen, und ging schlicht davon aus, dass er das Herz für sie tragen solle, bis sie wieder nach Hause kamen. Ein paar von ihnen versuchten sich daran, mit Dartpfeilen Luftballons abzuschießen, dann kamen sie an einen Schießstand. „Jetzt zeig ich euch mal, wie das geht!“, tönte Vitali lautstark. Momente später stand Erik mit einem Teddy im Arm da und Vitali mit leeren Händen. „Wirklich beeindruckend!“, spottete Serena. Sie war noch immer sauer, dass er sie zuvor im Pfeilewerfen fertig gemacht hatte. Den letzten Pfeil hätte sie fast nach ihm geworfen, hätten Ariane und Justin sie nicht davon abgehalten. Vitali schob die Schuld von sich. „Das Gewehr war kaputt.“ „Dann versuch es doch noch mal mit einem anderen.“, schlug Serena provokativ vor. „Ich geb nicht noch mehr Geld dafür aus.“, entgegnete Vitali verstimmt. „Oh, das spende ich gerne für dich!“ Vitali warf ihr einen wütenden Blick zu. Erst im nächsten Moment bemerkten die beiden, dass die anderen schon zum nächsten Süßigkeitenstand gelaufen waren und beendeten ihre Sticheleien. Ariane stand vor der Zuckerwatte-Maschine. Sie hatte die Wahl zwischen Weiß und Rosa. Erik bemerkte wie ihre Augen bei der rosa Zuckerwatte zu strahlen begannen, dann veränderte sich etwas in ihrem Blick und sie sagte dem Verkäufer, dass sie weiße Zuckerwatte wollte. Lachend schlenderten die sechs anschließend über den Platz, Ariane nun mit einer großen weißen Zuckerwatte in Händen, von der Vivien immer wieder naschte, Erik mit dem Teddy unter dem Arm, den er so lässig mit sich herumtrug, als wäre dies für einen Mann das Natürlichste auf der Welt, und Justin weiterhin mit dem Lebkuchenherz um den Hals. „Achterbahn!“, rief Vivien auf Höhe der nächsten Attraktion und schwang ihren rechten Arm in die Höhe. „Dann warte ich auf euch.“, sagte Ariane, die aufgrund ihrer Zuckerwatte gehandicapt war. „Wir können auch warten, bis du fertig bist.“, schlug Serena vor. Ariane wehrte ab. „Das ist kein Problem. Ich warte solange hier.“ Sie deutete auf die Sitzbank zu ihrer Linken. „Gute Idee.“, meinte Erik zustimmend. Doch statt sich in Bewegung zu setzen, ließ er sich daraufhin gekonnt auf die Bank sinken und breitete sich darauf aus wie auf einer bequemen Couch. Irritiert sah Ariane ihn an. Erik reagierte nicht auf ihre ungeäußerte Frage. „Was tust du?“, sprach Ariane schließlich ihren Gedanken aus. „Ich warte.“ „Worauf?“ „Auf die anderen.“ Wieder warf Ariane ihm einen fordernden Blick zu. Wieder reagierte er darauf nicht. Und die anderen hielten sich bei den Dialogen der beiden einmal mehr raus. Vivien aus neugierigem Interesse, Justin aus Irritation, Vitali, um nicht in die Schussbahn zu geraten, und Serena einfach weil sie es leid war. „Was meinst du?“, war Ariane schließlich gezwungen zu fragen. Erik platzierte den gewonnenen Teddy auf seinem Schoß. „Mit dem Bären kann ich nicht mitfahren.“ Ein selbstgefälliges Grinsen nahm sein makelloses Gesicht ein, als würde er mit diesem Kommentar Ariane reizen wollen. Ihr Gesicht zuckte kurz, dann lächelte sie freundlich. „Du kannst mir doch den Bären geben und mit den anderen fahren.“, bot sie ihm an und streckte ihre Hände demonstrativ nach dem Kuscheltier aus. Sofort zog Erik den Teddy vor ihr weg wie ein Spielzeug vor einem Kätzchen. Er grinste provokativ, seine linke Augenbraue ging in die Höhe. „Wenn du einen Bären willst, dann musst du dir schon selbst einen schießen.“ Einmal mehr kam Ariane nicht umhin sich zu fragen, wie es diesem Jungen entgegen aller Logik gelang, das lächerlichste Verhalten an den Tag zu legen und dabei noch so cool zu wirken, dass Scharen von Mädchen nicht anders konnten als ihn anzuhimmeln. Allein der Gedanke an die bemitleidenswerte Fehleinschätzung dieser Mädchen! Viviens Stimme riss Ariane aus ihren Gedanken und das aus unerwarteter Entfernung. „Wir sind dann mal weeeg!“ Entsetzt wirbelte Ariane herum und musste mit Schrecken feststellen, dass die anderen sich bereits zur Achterbahn hin entfernt hatten, indem Vivien sie kurzerhand allesamt mit sich geschleift hatte. Sie hörte Serena noch zetern. „Ich sitze nicht neben Vitali!“ Und sah, dass Justin wohl anbot, sich neben sie zu setzen. Hilflos streckte sie ihre Hand nach den sich entfernenden Personen aus. Allein blieb sie mit Erik zurück. Ewigkeit lag auf ihrem Bauch, die Beinchen in der Luft baumelnd. Dann rollte sie sich hin und her. Ihren Flügeln schien das nichts auszumachen. Sie setzte sich auf, zog die Beine an und schüttelte sich missmutig, ihre Lippen zum ultimativen Schmollmund geformt. In einem lauten Jammerlaut entlud sich ihre Unzufriedenheit. Die Beschützer waren schon viiiiiel zu lange weg. Über zwei Stunde schon! Über hundertzwanzig Minuten. Über 7200 Sekunden! Es genauer auszurechnen widerstrebte ihr. Die Tür zum Kinderzimmer der Familie Baum wurde aufgestoßen und Kai und Ellen stürzten herein. „Jahrmarkt!“, jubelte Ellen. Ewigkeit war sofort ganz Ohr und auf den Beinen. Ellen lief zu dem Schreibtisch, auf dem Ewigkeit saß, und berichtete ihr begeistert, wie sie es bei allen Neuigkeiten tat, denn von Anfang an hatte sie einen kleinen Narren an dem Schmetterlingsmädchen gefressen. „Wir gehen auf den Jahrmarkt!“ Und schon wirbelte sie mit ihrem Bruder hier hin und dorthin, um das Zimmer nach allem abzusuchen, was vielleicht unbedingt wichtig wäre, mitzunehmen. Auch wenn sich ein Springseil und Kartenspiele wohl als eher weniger nützlich auf dem Jahrmarkt erwiesen. Ewigkeit flatterte freudig erregt um die Kinder herum, denn sie hatte ihre Chance gewittert, endlich das zu tun, was jedes vernünftige Helferlein tun würde, wenn die Helden in größter Gefahr schwebten – sie retten! Aber das natürlich ohne dass diese etwas davon mitbekamen, schließlich hatte sie ja fest versprochen, den Beschützern freie Bahn zu lassen. Also lenkte sie das Geschehen nun geschickt, professionell und aufs Beste geschult für diese geheime Mission in die gewollte Richtung: „Darf ich mit, darf ich mit, darf ich miiiit??!!!!“ Nicht einmal Ellen und Kai gelang es, den kleinen Quälgeist zu überhören. „Ja klar.“, sagte Kai, als wäre es nichts weiter. Daraufhin kreischte Ewigkeit schrill und begeistert und flatterte im Kreis. Die beiden Kinder lachten darüber. Arianes Gesichtsausdruck zuckte. Alleine mit – Erik… Sie würde Vivien umbringen, da war sie sich ganz sicher! … Würde sie nicht. Sie ließ den Kopf hängen und biss sich auf die Unterlippe, richtete sich wieder auf und machte sich dazu bereit, sich wieder zu Erik umzudrehen. Was für eine Qual. Am liebsten hätte sie einen lauten Seufzer der Resignation ausgestoßen. Während der Geisterbahnfahrt neben ihm zu sitzen war ja eine Sache gewesen, aber jetzt? Wieder ihrer vollen Selbstbeherrschung mächtig – mit erhobenem Haupt – wandte sie sich um. Und diese Selbstbeherrschung wurde sogleich auf eine harte Probe gestellt. Erik grinste. Und wie er grinste! Warum gab es im Deutschen eigentlich keinen speziellen Ausdruck für ein boshaftes, dämonisches Grinsen? Man sollte es nicht einfach ‚grinsen‘ nennen, obwohl der Eigentümer sehr wohl amüsiert und guter Laune zu sein schien. Schadenfreuen? Nein. Das traf es nicht ganz. Und ‚smirken‘ nach dem englischen ‚smirk‘ für ‚dreckig und selbstgefällig lächeln‘ klang eher nach ‚zirpen‘ als nach einem passenden Begriff für Eriks Gesichtsausdruck. Ariane gab den Gedanken auf und entschied sich eines zu tun – sich nichts anmerken lassen. Gelassen ging sie zu der Bank, auf der Erik auf sie wartete, und setzte sich neben ihn. Schweigen. Ariane sah nicht zur Seite, um zu sehen, was Erik tat. Ihr Blick war stur auf das Geschehen vor ihr gerichtet. Erik fand es vergnüglich, wie Ariane ihn einmal mehr demonstrativ ignorierte, und wurde zu neuen Schandtaten beflügelt. „Du hast ja eine Schwäche für Spiele.“, erwähnte er wie beiläufig. Ariane wandte ihren Blick noch weiter von ihm weg, denn sie wusste, dass sein Tonfall nichts Gutes zu verheißen hatte. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich keine Spielchen spiele.“ Erik beugte sich vor und drehte seinen Kopf so, dass er ihren Gesichtsausdruck dennoch einfangen konnte. „Damit könnten wir die Sache mit den Schulden klären.“ Arianes Gesicht schnellte zu ihm. „Kannst du endlich mit dieser Schuldengeschichte aufhören!“ Daraufhin fing Erik an, mit seinem Teddy zu spielen. Mit einer Coolness, als würde er sich gerade der männlichsten Beschäftigung schlechthin widmen. „Ein Frage-Antwort-Spiel vielleicht.“ „Du scheinst doch schon einen wunderbaren Zeitvertreib gefunden zu haben.“ Mit den Augen deutete sie auf den Teddy. Erik grinste. So unverschämt selbstüberzeugt, als hätte sie ihm, statt ihn zu verspotten, gesagt, was für ein schickes Auto er fuhr. Wie es sie aufregte, dass er einfach alles tun konnte, ohne sich dabei dumm vorzukommen! Wenn sie sich wenigstens hätte einreden können, dass er den Spott nicht heraushörte. Aber Erik war wohl die gerissenste Person, die sie kannte. Von Vivien einmal abgesehen… Ariane wandte sich wieder ab und Erik schwieg unverhofft. Auch eine sonstige Reaktion seinerseits blieb aus, zumindest eine, die sie wahrgenommen hätte, ohne sich zu ihm zu drehen. Sekunden verstrichen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so schnell aufgeben würde. Vorsichtig lugte sie in seine Richtung. Für einen Moment glaubte sie, die Schwärze seiner Pupillen entführe sie in ein Schatthenreich, das nicht jenes war, das sie schon einmal betreten hatte, sondern eines, das in seinem Inneren verborgen lag. Sein Blick schien sie in dieses Unbekannte zu ziehen. Sie zuckte zusammen und wandte sich hastig ab. Justins Aussage, dass Secret genauso gut ein Schatthenmeister in Ausbildung sein konnte, kam ihr ungewollt in den Sinn. „Was soll das?“, schimpfte sie. „Ich seh dich einfach gerne an.“ Die Worte gefielen ihr ganz und gar nicht. „Hör auf damit.“ „Wie du meinst.“, sagte er. Eine kurze Pause entstand. „Hattest du schon mal einen Freund?“ Der plötzliche völlig verdatterte Gesichtsausdruck von Ariane hätte Vitali alle Ehre gemacht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und entgleisten Zügen starrte sie Erik an. „Wie bitte?“ „Du hast deine Frage gestellt, jetzt bin ich dran.“ „Ich habe keine Frage gestellt!“ „Natürlich ist ‚Was soll das?‘ eine Frage. Das erkennt man an der Verwendung des Fragewortes, der Satzstellung und der Intonation.“, belehrte er sie. Unzufrieden wurde ihr klar, dass sie sich durch ihre eigene Unbedachtheit in diese Situation bugsiert hatte. „Das war aber keine richtige Frage.“, beanstandete sie. „Außerdem, was soll die Frage, ob ich schon mal einen Freund hatte?“ „Die gefällt dir nicht?“ „Das ist genauso geistreich, als würde ich dich fragen, ob du mit deinem Muskeltraining Eindruck schinden willst.“, schimpfte sie. „Das interessiert dich?“ „Natürlich nicht!“, widersprach sie. „Aber du bist auf die Idee gekommen.“, hielt er ihr grinsend vor. Sie wusste sich zu wehren. „Das liegt nur daran, dass du dich ständig über die Mädchen aufregst, die dich – aus mir unerfindlichen Gründen – attraktiv finden, es aber dann wieder darauf anlegst, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Über diesen Gedanken sichtlich amüsiert musste er sich zur Seite drehen, als hätte sie einen allzu lustigen Witz gerissen. Erst dann konnte er sich mit einem untypisch ehrlichen Lächeln wieder ihr zuwenden. Leicht verunsichert von seiner Reaktion war Ariane unklar, ob sie nun schmollen oder wütend werden sollte. „Was ist?“ Erik lächelte noch immer liebenswert, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte. Und hörte damit erst auf, als ihre Geduld zu enden drohte. „Also.“, holte er aus. „Meine durchtrainierte Statur – die dir offensichtlich aufgefallen ist–“ Ariane verdrehte die Augen, aber er setzte einfach fort. „hat nichts mit irgendwelchen Mädchen zu tun.“ Wieder lächelte er über den Gedanken. Dann holte er tief Luft und sah nach vorn. „Als ich in der Vierten war, bin ich fast täglich verprügelt worden.“ Ariane glaubte, sich verhört zu haben. „Deshalb hab ich angefangen zu trainieren, damit ich auf niemanden mehr angewiesen bin, um mich zu beschützen.“ Erst jetzt sah er sie wieder an, mit gewinnendem Lächeln. „Tja, und deshalb bin ich heute der Sexiest Man Alive.“ Ariane, die eben noch Mitleid empfunden hatte, war von seiner abermaligen Selbstüberschätzung wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen. „Welch ein Glück für die gesamte Frauen- und Männerwelt.“, spottete sie. „Wir sollten den Jungen von damals das Bundesverdienstkreuz verleihen.“ „Kann das auch an Tote verliehen werden?“ Sie erstarrte. Überrascht über ihre Extremreaktion lachte Erik auf. „Was du mir alles zutraust.“, grinste er. Ariane fühlte sich beschämt. „Th.“, machte sie nur und wusste nichts weiter dazu zu sagen. Zu peinlich war es ihr, auch nur eine Sekunde über den Wahrheitsgehalt seines Scherzes nachgedacht zu haben. Sie schürzte die Lippen. „Zumindest ist jetzt geklärt, woher dein verschlagenes Lächeln kommt.“ Erik lachte. Dann machte er eine auffordernde Armbewegung. „Nun. Du bist dran.“ „Okay.“ Ariane holte Atem. „Ja, ich hatte schon einen Freund.“ Erik wartete, aber es kam nicht mehr. „Und weiter.“ „Du hast nur gefragt, ob ich schon einen hatte.“ „Meine Antwort war aber ausführlicher.“, bemängelte er. „Ich hatte ja auch ‚Warum‘ gefragt.“, entgegnete sie triumphierend. „Und du willst nicht mir zuliebe etwas ausführlicher werden?“ Ariane antwortete mit einem lang gezogenen Nein. Mehr darüber amüsiert als enttäuscht starrte er sie an. Dann fiel sein Blick auf die Zuckerwatte in ihren Händen. „Warum hast du nicht die Rosane genommen?“ Ariane horchte auf. „Was?“ „Die rosa Zuckerwatte. Die wolltest du doch.“ Fast wäre Ariane die Frage herausgerutscht, woher er das wusste. „Wie … kommst du darauf?“, wich sie aus. Erik grinste sie gönnerhaft an. „Deine Augen haben vor Begeisterung gestrahlt, als du die rosa Zuckerwatte gesehen hast.“ Ariane machte ein komisches Gesicht. Er spielte wieder mit dem Teddy. „Warum hast du die Weiße gekauft?“ Er hörte sich so an, als würde es ihn in Wirklichkeit nicht die Bohne interessieren. „Hast du etwas gegen weiße Zuckerwatte?“, lenkte sie ab. „Ich nicht.“, sagte Erik gelassen. „Aber du wolltest die Rosafarbene.“ „Wollte ich nicht.“ „Wolltest du doch.“ „Wer von uns beiden weiß besser, was ich will?“ Erik hob den Teddy und ließ das Kuscheltier die Arme öffnen. „Ich natürlich.“ Ariane wollte empört schauen, aber gemischt mit dem Grinsen, das sich auf ihr Gesicht geschlichen hatte, sah man ihr an, wie amüsiert sie war. „Das ist mir neu.“ Nun lächelte sie übers ganze Gesicht. „Jetzt weißt du’s.“, meinte Erik schelmisch grinsend. Ariane grinste ebenfalls und musste sich von einem Lachen abhalten. Schließlich lachten sie beide. „Und? Warum wolltest du nicht die Rosane?“ „Ich dachte, ich wollte sie.“, hielt Ariane ihm entgegen. „Wolltest du auch. Aber warum hast du sie nicht genommen?“ Ariane lächelte ihm neckisch zu. „Das wüsstest du wohl gern.“ „Jaaah.“ „Aber ich war mit Fragen dran.“ Erik fügte sich willig. „Und was willst du wissen?“ Ariane wurde wieder ernst. „Warum wurdest du verprügelt?“ Sie wusste, wie persönlich und unangenehm diese Frage sein musste, vielleicht zu persönlich. Aber sie konnte nicht anders. Zu sehr verlangte es sie nach einer Antwort. Kurz zögerte Erik. „Weil ich ein Donner bin.“ Ariane verstand nicht. „Ich dachte, das wäre gut.“ „Wenn du kleiner bist als die anderen und schmächtig wie ein Zahnstocher nicht so.“ Sie scherzte: „Und wenn die anderen Jungs darauf neidisch sind, dass die ganzen Mädchen dich toll finden.“ Erik warf ihr einen zweiflerischen Blick zu, den sie nicht verstand. So als hätte sie etwas ziemlich Dummes gesagt. Dabei war sie davon ausgegangen gewesen, dass er mit seinem üblichen ‚Ich bin der Allertollste‘-Getue reagieren würde. Stattdessen wandte er sich ab und wirkte gedankenversunken. Irgendwie fühlte sie sich mit einem Mal schlecht und wusste nicht einmal wieso. Schließlich entschloss sie sich, ihren Part zu erfüllen, vielleicht um Erik abzulenken. Noch einmal zögerte sie. War es nicht dumm, Erik so etwas zu sagen? Ziemlich dumm sogar. Dennoch wollte irgendetwas in ihr ihm davon erzählen. Weil er danach gefragt hatte. Fast hätte sie über diesen Umstand gelächelt. Dann sah sie Erik von der Seite an. Den gleichen Jungen, der sie bei ihrem ersten Treffen – oder zweiten, je nachdem ob man ihre Begegnung im Schatthenreich hinzurechnete oder nicht – wie eine aufdringliche, oberflächliche Idiotin behandelt hatte. Musste er es da nicht verstehen können? „Was denkst du wenn du Rosa siehst?“ Erik antwortete mit fragender Miene. „Blond, blauäugig, ihr Freund heißt Ken.“, half sie ihm auf die Sprünge. Erik lachte. „Du kaufst keine rosa Zuckerwatte, weil die Leute dich für Barbie halten könnten?“ Arianes Mundwinkel fielen in den Keller. Sie drehte sich weg. „Warum?“, fragte Erik belustigt. „Das fragst du mich?!“, schimpfte sie mit einem Mal aufbrausend. Dass er ihrer Offenheit mit Spott begegnete, ließ sie mit Aggression reagieren. „Wer hat mich denn für ein oberflächliches Püppchen gehalten, als wir uns begegnet sind!“ „Das war was anderes.“, verteidigte er sich ernst. „Da ist einiges schief gelaufen und daran bist du nicht unschuldig!“ Angriff ist die beste Verteidigung. „Ich?!!!“ Ariane war aufgesprungen und verspürte den Impuls, ihn mit allem zu beschimpfen, was sie auf Lager hatte. Gerade noch stoppte sie. Fast hätte sie riskiert, die Lügengeschichte von Vivien kaputtzumachen, die zur Erklärung für Erik gedient hatte. Für Erik gab es kein Schatthenreich, keine Amnesie. Das Unrecht, das er ihr angetan hatte, musste sie hinunterschlucken. Sie sah ihn warten. Aufrecht und ernst saß er da, mit einem undurchsichtigen Blick, als würde er gerade wieder über ihre auffällige Reaktion nachgrübeln und sich unschöne Dinge zusammenreimen. Oh nein… „Du bist keine Barbie und die Leute sehen dich auch nicht so.“ Ariane war geplättet. „Du bist willenstark und geistreich, und das merkt man.“ Wenn sie nicht so überrascht gewesen wäre, hätte sie ihm vielleicht widersprochen, schließlich hatte sie oft genug erlebt, wie Menschen auf sie reagierten. Aber nun war sie einfach zu sehr davon überwältigt, dass Erik, statt sie wieder in die Mangel zu nehmen und Informationen über Secret aus ihr herauszuquetschen, solche Worte zu ihr sagte. Es dauerte noch einen Moment, ehe sie sich wieder auf die Bank setzte. „Meine Klassenkameraden haben ein Video von mir zusammengestellt mit dem Lied Barbie Girl.“, eröffnete sie ihm. Erik zeigte ein verzerrtes Gesicht, das zwischen Grinsen und Unglaube schwankte. Ariane hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, dass sie so dumm gewesen war zu glauben, Erik hätte jegliches Verständnis für sie. Wütend setzte sie fort, als könne sie ihre Worte als Vorwurf verwenden. „Sie haben es ins Internet gestellt und auf Social Media geteilt. Die Vertrauenslehrerin meinte dazu, dass ich nicht so aussähe, als würde es mir etwas ausmachen, für eine Barbie gehalten zu werden.“ Erik schüttelte bloß den Kopf. „Warum denken schlaue Menschen über dumme Menschen nach?“ Ariane stockte. „Warum denkst du über den Schwachsinn nach, den diese dummen Menschen an dich rangetextet haben?“ Sein Blick wurde hart. „Dumme Menschen sind es nicht wert, dass du über sie nachdenkst.“ ‚Hör auf dich zu entschuldigen!‘, hallte es in Arianes Kopf. ‚Sich entschuldigen ist ein Zeichen von Schwäche.‘ Das hatte Secret gesagt, im genau selben Tonfall. Hart. Abwertend. Als wäre es ihm zuwider. „Und wer ist für dich dumm?“ Es kam einfach aus ihrem Mund. Gerade so als würde sie die Leute verteidigen wollen, die ihr das angetan hatten. Eriks Augen waren so hart, dass sie einmal mehr Secret vor sich hatte, den konsequenten Vertreter der Einstellung: Keine Antwort war auch eine Antwort – was bei seinem Blick auch noch tatsächlich funktionierte. Doch plötzlich war es das Bild von Eriks Vater, das vor ihrem geistigen Auge aufblitzte. ‚Alle!‘ „Niemand ist dumm.“, widersprach sie der Antwort ihrer Vorstellung. Strafend sah Erik sie an. „Und du willst mir erzählen, die Leute, die das gemacht haben, sind nicht dumm?“ „Niemand ist dumm.“, wiederholte sie. Etwas änderte sich in Eriks Ausdruck, es waren nur wenige Regungen, aber Ariane erkannte, wie aus der Härte Distanziertheit wurde, als hätte sich Erik plötzlich hinter etwas zurückgezogen, hinter eine Art Festungsmauer, aus der er irgendwann herausgetreten war, ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre – bis jetzt, wo sie wieder ausgesperrt war, wo sie vor der Festung stand, vor der kalten Mauer, die abweisend und feindlich wirkte und auf deren Steinen mit unsichtbaren Buchstaben ‚Verschwinde!‘ geschrieben stand. Wie damals. Beinahe hätte sie sich von dem Impuls leiten lassen, seinen Arm zu berühren, um durch die Härte der Mauer hindurchzugreifen. Etwas umklammerte ihr Herz, als würde Erik sich von ihr entfernen, in die Dunkelheit verschwinden und sie verlassen. Auch wenn er neben ihr saß, er war unendlich weit fort. Fast hätte Ariane geweint, die Wahnvorstellung war zu intensiv. Dieses immer wiederkehrende Szenario, ihn wieder alleine zurücklassen zu müssen. Es musste an den immer noch nicht abgeschalteten Schuldgefühlen liegen. Noch immer stand sie vor der unüberwindbaren Festung, wartete vergebens. Er beschämte sie. Wie eine Bettlerin, die um Almosen bat, kam sie sich vor, und nicht mal Abfälle wurden ihr von den Zinnen der Burgmauer heruntergeworfen. Gar nichts. Dann wurde sie mit einem Mal wütend. Wieso machte sie sich immer klein wie ein Mäuschen, wenn er sich so aufführte?! Noch länger brauchte sie sich nicht dem stummen Spott des Despoten aussetzen, der sich hinter den Schlossmauern verbarg und sie mit Verachtung strafte! Arianes Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hast du fertig geschmollt?“ Erik starrte sie an. „Was?“ Ariane entzog ihm ihre Beachtung, sah ihn nicht mal mehr an und verärgerte ihn damit noch mehr. Aber das war ihr so was von egal! Verstimmt rupfte sie sich Zuckerwatte ab und stopfte sie sich in den Mund. Erik indes hörte nicht auf, sie anzustarren, als könne er sie dadurch zwingen, etwas zu sagen. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. „Sagt diejenige, die keine rosa Zuckerwatte kauft, weil sie für Barbie gehalten werden könnte.“ „Wenigstens führe ich mich nicht wie eine Diva auf, wenn man mir etwas sagt, das mir nicht passt.“, gab sie zurück. „Nein, du versteckst dich hinter Glasvitrinen.“ Ariane hielt inne und rief sich ins Gedächtnis, wie sie auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH versucht hatte, sich vor Erik zu verbergen. Automatisch prustete sie. Ebenso automatisch grinste auch Erik breit. Die Erinnerung an die Szene war zu komisch. Damals als sie sich das erste Mal versöhnt hatten. Es war nur fünf Wochen her, aber es schien wie ein Jahr. Von vorne sah Erik in diesem Moment auch schon die anderen nahen, die nicht minder vergnügt aussahen. „Das. War. Toll!“, rief Vivien und riss dazu ihre Arme in die Höhe. Vitali schloss sich ihr mit einem Freudenschrei an, während Justin die Szene wie immer lächelnd betrachtete und Serena demonstrativ beide Hände wie Scheuklappen ans Gesicht hielt um zu zeigen, wie wenig sie mit Vivien und Vitali zu tun haben wollte. Eigentümlich nur, dass sie sich dazu keineswegs von der Gruppe abgesetzt hatte, sondern genau zwischen Vivien und Vitali lief. Für den Versuch, nicht mit ihnen gesehen zu werden, somit der wohl ungünstigste Platz überhaupt. Aber sehr gut dazu geeignet, von Vitali und Vivien immer weiter in Albernheiten mit hineingezogen zu werden, was diese mit Vergnügen auch taten, indem sie sich kurzerhand bei Serena unterhakten und sie von einer Seite zur anderen schunkelten, sodass diese genervt aufschrie und lautstark losschimpfte. Dies wiederum legte die Frage nahe, ob Serenas Geschimpfe in Wirklichkeit nichts anderes war als ein seltsames Äquivalent zu einem gewöhnlichen Lachen und sie damit nur etwas ganz Bestimmtes bezwecken wollte, was ihr mit einem Lächeln und freundlichem Verhalten unmöglich zu erreichen schien. „Das müsst ihr unbedingt auch fahren!“, verkündete Vivien den beiden auf der Bank Sitzenden. „Gut.“, sagte Erik und stand auf. „Ich muss nur vorher kurz was besorgen. Ihr könnt euch ja schon anstellen.“ „Das hättest du doch eben schon tun können.“, warf Ariane ihm vor. Als Antwort nahm Erik seinen Teddy, den er zuvor noch als unantastbar deklariert hatte, und setzte ihn ungeniert Ariane auf den Schoss. Sein verschlagenes Grinsen sprach Bände. Ariane hätte ihm gerne wütend nachgeschaut, aber ihre Mundwinkel hatten in Eriks Nähe ein Eigenleben entwickelt. Nachdem Erik außer Hörweite war, wandte sich Vivien mit verdächtig erwartungsvollem Blick an sie: „War was?“ „Ihr könnt froh sein, dass er mich nicht wieder über Secret ausgefragt hat!“, schimpfte Ariane. Vivien winkte ab. „Ach was.“ Dreist nahm sie sich das letzte Stück der Zuckerwatte. Was Ariane jedoch als viel dreister empfand, war die Tatsache, dass Vivien die Sache so locker sah. Sie konnte ja nicht wissen, dass Vivien besser einschätzen konnte als sie, welche völlig anderen Gedanken Erik in ihrer Nähe kamen. Vivien deutete auf den Teddy. „Soll ich ihn in den Rucksack packen?“ Ariane funkelte sie empört an. „Hättest du das nicht schon vorhin zu Erik sagen können?!“ „Wieso? Hast du dich nicht gut mit ihm unterhalten?“, fragte Vivien unschuldig. Ariane stockte. Sie druckste etwas herum. „Doch … schon…irgendwie“ „Na also!“ „Vivien.“, knurrte Ariane. „Weißt du nicht mehr?“, fragte Vivien. Nein, Ariane wusste nicht mehr. „Als du Erik zum ersten Mal begegnet bist, dachtest du noch, dass ihr niemals Freunde werdet.“, erinnerte Vivien. Wenn Ariane daran zurückdachte, war es komisch, zumal sie heute schon zum zweiten Mal daran erinnert wurde. „Da hast du wohl Recht.“ Sie lächelte und wurde wieder ernst. „Aber wenn du mich noch einmal absichtlich mit ihm alleine lässt, dann …“ Ariane fiel nichts ein. Ihre Fähigkeit, Kräfte neutralisieren zu können, eignete sich nicht wirklich um jemandem zu drohen. In solchen Momenten hätte sie lieber jemanden schrumpfen lassen können oder Juckreiz hervorrufen oder Stifte immer dann leer sein lassen, wenn man ganz dringend etwas zum Schreiben brauchte. „Okay.“, sagte Vivien leichthin. „Ich lasse dich nicht mehr mit ihm alleine.“ Leicht skeptisch sah Ariane sie an. „Ich meinte, dass du solche Situationen nicht extra einfädeln sollst.“ Freudig strahlte Vivien sie an. „Du willst also schon mit ihm alleine sein?“ „Nein!“, fuhr Ariane sie an. Vivien zuckte mit den Achseln. „War ja nur ne Frage.“ Kapitel 63: Ablenkungsmanöver ----------------------------- Ablenkungsmanöver „Den Menschen vor sich selbst zu beschützen, ist ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Ziel.“ (Karl Talnop) Während die Beschützer ihre wertvolle Zeit mit Achterbahnfahren beziehungsweise einem Pläuschchen verbracht hatten, war Ewigkeit vollstens auf ihre lebenswichtige Aufgabe fixiert. „Was ist das? Was ist das?“, schrie sie Kai und Ellen in die Ohren, als sie die Süßigkeitenstände mit zahlreichem bunten Irgendwas entdeckte, und der süße Duft von gebratenen Mandeln und Magenbrot in ihr Näschen stieg, drehte sich in die andere Richtung und schrie abermals „Was ist das? Was ist das?!“ und deutete dieses Mal auf eine kleine Bahn, die im Kreis herumfuhr und nur für Kinder bis zu einer gewissen Größe zugänglich war. Die Bahn bestand aus mehreren Fahrzeugen nachempfundenen Sitzen, die aneinander hingen und durch einen Tunnel fuhren. Doch noch ehe Viviens Geschwister auf Ewigkeits Fragen antworten konnten, hatte die Kleine schon wieder etwas Neues entdeckt und schwirrte von einer Attraktion zur nächsten. Erst als sie in ihrem Vorwitz die Luftballons, die an der hinteren Wand in einem der Wägen aufgehängt waren, näher begutachten wollte und dabei fast von spitzen Pfeilen aufgespießt wurde, die ein paar Menschen – sie waren ganz gewiss von Schatthen besessen! – nach ihr warfen, schoss sie zurück zu Ellen und Kai und versteckte sich in Ellens sonnenblonden Haaren. Die beiden Kinder lachten. Ihre Mutter war derweil damit beschäftigt, Socken und andere unwichtige Utensilien einzukaufen, anstatt ihr Geld für etwas wirklich Sinnvolles auszugeben, wo es hier doch genug Spielzeugstände gab. Glücklicherweise hatte Kai, der ja schon ganze sieben Jahre alt war, die Erlaubnis ausgehandelt, sich mit seiner Schwester zusammen bis zum nächsten Süßigkeitenstand von ihrer Mutter zu entfernen, gerade so weit, dass diese sie noch sehen konnte und sich Kai und Ellen von ihrem Taschengeld etwas auch ohne die explizite Erlaubnis heraussuchen konnten. „Habt ihr schon irgendwelche Schatthen entdeckt?“, fragte Ewigkeit, immer noch in Ellens Haaren versteckt. Sie hatte Ellen und Kai kurzerhand zu ihren Hilfssheriffs ernannt auf der Suche nach den Feinden. Dass es pädagogisch wenig wertvoll war, zwei Kindern von der Existenz von grauen Bestien in Leichenoptik zu unterrichten, hatte ihr wohl niemand erzählt, und auch Kai und Ellen schienen sich daran wenig zu stören, schließlich war ihre große Schwester ja mit der sogenannten Erlösung dieser armen Monster betraut worden. „Nein.“, sagte Kai. „Nein.“, war auch Ellens Antwort. „In Ordnung.“ Ewigkeit verließ das Dickicht von Ellens blondem Haarschopf. „Sobald ihr etwas Verdächtiges seht, ruft ihr mich. Ich suche weiter.“ Verwegen erhob sie sich in die Lüfte, nickte den beiden verschwörerisch zu und flog davon. Sie schwebte weiter zwischen verschiedenen Attraktionen hindurch, ehe ihr einfiel, dass die Beschützer sie ja nicht entdecken sollten. Das hieß: Sie musste in Deckung gehen! Von einer Ecke zur nächsten schlüpfte sie, sich nach links und rechts umblickend und huschte weiter. Rechts kam sie an einem Kinderkarussell vorbei. Verwundert beobachtete sie die Menschenkinder, die sich zu einer lustigen Musik auf verschiedenen Tierfiguren und künstlichen Fahrzeugen im Kreis drehten. Sofort war Ewigkeits Vorsatz vergessen. Freudig flitzte sie zu einem überdimensionalen Schmetterling und löste mit ihrer Anwesenheit laute Begeisterung bei den mitfahrenden Kindern aus. Wenig erfreut darüber, dass eines der Kinder nach ihr schnappen wollte und daraufhin auch weitere auf diese grausame Idee kamen, ergriff Ewigkeit schnurstracks die Flucht. Diese Kinder mussten unter dem Bann der Feinde stehen! Sie musste sie schnellstens ausfindig machen, bevor noch andere Menschen ihrem unsichtbaren Einfluss erlagen. Erik ging durch die Reihe der Stände. Mit Argusaugen sah er sich um. Er suchte einen Stand, an dem sie zuvor vorbeigekommen waren. Einer mit bedruckten T-Shirts. Vielleicht in der Ecke der Geisterbahn im Westen. Er bog nach rechts, kam am Kettenkarussell vorbei und konnte von hier aus vorne rechts die Geisterbahn erkennen. Links davon, zwei Stände weiter, befand sich tatsächlich der gewünschte Stand neben einem Imbiss. Ewigkeit hörte das Schreien der Fahrgäste einer Höhenattraktion, sodass sie geschockt um sich blickte, um die Ursache ausfindig zu machen. Sie flog um das Fahrwerk herum, betrachtete dessen Rückseite und fand – nichts. Aber sicher kam sie den Schatthen näher! Ihr Einfluss auf diesem Rummelplatz war unverkennbar! Plötzlich horchte Ewigkeit auf und starrte auf die Rückseite der Geisterbahn. Schreckliche Geräusche glaubte sie aus dessen Inneren hören zu können und erschauderte. Stocksteif stand sie in der Luft und rang mit sich selbst. Sie ballte die kleinen Hände zu Fäusten und fasste sich ein Herz. Zielstrebig hielt sie auf die Geisterbahn zu. Mit seinem Einkauf in einer weißen Plastiktüte wollte Erik den Weg zurück zu den anderen einschlagen. Das Gedudel aus allen Richtungen und kreischende Stimmen drangen an sein Ohr, dann rissen sie jäh ab. Erik schrie innerlich auf. Ein qualvoller Schmerz schoss durch seinen linken Oberarm wie ein elektrischer Schlag. Fast wäre er zu Boden gegangen. Stattdessen war es nur seine Tüte, die im Staub landete. Vor Schmerz war er für eine Sekunde blind. Dann ebbte die Emotion ab. Sein Augenlicht und sein Hörsinn kehrten zurück. Automatisch wandte er den Blick nach links. Aus dem Eingang der Geisterbahn gafften ihn die grausigen Fratzen künstlicher Monster an. Für einen Moment fürchtete er, dass etwas anderes dahinter lauerte. Etwas, das diesen Schmerz ausgelöst hatte. War er jetzt wirklich am Verrücktwerden? Kurz schnappte er nach Atem, um sich zu beruhigen, dann richtete er seinen Blick auf die Tüte auf dem Boden. Mit einem Mal war sein Gesichtsausdruck wieder fest. Zu fest! Unbändiger Zorn loderte in seinen Augen auf. Mit tödlicher Miene packte er die Tüte und lief weiter. Dass auch hinter der Geisterbahn etwas zu Boden gegangen war, ahnte er nicht. Vitali ließ sich auf die Bank fallen. „Mann, bis der wiederkommt, hätten wir schon zweimal fahren können.“, maulte er. Entgegen Eriks Vorschlag hatten sie sich nicht gleich in der Schlange angestellt, sondern bei der Bank gewartet, zumindest die Fahrchips hatte Vivien bereits gekauft. „Vielleicht sollten wir uns wirklich schon anstellen.“, sagte schließlich Ariane. Als habe er nur auf diesen Satz gewartet, kam Erik weiter hinten um die Ecke gebogen, und er sah nicht gut aus. Nicht gut für jemanden, der sich ihm widersetzen wollte. „Hey!“, rief Vitali ihm unbekümmert entgegen und stand von der Bank auf. Er schien der einzige zu sein, der Eriks Wut nicht sofort erkannt hatte, dabei sprang diese einem wahrhaft ins Auge. Mit festen Schritten kam Erik auf die fünf zu und seine gesamte Haltung machte keinen Hehl daraus, dass er Schreckliches im Sinn hatte. Geistesgegenwärtig packte Vivien Justin und Ariane und riss beide schnellstmöglich in die entgegengesetzte Richtung mit sich fort. Erstaunlicherweise zogen Ariane und Justin direkt mit, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was Vivien damit bezweckte. Erik hätte ihnen nicht folgen können, ohne einen gehörigen Sprint hinzulegen – was ihm durchaus zuzutrauen war – doch der Logik nach würde er sich zunächst auf die beiden Zurückgebliebenen stürzen. Serena und Vitali starrten den drei Flüchtenden völlig verdattert hinterher, hatten aber nicht die Gelegenheit zu reagieren. Erik hatte sie erreicht. Vivien, Ariane und Justin suchten Schutz in einer Seitennische. Erik war ihnen nicht gefolgt. „Was jetzt?“, wandte Ariane ein. „Wir warten.“, verkündete Vivien. Justin und Ariane schauten entgeistert. Trotz des Wissens, dass es für diese Erkenntnis reichlich spät war, wandte Ariane ein: „Wir können Serena und Vitali doch nicht einfach alleine lassen.“ Auch Justin plagte das schlechte Gewissen. Sie hatten die beiden dem Löwen zum Fraß vorgeworfen. Vivien jedoch kicherte vergnügt und eröffnete strahlend: „Die beiden sind unsere Geheimwaffe!“ Was auch immer das bedeuten sollte… Eriks Augen spießten die beiden Übriggebliebenen auf. Seine Stimme schien seinem Nachnamen gerecht werden zu wollen. „Wo wollen die hin?“, donnerte er bedrohlich. Wie aus der Pistole geschossen antworteten Vitali und Serena zeitgleich – leider nicht dasselbe. „Zur Toilette.“ – „Was essen.“ Die Blicke der beiden schnellten zueinander und wieder nach vorn. „Sie wollten zur Toilette und dann was essen.“, entschied Vitali dümmlich grinsend. Serena gaffte ihn ungläubig an. Sie wandte sich wieder an Erik. „Die Mädchen wollten auf die Toilette und Justin wollte was essen.“ „Und wieso wollte nicht Justin auf die Toilette und die Mädchen was essen?“, hielt Vitali entgegen. „Darum!“ „Ich glaube aber, dass Justin auf die Toilette musste.“, beharrte er. „Ja, weil du nie zuhörst!“, keifte Serena. „Du hörst nicht zu.“, gab Vitali zurück. „Du hörst nicht zu!“ „Nein, du!“ „Du!“ Bei ihrem schnellen Wortwechsel kam Erik nicht einmal mehr dazu, irgendetwas einzuwerfen. Als würden die beiden ihn ignorieren. Serena schrie gerade: „Du hörst nie zu! Nicht im Unterricht und auch sonst nicht!“ „Ach ja?!“ „Ja!“ „Egal!!“, brüllte Erik dazwischen. Serena und Vitali gafften ihn bloß an, nicht beeindruckt, sondern wie zwei streitende Kinder, die der vollen Überzeugung waren, jede Berechtigung zum Streit zu haben, die es nur geben konnte. Wie sollte man mit so was arbeiten?! „Okay.“, sagte Erik gefasst. „Ich will von euch wissen, was hier gespielt wird.“ Serena und Vitali gafften ihn an. „Die Wunde. Secret. Und dieses Buch, das nirgends zu finden ist.“, wurde er konkreter. Serena und Vitali gafften ihn an. Wieso kam er sich hier eigentlich wie der Idiot vor??!! „Raus mit der Sprache!“, forderte Erik in seiner Machtlosigkeit umso lauter. Serena sah Vitali an, dieser zuckte bloß mit den Schultern. Erik war kurz davor zu explodieren und hatte nichts, woran er seine Wut auslassen konnte! Wo war Ariane?! Sie zuckte wenigstens schön zusammen und schaute verstört, wenn er ihr solche Fragen stellte! „Fahren wir jetzt endlich Achterbahn?“, war stattdessen Vitalis Reaktion, woraufhin Serena ihm eine Klaps gegen den Hinterkopf gab. „Hey, das ist gesundheitsschädlich!“ „Bei dir schadet das nichts mehr.“ Und wieder ging es mit einem neuerlichen Streit weiter. Erik war in der Hölle gelandet. Vivien sah auf ihre Armbanduhr. „So. Wir können zurückgehen.“ Auch Justin kontrollierte die Uhrzeit. Sie waren gerade mal fünf Minuten hier gestanden, schweigend, während sich Ariane und er darüber den Kopf zerbrochen hatten, was mit ihrer Geheimwaffe gemeint war. „Sie müssten ihn jetzt völlig demotiviert haben.“, setzte Vivien grinsend fort. Ariane und Justin tauschten fragende Blicke aus. Keiner von ihnen wurde aus Viviens Worten schlau. Ariane war alles andere als zuversichtlich. „Erik wird stinksauer sein, dass wir einfach weggelaufen sind.“ Leichte Sorgenfalten erschienen zwischen ihren Augenbrauen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was Erik mit ihnen anstellen würde! Augenblicklich hatte sie das Bild von Erik vor Augen, in einem langen weißen Kittel mit einer Schutzbrille, wie man sie bei Chemieexperimenten trug, in den Händen zwei Reagenzgläser mit grellfarbigem Inhalt und vor ihm – auf eine riesige Platte gespannt – sie fünf, verzweifelt sich zu befreien versuchend, während Blitze am Himmel durch die geöffnete Decke des Laboratoriums zuckten und sich mit Eriks wahnsinnigem Lachen mischten. Aaaaah!!!! Vivien wischte den Einwand mit einer lockeren Handbewegung hinfort. „Ach was. Serena und Vitali haben sich sicher etwas einfallen lassen.“ „Aber wir wissen nicht was!“, erwiderte Ariane. Sherlock Vivien kombinierte: „Sie hatten nicht viel Zeit zum Nachdenken, also werden sie auf die Grundbedürfnisse zurückgegriffen haben. Toilette oder Essen oder beides.“ Arianes Stimme klang immer verzweifelter. „Und wenn nicht?“ Vivien sah sie überrascht an. Sie deutete auf Justin. „Also wenn ich etwas weiß, das Justin gerne wissen möchte. Wer ist dann in der stärkeren Position?“ Ariane zog ein fragendes Gesicht. „Du.“, sagte sie ohne zu Zögern. „Du hast das Angebot und er die Nachfrage.“, spann sie weiter. „Aber wenn er es nicht wissen wollte, dann hättest du umsonst dieses Angebot, wodurch er wieder in der stärkeren Rolle wäre, was ein gegenseitige Abhängigkeit nahelegt.“ Vivien sah etwas unzufrieden aus. Ariane dachte eindeutig zu weit. „Ja, schon, wenn ich wollte, dass er es weiß. Aber das will ich ja nicht.“, sagte sie. Justin klinkte sich ein. „Erik will Informationen von dir, aber er ist auf dich angewiesen, um sie zu bekommen.“ Ariane wirkte unerwartet verschüchtert. „Aber es macht mir Angst, wenn er etwas von mir wissen will.“ Ernst sah Justin sie an. „Warum?“ Weil er mich einmal fast geschlagen hätte, wollte Ariane jetzt nicht antworten. Außerdem war es damals nicht um Secret gegangen. Andererseits war das wohl keine Entschuldigung. Aus der Skepsis auf Justins Gesicht wurde Besorgnis. Seine Stimme klang sanft. „Denkst du, er würde dir etwas antun?“ Ariane begegnete Justins Blick verstört und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden und sie nichts dagegen unternehmen konnte. Sie wollte das vor den anderen nicht zugeben. Niemals! Aber als Erik sie so angesehen hatte – sie hatte solche Angst gehabt. Ariane hielt sich den Mund zu, um ein Schluchzen zu unterdrücken, doch sie schaffte es nicht. „Ich weiß nicht.“, presste sie hervor. „Ich weiß nicht.“ Sie hätte es so gerne gewusst. Wieso sagte sie so etwas?! Erik war doch niemand, der einem etwas antat! Aber… Wieder schoss ihr sein damaliger Gesichtsausdruck durch den Kopf, die gewaltbereiten Augen. Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, wie um damit die Gedanken fortwischen zu können. „Er hat Angst.“, drang es aus ihrem Mund. „Schreckliche Angst.“ Sie schlang ihre Arme um sich, wie um sich selbst Halt zu geben. Eriks hilfesuchende Umarmung. Er hatte gezittert. Arianes Blick fuhr wieder auf. „Was, wenn ich ihm nicht helfen kann?!“ Ihr Gesicht zeugte von innerer Qual. Justin legte ihr ganz sachte die Hand auf die Schulter. „Das ist auch nicht deine Aufgabe.“ Seine Stimme war so weich und tröstend wie Honig. Ariane sah ihn kurz wortlos an, dann ließ sie den Kopf leicht sinken. „Ich will ihn beschützen.“ „Ich weiß.“ Seine Stimme legte sich wie heilender Balsam auf ihre aufgepeitschte Seele. „Aber es hilft Erik nicht, wenn es dir schlecht geht.“ Seine Worte schienen auf magische Weise die Schwere von ihren Schultern zu nehmen. „Wir können niemand anderen beschützen. Nur uns selbst.“ Empörung schoss in Ariane hoch. Der Gedanke, dass ihr Beschützer-Dasein völlig sinnlos war, wenn sie nicht schützen könnte, was ihr wichtig war, nahm für einen Augenblick ihr ganzes Wesen ein. Kurz wollte sie Justin anschreien, ihm lauthals widersprechen, aber… sein Blick war so voller Mitgefühl und Verständnis – als spräche er eine tiefe Wahrheit aus – dass die beruhigende Stille jenseits seiner Augen auf sie überging. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und etwas Aufforderndes blitzte darin auf. „Bist du bereit, das zu tun?“ Ariane nickte entschieden, als hätte er dadurch ihren Kampfgeist wiedererweckt. Sie lächelte mit neuer Energie. „Ich besorge uns ein Alibi!“ Mit diesen Worten lief sie los, um ihre Tarnung zu untermauern. Justin sah Ariane lächelnd hinterher, dann hörte er Vivien neben sich. „Woher wusstest du, was du sagen musst?“ Justin streifte sie mit den Augen. Ein melancholisches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Als ich zehn war, wurde meine Mutter schwer krank. Was ich zu Ariane gesagt habe, hat mein Vater damals zu mir gesagt.“ Er sah zu Boden, als das Gefühl der Erinnerung in ihm erwachte, hilfos zu sein und schuldig, weil er nichts tun konnte. Im gleichen Moment spürte er, wie Vivien seine Hand ergriff. Überrascht starrte er sie an. Daraufhin legte sie auch noch ihre zweite Hand auf die eine, die sie bereits umschlossen hielt, und schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. „Das ist schon lange her.“, sagte er hastig, um sie zu beruhigen, und wich verlegen ihrem Blick aus. „Du bist wundervoll.“, sagte sie in ungewohnt ruhigem, ja liebevollem Ton. Die Worte und ihre Stimmlage ließen wieder Blut in seinen Kopf schießen. Für Momente herrschte Schweigen. Justin wagte es nicht, in ihre Richtung zu sehen, noch immer hielt sie seine Hand. Dann erkannte er, dass Ariane zurückkam und wollte Vivien seine Hand entziehen, doch sie ließ ihn nicht los. Hilflos starrte er sie an, woraufhin Vivien geradezu enttäuscht von ihm abließ, als hätte sie lieber weiter mit ihm Händchen gehalten. Er durfte darüber nicht nachdenken, seinem unruhigen Herzschlag nicht mehr Aufmerksamkeit widmen, stattdessen konzentrierte er sich auf Ariane, die sie gerade erreichte. Stolz präsentierte Ariane ihre Errungenschaft. Sie hatte sich für ein vegetarisches Pizzastück als Alibi entschieden und lächelte so überglücklich, als sei dieses Stück Fast Food der rettende Erlöser, der sie aus den Klauen des Zweifels befreit hatte. Im gleichen Moment erklang hinter Ariane eine unsagbar entnervte Männerstimme. „Hier seid ihr.“ Arianes Reaktion auf ihn war wohl das absolute Gegenteil von dem, was Erik erwartet hatte. Sie strahlte ihn so glückselig an, als habe sie Ewigkeiten auf diesen Augenblick gewartet. Funktionierte sein böser Blick etwa nicht mehr?! In seinem Schlepptau hatte er Serena und Vitali, die sich gerade darüber stritten, wie man Wäsche richtig zusammenlegte oder etwas ähnlich Sinnfreies. Er hatte längst aufgehört, zuzuhören, was die beiden einander an die Köpfe warfen. Und jetzt hatte er sich auf Arianes verängstigte Miene gefreut, die ihm endlich wieder das Gefühl geben sollte, ernst genommen zu werden. Und was war? Sie lächelte!!! „Warum seid ihr weggelaufen?“ Mit rauer Stimme versuchte Erik noch einmal, deutlich zu machen, dass er schlechter Laune war und man ihn besser nicht ignorierte. Ariane strahlte. Mit dem Pizzastück in den Händen sah sie aus, wie einer Pizza-Werbung entsprungen. Jetzt hätte Erik gerne einen Spiegel parat gehabt, um zu kontrollieren, ob seine Gesichtsmuskeln auch wirklich das taten, was er ihnen befahl. Denn das konnte einfach nicht die passende Reaktion darauf sein. Vivien machte ein überraschtes Gesicht. „Haben dir Serena und Vitali nicht Bescheid gegeben?“ Erik schaute sie an, als wäre das ein schlechter Scherz. In seinem Rücken konnte er Vitali und Serena hören, die sich erneut darüber stritten, wessen Aussage die verkehrtere gewesen war. „Siehst du, Ariane wollte was essen!“, triumphierte Vitali. „Du hast gesagt, die Mädchen wollten was essen!“ „Ja und? Ariane ist doch ein Mädchen!“ „Ein Mädchen! Nicht zwei Mädchen!“ „Achja? Du hast behauptet, Justin wollte was essen. Hast mal wieder nicht zugehört.“ „Wie soll ich auch zuhören, wenn du Idiot immer dazwischenquasselst!“ „Dann hör mir halt nicht zu.“ „Tu ich nicht!“ „Ja klar.“ „Halt die Klappe!“ „Halt du doch die Klappe.“ „Halt du die Klappe!“ „Du!“ „Du!“ „Du!“ Erik war einem Nervenzusammenbruch nahe. „Sie haben mal wieder nicht zugehört.“, merkte Ariane an. „Weil sie immer in ihrer eigenen Welt sind.“, fügte Justin hinzu. „Die Liebe!“, frohlockte Vivien. „Wir sind nicht verliebt!!!“, schrie Serena. Vivien strahlte die anderen an. „Das hören sie komischerweise immer.“ Erik war mittlerweile nur noch entnervt. Jeglicher Wunsch, Fragen jedweder Art zu stellen, war ihm restlos vergangen. Hauptsache, er hatte endlich Serena und Vitali vom Hals! Raaah, wieso hatten die keinen Ausschaltknopf! Ariane übergab ihr Pizzastück an Justin und trat zu Erik, als habe sein ungewohnt expressionistisches Mienenspiel sie beunruhigt. „Alles okay?“ Er schaute sie säuerlich an und brachte sie damit zum Innehalten, während er zum wiederholten Male seine Gedanken umwälzte. Der Schmerz in seinem Arm, den er eben empfunden hatte, das Wegrennen der anderen und nun wieder diese völlige Alltäglichkeit. Er begriff nicht mehr, was echt war und was seiner Fantasie entsprang. Bildete er sich die Parallelen zwischen diesem Schmerz und dem Verhalten der anderen nur ein? Er konnte es wirklich nicht mehr sagen, wollte nicht mehr darüber nachdenken. Er hasste jeden Gedanken daran, wollte jeden einzelnen verdrängen, zerquetschen, ein für alle Mal ausrotten, um für immer von diesem Klärschlamm an stinkenden Überlegungen verschont zu bleiben! Jede Sekunde, die er daran verschwendete, machte ihn wahnsinnig und ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. War er wirklich verrückt geworden? Er wollte nicht mehr darüber nachgrübeln, schüttelte seine Skrupel ab und bemühte sich, endlich wieder in der Realität anzukommen. Er stöhnte in restloser Entnervtheit und überwand sich dazu, Normalität anzunehmen. Ariane hatte Eriks Gesichtszüge während seines Gedankengangs verfolgt, war daraus aber nicht schlau geworden. Nun gewahrte sie eine Veränderung, denn mit einem Mal schien er aus seiner Gedankenstarre zu erwachen. Noch immer mit Furchen auf der Stirn streckte er plötzlich seine linke Hand aus und hielt ihr eine weiße Plastiktüte entgegen, als wolle er ihr mit dem Inhalt drohen. „Für dich.“, knurrte er. Arianes Augenbrauen zuckten für einen Moment – unsicher, ob sie ihre Position ändern und aus dem besorgt skeptischen Gesichtsausdruck einen anderen machen sollten. Schließlich wurde ihre Mimik gefasst und sie nahm die Tüte entgegen, hochkonzentriert und bereit, mit allen Schrecknissen umzugehen, die ihr aus der Tüte entgegenkommen wollten. Mit bedachter Bewegung zog sie etwas Rosafarbenes aus der Tüte hervor. Verwundert faltete sie es auf, um zu erkennen, dass es sich dabei um ein T-Shirt handelte. Gerade wollte sie protestieren, als sie den Aufdruck genauer betrachtete. Ihre Augen wurden groß. Auf der Vorderseite waren bedeutende Daten der Weltgeschichte von 1700 bis 1900, auf der Rückseite von 1900 bis heute abgedruckt. Ein unwillkürliches Strahlen nahm ihre Gesichtszüge ein. Sie hob den Blick und … – ihre Mundwinkel senkten sich abrupt wieder. „Es ist rosa.“, sagte sie so distanziert und desinteressiert sie nur konnte. „Ich wollte mit Edding noch groß Geschichts-Barbie draufschreiben.“, meinte Erik, immer noch etwas übellaunig. Ariane wollte ihn böse anschauen, doch sie freute sich zu sehr, um es noch länger zu verbergen. Sie lächelte Erik so überglücklich an, dass sie, ohne es zu wissen, jeden seiner Gedanken an mysteriöse Schmerzen endlich vergessen machte. Kapitel 64: Telefonterror ------------------------- Telefonterror „Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“ (Terry Pratchett, britischer Autor) „Du musst vor 18 Uhr zu Hause sein, weil du den Tisch decken musst?“, fragte Erik zweiflerisch. „Menschen, die nicht von Goldtellern essen, müssen so was.“, gab Vitali patzig zurück. „Ich esse nicht von Goldtellern.“, meinte Erik geradezu beleidigt. „Aber du hast sicher noch nie den Tisch gedeckt.“ Erik schwieg kurz. „Ich wusste nicht, dass das so eine enorm lebenswichtige Erfahrung ist.“ „Wichtig genug, dass meine Ma mir den Kopf abreißt, wenn ich es nicht tue.“ Justin klärte Erik auf. „In Vitalis Familie hat jede Woche ein anderer Tischdienst.“ Erik hörte interessiert zu, als würde Justin von den Gebräuchen der Eingeborenen auf den Fidschi-Inseln erzählen. „Aha.“ Ariane klinkte sich ein. „Du wolltest noch vor 18 Uhr zu Hause sein?“ „Jaaa?“, antwortete Vitali, als verstünde er den Einwand nicht. „Dann solltest du dich aber beeilen.“, sagte Ariane. Vitali sah auf die Uhr. „Shit!“ So schnell er konnte, rannte er los. Die anderen riefen ihm noch ein Tschüss hinterher, auf das er bloß noch mit einer Handbewegung antwortete. Wenn er Glück hatte und jetzt gleich der Bus in seine Richtung fuhr, konnte er es gerade noch rechtzeitig nach Hause schaffen! Vitali spurtete die Strecke zur Bushaltestelle und wäre dabei fast mit ein paar Leuten zusammengestoßen, die auf dem Weg zum Jahrmarkt waren. „Sorry!“, rief er, ohne anzuhalten, und war schon wieder weiter. Außer Puste erreichte er endlich die Haltestation und stützte sich schnaufend auf seine Knie, bis er dazu fähig war, auf dem Fahrplan nachzusehen. Ha! Er war eben doch ein Genie! Alles perfekt getimt! Selbstzufrieden grinsend stellte er sich zwischen die anderen Wartenden. Jetzt musste nur noch der Bus – Vitali ließ einen Schrei los und riss die Hände an den Kopf. Der schrille Ton jagte unbarmherzig durch seinen Schädel. Das Alarmsignal! Gehetzt fuhr sein Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung. Die Umstehenden wichen automatisch zurück und betrachteten ihn wie einen gemeingefährlichen Verbrecher. Vitalis Atem ging stoßweise. Wenn die Schatthen jetzt angriffen, würde er vielleicht sich verteidigen können, aber niemals all die anderen Leute. Er suchte den Boden nach ungewöhnlichen Schatten ab. Aber genauso gut konnten sich die Bestien in den Schatten der Umstehenden verstecken. Oder waren sie in einem der umliegenden Läden versteckt? Vielleicht hatten sie dort die Ladenbesitzer überwältigt und warteten auf den Moment, um herauszustürmen. Er musste zurück zu den anderen rennen! Das würde er niemals schaffen. Vorher hätten sie sich auf ihn gestürzt. Der Bus! Das große Fahrzeug kam gerade angefahren, entsetzlich langsam! Als sich die Türen endlich öffneten, drängte Vitali Hals über Kopf in das Businnere, als ginge es um sein Leben, was rein technisch gesehen auch stimmte. Der Fahrer wies ihn darauf hin, dass er seine Fahrkarte zeigen musste. Kaum noch fähig, sich zu konzentrieren, kramte Vitali die Schülerfahrkarte hervor und flüchtete in die Busmitte. Mit zitternden Knien blieb er stehen. Hinsetzen hätte eine etwaige Flucht verlangsamt. Sollte er näher bei den Türen stehen? Aber wenn sie durch die Türen kamen, hätte er keine Zeit mehr, seine Kräfte einzusetzen! Justin und die anderen. Er brauchte sie! Aber was sollte er tun? Sie wären niemals rechtzeitig hier! Und er wollte nicht riskieren in der Minute, in der er auf sein Handy starrte, von den Schatthen überrascht zu werden. Mit vor Aufregung wirren Gedanken wartete Vitali verzweifelt darauf, dass sich die Türen schlossen und der Bus endlich losfuhr! Noch nie war es ihm so lange vorgekommen. Verdammt! Ewigkeit! Ewigkeit würde sich herteleportieren können! Aber was würde das nützen?!! Andererseits, er musste die anderen informieren! Vielleicht waren auch sie in Gefahr!!! In Gedanken schrie er hektisch Ewigkeits Namen, aber nichts geschah! Dann endlich setzte sich der Bus in Bewegung. Vitali versuchte, sich zu beruhigen. Es gelang ihm nicht. Der Bus brauchte ewig! Furchtbar langsam tuckerte er voran. Vitali starrte aus den Fenstern. Sie würden neben dem Bus herjagen. Die dunkelgrauen Bestien. Mit ihren muskulösen, schnellen Bewegungen geborene Räuber. Sie würden zum Sprung ansetzen, durch die Fenster preschen. Es würde Scherben regnen, schrille Schreie, dann würden sie auf ihn springen, ihre stinkenden Mäuler mit den rasiermesserscharfen Zähnen weit aufgerissen, um ihn zu töten. Er musste ruhig bleiben – äh, werden. Er würde einfach sein Wappen rufen, wenn es soweit war. Das Wappen würde bereits einige der Schatthen auflösen und dann – Vitali fingerte nach seinem Handy, ohne die Fenster aus den Augen zu lassen. Warum erkannte dieses dumme Handy nie seinen Fingerabdruck?! Wozu hatte das Ding einen Scanner, wenn er nicht funktionierte?! Er ging dazu über, stattdessen die Pin einzugeben. Währenddessen lugte er immer wieder aus dem Fenster und schrie in Gedanken wieder und wieder nach Ewigkeit, aber das Schmetterlingsmädchen schien ihn zu ignorieren. Von wegen: ‚Wenn ihr an mich denkt, bin ich sofort da!‘ Unzuverlässige Heldenhelfer! Vitalis Augen zuckten von den Fenstern immer wieder auf den Handybildschirm und zurück. Er musste schnell genug sein. Aus Viviens Rucksack ertönte die Titelmelodie von Superman. „Das muss Vitali sein.“, erklärte sie fröhlich, als Justin sie verwundert ansah. Sie hatte gerade erst das Handy wieder weg gesteckt, nachdem Erik ihr wegen Bruno eine Nachricht geschrieben hatte. Am Nachmittag, nachdem Erik Ariane das T-Shirt übergeben hatte, hatte er sich direkt nach dem Verbleib von Bruno erkundigt. Ariane war verwirrt gewesen, aber Vivien hatte sofort verstanden, dass er dem Teddy einen Namen gegeben hatte. Aus praktischen Gründen hatte Erik ihr den Teddy für die Zeit auf dem Jahrmarkt überlassen, doch beim Verabschieden hatten sie beide nicht mehr daran gedacht. Daher hatte er ihr eine Nachricht geschrieben, sie solle Bruno am nächsten Tag in die Schule mitbringen. Vielleicht war es unter seiner Würde gewesen, ihr wegen dem Teddy nachzulaufen. Oder vielleicht war er davon ausgegangen, dass Serena und Ariane nicht auf ihn warten würden, wenn er nochmals zurückging. Auf jeden Fall hatte die Bitte, ihm den Teddy in der Schule zu übergeben, deutliche Erheiterung in Vivien ausgelöst. Es hatte sie daran erinnert, wie anders Vitali auf ihre Drohung reagiert hatte, ihm das Kinderfoto von ihm in der Schule zurückzugeben. Sie musste grinsen und nahm Vitalis Anruf entgegen. „Hallo!“, rief sie ausgelassen. Justin hörte nicht, was Vitali sagte, aber es konnte nichts Gutes sein. Das freudige Lächeln Viviens wandelte sich augenblicklich zu Besorgnis und ehe Justin registriert hatte, was vor sich ging, hatte sie ihn am Arm gepackt und zog ihn näher zu sich. Vivien neigte den Kopf, sodass er den seinen an das Handy halten konnte, um das Gesagte mitzuhören. Im ersten Moment war diese Nähe zu ihrem Gesicht das einzige, woran er denken konnte, ehe er verstand, was Vitali da gerade sagte. „Wo bist du gerade?“, schrie er umgehend, sodass sich Vivien reflexartig von ihm weg lehnte. „Im Bus!“, kam Vitalis Antwort. Zeitgleich stellte Vivien das Handy auf Lautsprecher um. Justin wandte sich an Vivien. „Wir müssen Serena und Ariane alarmieren.“ „Dann nimm du dein -“, Vivien brach ab, sie vergaß jedes Mal, dass Justin kein Handy besaß. Sie wandte sich an das Mobiltelefon. „Vitali, ruf Ewigkeit.“ „Das mach ich schon die ganze Zeit!“, schimpfte er lauthals. Vivien und Justin tauschten einen kurzen Blick. „Selbst wenn wir zu Vitali nach Hause rennen, brauchen wir mindestens zwanzig Minuten.“, sagte Justin. „Und wenn an der Bushaltestelle Schatthen sind, sollten wir dort nicht hin.“ Vivien nickte. „Vitali, bleib im Bus, da bist du am sichersten.“, antwortete sie dem Handy. „Warte zwei Minuten und dann ruf Serena an. Wir verständigen Ariane.“ Vitali klang alles andere als begeistert. „In zwei Minuten bin ich vielleicht –“, Vivien legte auf, bevor Vitali den Satz beenden konnte. Sogleich hatte sie Ariane mit ihrer Kurzwahl ausgewählt. Das Handyklingeln riss Ariane aus ihrem Gespräch mit Serena und Erik. Sie wunderte sich, als sie auf dem Display Viviens Namen angezeigt bekam. „Hallo?“ „Du musst Erik ablenken.“, flüsterte Viviens Stimme vom anderen Hörer. Ariane verstand nur Bahnhof. „Was?“ „Gleich wird Vitali bei Serena anrufen und euch alles erklären. Auf eurem Weg ist eine Bushaltestelle. Fahrt zu Vitali nach Hause –“ Plötzlich wurde die Verbindung unterbrochen. „Vivien?“ Verwundert sah Ariane auf das Display und verstand überhaupt nichts mehr. „Mist!“, rief Vivien. „Was ist?“, wollte Justin erschrocken wissen. „Mein Akku ist alle. Wir müssen schnell zu mir nach Hause!“ Mit diesen Worten ergriff sie Justins Hand und rannte los. „Wo ist die nächste Bushaltestelle?“, fragte Ariane. „Wir sind gerade an einer vorbeigelaufen. In der Rohnstraße.“, antwortete Erik. „Ist was passiert?“ „Ähm, nein. Nicht wirklich. Es war Vivien.“ „Was ist denn?“, hakte Erik nach. „Ähm, wahrscheinlich hat sie was bei Vitali vergessen und wir sollen es abholen, Serena und ich.“, druckste sie herum. Serena brauste auf. „Was? Das soll sie gefälligst selbst machen! Wann war sie überhaupt bei ihm?“ Ariane warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Allerdings schien Erik diesen schneller deuten zu können als Serena. „Ich begleite euch.“, verkündete er. Fast wäre Ariane ein entsetztes Nein herausgerutscht. Sie musste sich beherrschen. Seit den letzten Wortgefechten hatte sie sich viele Gedanken über eine geeignete Strategie gemacht, wie man mit Erik umgehen musste. Sie wusste nicht, ob es klappen würde, es war riskant, aber schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr werden. Außerdem hatte Vivien gehetzt geklungen, sie hatte also nicht viel Zeit. „Oh, das wäre voll lieb von dir!“, sagte Ariane so überzeugend wie möglich, auch wenn sie wusste, dass ihr Schauspieltalent zu wünschen übrig ließ. „Wenn du zu Vitali fährst, dann können Serena und ich ja nach Hause gehen.“ Mit seiner abschätzenden Miene erinnerte Erik sie an einen gewieften Ermittler, dann war der Anflug eines Grinsens auf seinen Lippen zu erkennen. „Ich weiß leider nicht, wo Vitali wohnt, eine von euch müsste also mitfahren.“ Ariane stockte und sog die Luft ein. „Das ist ganz einfach, von der Bushaltestelle aus läufst du einfach über die Straße nach links und dort die Hausnummer Sieben.“ „Wie heißt die Bushaltestelle?“ Mist! Sie erinnerte sich gerade nicht. Damals war sie mit den anderen zusammen gefahren und Vivien hatte alles koordiniert. Halt! Sie wollte doch ohnehin nicht, dass er dorthin fuhr, also konnte sie irgendetwas erfinden! – Konnte sie nicht. Er würde vielleicht wissen, dass es diese Haltestelle nicht gab oder dass sie sich an ganz anderer Stelle befand. Arianes Gedankengang wurde von einem erneuten Handyklingeln unterbrochen, diesmal aus Serenas Richtung. „Sicher meine Mutter.“, meinte Serena, zog ihr Handy hervor und staunte nicht schlecht über die Anruferinfo. „Was willst du?“, begrüßte sie Vitali so genervt es nur ging. ‚Erik ablenken!‘, schoss es Ariane durch den Kopf. Er durfte auf keinen Fall das Telefonat belauschen, was auch immer Vitali zu sagen hatte. „Ähm, Erik, weißt du, wie die Haltestellen in der Nähe des Kurparks heißen? Vielleicht fällt es mir dann wieder ein.“ „Nein, leider nicht.“ „Ähm, dann...“ Erik grinste sie an. Arianes Augenbrauen zogen sich zusammen. „Es wird dunkel, ich lasse Serena nicht alleine nach Hause gehen.“, entgegnete sie energisch. „Und es ist unnötig, dass wir alle drei extra zu Vitali fahren, nur um etwas abzuholen.“ „Wieso bringt er es nicht morgen einfach in die Schule mit?“ Ariane brauchte nicht zu antworten, Serenas aufgelöste Stimme machte es unmöglich, Erik noch länger von ihrem Telefonat abzulenken. Ihre Stimme überschlug sich fast. „Ist alles okay bei dir? – Wo bist du? – Bleib dran!“ Serena schaute entsetzt zu Ariane. „Was ist hier los?“, fragte Erik in das stumme Gespräch der beiden. „Das geht dich nichts an.“, gab Serena so patzig und abweisend von sich, dass nicht nur Erik für einen Moment baff war. Ohne Weiteres ging Serena dann über seinen Einwand hinweg und wandte sich an Ariane. „Wir gehen zu mir.“ Ariane widersprach. „Vivien hat gesagt, wir sollen zu Vitali.“ „Bist du irre?“, blaffte Serena sie an. „Hier.“ Sie hielt Ariane das Handy hin. Bevor Ariane es jedoch ergreifen konnte, hatte Erik es Serena aus der Hand genommen. „Was ist los?“, fragte er in den Hörer. „Mann! Ich hab grad echt keinen Bock auf dich!“, schimpfte Vitalis Stimme. Im selben Augenblick wurde Erik das Handy von Ariane entrissen. „Du spinnst wohl!“, schrie sie ihn an, ehe sie sich das Handy ans Ohr hielt. „Vitali?“ „Ihr müsst aufpassen. Schatthen.“, informierte Vitali sie. „Wo?“ „Keine Ahnung. Das Warnsignal kam an der Bushaltestelle.“ „Sollen wir zu dir kommen?“ „Wie denn?“, fragte Vitali. „Wir nehmen den nächsten Bus zu dir nach Hause.“ Vitali klang wenig überzeugt. „Was soll das bringen?“ Beruhigend redete Ariane auf ihn ein. „Dann bist du nicht allein.“ „Hast du eigentlich zugehört, was er gesagt hat?“, mischte sich Serena ein. Ihr Tonfall verärgerte Ariane. „Du würdest ihn lieber allein lassen?“ Serena blitzte sie böse an. Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Ja! Es hilft ihm sicher viel, wenn wir unser Leben riskieren!“ „Tolle Partnerin!“, blaffte Ariane. „Das geht dich nen Scheißdreck an!“ Serena riss ihr das Handy aus der Hand und brüllte hinein: „Ruf doch deine tolle neue Partnerin Ariane an, wenn du Hilfe brauchst!“, und legte auf. „Bist du verrückt geworden?!“, rief Ariane „Du kannst mich mal!“ Serena wirbelte herum, um zu gehen. „Du bist eine echt miese Freundin!“, schrie ihr Ariane nach. Serena reagierte nicht, sondern lief einfach weg. Erik blieb einen Augenblick lang stehen, sah kurz Ariane an und lief dann Serena hinterher. Ariane ballte ihre Hände zu Fäusten und begab sich auf den Weg zurück zur Bushaltestelle. Wenige Schritte genügten Erik, um Serena einzuholen. Ihre Stimme war zu einem Flüstern zusammengeschrumpft. „Lass mich in Ruhe…“ Erik erwiderte nichts. Er lief neben ihr, ließ ihr zwei Schritte Vorsprung. Hatte Serena solche Angst, im Dunkeln durch Entschaithal zu fahren, dass sie gleich von ‚Leben riskieren‘ sprach? Das war eindeutig übertrieben. Entschaithal war beim besten Willen keine Großstadt. Die Kriminalität hielt sich in Grenzen, zumal es erst kurz nach achtzehn Uhr war. Vielleicht hatte sie auch etwas völlig anderes gemeint. Etwas musste bei Vitali passiert sein. Doch während Ariane der Überzeugung war, man dürfe Vitali nun nicht allein lassen, war Serena anderer Meinung. Dennoch gab dieses ‚unser Leben riskieren‘ keinen Sinn. Erik hätte noch lange darüber sinniert, wäre nicht ein seltsamer Laut aus Serenas Richtung gekommen. Er lauschte und hörte, wie sie hektisch atmete, als wäre sie völlig außer sich. Er versuchte seiner Stimme einen möglichst sachten Ton zu verleihen. „Du willst zu Vitali, nicht wahr?“ Als Antwort mischten sich in das erregte Atmen japsende Laute. Erik fasste Serena bei der Schulter und drehte sie halb zu sich. „Wir gehen zu ihm.“ Kopfschüttelnd entzog sich Serena seinem Griff. „Was ist dir wichtiger: Vitali oder dein Stolz?“ „Mein Stolz.“, jammerte Serena prompt. Langsam verstand Erik, was die anderen damit meinten, dass er und Serena sich ähneln würden. Serena kam sich blöd vor. Wieso war sie so ausgetickt? Und wieso heulte sie schon wieder? Wieso konnte sie nichts anderes als ständig bloß heulen? Sie war so eine Versagerin und die anderen wären froh, wenn sie nicht zum Team gehörte. ‚Tolle Partnerin‘, tönte es in ihrem Kopf. Sie würde aus diesem ganzen Balance Defenders Schwachsinn aussteigen. Das war doch alles Blödsinn. …Oh, hätte sie doch bloß anders reagiert! „Ich kann nicht.“, flüsterte sie. „Wieso nicht?“ Serena schluckte Tränen hinunter. „Ich gehöre nicht dahin.“ „Natürlich tust du das!“, antwortete Erik bestimmt und drehte sie nun ganz zu sich, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Du bist Vitalis Freundin und du bist ihm wichtig. Wenn es ihm schlecht geht, dann braucht er dich!“ Erik und Serena nahmen im hinteren Ende des Busses Platz, sie am Fenster, er am Gang. Dann beugte sich Serena nach vorne und machte sich klein, als wolle sie sich vor jemandem verstecken. Erik sah sie nur fragend an. „Bei der nächsten Station steigt Ariane zu.“, erklärte Serena. Erik musste schmunzeln. „Sie wird sowieso sehen, dass du mit dem gleichen Bus gefahren bist, wenn du aussteigst.“ „Wir könnten ja eine Station weiter fahren und dann zurücklaufen.“, murmelte Serena. Nun lachte Erik. Serena schwieg. Er lehnte sich nach vorne, sodass er ihr in ihrer geduckten Haltung näher war. „Sie wird sich freuen, dass du mitgehst.“, sagte er beruhigend. Serena machte ein unglückseliges Gesicht. Sanft lächelte Erik. „Gut, dann bleiben wir eben in Deckung.“, verkündete er, woraufhin sie ihn mit großen Augen ansah. Er gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie nun still sein sollte, ehe ihm ein Gedanke kam. „Weißt du überhaupt, wo wir aussteigen müssen?“ Serena brauchte nicht antworten, ihr Gesicht sprach Bände. Eine Sache, in der sie und Vitali sich ähnelten, wie Erik bemerkte. Der Bus hielt und die beiden lauschten. Vielleicht würde Ariane sie ja gar nicht sehen. Schritte. Abruptes Stehenbleiben. Erik lugte auf, um zu kontrollieren, wer neben ihren Sitzplätzen stand, und sah sich einer ihn ungläubig anstarrenden Ariane gegenüber, die ihr Handy leicht von sich weg hielt, aber eindeutig noch jemanden am Apparat hatte. „Ähm, Serena.“, begann Erik. „Ich bin nicht da.“ „Wo bist du dann?“, fragte Ariane streng und hielt sich an Eriks Sitzplatz fest, als der Bus anfuhr. „Gleich zu Hause.“, kam Vitalis Stimme aus dem Lautsprecher des Handys. „Ich meinte nicht dich.“, antwortete Ariane ihm. „Wen meintest du dann?“, hörte man Vitalis Stimme. „Serena.“ „Du hast doch gerade noch gesagt, sie kommt nicht!“ Augenblicklich sprang Serena auf und schrie das Handy an. „Ich komme auch nicht, du Vollidiot!“ „Ey, hast du sie noch alle!“, brüllte Vitali zurück, der offensichtlich die volle Lautstärke von Serenas Stimme abbekommen hatte. „Du kannst mich mal!“, schimpfte Serena. „Und du kannst mich mal!“, gab Vitalis Stimme zurück. „Du kannst mich zweimal!“ „Immer eins mehr!“ Erik sah Ariane an. „Die beiden könnten auch ein bescheuertes TikTok Video sein.“ Ariane schien ihm wortlos zuzustimmen. Zusammen mit Justin stürmte Vivien in ihr Haus und direkt hoch in ihr Zimmer. Erst wollte Justin in der Diele stehen bleiben, aber Vivien zog ihn mit sich. Vor ihrer Zimmertür blieb er erneut stehen und diesmal ließ er sich nicht weiterziehen. Vivien hatte keine Zeit, eine Diskussion über Sinn und Unsinn seines Anstands zu führen, rannte selbst hinein und wurde von ihren beiden Geschwistern freudig begrüßt. Im gleichen Moment bemerkten die zwei den fremden Gast und musterten ihn mit großen Augen, sodass Justin vor Scham noch ein Stück weiter zurückwich. „Keine Zeit.“ Vivien ergriff ihr Ladekabel. „Hat Ewigkeit die Schatthen gefunden?“, fragte Kai. Vivien hielt inne. „Was?“ „Sie ist mit uns auf den Jahrmarkt, um nach Schatthen zu suchen!“, posaunte Ellen aus. „Und wo ist sie jetzt?“, wollte Vivien wissen. Ihre beiden Geschwister zuckten mit den Schultern. Mit einem Mal stand Justin neben ihr. „Wo habt ihr euch getrennt?“ Ariane starrte auf ihr Handy. Sie hatte eine wütende Frauenstimme vernommen, ehe Vitali den Anruf unterbrochen hatte. „Was war denn das?“, fragte Erik skeptisch. „Vitalis Mutter.“, brummte Serena. „Klang gruselig.“ „In echt ist sie noch schlimmer.“, meinte Serena. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Unsicher sah sie zu Erik neben sich. „Gehst du mit zu Vitali?“ Erik schien zunächst überrascht, ehe er sie sanft anlächelte. „Das kriegst du auch ohne mich hin.“ Serena errötete. Eriks Aussage von zuvor trat ihr wieder in den Sinn: dass Vitali sich freuen würde, wenn sie zu ihm kam. Ariane beobachtete die Szene in stiller Verwunderung. In den letzten Minuten war sie zig Möglichkeiten durchgegangen, wie sie Erik davon abhalten konnte, mit zu Vitali zu gehen – ohne großen Erfolg. Und nun das. Mit einem Mal tat es ihr leid, dass sie ihm insgeheim unterstellt hatte, er habe Serena nur zu diesem Zweck begleitet. Dabei hätte sie es wissen müssen. Er hatte die ganze Zeit über nicht mehr danach gefragt, was passiert war, stattdessen war er einfach stillschweigend neben Serena gesessen und hatte ihr dadurch Kraft gegeben. Erik fing ihren Blick auf und deutete mit einer leichten Aufwärtsbewegung seiner Augenbrauen die Frage nach der Bedeutung ihrer Fokussierung an. Anstatt zu antworten richtete sie ihre Augen wieder nach vorne. Ein Hip Hop Song spielte an und wurde abgewürgt, als Erik den Anruf entgegennahm. „Donner. – Hi. – Im Bus. – Was? Wie kommst du darauf? – Ich dachte, er wollte nicht… – Was hat er denn gesagt? – Gut. Dann sehen wir uns dort. Tschau.“ Mit einem Druck auf den Touchscreen seines Handys beendete er das Telefonat und sah zu Serena und Ariane. „Vivien will, dass ich mit zu Vitali gehe.“ Serenas Gesichtsausdruck war der Unglaube deutlich anzusehen. „Auf den Trick falle ich nicht noch mal rein!“, schimpfte Ariane indes und nahm Erik das Mobiltelefon ab, bevor es sich ausschaltete. Sie öffnete die Anruferliste und traute ihren Augen nicht. Dort stand wirklich Viviens Name und die korrekte Uhrzeit. Erik sah sie nur gelangweilt an. Ariane rang mit sich, sie wusste, dass sie sich ganz schön lächerlich machen konnte, aber das Risiko musste sie eingehen. Sie zückte ihr Handy und wählte Viviens Nummer, schließlich war Erik durchaus zuzutrauen, dass er den ganzen Inhalt des Gesprächs bloß erfunden hatte. „Vivien, was hast du gerade – Ja bin ich. – Was? Aber …“ Ariane schwieg. „Hör zu, Ewigkeit ist verschwunden. Sie war auf dem Jahrmarkt, um nach Schatthen zu suchen, und jetzt meldet sie sich nicht mehr.“ Vivien griff automatisch nach Justins Hand neben sich. Dieses Mal ließ er sie gewähren. „Erik ist der einzige, der weiß, wo die Schatthen genau sind. Er hat auf dem Jahrmarkt sicher seine Wunde gespürt, deshalb war er so wütend. Wir brauchen seine Hilfe. – Ich lasse mir was einfallen. Bis dann.“ Vivien seufzte und nahm das Handy vom Ohr. Sie spürte wie Justin ihre Hand drückte. Seine sanfte Stimme erklang. „Es wird alles gut.“ Kapitel 65: Willkommen im Spiel ------------------------------- Willkommen im Spiel „Ein Spiel mit ernsten Problemen. Das ist Kunst." (Kurt Schwitters, deutscher Maler und Dichter) Genervt deckte Vitali den Tisch. Er konnte es einfach nicht fassen! Da war er gerade knapp dem Tod entronnen und seine Mutter hatte nichts Besseres im Sinn, als ihn zur Schnecke zu machen, weil er ihrer Meinung nicht ganz pünktlich zu Hause gewesen war! Die hatte sie doch nicht alle! Kurz überlegte er sich, wie blöd seine Mutter aus der Wäsche gucken würde, wenn die Schatthen zu ihm nach Hause kämen. Im gleichen Moment klingelte es an der Tür. Vitali schluckte und bereute den Gedanken augenblicklich, ehe ihm einfiel, dass es Ariane und Serena sein mussten. Er jagte zur Haustür, an seiner Mutter vorbei, „Ist für mich.“, riss die Tür auf und erstarrte. Erik hob die Hand zum Gruß. „He.“ Vitali gaffte ihn an, dann senkten sich seine Augenlider halb. „Bitte sagt mir, dass er in den letzten zehn Minuten sein Gedächtnis wiedergefunden hat.“ „Halt die Klappe.“, antwortete Serena und trat ein. Hinter einer der Zimmertüren schnaubte eine wütende Frauenstimme Vitalis Namen. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen und Vitalis Mutter trat in die Diele, das Gesicht wutverzerrt. „Was soll das?“ Erst anschließend nahm sie die Gäste überhaupt wahr. Ihre Augen fanden Serena. Sofort wurden Frau Lufts Züge weicher. Dennoch stemmte sie vorwurfsvoll die Fäuste in die Seiten. „Hättest du nicht sagen können, dass deine Freundin vorbeikommt, dann hätte ich mehr gekocht.“ Nahezu lautlos grummelte Serena: „Ich bin nicht seine Freundin.“ Frau Luft warf ihr einen abschätzigen Blick zu. „Dich meinte ich auch gar nicht.“ Sie deutete auf Ariane. „Das ist doch die Blondine, von der du immer so schwärmst.“ „Was?!“, stieß Vitali hervor und riss den Kopf herum, um seine Mutter mit einem absolut bescheuerten Gesichtsausdruck zu bedenken. Dann wirbelte er wieder herum zu Serena, deren Miene versteinert war. „Ich hab noch nie was über Ariane gesagt!“ „Ariane hier, Ariane da.“, lallte seine Mutter. „Das ist gar nicht wahr!“, schrie Vitali schrill. Seine Mutter machte ein paar Schritte auf ihn zu und deutete auf Serenas Gesicht. „Siehst du? Absolute Eifersucht! Von wegen nicht deine Freundin.“ Sie schüttelte den Kopf. „Also ehrlich, der eigenen Mutter nicht die Wahrheit zu sagen.“ Sie wandte sich an Ariane und Erik. „Das geht doch nicht, oder?“ Die beiden antworteten ihr mit stieren Gesichtsausdrücken, während Vitali sich fragte, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn die Schatthen vor der Tür gestanden hätten. Zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon drinnen. „Ihr entschuldigt.“, sagte Frau Luft und fügte an Vitali gewandt um einiges gröber hinzu: „Kümmre dich um deine Gäste. Dann isst du eben später kalt.“ Vitali nickte wie ein Zombie, derweil seine Mutter wieder im Wohnbereich verschwand. Für eine Sekunde verharrten Serena und Vitali in einer Schockstarre, dann drang auch schon wieder Frau Lufts Stimme an ihr Ohr. „Vitali! Für dich!“ Vitali torkelte zur Esszimmertür, wo ihm seine Mutter schon das schnurlose Telefon hinhielt. „Vivien.“ Unterdessen waren auch Ariane und Erik eingetreten und hatten die Haustür hinter sich geschlossen. Erik trat neben Serena und sprach im Flüsterton zu ihr. „Du hast schon mitbekommen, dass Vitalis Mutter nur erfunden hat, dass er von Ariane schwärmt?“ Serena sah ihn an und glich dabei nicht minder einem Zombie als Vitali. Offensichtlich war sie zu sehr in ihrem Entsetzen gefangen gewesen, um den Rest zu hören. Vitali schwankte zu ihnen und deutete nach oben. „Wir sollen in mein Zimmer.“ Sie begaben sich gemeinsam in den ersten Stock und betraten Vitalis und Vickis Zimmer. Vitali schloss die Tür hinter ihnen und stieß einen langen Seufzer aus. Nun wieder mit mehr Elan in der Stimme fragte er in den Hörer: „Und was jetzt? – Hä? – Ja, ist ja gut.“ Er hielt Erik das Telefon hin. „Sie will mit dir sprechen.“ An Serena und Ariane gewandt fügte er hinzu. „Wir anderen sollen rausgehen.“ Die beiden schauten genau so dumm aus der Wäsche wie er selbst. Vitali zuckte nur mit den Schultern und öffnete wieder die Zimmertür. Erik hörte noch, wie Vitali beim Rausgehen gegenüber Serena nochmals beteuerte, nie ein Wort über Ariane verloren zu haben. Anschließend hob Erik das Schnurlostelefon an sein Ohr. „Du bist jetzt Teil des Spiels.“, verkündete Viviens Stimme verheißungsvoll. Eriks Augenbrauen schoben sich skeptisch zusammen. „Welches Spiel?“ „Hör zu, wir sind von Monstern entführt worden, sie heißen Schatthen. Dabei haben wir Secret getroffen.“ Erik horchte auf. „Secret hatte eine Wunde am linken Oberarm, aber keiner von uns weiß, wie er die bekommen hat, nicht mal Secret selbst. Auf der Flucht opferte er sich und wir dachten, er sei tot. Aber dann trafen wir ihn wieder, bloß dass er sich an nichts mehr erinnerte und sich uns als Erik Donner vorstellte. Die Wunde war verschwunden, aber manchmal spürt er sie noch, wenn die Schatthen in der Nähe sind.“ Vivien machte eine bedeutungsschwere Pause. „Du bist Secret.“ „Was –“ „Unser Helferlein ist verschwunden. Sie heißt Ewigkeit, ein handgroßes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln, das für andere unsichtbar ist. Sie muss irgendwo auf dem Jahrmarkt auf Schatthen gestoßen sein. Wir müssen sie finden. Hilfst du uns?“ „Vivien, ich verstehe gerade gar nichts.“ Die Stimme am anderen Ende des Hörers kicherte. „Das nennt sich Live-Action-Rollenspiel.“, erklärte sie. „Man übernimmt eine bestimmte Rolle und hat dann eine Mission. Heute ist die Aufgabe, dass wir auf den Jahrmarkt gehen und nach Ewigkeit suchen.“ „Die ihr nicht seht.“, sagte Erik trocken. „Wir sehen sie schon. Die anderen Leute sehen sie bloß nicht.“ „Das klingt ziemlich …“ Erik musste sich zusammenreißen, um nicht ‚bescheuert‘oder ‚sinnlos‘ zu sagen. „Was bringt das?“ „Es ist ein Spiel.“ „Balance Defenders?“, fragte Erik ungläubig. „Ja.“ „Ihr bildet euch ein, Superhelden zu sein, und rennt dann durch die Gegend?“ Der Zynismus nahm seine Stimme immer mehr ein. „Ja.“, antwortete Vivien in vollster Überzeugung. „Und ich soll da mitmachen. Als Secret.“ Er konnte einfach nicht länger verbergen, wie albern er das fand. „Nein, du bist Erik. Du erinnerst dich ja nicht an Secret.“, verbesserte Vivien. „Bisher hast du auch keine Kräfte, außer dass du die Schatthen durch deine Wunde spürst.“ „Aha.“ „Wo hast du denn das letzte Mal deine Wunde gespürt?“ Erik stockte. Diese ganze Idee war absolut lächerlich und kindisch, aber … diese Frage – Er hatte auf dem Jahrmarkt einen Schmerz im Oberarm gespürt! Seine Linke ballte sich zur Faust. „Ich habe sie nicht mehr gespürt.“, antwortete er und wartete Viviens Reaktion ab. Wenn sie diese Information unbedingt haben wollte, würde sie ihm vielleicht mehr offenbaren als ihr lieb war. Wieder kicherte Vivien. „Erfinde einfach was!“ Sie fügte eine weitere Erklärung an. „So funktioniert dieses Spiel. Du nimmst etwas aus der Realität und fügst es in die Geschichte ein. So wie dein Schmerz im Oberarm.“ Eriks Stimme bekam etwas Lauerndes. „Die Geschichte mit Secret gab es aber vorher schon.“ „Das nennt man Nicht-Spieler-Charakter. Die gehören zur Geschichte, werden aber von niemandem verkörpert.“ Sie kicherte. „Das hat sich allerdings geändert, nachdem Ariane dich angesprochen hat. Du bist jetzt Secret.“ Erik hielt inne. Seine Schmerzen waren erst aufgetreten, nachdem die fünf ihm etwas von einer Wunde an seinem linken Oberarm erzählt hatten. Bildete er sich das alles ein? „Du hast Schmerzen im Arm, also reagiert Secrets Wunde auf Schatthen. Wenn du Schmerzen im Knie hättest, hätten wir einfach behauptet, die Wunde wäre an eine andere Stelle gewandert. Und wenn du gar nichts spüren würdest, dann hätten wir gesagt, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Man kann alles so hinbiegen wie man will.“, erläuterte Vivien und kicherte wieder. Erik brauchte einen Moment Bedenkzeit. All das klang weit plausibler als die Ergebnisse seiner fruchtlosen Überlegungen. Gleichzeitig hielt er es für komplette Zeitverschwendung, wie die Kinder durch die Gegend zu laufen und unsichtbare Mädchen zu suchen. Dennoch. War das alles wirklich nur ein riesiger Zufall? Vielleicht sollte er es einfach riskieren. Er konnte dabei nur mehr herausfinden als er bisher wusste. „Bei der Geisterbahn.“, sagte er. „Vielleicht ist Ewigkeit dort.“ „Waaaaas?“, schrien Serena und Vitali gleichzeitig, als ihnen Justin eröffnete, was Vivien gerade mit Erik besprach. Er hatte wenige Sekunden nachdem sie den Raum verlassen hatten, mit Viviens Handy bei Ariane angerufen. „Sie behauptet, das alles wäre ein Live-Action-Rollenspiel.“, sagte er in einem Ton, der klar machte, dass Justin selbst nicht genau wusste, was das bedeuten sollte. „Wie wär’s mit einem Live Jump’n’Run Spiel?“, schlug Vitali vor. Serena meckerte ihn an: „Das wird es sowieso, wenn wir auf die Schatthen treffen, du Trottel.“ Ariane meldete sich zu Wort und klang verwirrt. „Also sollen wir ein Theaterstück aufführen?“ Serena und Vitali stierten sie völlig fassungslos an. Deutlich kleinlauter fragte Ariane: „Spielt man in einem Rollenspiel nicht verschiedene Rollen?“ „In ’nem Rollenspiel hast du mehrere Charaktere. Die haben verschiedene Fähigkeiten und durch Kämpfe kannst du sie aufleveln, damit sie stärker werden und neue Attacken und sowas kriegen.“, sagte Vitali. „In einem Computerrollenspiel.“, stellte Serena klar. Ariane schien das nicht viel weiterzuhelfen. „Also was sollen wir machen?“ Justin holte zu einer deutlicheren Erklärung aus. „Das ist wie ein Spiel angelegt. Wir müssen eine Aufgabe erfüllen und schlüpfen dafür in andere Rollen.“ „Und welche?“, wollte Ariane wissen. „Wir spielen die Gleichgewichtsbeschützer.“, erklärte Justin. „Cool. Ich wollte schon immer mal ich sein!“, meinte Vitali grinsend. Serena sah die Situation weniger locker. „Was soll der ganze Schwachsinn überhaupt? Da draußen sind die Schatthen und Vivien kommt auf so bekloppte Ideen! Wir sollten uns lieber –“ „Ewigkeit ist verschwunden.“, unterbrach Justin sie ernst. „Sie ist mit Viviens Geschwistern auf den Jahrmarkt, um nach Schatthen zu suchen, seitdem ist sie nicht mehr aufgetaucht. Wir denken, dass sie tatsächlich auf Schatthen gestoßen ist.“ Die drei warfen sich besorgte Blicke zu. Ariane war die einzige, die die Info schon zuvor von Vivien bekommen hatte. Serena wandte sich wieder an das Handy. „Was hat das mit Erik zu tun?“ „Wir vermuten, dass er auf dem Jahrmarkt seine Wunde gespürt hat und daher so wütend war. Seine Wunde scheint auf die Schatthen zu reagieren, also weiß nur er, wo sie sich zu der Zeit aufgehalten haben.“ Serena war nicht überzeugt. „Sie könnten jetzt ganz woanders sein. Das hilft uns überhaupt nicht weiter, sondern macht nur noch mehr Ärger!“ „Vivien gibt mir das Zeichen, dass Erik euch jetzt reinholen wird. Steckt das Handy vorher weg. Vivien wird euch den Rest erklären. Und vergesst nicht, ab jetzt seid ihr die Gleichgewichtsbeschützer. Nennt euch bei euren Beschützernamen.“ Mit diesen Worten legte Justin auf. Ariane tat wie Justin ihr befohlen hatte und das keine Sekunde zu früh. Die Zimmertür wurde geöffnet. Erik gab ihnen mit einer Geste zu verstehen, dass sie reinkommen sollten und reichte Vitali das Schnurlostelefon. „Du schaltest wohl besser auf Lautsprecher.“, empfahl er ihm. Vitali und Ariane setzten sich auf Vitalis Bett, während Serena und Erik es vorzogen zu stehen. Als würde sie ihnen die heutige Mission mitteilen, verkündete Viviens Stimme durch den Lautsprecher: „Ewigkeit ist verschwunden! Wir müssen auf den Jahrmarkt und sie suchen!“ „Das ist eine Schnapsidee!“, schimpfte Serena lautstark und Erik wunderte sich, dass sie das wirklich laut ausgesprochen hatte. „Da draußen sind Schatthen! Und wir sollen in einer Nacht und Nebelaktion da rausgehen, um Ewigkeit zu suchen? Hast du sie noch alle? Vielleicht ist sie irgendwo eingeschlafen und hört deshalb nichts.“ „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst.“, empörte sich Ariane. „Ewigkeit ist vielleicht in Gefahr!“ „Wenn es hell ist, sind Schatthen schon schlimm genug, aber wenn es dunkel ist, können wir uns gleich ’nen Sarg besorgen! Ewigkeit kann sich teleportieren, sie wird sich selbst befreien können.“, meinte Serena abweisend und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wenn nicht?“, warf Ariane ein. „Wir wissen nicht mal, ob sie überhaupt noch auf dem Jahrmarkt ist. Vielleicht haben sie sie schon ins Schatthenreich geschafft.“, hielt Serena entgegen. „Ich dachte, sie ist unsichtbar.“, wandte Erik ein und zog damit jäh alle Blicke auf sich. Es war so ungewöhnlich, dass er bei ihren Unterredungen anwesend war, dass sie das erst einmal verarbeiten mussten, zudem weckte es alte Erinnerungen. „Die Schatthen sind dumm.“, flüsterte Ariane in Gedenken an die Information, die ihnen Secret damals gegeben hatte. Nach dem ersten Schreck hatte auch Serena ihre Stimme wiedergefunden. „Erik hat Recht. Wie sollen sie Ewigkeit überhaupt gesehen haben?“ Kurzes Schweigen kehrte ein. „Ich bin dafür, dass wir die Suche auf morgen im Hellen verlegen.“, sagte Serena. „Wäre es dir lieber, wenn sie dich heute Nacht zu Hause angreifen?“, fragte Ariane herausfordernd. „So sind wir wenigstens alle zusammen.“ Serena schwieg. Erik machte einen Schritt auf Serena zu. „Du brauchst keine Angst haben. Ich bin ja da.“ Die Reaktion aller Anwesenden war gleich: Völlig verdatterte Gesichter. „Mann, du hast ja nicht mal Kräfte!“, schimpfte Vitali aufgebracht. Erik schenkte ihm ein siegessicheres Lächeln. „Ich weiß schon, wie ich mit Schatten umzugehen habe.“ Serena und Ariane waren über Eriks naive Selbstüberschätzung schockiert, während Vivien am anderen Ende der Leitung schnellstens Justin das Telefon in die Hand drücken musste, um sich mit beiden Händen den Mund zuhalten und ihr Lachen unterdrücken zu können. Dennoch hatte Eriks Überzeugung etwas Beeindruckendes. Justins Stimme ertönte: „Unite und ich kommen zu euch, dann fahren wir gemeinsam zum Marktplatz.“ Erik war anzusehen, dass er mit dem Namen Unite nichts anzufangen wusste. „Er meint Vivien.“, klärte ihn Serena auf. „Ich bin Destiny, Vitali Change, Justin Trust und Ariane Desire.“ Erik gaffte Ariane an. „Verlangen?“ Ein leicht amüsierter Zug stahl sich in seine Mundwinkel. „Wunsch!“, korrigierte sie säuerlich. Viviens Stimme erklang erneut: „Achja, bis wir bei euch sind, also in zwanzig Minuten etwa, könnt ihr Erik ja noch über die ganze Geschichte aufklären. Bis dann!“ Ein Tuten folgte. Erik sah Vitali und die beiden Mädchen fragend an. Serena bedeckte ihr Gesicht mit einer Hand und seufzte. „Ich muss meiner Mutter Bescheid sagen.“ Die sechs hatten den Bus zurück zum Messplatz genommen und waren eine Station früher ausgestiegen, um nicht beim ersten Schritt einem Schatthen zu begegnen. Um auch in den unbeleuchteten Winkeln des Jahrmarktes etwas sehen zu können, hatten Vivien und Justin zwei Taschenlampen mitgenommen, die anderen hatten vor, auf ihre Handyleuchten zurückzugreifen. Von Ferne drangen die fröhlichen Melodien der Fahrattraktionen an ihre Ohren, doch was sie am Mittag noch mit so viel Vorfreude und einem Gefühl von Normalität erfüllt hatte, hatte sich nun in ein groteskes Gebilde aus völlig verdrehter Fröhlichkeit verwandelt, wie ein Clown, der einem lachend die Kehle aufschlitzte. Die Dunkelheit war das einzige, das wenigstens halbwegs die wahre Bedrohung zu verdeutlichen schien. Und Erik an ihrer Seite machte alles nur noch absurder. Vitali wollte bereits loslaufen, als Justin ihn aufhielt. „Wir müssen erst besprechen, wie wir uns aufteilen.“ Schon während der Busfahrt hatte sich Justin darüber den Kopf zerbrochen, ob sie sich trennen oder zusammen direkt zur Geisterbahn gehen sollten. Wenn sie sich in zwei Teams aufteilten, um Erik fernzuhalten, wären sie vielleicht zu wenige, um mit den Schatthen fertig zu werden. Eigentlich brauchten sie jeden Beschützer. Aber Erik durfte nicht mit hineingezogen werden. War es nicht viel zu leichtsinnig, sich einer solchen Gefahr auszusetzen, nur um Erik nicht noch misstrauischer zu machen? War dieses Anliegen so bedeutend, dass sie ihr Leben dafür aufs Spiel setzen mussten? Justin hatte keine befriedigenden Antworten darauf gefunden. „Wenn meine Wunde auf die Monster reagiert, sollte ich wohl nicht dorthin.“, brachte Erik vor. Die anderen gafften ihn so baff an, dass Erik sich fragte, ob er mit diesem Einwand ihren Plan durcheinandergebracht hatte. Vivien strahlte ihn an. „Erik, könntest du dir kurz die Ohren zuhalten.“ Erik runzelte die Stirn. „Ist das dein Ernst?“ Offensichtlich… Wenn auch wenig begeistert, kam Erik ihrer Bitte nach. Hatten die anderen eben schon komische Gesichter gezogen, verschlimmerte sich dies beim Anblick des sich die Ohren zuhaltenden Schwarzhaarigen noch. Als wäre die Situation das Natürlichste auf der Welt, wandte sich Vivien an sie. „So, wer geht mit Erik?“ Ariane war es unangenehm, unter Eriks Augen eine Besprechung abzuhalten. In ihrer Not griff sie zu dem einzigen Mittel, das ihr einfiel. „In einen Kreis.“, sagte sie. Die übrigen folgten dem Aufruf, woraufhin Ariane ihre Arme auf Vitalis und Justins Schulter legte und sich leicht nach vorne beugte, als wären sie Footballspieler. „Glaubt ja nicht, dass ich bei ihm bleibe. Ich kämpfe mit.“, flüsterte sie so leise wie möglich, da sie nicht traute, dass Erik wirklich nichts hören konnte. „Wer hat denn gesagt, dass du es sein musst?“, fragte Vivien unschuldig. Ariane verkniff sich eine Antwort. „Wer soll es dann machen?“ „Wir brauchen so viele Kräfte wie möglich, um gegen die Schatthen bestehen zu können.“, gab Justin zu bedenken. „Dann sollte ich bei ihm bleiben.“, entschied Serena. Die anderen waren überrascht. „Ich bin die Schwächste, damit geht euch am wenigstens Kampfkraft verloren.“, begründete sie abgestumpft. „Stimmt!“, rief Vitali so überzeugt aus, dass Serenas Gesicht sich kurz unschön verzog. Vitali bemerkte davon nichts und setzte freudig fort. „Tiny kann voll gut mit Erik, sie wird ihn am besten fernhalten können.“ Nun hoben sich Serenas Augenbrauen vor Verwunderung. Irgendwie war das eine sehr viel nettere Begründung als ihre eigene. „Kriegst du das wirklich hin?“, fragte Justin nach. Serena schaute streng. „Ihr müsst kämpfen, also fragt euch das selbst.“ Justin blieb ernst. „Aber du musst Erik beschützen können, und du bist ganz allein. Traust du dir das zu?“ Vivien klinkte sich ein. „Erik hat doch gesagt, dass er sie beschützt.“ Sie brach in ein Lachen aus. „Sehr lustig.“, gab Serena zurück. „Ah!“ Vivien berührte sowohl Serena als auch Justin. „Ich kann dir doch Trust Telepathie übertragen, dann kannst du uns rufen, wenn irgendwas ist.“ Serena war wenig begeistert. „Ich beherrsche seine Kraft doch gar nicht.“ Derweil war Vivien optimistisch wie immer. „Ach, wenn es zum Ernstfall kommt, wirst du sie schon einsetzen können.“ „So’n Quatsch.“ Serena entzog sich ihrer Berührung. „Da kann ich schneller meine Kräfte einsetzen oder euch anrufen. Außerdem seid ihr zu der Zeit auch am Kämpfen. Ansonsten werdet ihr sowieso nach uns suchen.“ „Du schaffst das!“, meinte Vitali breit lächelnd, als wäre er wirklich davon überzeugt. Serena zog daraufhin verschämt den Kopf ein und löste sich hastig aus dem Kreis, den sie gebildet hatten. Sie reckte das Kinn und ging auf Erik zu. Dieser hielt immer noch seine Ohren zu und hatte ein leicht genervtes Gesicht aufgesetzt. Als Serena sich ihm näherte, nahm er dies zum Anlass, die Arme wieder sinken zu lassen. „Ich bleibe bei dir, um dich zu beschützen.“, verkündete Serena ihm. Angesichts dieser Aussage musste Erik amüsiert schmunzeln. Das klang zu komisch. Sie entschieden, dass es besser war, wenn Serena und Erik nicht an der Haltestelle stehen blieben, sondern mit auf den Jahrmarkt gingen und sich auf der Ostseite bewegten, fernab der Geisterbahn. Solange sie in Bewegung blieben, war die Chance geringer, dass die Schatthen sie aufstöberten – so zumindest die Theorie. Am Anfang des Rummels trennten sie sich. Schweigend liefen Serena und Erik nebeneinander her. Justin hatte ihnen befohlen, sich an den Händen zu halten, um sich nicht zu verlieren. Erik hatte daraufhin einen seiner üblichen Witze gemacht, dass er seine Freundin nie verlieren würde, was Serena mit einem Verdrehen der Augen und Vitali mit einem wütenden Gesichtsausdruck quittiert hatte. „Unser erstes Date.“, spaßte Erik. Serena sah genervt nach vorne. Erik konnte sich seine dämlichen Witze sparen, sie hatte jetzt echt andere Probleme. Wieder herrschte Stille. Serena wandte sich nicht nach rechts oder links. Wie Erik feststellen musste, war sie tief in Gedanken versunken. „Nehmt ihr das Ganze nicht etwas zu ernst?“ Serena antwortete erst gar nicht. Doch so einfach ließ Erik sich nicht davon abbringen, ein Gespräch zu führen. „Seit wann macht ihr das mit dem Rollenspiel schon?“ Wieder keine Antwort. „He.“, sagte Erik sanft und drückte ihre Hand. Serena wandte sich ihm zwar zu, machte aber einen ziemlich unzufriedenen Eindruck. „Hör mal, wenn du lieber bei den anderen wärst, kannst du das ruhig sagen. Ich will dir nicht dein Spiel verderben.“ Serena seufzte und antwortete endlich. „Tut mir leid, ich bin nur nervös.“ „Irgendwie finde ich es etwas bedenklich, dass ihr euch da so reinsteigert.“ Sie bedachte ihn mit einem ernsten Blick. Er blieb stehen und zwang sie dadurch ebenfalls anzuhalten. „Geht es hier wirklich um ein Rollenspiel?“, verlangte er zu erfahren. „Worum denn sonst.“ Ihre Stimme klang leicht lethargisch. „Serena, du hast vorhin fast geheult, als Vitali angerufen hat.“ „Hast du ein Problem damit?“, blaffte sie. „Ich glaube bloß nicht, dass du so reagierst nur wegen einem Rollenspiel.“ „Denk was du willst.“ Sie ließ ihn los und lief weiter. Er brachte sie mit einem Griff an ihre Schulter erneut zum Stehen und wurde dafür böse angefunkelt. „Serena, ich meine es wirklich ernst.“ „Schön für dich.“, zischte sie. „Es gibt also nichts, was du mir sagen willst.“ „Nicht dass ich wüsste.“ Erik war unzufrieden. „Du bist noch dickköpfiger als Ariane.“ Serenas Augenlider senkten sich leicht. „Ehrlich...“ Er gab es auf. „Gut, dann lass uns die Zeit doch wenigstens sinnvoll nutzen. Was hältst du davon, wenn wir Riesenrad fahren, da oben sind wir vor Schatthen doch bestimmt sicher.“ Serena verkniff es sich zu sagen, dass man nirgends vor Schatthen sicher war. Aber sie hatte auch keinen Nerv, noch länger zu streiten. „Gut.“ „Schatthen in der Geisterbahn. Der Schatthenmeister hat echt nen kranken Humor.“, bemerkte Vitali. Jetzt da Serena nicht mehr bei ihnen war, schien keiner auf seinen Kommentar eingehen zu wollen. Dementsprechend sah Vitali sich gezwungen, das Gespräch einfach allein zu führen und Serenas Rolle auszufüllen – nur etwas weniger beleidigend, da er von Beschimpfungen gegen sich selbst absehen wollte. So drehte er seinen Kopf zunächst nach links. „Hast du das nicht schon im Schatthenreich gemerkt?“ Dann nach rechts. „ Stimmt, der Typ ist total unkreativ. Schatthen im Süßwarenladen! Das wäre originell!“ Er legte eine kurze Pause ein, in der ihn Serena üblicherweise einen Trottel genannt hätte. Tatsächlich hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass Monster in der Süßigkeitenabteilung nicht viel ausgefallener waren und es das schon in ‚Gremlins‘ gegeben hatte – einer uralten Horrorkomödie, der Serenas Lieblingskuscheltier entstammte. Vivien wandte sich an die anderen. „Ist das nicht süß? Kaum ist Serena weg, vermisst er sie schon.“ „Tu ich gar nicht!“, schimpfte Vitali und war mit einem Mal still. „Wäre es nicht unbedacht, uns auf dem Jahrmarkt anzugreifen?“, fragte Ariane. „Uns im Supermarkt anzugreifen, wirkte auch nicht gerade wahrscheinlich.“, entgegnete Justin. Ariane schwieg. Wie mächtig musste der Schatthenmeister sein, um so viele Menschen auf einmal unter seine Kontrolle zu bringen und könnte er denselben Spuk an der Gesamtheit der Messebesucher vollführen? „Vielleicht sind die Schatthen ja gar nicht mehr dort.“, überlegte sie laut. Justins Blick war fest nach vorne gerichtet. „Hauptsache, Ewigkeit ist dort.“ Die Geisterbahn kam in ihre Sichtweite. Die Rückseite der Geisterbahn grenzte an eine Höhenattraktion, bei der sich kreisende Gondeln auf und ab bewegten. Zwischen den beiden Attraktionen befand sich ein Zwischenraum, der üblicherweise nicht zugänglich war, aber aus Sicherheitsgründen breit genug sein musste, dass ein Mensch hindurch gehen konnte. Justin verlangsamte das Tempo. „Wir werden erst auf dieser Seite suchen. Wenn wir sie dort nicht finden, gehen wir alle zusammen auf die Rückseite der Geisterbahn. Wenn dort auch nichts ist, gehen wir rein.“ Sie legten die letzten Schritte zur Geisterbahn zurück. Alles sah ganz gewöhnlich aus, eine gewöhnliche Geisterbahn auf einem gewöhnlichen Jahrmarkt in einer gewöhnlichen Stadt mit ganz gewöhnlichen Leuten. Nur dass sie nicht zu diesen gewöhnlichen Leuten gehörten. An der Front der Geisterbahn, wo gerade neue Besucher hineingingen, fand sich kein Zeichen von Ewigkeit. Die vier sammelten sich wieder und sahen sich um. In einem Moment, in dem sie niemand beobachtete, huschten sie in die Lücke zwischen der Geisterbahn und der Snack-Bude daneben. Justin ging voran, da Ewigkeit in der Dunkelheit leuchten würde, verzichtete er darauf, seine Taschenlampe hervorzuholen. In seiner Hand erkannte Vivien, die hinter ihm ging, stattdessen das grüne Leuchten seines Vertrauensbands erscheinen. Sie hatte bisher nicht gewusst, dass er gelernt hatte, seine Kräfte auf diese Weise abrufbereit zu halten. Das Leuchten wuchs an und nahm allmählich seinen gesamten linken Arm ein. Daraufhin hielt es auch Vivien an der Zeit, ihre Kräfte schussbereit zu machen. Falls ein Schatthen es wagen sollte, Justin anzugreifen, würde sie das zu verhindern wissen. Mit ehrlichem Erstaunen wurden Vitali und Ariane Zeuge, wie Viviens gesamte Gestalt von gelbem Licht eingehüllt wurde, als sei sie eine Neon-Anzeige in Menschenoptik. Über die plötzliche Helligkeit verwundert, lugte Justin über seine Schulter, und staunte nicht schlecht. Vivien lächelte ihn an. „Ewigkeit!“, rief Ariane aus. Sie hatten die Rückseite der Geisterbahn erreicht, wo etwas Winziges am Boden leuchtete. Anstatt darauf zuzueilen, stoppte Justin. „Seid vorsichtig.“ Vivien schob sich an ihm vorbei. „Ich gehe vor. Gebt mir Deckung.“ Justin folgte ihr. Ariane und Vitali, die leider keine leuchtenden Spielereien beherrschten, taten es ihm gleich. Sich zunächst nach allen Seiten umblickend, kniete sich Vivien zu dem Licht, das aus der Nähe klar als Ewigkeit zu identifizieren war. Vorsichtig hob sie die Kleine auf. „Ewigkeit. Ewigkeit, wach auf.“ Sie rüttelte leicht an dem Schmetterlingsmädchen. „Komm zu dir, Ewigkeit.“ Das kleine Etwas regte sich nicht. Vivien hielt inne. Sie spürte das kleine Herz in Ewigkeits Brust pochen. Sie stand auf. Hier zu verweilen war zu gefährlich. „Sie ist ohnmächtig. Gehen wir hier raus.“ Sie deutete den anderen an, wieder zurückzugehen. Diesmal ging Vitali voraus, während Justin das Schlusslicht bildete, um eventuelle Angriffe aus dem Hinterhalt zu verhindern. Innerhalb weniger Sekunden waren sie wieder auf der belebten Passage, wo sich verschiedene Stände aneinanderreihten. Zeitgleich löschten Justin und Vivien ihr Leuchten. „Sie sind also tatsächlich nicht mehr hier.“, sagte Ariane. „Sag das nicht!“, fuhr Vitali sie an. Ariane zuckte von der Heftigkeit seines Ausrufs zusammen. „Wieso?“ „Immer wenn man so etwas sagt, wird man angegriffen!“, klärte er sie auf und schaute sich panisch um. Nun auch beunruhigt, blickte Ariane sich ebenfalls um. Justin ergriff das Wort. „Wir sollten Serena informieren, sie ist sicher besorgt.“ Ariane nahm dies als Aufruf und holte ihr Handy hervor. Doch nachdem sie es mehrmals hatte klingeln lassen, kam keine Antwort. „Sie nimmt nicht ab.“ Vivien begann schelmisch zu grinsen. „Wer weiß, was sie und Erik gerade machen.“ „Waaaaas?!“, schrie Vitali. Vivien blinzelte arglos. Ihr vieldeutiger Tonfall wich einem mädchenhaften Unschuldston. „Sie könnten gerade Karussellfahren oder so.“ Vitali und Ariane sahen wenig überzeugt aus. Während Justin Vivien Ewigkeit abnahm, entgegnete er beiläufig. „Oder Hand in Hand über den Jahrmarkt laufen.“ „Also Justin.“, sagte Vivien in gespielter Schockierung, als handle es sich bei dem von ihm beschriebenen Szenario um ein anstößiges Bild. Justin konnte dem nicht folgen. Er selbst hatte den beiden doch aufgetragen, sich an den Händen zu halten. Für alle Fälle. Vivien grinste breit. „Vielleicht sind sie ja zusammen in den Liebestunnel.“ „Es gibt hier keinen Liebestunnel.“, erwiderte Ariane trocken. Vivien streckte ihr zwinkernd die Zunge entgegen. Im gleichen Moment hörten sie, wie Vitali mit jemandem sprach und erkannten, dass er sein Handy am Ohr hatte. „Wo seid ihr?“ Von dem Hintergrund der Nacht hob sich der Rummel als ein buntes Lichtermeer ab und leuchtete mit dem sternenbesäten Himmel um die Wette. Die Gondel, in der Serena und Erik Platz genommen hatten, wurde langsam und bedächtig emporgehoben, sodass ganz Entschaithal in ihr Blickfeld rückte. Unter anderen Umständen hätte Serena den Anblick geliebt, aber nun geisterte die Sorge um die anderen in ihren Gedanken umher und ließ sie die Lichter sehen und doch nicht wahrnehmen. Erik betrachtete ihr Verhalten mit wachsender Besorgnis. Auf keinen Fall war es ein Rollenspiel, das diese ängstliche Regung in ihr hervorbrachte. Er wandte sich von ihrem Anblick ab, der Aussicht zu. In die Ruhe drang ein Hip Hop Song. Erik holte sein Handy hervor. Noch ehe er auch nur ‚Hallo‘ sagen konnte kam ihm eine entnervte Stimme entgegen: „Wo seid ihr?“ „Im Riesenrad. Ist eure Mission schon vorbei?“ Sofort beugte sich Serena mit großen Augen zu ihm vor. „Sind das die anderen?“ „Vitali.“, informierte Erik und hielt Serena dann das Mobiltelefon hin. Eilig ergriff sie es und hielt es an ihr Ohr. „Ist alles okay?“ „Warum gehst du nicht an dein Telefon?“, meckerte Vitali pampig. Statt ihrer üblichen Verärgerung über Vitali trat ehrliche Sorge in ihre Stimme. „Ist was passiert?“ „Nee, alles in Ordnung.“ Ein erleichtertes Seufzen entrang sich ihrer Kehle. „Was ist mit Ewigkeit?“ „Die ist bei uns. Aber ohnmächtig.“, informierte Vitali. „Und die Schatthen?“ „Da waren keine.“ „Gott sei Dank. Aber wo sind sie dann?“ „Frag so was nicht!!!“, schrie Vitalis Stimme sie durch das Handy hindurch an. „Was?“ „Immer wenn man so was fragt –“ „Change?“ „Ach, ich dachte, ihr würdet gerade angegriffen und hab deshalb abgewartet.“ „Du Depp!“, keifte Serena. „Ich mein’s nur gut, wenn ich höre, dass euch was passiert, dann kommen wir sofort zu euch gerannt. Lass es am besten an.“ Erik sah zu, wie sich Serenas Gesichtszüge immer mehr zu einer Dämonenfratze verzogen. Im nächsten Moment hielt sie das Handy vor sich. „Du Idiot!“ Gerade wollte sie auflegen, als ihr klar wurde, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie man das bei diesem neumodischen Teil machte. Auffordernd streckte sie Erik das Display entgegen. „Auflegen.“ Schmunzelnd tat er ihr den Gefallen. „Hey!“, schrie Vitali, als ihm nur noch Tuten entgegenkam. „Diese blöde Kuh!“ Erneut wählte er Eriks Nummer. „Was sollte das?“, schimpfte er. Eriks Stimme klang gelassen „Serena wollte nicht mehr mit dir reden.“ „Das hat sie nicht zu entscheiden! Blöde Kuh.“ Wieder Tuten. Vitali war stinksauer. Und wieder wählte er Eriks Nummer. „Was sollte das?!“ „Jetzt wollte ich nicht mehr mit dir reden.“ „Raaaah!!!“ Eriks Lachen drang aus dem Handy. Im nächsten Moment legte Vitali auf. Erik blickte auf sein Handy und fing an, noch lauter zu lachen. „Was ist?“, erkundigte sich Serena. „Er hat aufgelegt.“ Gleichzeitig prusteten sie beide los. Serenas ganze Anspannung entlud sich nun in ihrem Gelächter, sodass sie sich Tränen aus den Augen wischen musste. Erfreut über ihre jäh zurückgewonnene Lockerheit, lächelte Erik sie an. Serena erwiderte die Geste. Plötzlich wurden sie in Dunkelheit gehüllt. Überaus entnervt hielt Vitali sein Handy in Händen. „Was ist?“, erkundigte sich Ariane. „Nix!“ „Wo sind sie?“, fragte Justin. Vitalis Mund verzog sich bedenklich. „Im Riesenrad.“ „Wie romantisch!“, jauchzte Vivien. „Halt’s Maul!“ Gerade wollte Vitali das Handy wegstecken, als sein wütender Blick nochmals auf das Display fiel. „Hä?“ Vivien lugte auf das Smartphone. Statt seinem farbigen Hintergrund war nur noch Weiß zu sehen, auch die Akku- und die Empfangsanzeige waren nicht länger sichtbar. Daraufhin sah auch sie nach ihrem Mobiltelefon. Bei ihr das gleiche Bild. „Ariane, schau mal nach deinem Handy.“, bat Vivien. Arianes Antwort war unnötig, ihr verwundertes Gesicht, als sie ihr Handy betrachtete, sprach Bände. „Wir müssen zu den anderen!“, rief Vivien und rannte los. Kapitel 66: Schicksalsrad ------------------------- Schicksalsrad „Schatten löschen die Sonne nicht aus.“ (Franz Kafka) Verwundert blickten Serena und Erik aus den Fenstern. Das Licht des Riesenrads war erloschen. Auch die umliegenden Stände waren in Dunkelheit getaucht. Im gesamten Bereich rund um das Riesenrad musste der Strom ausgefallen sein. „Zumindest sind wir an einer schönen Stelle stehengeblieben.“, meinte Erik. Ihre Gondel hatte gerade erst den höchsten Punkt verlassen, um wieder nach unten zu schwenken. Ängstlich starrte Serena nach draußen. „Keine Sorge, der Strom wird gleich wieder da sein.“ Serena war dadurch wenig beruhigt. Sie holte die Taschenlampe aus ihrer Tasche, die ihr Vivien zuvor überlassen hatte. Suchend schwenkte sie den Lichtkegel um ihre Gondel herum, doch das kleine Licht konnte die Finsternis kaum durchdringen. „Verdammt.“ „Was ist denn?“, fragte Erik. „Setz dich auf den Boden.“, befahl Serena. Erik sah sie nur verständnislos an. „Geh von den Fenstern weg.“ Noch immer reagierte Erik nicht, stattdessen schien er wortlos fragen zu wollen, ob sie übergeschnappt war. Dann wurden seine Züge wieder weicher und er seufzte. „Ist das wieder so eine Rollenspiel-Sache?“ „Tu’s einfach!“ Gerade wollte er widerwillig ihrem Wunsch Folge leisten, als – Der quälende Schmerz durchschoss seinen Arm wie ein Blitzschlag und vernebelte seinen Verstand. Sein eigenes Aufstöhnen hörte er kaum noch. „Erik!“ Was dann geschah ging zu schnell als dass Erik – von seinem Schmerz noch betäubt – alles hätte erfassen können. Explosionsartiges Klirren. Scherben. Serenas Schrei. Ihr Körper wurde nach hinten gerissen durch die zerstörte Fensterscheibe hinter ihr, die Erik noch gar nicht wahrnehmen konnte. Allein aus Reflex warf er sich vor, um sie festzuhalten, und hätte später nicht mehr sagen können, woher dieser Reflex stammte. Er erwischte noch ihre Beine und klammerte sich fest, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Gewalt, die ihren Körper nach außen zerrte. Ihr Kreischen wurde immer schriller. Dann war da wieder der Schmerz. Erik kämpfte dagegen an, spürte wie sein Körper ihm den Dienst zu versagen drohte. Er hielt Serena fest. Doch ihr Schreien klang immer weiter entfernt, ertrank in einem Piepsen. Dann war sein Hörvermögen völlig verschwunden. Übelkeit und Schwindel übermannten ihn. Er presste die Augen zu und versuchte mit einem Schrei nochmals sämtliche Kraftreserven zu mobilisieren und sein ganzes Körpergewicht gegen seinen unbekannten Gegner einzusetzen. Das nachfolgende Geschehen verschwamm vor seinen Augen. Serena wurde von dem Schatthen nach hinten gerissen. Ihr Oberkörper hing im nächsten Moment in der Schwebe und sie glaubte, zerfetzt zu werden. Die Bestie hatte ihre Pranken in den Boden der Gondel geschlagen, um Halt zu finden, und zerrte nun mit aller Kraft an ihrem Opfer. Serena schrie. Panik kreischte durch jede ihrer Zellen, ließ keinen Platz mehr für einen klaren Gedanken. Sie glaubte, in die Tiefe stürzen zu müssen. Dann wurde sie von etwas an ihren Beinen zurück in die Gondel gezerrt. Die Krallen des Schatthens schlitzten ihre Jacke auf, konnten sie aber nicht halten. Sie schlug hart auf, wusste nicht mehr, wo oben und unten war, nur eines: Schicksalswappen. Ihre Gedanken formten das Wort, ohne dass sie noch etwas dazutun musste. Augenblicklich erstrahlte ein helles Licht, sodass sie unwillkürlich die Augen schloss. Das Innere der Gondel wurde davon ausgefüllt. Es strömte nach außen. Als Serena die Augen wieder öffnete, erkannte sie über sich ihr Wappen, das weiter sein schützendes Leuchten aussandte, dem kein Schatthen standhalten konnte. Erst jetzt nahm sie wahr, wo sie sich genau befand. Sie lag halb auf dem Boden der Gondel, halb auf dem Sitz. Zu ihren Füßen – Erik. Unter Schmerzen rappelte sie sich auf und kniete zu ihm. Er regte sich nicht. Sie beugte sich über ihn und versuchte ihn wachzurütteln. Kurz flatterten seine Augenlider, öffneten sich, ohne dass seine Augen etwas zu erkennen schienen, und fielen wieder zu. „Erik“, presste Serena atemlos hervor, sie schnappte nach Luft. Sie drehte sich um, suchte das Innere nach ihrer Tasche ab, entdeckte sie neben sich am Boden, holte ihr Handy hervor. Sie musste die anderen verständigen, solange der Schutz des Wappens anhielt. Ungläubig starrte Serena auf das Handydisplay. Das konnte nicht sein, durfte nicht sein… Eriks Handy! Sie holte es aus der Hosentasche, in die sie es ihn zuvor hatte stecken sehen, aber das gleiche Bild. Sie stieß einen weinerlichen Fluch aus und ließ das Handy sinken. Dann gewahrte sie Eriks schneller werdendes Atmen, ein Ringen nach Luft, als würde er gegen etwas ankämpfen. „Erik.“ Serena drehte ihn auf den Rücken, was ihr aufgrund seines Gewichts nicht leicht fiel. Ängstlich betrachtete sie seine reglose Miene und drückte seinen Unterarm, ohne dass er darauf reagierte. Hier war niemand, der sie beschützen konnte, weder ihn noch sie. Der verängstigte Ausdruck auf ihrem Gesicht erlosch und machte etwas anderem Platz. Hier war jemand! Gebieterisch erhob sie ihren Arm zu ihrem Wappen. In der gleichen Sekunde war die Verwandlung abgeschlossen. „Ich beschütze dich.“, verkündete Destiny mit fester Stimme, obgleich sie nicht davon ausging, dass Erik noch irgendetwas davon wahrnahm. Das Riesenrad war noch ein paar Meter entfernt, Vivien und die anderen mussten Slalomlaufen, an den verwundert umherstehenden Jahrmarktbesuchern vorbei, als ein helles Licht aus einer der Gondeln ihren Lauf kurzzeitig verlangsamte. „Serena.“, hauchte Ariane. Vitali hielt sich nicht mit langer Überraschtheit auf, sondern preschte weiter. Die jähe Gewissheit, dass Erik und Tiny in Gefahr waren, ließ ihn zu Höchstleistungen auflaufen. Destiny konzentrierte sich. Kurz suchte die Angst sie erneut in ihre Gewalt zu bringen. Zweifel züngelten in ihr empor. Doch sie verwehrte der Empfindung den Zunder ihrer Aufmerksamkeit. Sie wusste, was jetzt wichtig war, und fand zu sich. „Schicksalsschlag!“ Destiny spürte die Kraft wie etwas, das zu ihr gehörte, ein Teil ihres Körpers, ein Gefühl, dem sie Ausdruck verlieh. Das goldene Glühen, das im nächsten Moment entfacht wurde, blendete nicht, vielmehr glich es einer körpereigenen Essenz, wie etwas Alltägliches, das Erheben eines Arms in vollstem Bewusstsein, das Spüren der eigenen Präsenz, die natürliche Veränderung eines Körperzustands. Sie hielt die Energie um ihren Leib, ließ sich von ihr umschmeicheln, umlodern, ehe die Energie wieder zu ihrer Hand zurückfand und freigelassen wurde. Ein sanftes Glimmen und Schimmern, klar und ungetrübt wie ein Vorbote des Morgens, lohte aus dem zerbrochenen Fenster, umschloss in wallenden Bewegungen die Gondel und flammte schließlich zu einem sonnenartigen Strahlen auf. Nun konnte kein Schatthen mehr die Gondel auch nur berühren. Destiny senkte den linken Arm, von dem die Energie ausging, und bettete ihn in ihren Schoß, die Muskulatur möglichst entspannt, um so die optimale Leitfähigkeit zu gewährleisten. Sobald sie sich verkrampfte, würde ihr Kräfteeinsatz abbrechen, das wusste sie. Destiny schloss die Augen. Sie hielt mit der Rechten Eriks Hand umfasst, fühlte die Schwere seines Körpers, aber diese Schwere beruhigte sie. Sie wusste, wofür sie kämpfte. Vitali und Ariane kamen als erste vor dem Riesenrad an. Ariane erkannte mit Entsetzen, dass sämtliche Menschen in einem Radius von dreißig Metern um die Attraktion herum wie Leichen den Boden säumten, ohne dass die Leute jenseits dieses Bereichs davon Kenntnis nahmen. Vitali indes interessierte sich dafür herzlich wenig, die einzige Aufmerksamkeit, die er diesem Fakt schenkte, war diejenige, die er brauchte, um nicht über die Bewusstlosen zu stolpern. In einem stürmischen Lichtstoß hatte er seine Beschützergestalt angenommen und setzte zum Flug an. Allerdings hatte er gewisse Startschwierigkeiten. Im Training hatte er zwar bereits geschafft, eine gewisse Höhe zu erreichen, die man durchaus als Fliegen bezeichnen konnte, und einige einfache Manöver waren ihm auch schon geglückt, doch noch wirkte es eher wie die ersten Flugversuche eines übereifrigen Kükens, das immer wieder zu Boden stürzte. „Er muss eine Art Tarnung verwenden.“, hörte Ariane Justin hinter ihr sagen und sah, dass auch er seine Kleidung bereits gegen die Beschützertracht getauscht hatte, ebenso wie Vivien. Mit ‚er‘ hatte Trust unverkennbar den Schatthenmeister gemeint. Wie automatisiert änderten die Leute ihre Richtung, sobald sie dem Bereich der Bewusstlosigkeit zu nahe kamen. Und wie in Trance schienen sie die Dunkelheit des Riesenrads nicht wahrzunehmen, während die ausgefallene Beleuchtung der anderen Stände ein großes Gewusel und Durcheinander verursachte. Trust rief sein Vertrauensband herbei, in seiner Rechten hielt er noch immer Ewigkeit. „Bleibt zusammen.“ Change hörte ihn offensichtlich nicht, noch immer war er mir seinen Startversuchen beschäftigt. Trust nahm dies mit einiger Besorgnis zur Kenntnis. Wenn Change erst einmal eine gewisse Höhe erreichen und dann abstürzen würde, könnten sie ihm nicht mehr helfen. Doch Change zur Vorsicht zu mahnen, hätte alles nur noch schlimmer gemacht, so gut kannte er ihn. Change war ein solcher Dickkopf, dass er sich dann nur noch mehr auf seinen Plan versteift hätte. Vielleicht würde er ja von selbst wieder zur Vernunft kommen. Mittlerweile war auch Desire in ihre Uniform gehüllt. „Wo sind sie?“ „Da oben!“, schrie Change ungehalten und zeigte mit dem Finger auf die in lohendes Licht gehüllte Gondel. „Ich meinte die Schatthen.“, antwortete Desire. Unite deutete auf die schrägen Stützen des Riesenrads, die in der Mitte in der Radnabe zusammenliefen. Drei schwarze Flecken huschten daran hinauf. Change wollte gerade darauf zu eilen, doch Trust hielt ihn auf. „Wir sollten uns erst um die kümmern.“ Er verwies auf etwas vor ihnen. Aus dem Dunkel hinter dem Riesenrad schlichen Schatthen heran. Im gleichen Moment nahm Unite Trust Ewigkeit aus der Hand. Sie hatte kurzerhand ihren Anzug um eine seitliche Bauchtasche erweitert, in die sie Ewigkeit bettete. Desire feuerte derweil ihre Wunschkraft auf die Bestien ab. Schließlich brauchten sie keine wertvollen Sekunden damit verschwenden, den grausigen Anmarsch der Kreaturen zu bestaunen. Die Attacke schoss auf die Schatthen zu, doch bevor diese sie erfassen konnte, verschwanden diese spurlos. Erst im nächsten Moment wurde Desire klar, dass die Monster ihre Schattengestalt angenommen hatten, um dem Angriff zu entgehen. So etwas hatten sie noch nie gemacht! „Von wegen die sind blöd.“, kommentierte Change. Sofort rasten die schwarzen Punkte auf dem Boden auf sie zu, dabei die Richtung so häufig wechselnd, dass man ihnen kaum mit den Augen folgen konnte und ein gezielter Schuss unmöglich wurde. Die vier versuchten ihre Kräfte auf die Angreifer zu lenken, doch diese waren zu wendig. Nur einer nahm in letzter Sekunde seine dreidimensionale Gestalt wieder an, sprang zur Seite, als er angegriffen wurde, und gab ein ohrenbetäubendes Brüllen ab, das Unite mit einer erneuten Attacke zum Schweigen brachte. Die restlichen Bestien flitzten in ihrer Schattengestalt auf dem Boden um sie herum, als wollten sie sie verhöhnen. Die Beschützer waren vergeblich damit beschäftigt, auf sie zu zielen. Schließlich setzte Unite eine breitgefächerte Welle frei, doch wieder gingen die schwarzen Flecken zur Seite. Hätten die anderen sofort nachgelegt, hätten sie vielleicht ein paar von ihnen erwischen können, doch sie waren von allen Seiten von den zweidimensionalen Schemen umgeben und versuchten jeweils ihre Front unter Kontrolle zu halten. Change war von diesem Geschicklichkeitsspiel restlos entnervt und schaute hinüber zum Riesenrad. Die hinaufkletternden Schatthen hatten die Streben hinter sich gelassen und krochen nun an den Speichen weiter zu der leuchtenden Gondel. Sie schienen nicht ganz so clever zu sein wie ihre Kumpanen, ansonsten hätten sie den Weg ebenfalls in der wendigeren Schattenform hinter sich gebracht, ohne Absturzgefahr. Aber in Kürze würden sie Erik und Tiny erreicht haben. Er musste da hoch! Einen Moment zu lange war Change abgelenkt. Einer der schwarzen Punkte flitzte auf ihn zu, nahm seine wahre Gestalt so schnell an, als wäre er aus dem Nichts erschienen und brachte mit der jähen Drohgebärde Change zu Fall. Dieser riss Desire, die hinter ihm stand, mit sich. Zu langsam war Unites und Trusts Reaktion als dass sie das Unvermeidliche noch hätten aufhalten können. In einem Satz hätte der Schatthen mit seinem mächtigen Gebiss Changes Kehle zerfetzen können, doch er tat es nicht. So schnell wie er sich verwandelt hatte, so schnell war er auch wieder in seine Schattengestalt übergewechselt. Desire hatte nicht solches Glück. Bevor sie wieder auf die Beine kommen konnte, wurde sie gepackt und schreiend über den Boden geschleift. Einer der Schatthen hatte seine Arme materialisiert und zog die Beschützerin halb in seiner Schattengestalt von den anderen weg. Unite und Trust hatten nicht die Möglichkeit zu reagieren. Sobald die Feinde die Gruppe auseinanderbrechen sahen, bestürmten sie die Beschützer umso mehr, und eine Sekunde der Unaufmerksamkeit hätte bedeutet, den Schatthen die Möglichkeit einzuräumen, die ganze Gruppe auseinander zu sprengen. „Change!“, brüllte Trust stattdessen, ohne den Blick von den Angreifern zu wenden und ohne seine unablässigen Kräfteeinsatz zu unterbrechen. Change, völlig verwirrt, wirbelte herum, kam nicht mehr auf die Idee, seine Kräfte einzusetzen, sondern stolperte stattdessen Desire hinterher und warf sich in einem Satz auf den Boden, wo er gerade noch ihre Beine erwischte. Doch das machte die Angelegenheit nicht besser. Desire schrie. Der Schatthen drohte ihr die Arme auszukugeln. Hinter dem Schmerz bäumte sich etwas anderes in ihr auf: Unwille, Auflehnung, Widerstand. Dann betäubte etwas den Schmerz. Ihr ganzer Körper wurde mit einem Mal von etwas eingehüllt, das ihr plötzliche Ruhe schenkte und sie für eine Sekunde in eine Art Trance versetzte, als würde sie unter Wasser getaucht. Sie bekam gar nicht mit, wie sich dieses Etwas von ihrer Körperoberfläche ausgehend nach außen weitete, ehe es sich zu einer Kuppel ausbildete, die sowohl sie als auch Change einschloss. Change sah, wie der Schatthen hinweggeschleudert wurde, als hätte Desire ihm einen übermächtigen Stoß versetzt. Doch es blieb nicht dabei. Die Gliedmaßen, die Desire eben noch festgehalten hatten, lösten sich in einem sanften Nebel auf, so zart wie der sichtbar gewordene Atem an einem Wintertag. Wie eine übermächtige Flutwelle setzte sich dieser Prozess fort, schwappte über den gesamten Körper des Angreifers und ließ ihn in einem wogenden Glanz verschwinden. Changes Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf seine Beschützerkollegin. Desire fühlte sich wie in tiefem Schlummer, selig in Ruhe und Frieden. Changes Stimme klang so entfernt, als befände sie sich unter Wasser und er an der Oberfläche, jenseits von der beruhigenden Schmerzlosigkeit. „Desire!“ Sie wurde umgedreht, auf den Rücken, das wusste sie, obwohl sie es nicht spürte. Etwas angenehm Linderndes wogte über die Schrammen und Schürfungen an ihrem Oberkörper, im Gesicht und an den Beinen, als treibe sie auf Wasser und die sanften Wellen liebkosten ihre Wunden hinweg. Changes leiser Aufruf des Erstaunens war nichts als ein sanftes Plätschern in dieser Stille. Change starrte ungläubig auf den Schimmer, der über Desires Körper hinwegging und ihn an die Lichtreflexionen auf einer Wasseroberfläche erinnerte. Er wusste beim besten Willen nicht, was das zu bedeuten hatte. Langsam öffnete Desire ihre Augen, als würde sie aus einer unbekannten Ewigkeit erwachen. Keinerlei Schrammen waren zurückgeblieben. Anschließend nahm sie die fast durchsichtige orangefarben schimmernde Kuppel über ihren Köpfen wahr. Sofort war sie wieder bei vollem Bewusstsein. Es war die gleiche Art von Schutzschild, die sie damals im Schatthenreich vor der Felskugel bewahrt hatte. Desire sprang auf die Beine. Sie mussten zurück zu Unite und Trust. „Schnell!“ Wie konnte jemand noch im einen Moment seelenruhig schlafen und dann ihn zur Eile mahnen, fragte sich Change missmutig und stand auf. Desire stürmte bereits los. „Wie machst du das?“, fragte Change perplex. „Was?“ Change gaffte auf die sich bewegende Kuppel über ihm. „Dass das Ding sich mit bewegt!“ „Keine Ahnung.“ Die zweidimensionalen Schatten um sie herum wurden von dem Schutzschild abgestoßen. Davon wohl perplex, standen die Angreifer einen Moment zu lange still, so dass Change in einem Anflug von Übermut seine Kräfte einsetzte, ohne zu bedenken, ob der Schutzschild diese überhaupt nach außen dringen lassen würde. Doch er hatte Glück. Wie eine semipermeable Membran ließ die Schutzhülle seinen Wind der Veränderung nach außen dringen. Pech für die Schatthen. Change ließ einen Freudenschrei los. Trust und Unite schlugen sich wacker. Mit immer neuen Varianten ihrer Energiewellen versuchten sie der Übermacht Herr zu werden. Wie ein Lichtteppich sauste Unites Angriff über den Boden, doch die Schatten wurden dadurch nur in Windeseile zum Rückzug gedrängt, um sogleich wieder näherzukommen. Derweil prasselte Trusts leuchtender Kometenhagel auf die Gegner nieder, ohne dass diese den Aufschlagspunkt vorhersehen konnten. Dies schien die richtige Methode zu sein oder zumindest eine weniger erfolglose. Wenigstens zwei der Schemen lösten sich auf, die anderen flüchteten rechtzeitig rückwärts. Die Erschöpfung war den beiden Beschützern anzusehen. Anspannung verhärtete Trusts Gesichtsausdruck und ließ seine Attacken zwar in verschiedenen Formen auf die Angreifer regnen, doch ihre Reichweite nahm zusehends ab. Vor den beiden blieb Desire stehen, sich unsicher, ob der Schutzschild auch ihre Freunde abprallen lassen würde und sie dadurch noch mehr Schaden anrichtete. Die Lösung lieferte Change, der nicht mitbekommen hatte, dass Desire stehenblieb und daher einfach weiterlief und dabei die Grenze des Schildes problemlos überschritt. Daraufhin wagte sich Desire abermals nach vorne, bis die Schutzhülle auch Unite und Trust in ihren Radius aufgenommen hatte. Trust scherte sich nicht um die nahezu durchsichtige orange Lichtkuppel, sondern feuerte unablässig seine Kräfte ab. Wieder und wieder in einem regelrechten Wahn. „Trust, hier drin sind wir sicher. Sie können hier nicht hinein.“, informierte Desire ihn. Trust reagierte nicht. Fortdauernd beschoss er die Feinde, schien weggetreten. Change blickte derweil in Richtung Riesenrad. Die Schatthen mussten Erik und Tiny längst erreicht haben. „Hör auf, die ganze Zeit die Gondel anzugaffen!“, donnerte Trust. Change zuckte zusammen. Wie konnte Trust überhaupt wissen, was hinter seinem Rücken vorging? „Wenn du noch mal so einen Mist machst, rettet dich niemand!“, brüllte Trust. So hatte Change ihn noch nie erlebt. Offensichtlich war Trust stinksauer wegen dem Vorfall mit Desire. Change konnte nicht wissen, welche Höllenqualen sein Freund ausgestanden hatte, als er die Stellung hatte halten müssen, mit dem Wissen, dass er damit Desire und Change tatenlos einem unbestimmten Schicksal überließ. Trusts Muskulatur war verkrampft, Schweiß lief ihm über die Stirn, alles an ihm wirkte, als würde es schreien. Desire wagte es nicht, das Wort erneut an ihn zu richten. Alsdann trat Unite an ihr vorbei zu ihm. Im nächsten Moment stand Trust still. Wie plötzlich ausgeschaltet, regte er sich nicht mehr. Zerbrechlich und zart klang Unites Flüstern in seinem Rücken. „Hör auf.“ Trusts Arme fielen herab wie etwas, dessen Antrieb mit einem Mal ausgeschaltet worden war. Sein Atem ging schwer. Mit sanfter Entschlossenheit schlang sie die Arme noch enger um seinen Bauch, weiterhin an seinen Rücken geschmiegt, riss ihn damit aus seiner Selbstbeherrschung. Trust ging in die Knie, stützte sich auf den Boden vor sich, sodass sie von ihm ablassen musste. Schweißperlen tropften von seinem Gesicht. Er rang nach Atem. Dann war Unite an seiner Seite. Ihre Arme legten sich wie Schwingen um seinen Kopf und zogen ihn näher zu sich bis er ermattet in ihren Armen lag und sich nicht dagegen wehren konnte. Er wusste nicht, wie sie es machte, dass er in ihren Armen alles zu vergessen schien. Für diese Szene zeigte Change wenig Verständnis. Es war keine Zeit für eine Kuscheleinlage, solange Erik und Tiny immer noch in Gefahr waren! – Feingefühl war noch nie seine Stärke gewesen. Er sah erneut zum Riesenrad, das er durch den orangefarbenen Schimmer des Schutzschilds nicht mehr völlig klar erkennen konnte. Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild der Gondel, in der Erik und Tiny saßen. Der Gedanke daran war so lebendig in ihm, dass er es schon körperlich spürte. Das Innere der Gondel, direkt dort, die Fenster, aus denen man die Schatthen sehen konnte, wenn die Bestien sie nicht schon zertrümmert hatten. Destinys ängstliches Gesicht, dennoch tapfer kämpfend. Er musste dorthin, er musste! Um jeden Preis. Er musste dorthin! Wie ein Windstoß packte etwas seinen Körper, riss ihn hinfort, ohne dass er den Standpunkt zu wechseln schien, er hörte nur noch Desires Rufen. Dann knallte sein Schädel gegen etwas Hartes, sodass er die Augen zukniff und lautstark fluchte, um dem Schmerz Ausdruck zu verleihen. „Gott verdammt! Fu-“ In dem Moment vernahm er eine andere Stimme als Desires. „Change?“ Mit der Linken seinen Kopf haltend, wirbelte Change herum und wäre fast von dem Sitz gefallen, auf dem er plötzlich stand. Kapitel 67: Teleport -------------------- Teleport „Zusammenkommen ist ein Beginn, Zusammenbleiben ein Fortschritt, Zusammenarbeiten ein Erfolg.“ (Henry Ford, amerikanischer Industrieller (1863 - 1947)) Change und Destiny starrten einander an. Neben Destiny auf dem Boden lag Erik, regungslos - wenn man von den Auf- und Abbewegungen seines Brustkorbs bei der Atmung einmal absah. Change blinzelte und schlug sich gegen den Kopf. Aber an dem Anblick änderte sich nichts. Er sah auf und erkannte, dass er mit dem Kopf gegen die Decke der Gondel gestoßen war. Die Gondel leuchtete nicht mehr, Destiny musste vor Schreck die Ausübung ihrer Fähigkeiten unterbrochen haben. Destiny versuchte ihrer Verwunderung Ausdruck zu verleihen. „Wie - ?“ Change zuckte mit den Schultern. Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Er deutete auf Erik. „Ist der tot?“ Daraufhin verfinsterte sich Destinys Gesicht so sehr, dass Change für einen Moment glaubte, dem Trick eines Schatthens erlegen zu sein, der Destinys Aussehen angenommen hatte. Auch das Schimpfwort, das sie ihm an den Kopf warf, war alles andere als schicklich. Change hob entschuldigend die Arme. „Das war doch nicht ernst.“ Allerdings schien ihm Destiny das nicht so schnell zu verzeihen. Stattdessen drehte sie den Kopf in die andere Richtung, wo Change jetzt das zerbrochene Fenster entdeckte. Er sah, wie Destiny in ihrer Linken ihre Kräfte zu sammeln versuchte. Nichts tat sich. Für einen Moment herrschte Schweigen. „Du Vollidiot!!!“ Change schreckte zurück und prallte gegen das Fenster in seinem Rücken. „Es war alles fantastisch, bis du aufgetaucht bist, du Volltrottel!“ Sie ließ einen Schrei der Entrüstung los, als wolle sie sich im nächsten Moment auf ihn stürzen und ihn erdrosseln. Ein weiterer Schrei folgte. „Hey, ich bin hier, um dich zu retten!“, beanstandete Change. „Tolle Rettung!“, schimpfte sie. Erst in diesem Moment fiel Change auf, dass er gar nicht wusste, was er jetzt tun sollte. Schlechter Plan. Erneut versuchte sich Destiny an der Ausübung ihrer Fähigkeiten. Vergeblich. Ihre Reaktion wandelte sich. Ihr Rücken krümmte sich und ein weinerlicher Laut drang aus ihrer Richtung. „Tiny…“ „Du bist schuld…“, wimmerte sie weinerlich. „Was hab ich denn gemacht?“ „Du bist da…“ „Und was ist daran so schlimm?!“, verlangte er zu erfahren. Destiny krümmte sich und bettete ihren Kopf auf Eriks Brust. Niedergeschlagen klammerte sie sich an ihn. Sie konnte ihn nicht beschützen. Change erinnerte das Bild unschön an die Liebesszene zwischen Trust und Unite. Wieso fand er sich an dem Ort wieder, wo er unbedingt hingewollt hatte, nur um ausgerechnet das miterleben zu müssen?! Er schürzte die Lippen und wandte sich wieder dem Fenster zu, um sich diesem Anblick nicht länger auszusetzen. Draußen konnte er die Schatthen von zuvor nicht mehr entdecken. Hatte Destiny sie erlöst? „Äh, die Schatthen“, setzte er an und stockte, als er von Destiny erneut nur Gewimmere zu hören bekam. „Ist ja gut! Tut mir leid!“ Auch das half nichts. „Erik.“, schluchzte Destiny. Das brachte das Fass zum Überlaufen! Dass sie sich liebevoll um den ständig in Ohnmacht fallenden Muskelprotz kümmerte, war ja in Ordnung, verständlich, zu begrüßen, aber ihn auch noch mit verheulter Stimme anzuschmachten, als könne er sie aus dieser Situation erretten, ging eindeutig zu weit! „Hör auf ihn zu betatschen!“, schrie Change. Zumindest erreichte er dadurch, dass Destiny nun ein völlig anderes Gesicht zog. Ein ziemlich Dämliches sogar. Change wich ihrem Blick aus. „Du könntest ihm was brechen oder so.“ Er sah nicht, wie sich Destinys Augenbrauen in einer mimischen Übersetzung des Spottes bewegten. Change linste hinüber zu ihr und begegnete ihrem strengen Blick. „Warum bist du nicht bei den anderen?“, dröhnte sie wie eine Stimme aus der Hölle. „Es war ein Versehen.“, verteidigte er sich. „Wie kannst du versehentlich hier auftauchen?“ „Was weiß denn ich! Plötzlich war ich da.“ Destiny zog ein ungläubiges Gesicht. Schließlich drehte sie den Kopf wieder dem zerbrochenen Fenster zu. „Es werden noch mehr kommen.“ „Hä?“ Destiny verdrehte nur die Augen und unterließ es, ihm zu sagen, dass sie die Schatthen meinte. Was dachte er denn? Verwandte aus Amerika?! Trottel. Und warum zum Teufel konnte sie sich in seiner Gegenwart einfach nicht konzentrieren? Er regte sie so auf, dass sie hätte schreien können! Change stöhnte genervt, stieg von dem Sitz, an Destiny vorbei zu dem zerbrochenen Fenster, wo er stehen blieb. „Kein Grund Selbstmord zu begehen.“, sagte Destiny so trocken, als wolle sie ihn dadurch nur noch ermuntern aus dem Fenster zu springen. „Ich kann fliegen!“, schimpfte er. „Kannst du nicht.“ „Kann ich wohl.“ „Kannst du nicht.“ Change drehte sich wütend um. „Und ob ich das kann!“ Erneut verdrehte Destiny die Augen und schüttelte bloß noch den Kopf. Change brodelte. „Du wirst schon sehen!“ „Wie du abstürzt?“ Dieses Mal war es Change, der einen tobsüchtigen Schrei ausstieß. Erstaunlich, dass Erik bei all dem Gekeife und Geschrei dennoch nicht aus seiner Ohnmacht erwachte. Change wandte sich um und machte tatsächlich Anstalten, aus dem Fenster zu springen. „Change!“ Mit eingeschnapptem Ausdruck lugte er über seine Schulter. „Bist du bescheuert?!“, kreischte Destiny. Change wandte ihr den Rücken zu. „Kann dir doch egal sein.“ Seine Stimme hatte den Klang eines beleidigten Kleinkindes angenommen. Es fehlte nur noch dass er die Backen aufblies. „Du Vollidiot!“ Abermals wirbelte Change herum. „Ey, kannst du mal aufhören, mich ständig zu beleidigen!“ Destiny entgegnete nichts. Change schürzte die Lippen. „Du hast doch selbst gesagt, ich soll wieder zu den anderen gehen.“ Sie schwieg. Wieder versuchte sie, sich auf ihre Kräfte zu konzentrieren, aber sie konnte einfach nicht! „Ich kann meine Kräfte nicht einsetzen.“, informierte sie ihn. „Hä?“ Change schien ihr das nicht abzukaufen. „Man konnte das Licht schon von Weitem sehen.“ „Bevor du gekommen bist!“ Change zog ein selten dämliches Gesicht. „Und wieso soll das jetzt nicht mehr gehen?“ „Weil ich mich in deiner Nähe nicht konzentrieren kann!“, fuhr Destiny ihn an. Tellergroße Augen stierten ihr entgegen. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein und wurde rot. Was für eine blöde Erklärung. „Wieso?“, fragte er täppisch. Destiny brauste auf. „Du Vollidiot!“ Change schien ehrlich verwirrt. Als das Schweigen anhielt, setzte Destiny dazu an, das Thema zu wechseln. „Setz dich.“ „Hä?“ „Du sollst dich setzen!!!“ Change tat wie ihm geheißen. Stumm nahm er den kleinen noch freien Platz auf dem Boden neben ihr ein. „Wenn die Schatthen kommen, musst du sie aufhalten.“, erklärte sie. Sorglos stupste Change sie von der Seite an. „Dafür bin ich doch da.“, grinste er frohgemut. So leise maunzte Destiny „Du bist so ein Trottel.“, dass es fast so klang, als hätte sie etwas anderes sagen wollen. „Eben stand er noch neben mir.“, klagte Desire. Changes Verschwinden hatte die drei übrig gebliebenen Beschützer in Aufruhr versetzt. Trust war augenblicklich wieder auf die Beine gesprungen. Doch nirgends war mehr eine Spur von Change zu entdecken. Er berührte den Schutzschild, der seine Finger ohne Weiteres passieren ließ, als handle es sich bei der Lichtkuppel um nichts als ein Hologramm. Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn. „Vielleicht ist er zum Riesenrad.“ „Aber –“ Desire stockte. Natürlich, wenn Change sich unsichtbar gemacht haben sollte, hätten sie seine Flucht nicht sehen können. Doch wieso hätte er das tun sollen? „Change würde dich nie hintergehen.“, sagte Unite zu Trust. Trust machte ein reumütiges Gesicht. „Nachdem ich ihn so angefahren habe? Und gesagt habe, dass ihm keiner helfen wird?“ Desire versuchte, ihn zu beruhigen. „Es stimmt zwar, dass Change oft voreilig handelt, aber dass er einfach auf eigene Faust abhaut, klingt ziemlich …“, Desire hielt kurz inne und musste sich dann eingestehen, „…wahrscheinlich.“ Schließlich war Change ein Dickkopf und wollte unbedingt Destiny und Erik helfen. „Wenn die Schatthen ihn entdeckt hätten, hätten wir es sicher mitbekommen.“, nahm Trust an und atmete aus. Unite trat dicht neben ihn. „Er kommt schon zurecht.“ Trust nickte und holte Luft. „Wir können doch auch zum Riesenrad gehen.“, schlug Desire vor. Trust schüttelte den Kopf. „Im schlimmsten Fall lenken wir damit die Aufmerksamkeit der Schatthen auf ihn. Es ist besser, wir bleiben hier. Solange ist er sicherer.“ „Dann sollten wir sie am besten ein bisschen auf Trab halten.“, meinte Unite mit einem Lächeln und hatte sogleich ihre Hand in das verheißungsvolle Licht ihres Angriffs gehüllt. „Ich weiß nicht, wie lange der Schutzschild noch bleibt.“, gab Desire zu bedenken. Trust drehte sich ihr zu. „Du setzt deine Kräfte am besten nicht ein, Unite und ich übernehmen das.“ Desire schien nicht begeistert, stimmte aber zu. „Wenn Destiny hier wäre, wäre alles einfacher. Sie könnte diese Schatthen paralysieren, damit sie uns nicht mehr ausweichen können.“ Unite war derweil an die Wand des Schutzschildes getreten. „Da sind keine Schatthen mehr.“ Die anderen beiden eilten an ihre Seite. Auch sie konnten keine sich bewegenden Punkte mehr am Boden erkennen. „Vielleicht warten sie in der Dunkelheit darauf, dass das Schutzschild nachlässt.“, vermutete Trust. Unites Berührung holte ihn aus seinen Gedanken. Vor der Schutzkuppel zog sich etwas Schwarzes zusammen, dunkler als die Finsternis selbst, als wäre es etwas Lebendiges, eine Mischung aus Wind und Rauch und Teer. Wortlos beobachteten die drei Beschützer das Spektakel. Dann, mit einem Mal, standen dort drei Schatthen, wie aus einer fremden Dimension übergetreten. Doch etwas war anders an ihnen. Sie trugen etwas um ihren Brustkorb. Eine technisch anmutende Konstruktion. „Ist das ein Sprenggürtel?“, fragte Desire ungläubig. Unite konnte nicht anders als zu lachen und stellte sich arabisch sprechende Schatthen mit Turban vor. Dass das rassistische Klischeebilder waren, interessierte sie wenig. Trust sah das nicht so locker. „Sie verwandeln sich nicht.“ Die drei Schatthen standen einfach nur da, wie Zinnsoldaten, und boten eine perfekte Angriffsfläche. „Du meinst, wir sollen sie angreifen?“, fragte Desire. „Oder gerade nicht.“, antwortete Trust. „Das mit dem Sprenggürtel ist nicht so abwegig wie es klingt. Damit kann der Schatthenmeister uns davon abhalten, die Schatthen anzugreifen.“ Desire erschrak über den Gedanken. „Wenn die Schatthen sich auflösen, werden diese Gürtel also aktiviert. Was auch immer dann passiert.“ Trust nickte. Unite erinnerte die anderen: „Der Schatthenmeister will uns lebendig.“ „Wenn wir sie nicht angreifen, bleiben wir lebendig. Und diese Gürtel sind nicht zu übersehen.“, entgegnete Trust. Unite kicherte. „Gut, dass Change nicht da ist, er hätte sofort auf sie geschossen.“ Furchtbare Kopfschmerzen. Etwas pochte in ihrer Stirn, in ihrem Kopf, in ihren Gedanken, jenseits des Greifbaren, etwas, das auszubrechen drohte. Die Verkrampfung verursachte Übelkeit. Sie wollte sich nicht erinnern. Sie wollte sich nicht – Ewigkeit öffnete die Augen. Noch immer standen die drei Beschützer da und wussten nicht, was sie tun sollten. Weder konnten sie die Schatthen angreifen, noch konnten die Schatthen ihnen näher kommen. Patt-Situation. „Worauf ist der Schatthenmeister aus?“, fragte Desire. „Er wartet bis der Schutzschild sich auflöst.“, mutmaßte Trust. Etwas regte sich in Unites Bauchtasche, besser gesagt strampelte. Sogleich befreite Unite das kleine Etwas aus seinem Gefängnis. Eilig schlüpfte Ewigkeit aus der Tasche und schnappte nach Luft, als wäre sie kurz vor einem klaustrophobischen Anfall gewesen. „Warum hast du mich eingesperrt?“, fragte sie entsetzt. Unite lächelte sie an. „Du hättest dich einfach heraus teleportieren können.“ Ewigkeit schien kurz über diese Möglichkeit nachzudenken, ehe ihr Blick aus der Schutzkuppel hinaus fiel. „Schattheeen!“ Schnurstracks hatte sie sich in Unites Haar versteckt, sodass diese auflachte. Desire wandte sich an das Schmetterlingsmädchen. „Ewigkeit, du musst zu Destiny.“ Verwundert lugte Ewigkeit aus ihrem Versteck hervor. „Sie ist dort oben in dieser Gondel.“ Desire deutete zum Riesenrad. Ewigkeit blickte gebannt in Desires Gesicht. „Was ist 'Destiny'?“ Langsam hätte sie sich doch an die Namen gewöhnen können… Change und Destiny saßen noch immer nebeneinander auf dem Boden, was bei dem geringen Platz in der Gondel, etwas unbequem war. In dieser Situation hatten sie allerdings Wichtigeres im Kopf. „Meinst du, der wacht noch mal auf?“, fragte Change und deutete auf Erik. „Halt die Klappe.“, schimpfte Destiny. „Sollen wir nicht –“ „Achte auf die Schatthen, du Trottel.“ Change zog ein unzufriedenes Gesicht. „Immer musst du mich beleidigen.“ „Leb damit.“ Change brummte und sah aus dem Fenster. „Scheinen keine da zu sein, wobei…“ Er ging auf die Knie und beugte sich an Destiny vorbei, um aus dem Fenster zu ihrer Rechten zu sehen. Er stütze sich mit der Linken Hand an der Gondeltür ab. „Was machst du da?“, rief Destiny. Die unmittelbare Nähe zu Change ließ ihre Stimme einen ungewohnt hohen Ton annehmen. Aus dieser Entfernung nahm sie den sachten Geruch wahr, der von ihm ausging. Eine Mischung aus dem Geruch seiner Haut und dem Duft seines Shampoos. „Ich kann nicht richtig sehen, du bist im Weg.“, meinte Change und machte keine Anstalten, sich von ihr zu entfernen. „Change… Es ist – eng.“ „Das ist dein größtes Problem?“, spottete Change. Ihm fiel auf, dass er mit seinem Oberkörper oberhalb von Erik hing. Er feixte. „Was? Hast du Angst, dass ich umkippe und den Ohnmächtigen zerquetsche?“ Er hob in einer ziemlich dämlich wirkenden Geste den rechten Arm. „Uuuuh!“ Destiny schaute nur noch entnervt. Wie konnte ein Mensch allein nur so dumm sein? „Geh doch einfach hinter mir ans Fenster.“ Change warf einen weiteren Blick in Destinys Richtung und begriff. „’Tschuldige.“, stieß er eilig hervor und zog sich in einer überstürzten Bewegung zurück, sodass er gegen Destinys Schulter prallte. „Kannst du nicht aufpassen?!“ „Tut mir leid. Ich -“ „Change!!!“ Er hatte keine Zeit mehr sich umzudrehen. Destiny hatte ihn im gleichen Moment gepackt und zu sich gezogen, als der Schatthen sich auf sie stürzte. Der stinkende, halb verrottete Leib der Kreatur traf Change, er hörte Destiny kreischen, dann setzte er seine Kräfte frei. „Tiny!“, rief er, noch ehe er sich umgeben von wehendem Glitzer wieder aufhievte. „Alles okay?“ „Verflucht! Du sollst auf das Fenster achten!“, kreischte Destiny schrill, es hörte sich an, als würde sie losheulen. Change schluckte und stand auf, stieg auf den Sitz. „Ich geh raus.“ Augenblicklich wurde er an seinem Bein gepackt. „Hör auf!“ „Draußen kann ich dich besser beschützen!“ Überzeugung sprach aus seiner Stimme. Destiny schluchzte. „Change!“ Sie ließ nicht von ihm ab. Change sah aus dem Fenster, wo er erneut Schatthen entdeckte. „Da sind noch mehr. Lass los.“ „Du stürzt ab! Du kannst nicht fliegen.“ Demonstrativ schwebte Change. „Ich kann.“ Destiny krallte sich noch fester. „Geh nicht.“ „Tut mir leid.“ Change riss sich los und sprang aus dem Fenster, gefolgt von Destinys Schrei. Sie stürzte ans Fenster, wo sie entsetzt in die Tiefe stierte. „Ich hab doch gesagt, ich kann’s.“, sagte Change überzeugt und stand vor ihr in der Luft. Dann gewann er an Höhe, bis Destiny ihn nicht mehr sehen konnte. Daraufhin eilte sie zur anderen Seite der Gondel, um Change von dort aus zu beobachten. Sie sah, dass er zu der Speiche geflogen war, die zu ihrer Gondel führte. Die Schatthen schenkten ihm keine Beachtung. Doch als Change seine Kräfte zu rufen versuchte, kam er ins Straucheln. Er drohte abzustürzen. Destiny trommelte gegen die Fensterscheibe und schrie seinen Namen. Die Angst um ihn schnürte ihr die Kehle zu. Sie musste die Scheibe zerschlagen, dann würde sie ihre Kräfte auf die Schatthen schießen können. Aber wie? Sie sah sich in der Gondel um, sie hatte nichts Spitzes, Hartes, das ihr als Hilfsmittel hätte dienen können. In ihrer Verzweiflung versuchte sie die Scheibe mit den Beinen einzutreten, aber es half nichts. Verflucht! Was sollte sie nur tun? Unwillkürlich fiel ihr Blick auf Erik. Was tat sie hier eigentlich? Seit wann wurden ihre Kräfte denn von einer Fensterscheibe aufgehalten? Und überhaupt! Sie konnte ihre Attacke genauso gut durch das andere Fenster lenken! Fest entschlossen, rief sie ihren Schicksalsschlag herbei. Die Energie loderte noch heller als zuvor, flammte aus dem zersprungenen Fenster und setzte die gesamte Speiche, auf der die Schatthen heraufgekrochen kamen, in Brand. Als wäre die Speiche mit Benzin begossen und angezündet worden. Als das Licht wieder erlosch, war von den Schatthen nichts mehr zu sehen, genauso wenig wie von Change. Panisch versuchte Destiny ihn irgendwo auszumachen, aber er war nirgends zu entdecken. Dann hörte sie etwas auf der Gondel aufkommen. Sie stürzte zum zersprungenen Fenster und sah sich im nächsten Moment einem Schatthen gegenüber. Vor Schreck fiel sie nach hinten, hatte nicht mehr die Gelegenheit, etwas zu tun. Weißbläulich glitzernde Schwaden umhüllten sie und Change stand im Fensterrahmen. Er schnappte nach Luft. „Wie kommt’s, dass du aus der Ferne ne Riesenwelle auslöst und vier Schatthen gleichzeitig plattmachst und gar nichts hinkriegst, wenn so ein Ding vor dir steht?“ „Ich bin keine Nahkämpferin.“, murrte Destiny. Change atmete aus und stieg ins Innere. „Alles okay?“ Ohne Antwort setzte Destiny sich auf und zog den Kopf ein. Daraufhin betrat Change den noch freien Platz des Bodens und beugte sich zu ihr. Ihre Reaktion darauf war allerdings so überraschend, dass er das Gleichgewicht verlor, vorwärts stürzte und Destiny unter sich begrub. „Du Idiot.“, jammerte Destiny. Mittlerweile tat ihr von dem ganzen Umstürzen und Begrabenwerden alles weh. „Hättest du mich nicht umarmt.“, gab Change zurück. Auch er war heute mehr als genug gegen alles Mögliche geknallt. „Ich war froh, dass du lebst!“ „Ich auch!“ „Schicksal?“ Destiny und Change horchten auf, als sie Ewigkeits Stimme vernahmen. Umständlich versuchten sie sich zu entknoten. Bei dem geringen Platz war das allerdings leichter gesagt als getan. „Tret’ nicht auf Erik!“, schimpfte Destiny. In der nächsten Sekunde schrie sie auf: „Tut mir leid.“ „Hör auf, mich zu begrabschen!“ „Was glaubst du, wo deine Hand ist?“ Destiny kreischte vor Schreck. „Geh von mir runter!“, rief sie. „Ich darf mich ja nicht bewegen!“, beschwerte sich Change. Plötzlich hörten sie ein glockenhelles Kichern. „Das sieht lustig aus.“ Die beiden erstarrten und waren schlagartig still. „Steh einfach auf.“, sagte Destiny zur Abwechslung mal nicht aggressiv und hielt einfach still. Nachdem auch Change nun kein Drama mehr daraus machte, war das Problem einigermaßen schnell behoben. „Was ist mit den anderen?“, fragte Destiny. „Sie warten unten.“, informierte Ewigkeit. „Wir müssen zu ihnen.“, entschied Change. Destiny sah ihn vielsagend an. „Ich kann nicht fliegen.“ „Dann fliegst du mit mir.“ Destiny rief sich das Bild von dem strauchelnden Change ins Gedächtnis. „Ganz sicher nicht.“ „Vertraust du mir etwa nicht?“ „Nicht die Bohne.“ Die beiden starrten einander missmutig an. „Ich kann Erik hier nicht liegen lassen.“, fügte Destiny an und wandte den Blick ab. „Dem geht’s gut. Nichts auf der Welt kann ihn aufwecken.“ Demonstrativ stupste er Eriks Bein mit seinem Stiefel an. „Hör auf damit!“ Ewigkeit indes schien den ohnmächtigen Jungen erst jetzt wahrzunehmen. Plopp war sie weg und tauchte im nächsten Moment in Destinys Pferdeschwanz wieder auf. Haare waren offensichtlich ihr Lieblingsversteck. „Der unheimliche Junge.“ „Was soll an dem unheimlich sein, außer dass er aussieht wie tot?“, fragte Change. „Halt die Klappe!“, brauste Destiny auf und kniete sich zu Erik. Daraufhin flüchtete Ewigkeit aus ihrem Haar und suchte auf Changes Schulter Zuflucht. „Die anderen brauchen uns.“, erinnerte er. „Dann geh doch.“ Change wandte sich an Ewigkeit. „Kannst du uns nicht runter teleportieren?“ Verständnislos neigte Ewigkeit ihren Kopf zur Seite. Change kam ins Grübeln. Vorhin war er in der Gondel genauso plötzlich aufgetaucht wie Ewigkeit. „Wie machst du das mit dem Teleportieren?“ Die Kleine verstand noch immer nicht. „Wie tauchst du einfach hier auf und bist dann wieder woanders?“ „Ich mache es einfach.“ „Ja, aber wie?“, drängte Change genervt. Ewigkeit zog ein nachdenkliches Gesicht. Dann switchte sie von einer Sekunde zur nächsten von Changes linker Schulter zu seiner rechten. Daraufhin lächelte sie zufrieden, als hätte sie das Geheimnis gelöst. „Ich denke an den Ort oder an die Person oder an beides, ganz fest, als wäre ich schon da, und dann bin ich da.“ Change entsann sich, dass er etwas Ähnliches vorhin getan hatte, als er so sehr bei Tiny und Erik in der Gondel hatte sein wollen. Er war sich ganz sicher. Das war das Gleiche gewesen, was Ewigkeit immer einsetzte. Das hieß, er konnte sie hier rausbeamen! Augenblicklich grinste er. „Ich teleportiere uns hier raus.“, verkündete er. Destiny machte sich nicht die Mühe, den Blick zu heben. „Ja klar…“ „Wart’s nur ab.“ Er kniete sich wieder neben sie, legte seine eine Hand auf Erik, die andere auf Destinys Hand. Grauen-Eminenz starrte auf seine Monitore. Und starrte. Und starrte... Was war das Problem dieser Gören??!! Da standen drei Schatthen. In Reih und Glied aufgestellt. Keinerlei Problem sie zu treffen. Wieso griffen sie sie nicht an?! Sein Blick fiel auf die drei mit stierem Blick dastehenden Bestien. Er hatte sie bewegungsunfähig machen müssen, damit sie ja nicht auf die Idee kamen, sich in Schatten zu verwandeln, ansonsten wären die Messinstrumente auf den Boden geknallt und kaputt gegangen, schließlich ging die Fähigkeit der Schatthen nicht einfach auf die Geräte über. Verdammt! Er hätte diesen Teilen ja auch ein besseres Aussehen verpassen oder sie mit einem Tarnzauber belegen können. Ihm fiel jetzt erst auf, dass die Schatthen damit wie Selbstmordbomber aussahen. Er Trottel! Der Schatthenmeister stöhnte. Da gab man sich alle Mühe und dann machten diese Auserwählten solche Sperenzchen! Hätte er sich ja denken können, die waren in allem so furchtbar langsam und dachten viel zu viel nach! Was war nur mit der heutigen Jugend los?! Wo blieb der feurige, unbedachte Eifer? Wo die hirnlose Unüberlegtheit? Diese dämlichen, zu viel denkenden Jugendlichen! Er trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. Gut, sie wollten das aussitzen. Auch er konnte warten! Jawohl, das konnte er! Das Trommeln seiner Finger wurde stärker. Noch stärker. Aaaah! Warum konnten die sich nicht einfach beeilen!!! Seit einer gefühlten Ewigkeit versuchte Change nun schon seine vermeintliche Fähigkeit einzusetzen. In der Zwischenzeit war Ewigkeit wieder zu den anderen zurückgekehrt, um diese über den Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen. Doch Destiny bezweifelte stark, dass diese hirnrissige Idee mehr war als reine Zeitverschwendung. „Vergiss es einfach.“, sagte sie schwerfällig. „Du kannst nicht teleportieren.“ Change konterte voller Pathos. „Ach ja? Und wie bin ich dann vorhin hier drin gelandet?“ Schlagartig änderte sich etwas in Destinys Gesichtsausdruck. „Du hast Recht.“ „Wieso schockiert dich das so?“, erwiderte er mit knarziger Stimme. „Das heißt,…“, sie ergriff nun ihrerseits Changes Hand und strahlte ihn an, „…es könnte wirklich funktionieren!“ Change wandte seinen Blick von ihr ab und klang mit einem Mal kleinlaut. „Ist doch klar.“ „Change?“ Er drehte sich wieder ihr zu. Zu seiner Überraschung sah sie ihm nicht wütend, sondern fest entschlossen in die Augen. Ihre Stimme wurde weich, fast liebevoll. „Schließ die Augen.“ Wie vom Blitz getroffen schreckte Change in einer hektischen Bewegung von ihr weg und knallte gegen die Gondel. „Was?!“ „Du sollst dich konzentrieren.“ Change ließ die Arme sinken. „Achso.“ Destiny musterte ihn verständnislos und ergriff dann erneut seine Hand. Sie hatte Erik mit Changes Hilfe auf ihren Schoß gebettet, um zu vermeiden, dass sein Kopf bei einem etwaigen Teleport auf dem Pflaster aufkam. „Konzentrier dich.“ Change schloss die Augen und vernahm Destinys Stimme, die so ungewohnt sanft und angenehm klang. „Stell dir die anderen vor. Trust mit seinen kastanienbraunen Haaren und seinem ernsten, besorgten Blick in seinem lila Anzug, wie ein Fels in der Brandung, der alle beschützen will. Unsere kleine Unite in Grün mit ihren quirligen Bewegungen, lila Spangen in ihrem orangenen Haar, und trotz allem noch optimistisch lächelnd und alle damit aufmunternd. Desire in ihrer roten Uniform, ihre anmutige Haltung, der wache Blick, der zeigt, dass sie wieder zu viel nachdenkt, ihr langes goldenes Haar im Nacken zusammengebunden. Sie stehen in einem Schutzschild, das sanft leuchtet und sie einhüllt.“ Diese Information hatte Change ihr zuvor gegeben. „Unter dir spürst du den Asphalt. Die Luft ist kalt. Die Geräusche der Fahrattraktionen vom Jahrmarkt kommen aus der Ferne. Und alles ist verseucht mit dem Gestank der Schatthen.“ „Igitt.“, machte Change. Er konnte nicht sehen, dass Destiny bei seinem Kommentar lächelte. „Hörst du Trusts feste, vertrauenerweckende Stimme? Siehst du die orangefarbene Kuppel des Schutzschilds?“ Destiny musste sich beherrschen, vor Schreck keinen Laut von sich zu geben, der Change aus seiner Konzentration gerissen hätte. als sie fühlte, wie etwas Seltsames von seiner Hand auf sie überging. Sie hätte auch nicht viel Gelegenheit dazu gehabt, denn im nächsten Moment fand sie sich mitsamt Erik und Change vor einer orangefarbenen Kuppel wieder. „Was genau ist an ‚in der Kuppel‘ so schwer zu verstehen?!“, fauchte sie. „Hä?“, Change öffnete die Augen und bemerkte erst jetzt, was passiert war. „Woohooo!“ Trust, Unite und Desire stierten noch immer die drei Schatthen an. Es waren jetzt sicher schon fünfzehn Minuten, in denen sie gar nichts getan hatten. Desire hatte mittlerweile auf dem Boden Platz genommen. Zum Glück war ihre Kleidung absolut kälteabweisend. „Glaubt ihr, Change kann wirklich teleportieren?“, fragte sie. „Das erklärt, warum er vorhin einfach weg war.“, antwortete Unite freudig. Trust ließ die Schatthen nicht aus den Augen. „Das hilft uns aber immer noch nicht bei unserem Problem.“ Desire sprang auf die Beine. „Dort!“ Ein paar Meter von ihrem Schutzschild entfernt vor dem Riesenrad erschienen plötzich drei Gestalten. Desire rief die Namen von Change und Destiny, erkannte dass Erik sich nicht regte. Sie wollte gerade loslaufen, um die drei in den Schutzschild aufzunehmen, als Unites Schrei in ihren Ohren dröhnte. „Change, nicht!“ Sobald er die drei Schatthen entdeckt hatte, hatte er auch schon seinen Wind der Veränderung freigesetzt. Es war zu spät, das Unvermeidbare noch aufzuhalten. Kapitel 68: Läuterung --------------------- Läuterung „Eine Wahrheit kann erst wirken, wenn der Empfänger für sie reif ist.“ (Christian Morgenstern) Die Attacke traf die Feinde ohne Schwierigkeiten und hinterließ von ihnen nichts als einen glitzernden Schimmer. Die drei Apparaturen, die die Schatthen um den Leib getragen hatten, fielen zu Boden, doch ehe sie aufkommen konnten, wurden sie von einer Schwärze geschluckt, die dem plötzlichen Auftauchen der Schatthen zuvor glich. Anschließend waren auch sie verschwunden. Trust, Unite und Desire starrten entgeistert auf die leere Stelle. Change indes ließ einen Siegesschrei los. Schlagartig fuhr etwas durch die Atmosphäre, als würde sich die Luft für einen Moment krümmen. Das Gefühl jagte durch die Körper der Beschützer. Alles schien sich zu verschieben, ein Schwindelgefühl erfasste sie. Dann war es vorbei. Die Lichter gingen wieder an. Das Riesenrad begann sich wieder zu drehen. Verwundert wurden sie des plötzlich wieder einsetzenden Lebens um sich herum gewahr. Die ohnmächtigen Menschen erhoben sich wie von Geisterhand und richteten ihre Blicke auf sie. Schon fürchteten die Beschützer nun von Zombies attackiert zu werden. Doch die Leute wandten sich wieder ab, ja machten einen großen Bogen um sie. Entfernt konnten sie das Getuschel verstehen. „Was machen die da?“ „Was haben die an?“ Den Schutzschild konnten die Leute offensichtlich nicht wahrnehmen. Baff verfolgten die fünf, wie die Leute um sie herum ganz normal wieder ihre Tätigkeiten aufnahmen. Ein Mann Mitte vierzig ging auf Destiny und Change zu. „Ist es nicht etwas früh für Fasching?“ „Das ist Cosplay.“, antwortete Destiny schlicht. Der Mann schien das nicht zu kennen. „Und was ist mit dem?“ Er deutete auf den Ohnmächtigen auf Destinys Schoß. „Accessoire.“, sagte Destiny. „Wir brauchen einen Sanitäter!“, rief dagegen Desire, die hinzugerannt kam und sich zu Erik kniete. Ihr Schutzschild hatte sich aufgelöst. Der Mann war sich offenbar nicht sicher, was er davon halten sollte. „Sie spielt nur ihre Rolle.“, antwortete Destiny in unheimlicher Ruhe. „Was?!“, schrie Desire. „Ignorieren sie sie einfach.“, sagte Destiny weiterhin an den Mann gewandt. „Ja, der ist ständig ohnmächtig.“, versuchte Change zu helfen, handelte sich dafür aber einen bitterbösen Blick von Destiny ein. Dem Mann wurde das wohl immer suspekter, denn er zog ein verstörtes Gesich und entfernte sich schnurstracks wieder. „Wir müssen uns zurückverwandeln.“, forderte Destiny an Change gewandt. „Vor allen Leuten?“, fragte Change. „Ist mir egal! Die machen noch Fotos mit ihren Handys!“, rief Destiny beschämt. Noch schlimmer als das konnte es ihrer Meinung nach nicht werden. Ohne Weiteres nahm sie ihr normales Äußeres wieder an. Die Leute konnten denken, was sie wollten. Change folgte ihrem Beispiel. Desire indes hatte ganz andere Sorgen. „Was ist mit Erik?“, forderte sie zu erfahren. Doch keiner schien eine Antwort zu kennen, nicht mal Ewigkeit, die in einem Sicherheitsabstand zu Erik blieb. Jemand legte Desire von hinten eine Hand auf die Schulter. Sie sah auf und erkannte, dass es Unite war. „Wir kümmern uns drum.“ Dann stand auch sie in ihrer normalen Kleidung wieder da. Auch Justin hatte sich zurückverwandelt. Unzufrieden tat Desire es ihnen gleich. Die Leute um sie herum schienen dem sekundenschnellen Kleidungswechsel weniger Beachtung zu schenken als ihrem seltsamen Aufzug von zuvor. Nur manche schauten für einen Moment irritiert und schienen an ihrem Sehsinn zu zweifeln. Ein Pärchen kam jetzt näher heran und erkundigte sich nach dem Befinden des am Boden Liegenden. Andere Fremde stellten sich wie Schaulustige um die Gruppe auf. Vermutlich gingen sie davon aus, dass der Junge zu viel Alkohol getrunken hatte. „Er kommt gleich wieder zu sich.“, antwortete Serena abweisend. Vitali neben ihr nickte, als wäre Eriks Zustand alltäglich. Ariane nahm sich nicht die Zeit, um den beiden einen empörten Blick zuzuwerfen, sondern wandte sich direkt an das Pärchen: „Können Sie einen Sanitäter holen? In der Nähe war irgendwo ein Zelt vom Roten Kreuz!“ Den Gesichtern der beiden Personen war anzusehen, dass sie keine Ahnung hatten, wo sich besagtes Zelt befinden sollte. Vitali seufzte und sprang auf die Beine, um das Paar zu begleiten. Hinter dem Rücken des Paares bedeutete er den anderen, dass sie das Problem schnellstmöglich beheben sollten. Nur Ariane bekam es nicht mit, genauso wenig wie sie Serenas Blick sah, der deutlich verriet, für wie bescheuert sie die Idee mit dem Sanitätsdienst hielt. Justin beugte sich zu Ariane. „Er ist seit über einer halben Stunde ohnmächtig. Da reicht ein normaler Sanitäter nicht. Das ist keine normale Ohnmacht.“ Bestürzt sah Ariane zu ihm auf. Vivien kniete sich neben sie. „Setz deine Kräfte ein. So wie wenn du Destinys Paralyse aufhebst.“ Ariane zweifelte daran, dass das helfen würde. Aber in Ermangelung einer Alternative war sie bereit, es auszuprobieren. Entschlossen legte sie Erik beide Hände auf und schloss die Augen. Aufgrund ihrer Besorgnis war sie so aufgewühlt, dass sie erst wieder den Zugang zu dem Frieden in sich finden musste. Jedes Mal wenn sie sich zur Eile antrieb, entfernte sie sich wieder von der Quelle, an deren Ursprung sie gelangen musste. Sie versuchte durch langsameres Ausatmen ihre Nerven zu besänftigen. Schließlich fühlte sie die beruhigende Energie von ihrem Inneren über ihre Arme und Hände bis in ihre Fingerspitzen strömen und ließ sie ungehindert in Eriks Körper fließen. Etwas Unangenehmes durchfuhr sie. Gänsehaut. Was -? Das fühlte sich schrecklich an! Nein, sie durfte nicht aufhören! Und wenn sie Schmerzen erleiden müsste! Sie würde nicht aufhören! Noch mehr ihrer Kräfte wirkten auf Erik ein. Auch von dem immer bedrückender werdenden Gefühl, das sie befiel, ließ sie sich nicht aufhalten. Sie schüttelte es ab, konzentrierte sich auf die beruhigende Energie. Abrupt wickelte sich etwas Unsichtbares um ihren Körper und – „Zur Seite, bitte!“ Zwei Sanitäter kamen herbei. Ariane musste von Erik ablassen, auch Serena wurde weg gescheucht. Im gleichen Augenblick drang ein Husten aus Eriks Mund, als müsse er erbrechen. Die beiden Hilfskräfte in ihrer roten Kluft mit den reflektierenden Streifen und dem Logo des Roten Kreuzes knieten sich zu Erik. Einer von ihnen hatte einen roten Rucksack auf, den er nun eilig abnahm, während der andere Erik auf die Seite drehte. „Lass es raus.“ Doch Erik hustete bloß und stützte sich auf den Boden. „Er hat keinen Alkohol getrunken.“, klärte Justin sie auf. „Was ist passiert?“, wollte der Sanitäter mit dem Rucksack wissen. Justin antwortete. „Er ist bewusstlos geworden.“ Erik setzte sich gegen den Willen des Helfers auf. „Ich muss mich nicht übergeben.“, sagte er grimmig. Der erste Sanitäter holte aus dem Rucksack ein Blutdruckmessgerät und reichte es seinem Kollegen. Dieser legte es Erik an. „Seid ihr mit etwas gefahren?“, fragte der erste Sanitäter erneut Justin. „Er und Serena sind Riesenrad gefahren.“ „Nur das?“, bohrte der Sanitäter weiter. Justin nickte. „Ist sonst etwas passiert?“ Justin schüttelte den Kopf. Derweil verkündete der zweite Sanitäter. „Zu niedriger Blutdruck.“ Er wandte sich an Erik. „Leidest du unter Blutarmut?“ „Nein.“, antwortete Erik genervt. „Nimmst du irgendwelche Medikamente.“ „Nein.“ „Anabolika?“ Erik funkelte ihn wütend an. „Nein.“ „Und du hast sicher nichts getrunken oder Drogen genommen?“ „Nein!“ „Ist das schon einmal passiert?“ Erik schwieg. „Vor kurzem.“, antwortete Justin. „Warst du beim Arzt?“, fragte der zweite Sanitäter. „Nein.“, brummte Erik. „Das ist nicht zum Spaßen!“, rief der erste Sanitäter. „Du solltest das ganz dringend untersuchen lassen. Es könnte etwas Ernstes sein! Ein Hirntumor oder so. Wir rufen den Krankenwagen.“ Er griff nach dem an seinem Kragen befestigten Funkgerät. Erik fuhr ihn an. „Nein!“ Der zweite Sanitäter wandte sich an seinen Kollegen. „Ganz ruhig.“ Dann drehte er sich wieder Erik zu. „Kannst du aufstehen?“ Mit Leichtigkeit kam Erik auf die Beine, wie um zu beweisen, dass alles bestens war. „Mir geht es gut!“ „Entschuldige, aber kann ich mir kurz deine Augen ansehen?“, bat der zweite Sanitäter. Erik stöhnte, aber widersprach nicht. Der zweite Sanitäter leuchtete ihm in die Augen und kontrollierte die Reaktion seiner Pupillen. „Unauffällig.“ Erik verdrehte die Augen. „Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“, sagte der zweite Sanitäter ernst. „Vor allem wenn das mehr als einmal vorgekommen ist. Du solltest das dringend abklären lassen.“ Eriks Blick wurde abweisend. „Wäre es dir lieber, ich lasse meinen Kollegen den Krankenwagen rufen?“ Erik biss kurz die Zähne zusammen. „Ich gehe zu meinem Hausarzt. „In Ordnung, aber such ihn gleich morgen auf.“ Erik nickte. Der erste Sanitäter wandte ein: „Wir können ihn doch so nicht alleine gehen lassen!“ „Jemand sollte ihn begleiten.“, stimmte der zweite Sanitäter zu. Serena rief: „Meine Mutter kann uns abholen!“ Der zweite Sanitäter nickte. „In Ordnung. Aber ihr solltet direkt nach Hause gehen.“ „Ich rufe sie an.“ Serena holte ihr Handy hervor, dessen Handynetz wieder verfügbar war, und musste kurz warten, bevor die Verbindung endlich aufgebaut war. „Ja, Mama, ja, ich weiß. Tut mir leid. Kannst du mich und die anderen abholen? Erik geht es nicht gut. Ja. Wir warten am Eingang. Ja. Danke.“ „Wir begleiten euch noch.“, sagte der erste Sanitäter. Erik brummte. „Nicht nötig.“ „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“, sagte indes Justin. Der erste Sanitäter lächelte. „Das ist unsere Arbeit.“ Der zweite sah Erik nochmals an. „Und du gehst morgen bitte wirklich zu deinem Arzt.“ Erik wirkte alles andere als begeistert, nickte aber. „Gut, ansonsten müsste ich nämlich jetzt deine Personalien aufnehmen, um sicher zu gehen, dass du das machst.“ „Das wird nicht nötig sein.“, sagte Erik. Justin erhob die Stimme. „Er ist sehr verlässlich.“ Der zweite Sanitäter richtete das Wort an ihn und die anderen. „Achtet darauf, dass er keine Dummheiten macht.“ Justin nickte und fing sich daraufhin einen wütenden Blick von Erik ein. Endlich ließen die beiden Sanitäter sie wieder alleine. Auch das Pärchen hatte sich verabschiedet. Einen Moment herrschte Schweigen. Nicht mehr unter Beobachtung zu stehen, hatte etwas Erleichterndes. Plötzlich lief Erik los. „Erik!“, rief Ariane und eilte ihm mit den anderen nach. Justin mahnte: „Du solltest es nicht übertreiben.“ Erik sah ihn nicht an. Seine Stimme klang nicht wütend, vielmehr nüchtern. „Was ist passiert?“ „Du bist zusammengebrochen.“, sagte Justin. „Wann soll das gewesen sein?“ Die anderen antworteten nicht direkt. „Ich bin nie aus dem Riesenrad ausgestiegen!“, sagte Erik entschieden, hielt an und musterte Serena. Ihre Jacke war immer noch an einer Seite aufgeschlitzt, bisher hatte keiner von ihnen dem Beachtung geschenkt. Erik stockte und änderte jäh seine Richtung, eilte zurück zum Riesenrad, rannte die Stufen hinauf zu dem Mann, der die Plätze zuwies. „Ist eine der Gondeln beschädigt?“ Der Mann sah ihn irritiert an. „Nein.“ „Sind Sie sicher?“ „Ey, was willst du, Kleiner? Die Gondeln sind alle sicher!“ Erik wandte sich ab und ging wieder die Stufen hinab. Die anderen warteten bereits auf ihn. Er gab ihnen keine Erklärung für sein Verhalten, sondern lief einfach an ihnen vorbei. Dennoch folgten sie ihm. Für Momente war Erik in Gedanken versunken. „Habt ihr Ewigkeit gefunden?“ Ewigkeit, die die ganze Zeit über auf Viviens Kopf gesessen hatte, sah die fünf überrascht an und deutete mit dem Zeigefinger auf sich. „Jupp.“, machte Vitali. „Und die Schatthen?“ Ariane Stimme schrillte auf: „Das ist doch jetzt völlig egal!“ Mit einem Mal fuhr Erik sie an. „Mir ist es nicht egal!“ Er deutete auf Serena. „Warum ist deine Jacke zerrissen?“ Serena schien das erst im diesem Moment wieder bewusst zu werden. Geschockt sah sie das Werk des Schatthens an. Und dabei konnte sie von Glück reden, dass die Bestie nicht ihre Haut erwischt hatte. „Das … war in der Gondel. Da stand so ein Metallteil raus, da hab ich mir die Jacke aufgerissen.“, sagte sie halblaut. Erik funkelte sie argwöhnisch an. „Achja?“ „Wovon redest du?“, forderte Justin von Erik zu wissen und nahm Serena damit aus der Schussbahn. Grimmig sah Erik ihn an. „Wir sind in der Gondel angegriffen worden. Irgendwas hat die Scheibe zertrümmert und Serena aus dem Fenster gezerrt. Dabei ist ihre Jacke zerrissen.“ Mit großen, neugierigen Augen musterte Vivien ihn. „Und dann?“ „Ich habe sie festgehalten und wieder reingeholt. Dann bin ich ohnmächtig geworden, weil die Wunde wegen den Schatthen geschmerzt hat.“ Vivien schien von dieser Schilderung völlig begeistert. „Das ist ja großartig!“ Sie kicherte vergnügt. „Was ist daran großartig?“, donnerte Erik. „Kannst du dich jetzt wieder an Secret erinnern?“, wollte Vivien freudig wissen. Erik stockte. Bilder kamen in ihm hoch. Bilder, die er während seiner Ohnmacht gesehen hatte. Graue Bestien. Ariane, vor einem Spiegelsplitter, ihr Mund bewegte sich, schrie einen Namen, hinter ihr eines der Monster. Eine Armbewegung. Er fühlte sich, als hätte er diesen Traum schon hundertmal gehabt, ohne es zu wissen. Nein, das konnte nicht sein. Er schüttelte den Kopf. Vivien klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. „Das kommt vielleicht noch. Bei unserem nächsten Einsatz.“ Erik sah sie ungläubig an. „Du leugnest also nicht, was gerade passiert ist?“ „Natürlich nicht.“ „Dieses Monster war echt.“, hakte er nach. „Natürlich.“ „Und wir sind angegriffen worden.“ „Natürlich.“ Von dieser Antwort war Erik nur noch verunsicherter. Vivien redete weiter. „Wir haben Ewigkeit gefunden. Aber da waren keine Schatthen. Dann sind wir zurück zu euch, aber da wurdet ihr schon angegriffen.“ Erik sah sie misstrauisch an. „Und wie sind wir aus der Gondel gekommen?“ Vivien deutete auf Vitali. „Er hat euch teleportiert.“ Eriks Augenbrauen zogen sich in purem Zweifel zusammen. „Teleportiert?“ Mit stolzgeschwellter Brust grinste Vitali wie ein Superheld. „Ihr wollt mich wohl verarschen!“, tobte Erik. Vivien sah ihn unschuldig an. „Wie seid ihr denn sonst aus der Gondel gekommen?“ „Das war meine Frage!“, wetterte Erik. „Aber dass ihr teleportiert wurdet, willst du nicht glauben.“, sagte Vivien, als wäre das ungewöhnlich. „Natürlich nicht!“, schrie Erik. „Hm.“, machte Vivien. „Was würdest du stattdessen glauben?“ Erik war von der Frage überrumpelt. Doch Vivien schien auf eine Antwort zu warten. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. „Das ist totaler Schwachsinn!“, knurrte er. „Alsooo…“ Vivien sah ihn forschend an. „Erinnert sich Erik nicht an das, was passiert ist, weil er es nicht glauben will?“ Wieder war Erik unfähig, ihr Gesprochenes einzuordnen. Vivien zuckte mit den Schultern. „Niemand zwingt dich.“ Seine Muskulatur verkrampfte sich. Im gleichen Moment hörte er Arianes besorgte Stimme seinen Namen sagen und spürte eine sachte Berührung an seinem Arm. Überstürzt riss er sich von ihr los und warf ihr einen feindseligen Blick zu, als unterstelle er ihnen, ihn boswillig an seinem Verstand zweifeln zu lassen. Getroffen wich Ariane zurück. Alles an Erik drückte eine solche Abscheu vor der Wahrheit aus, dass es ihr die Brust zusammenschnürte. Sie hatte Serenas Ausbruch von Unwillen erlebt, als Eternity sie über ihre Rolle als Beschützer aufgeklärt hatte. Serena war dabei so aufbrausend, zornig, aber gleichzeitig furchtbar verletzlich gewesen. Das hier hatte eine ganz andere Qualität. Es wirkte nicht wie die augenblickliche Ablehnung einer Situation, sondern als sei Eriks Widerwille viel umfassender, gewaltiger. Tiefgehender. Etwas, das er um jeden Preis verteidigen musste. In Justins Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie mussten diese ganze Aktion sofort abbrechen! Erik würde die Wahrheit nicht akzeptieren. Ganz im Gegenteil! Er wehrte sich so heftig dagegen, dass es Justin daran erinnerte, wie Erik Vivien bei ihrem Kräfte-Einsatz einen Stromschlag verpasst hatte. Justin hatte das ungute Gefühl, etwas Bedrohliches stünde davor aus Erik auszubrechen, wenn sie ihn auch nur einen Schritt weiter an den Abgrund der Wahrheit führten. Doch wie sollte er das Ganze jetzt noch stoppen? Ehe er eine Antwort darauf finden konnte, war bereits Vivien geradezu beiläufig zwischen Ariane und Erik getreten. Ihre Stimme klang so unbekümmert, dass Justin einmal mehr von ihr beeindruckt war. „Dein Charakter, deine Entscheidung.“, verkündete sie Erik. „Was soll das?“, forderte Erik lautstark. Vivien machte den Eindruck, seine Aggressivität gar nicht wahrzunehmen. Sie hob verwundert die Augenbrauen. „Na, jeder von uns kann seine Ideen einbringen. Normalerweise nehmen wir direkt das erste, was vorgeschlagen wird, damit es nicht zu Verwirrungen kommt. Aber wenn jemand ganz unzufrieden ist, kann er einen Verbesserungsvorschlag machen.“ „Wovon redest du eigentlich?!“, donnerte Erik. Nun zog Vivien ein verwundertes Gesicht. „Reden wir nicht vom selben?“ „Nein, ich –“ Erik unterbrach sich und hielt sich den Kopf. Er wusste selbst nicht mehr, wovon er eigentlich – nein, ob er darüber reden wollte! Das war alles völlig absurd. Es konnte nicht ... Er musste einer Wahnvorstellung erlegen sein! Nein, er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Serena unterbrach das Schweigen. „Meine Mutter wartet.“ Frau Funke war mit dem VW Bus gekommen, in den die sechs gerade so passten. Sie hatten sich entsprechend der Reihenfolge ihres Aussteigens platziert. Erik und Ariane hinter dem Fahrer und dem Beifahrer, Justin, Vivien und Vitali auf der Rückbank und Serena auf dem Beifahrersitz. „Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Serenas Mutter. „Erik ist kurz ohnmächtig geworden.“, sagte Serena kleinlaut. „Geht es dir jetzt besser?“, fragte Frau Funke. Erik gab nur einen kurzen Laut von sich. „Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen.“, sagte Serena. „Du hast Glück gehabt, dass du da nicht gelandet bist.“, meinte Frau Funke. Wieder nur ein kurzer zustimmender Laut. Er hatte aus gutem Grund behauptet seinen Hausarzt aufzusuchen. Mit den Sanitätern weiter herumzustreiten, hätte nichts gebracht. „Du solltest auf deinen Kreislauf achten.“, empfahl Frau Funke. „Hast du momentan viel Stress? Was isst du denn so?“ Serena unterbrach sie. „Lass ihn jetzt in Ruhe, Mam.“ „Okay. Aber die Ärzte schieben dich bloß durch die Röhre und machen sonst welche Experimente mit dir. Oder pumpen dich mit Medikamenten voll, damit die Pharma-Industrie daran verdient.“ Frau Funke war eine erklärte Gegnerin der Schulmedizin. Vitali verzog das Gesicht bei ihrem Geschwätz, Erik ignorierte es. Scheu linste Ariane zu ihm hinüber. „Erik?“ Er gab ein Brummen von sich, das bestätigte, dass er sie gehört hatte. „Soll ich mit dir zum Arzt gehen?“ Jetzt erst drehte Erik ihr sein Gesicht zu. Hätte er nicht so abgekämpft ausgesehen, wäre sein Ausdruck wohl als spöttisch zu bezeichnen gewesen. Auch seine Stimme hatte kaum noch die Kraft seiner höhnischen Bemerkung den richtigen Klang zu geben. „Willst du mit mir zur Leibesvisitation?“ Ariane schaute, als würde sein Kommentar sie mehr langweilen als ärgern. Beide wandten sich ab und schwiegen, bis der Wagen Arianes Zuhause erreicht hatte. Ariane bedankte sich für die Mitnahme, sie sah noch einmal zu Erik, der sie geradezu zu ignorieren schien. Sie verabschiedete sich und stieg aus. „Ich hab noch Bruno.“, fiel es Vivien ein. Sie holte Eriks Teddy aus dem Rucksack. Erik nahm ihn entgegen. Dann waren sie auch schon bei seinem Haus angekommen. Ein kurzes Danke sagend, stieg Erik aus dem Wagen und ging zu seiner Haustür. Der Wagen wartete, bis er die Tür aufgeschlossen hatte, und setzte dann seinen Weg fort, um auch die anderen nach Hause zu bringen. Erik trat ins Innere, den Teddy unter seinem Arm, und tastete nach dem Lichtschalter. Wie immer war es still im Hause Donner. Still, altehrwürdig und unbelebt. Erik legte Bruno kurz auf der hölzernen Ablage ab, zog die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Alles sehr langsam. Er griff den Arm des Teddys und schritt auf die breite Treppe zu, berührte das edle Holz, aus dem das Treppengeländer geschnitzt war, betrachtete den roten Stufenbesatz. Jeden Schritt nahm er bewusst war. Vom ersten Absatz gingen rechts und links zwei Treppenläufe ab, die in den ersten Stock führten. Für einen Moment schien die Entscheidung, nach rechts oder links zu gehen, sinnlos. Er zögerte für eine Millisekunde, starrte vor sich, wandte sich nach rechts. Im ersten Stock angelangt, löschte er das Licht unten und betätigte den Lichtschalter für den ersten Stock. Mit langsamen Schritten brachte er das verbleibende Stück zu seinem Zimmer hinter sich, öffnete seine Zimmertür. Das Licht des Ganges flutete in die Schwärze, bis Erik das Licht ausschaltete. Es blieb der fahle Mondschein, der durch die Fenster, ins Zimmerinnere sank und dem Interieur einen gespenstischen Anblick verlieh. Erik schloss die Tür hinter sich, stand für einen Augenblick stumm da. Stand da und sah ins Leere. Der Teddybär glitt aus seiner Hand, als ihn die Kraft verließ. Mit beiden Händen bedeckte er seine Augen, fuhr mit ihnen auf und ab, wie um etwas fortzuwischen. Seine Mundwinkel senkten sich und seine Hände verkrampften vor seinem Gesicht. Sein Schluchzen hörte niemand. Kapitel 69: [Ganz alltäglich] Geschlagen ---------------------------------------- Geschlagen „Wenn du blindlings zuschlägst, erhältst du selbst die schlimmsten Wunden.“ (Aus Japan) Ein fremder Weckerton riss Vitali aus seinem Schlummer. Er war sich ganz sicher, dass sein Wecker andere Geräusche machte, seiner spielte ihm Musik vor, aber dieser war nervtötend und unausstehlich. Was zum - ! Vitali kam zu sich und sah das schnurlose Telefon neben sich liegen, auf Lautsprecher geschaltet. Der Weckerton verebbte. „Wer zum Teufel hat den verdammten Wecker an?“ „Halt’s Maul! Wann denkst du, müssen wir aufstehen!“, drang Serenas Stimme aus dem Lautsprecher. „Mein Wecker hat noch nicht geklingelt und ich muss den Bus nehmen!“, schimpfte Vitali. „Ja, weil du einfach ungewaschen in die Schule gehst.“ „Halt’s Maul, ich dusche jeden Morgen!“ Eine weitere Stimme gesellte sich hinzu. „Wie könnt ihr nur schon am frühen Morgen streiten?“, fragte Ariane verständnislos. Serena hatte die beiden schnurlosen Telefone des Hauses in der Nacht neben sich gelegt, beide auf Lautsprecher geschaltet. Wäre einer von ihnen des Nachts von Schatthen attackiert worden, wären sie so vorgewarnt gewesen. Justin und Vivien indes hatten Ewigkeit als ihr Alarmsignal genutzt, schließlich konnte die Kleine sich ja schnurstracks von einem zum anderen teleportieren. Vitali gähnte lautstark. „Ich bin todmüde.“ „Du glaubst, wir nicht?“, meckerte Serena. „Dafür habt ihr aber schon ganz schön viel Energie.“, kommentierte Ariane. Vitali gähnte. „Tinyyyyy... Kannst du mich nicht noch ein bisschen schlafen lassen?“ „Ich hab dich nicht geweckt.“, murrte Serena. „Doch, dein Wecker hat.“, brabbelte Vitali. Serena wurde kleinlaut. „Tut mir leid.“ „Ist schon okay.“, lallte Vitali schläfrig. „Weck mich in zwanzig Minuten, ja?“ Serena wisperte leise. „Ich bin doch nicht dein Wecker…“ „Danke.“, murmelte Vitali schon halb im Schlaf. Arianes überraschte Stimme erklang. „Irgendwie… seid ihr süß.“ „HALT DIE KLAPPE!“ Von Serenas Schrei schreckte Vitali wieder auf. Erik saß in einem Wartezimmer, das wie in jeder Arztpraxis nüchtern und steril wirkte. Vor ihm auf einem Glastisch lagen Zeitschriften. In einer Ecke gab es Spielzeug für die kleinen Patienten, ein Wasserspender befand sich auf der anderen Seite. Er war nicht der einzige Wartende. Erik fühlte sich deplatziert. Was ihn hierher getrieben hatte, war beim besten Willen nicht Sorge um sein Wohlbefinden. Er war der Überzeugung, dass er völlig gesund war. Und doch würde die Angelegenheit sehr viel realistischer und plausibler wirken, wenn ihm ein Quacksalber einfach sagte, dass er einen Vitaminmangel oder einen Virus hatte. Erik blickte aus dem Wartezimmer hinaus auf die Rezeption, wo eine alte und eine junge Arzthelferin standen. Als das junge Mädchen seinen Blick bemerkte, wurde es nervös und begann wahllos geschäftige Bewegungen zu machen, bis die Ältere der beiden sie tadelnd ansah. Erik wandte sich wieder ab. Er hasste den Geruch von Arztpraxen. Das letzte Mal, dass er diesen Arzt oder auch nur irgendeinen dieser Spezies aufgesucht hatte, musste sieben Jahre her sein, als seine Mutter ihn nach einer weiteren Schlägerei mal wieder hierher geschleift hatte. Angesichts der Vielzahl an Wartenden machte er sich darauf gefasst, eine ganze Weile hier ausharren zu müssen. Er holte seine In-Ear-Kopfhörer hervor und schloss sie an sein Smartphone an, um sich von Musik berieseln zu lassen. Damit er sein etwaiges Aufgerufenwerden nicht überhörte, stellte er die Lautstärke leise genug ein, um seine Umgebung noch wahrzunehmen. Früher war er sehr oft so dagesessen: Mit Kopfhörern, von Musik beschallt. Es war nicht so, dass er sich besonders für die Musik interessierte. Um ehrlich zu sein, war es ihm völlig egal, welche Musik lief, solange sie ihn von der Umgebung ablenkte, solange sie ihn vergessen ließ. Erik schloss die Augen, doch nur für eine Millisekunde. Die Nähe anderer Menschen gönnte ihm nicht die nötige Entspannung, die es gebraucht hätte, um einfach die Augen geschlossen zu halten. Er fixierte die Wand und konzentrierte sich auf die Bassklänge des Liedes in seinen Ohren. Nachdem Erik noch immer nicht aufgetaucht war, als Justin und Vivien das Klassenzimmer betraten, wurden Arianes Sorgen übermächtig. Serena und Vitali hatten sie bisher damit vertröstet, dass er sicher noch kommen würde. Vitali hatte sogar gescherzt, dass Mr. Perfect vielleicht auch mal unpünktlich war. Ariane wandte sich an Vivien und Justin: „Was ist, wenn ihm was zugestoßen ist?“ Justin beruhigte sie. „Er hat doch gesagt, dass er seinen Hausarzt aufsuchen wird.“ Ariane nickte betrübt und senkte schuldbewusst den Blick. Erik erkannte auf seinem Handydisplay, dass er eine Mitteilung erhalten hatte. Zu seiner Verwunderung stammte sie von Ariane. Es ist komisch, wenn du nicht da bist. Die anderen vermissen dich. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen beim Lesen dieser wenigen Worte. Er wollte ihr antworten, ob wirklich nur die anderen ihn vermissten, doch dazu kam er nicht. „Donner!“ Erik horchte auf, zog seine Ohrstöpsel heraus und steckte sie samt seinem Smartphone in seine Kuriertasche. Er verließ den Warteraum und wurde von der älteren Arzthelferin auf eine Tür weiter hinten verwiesen. Hinter ihr erkannte er das Mädchen von zuvor, das ihn geradezu ängstlich ansah. Kurz gab er dem Impuls nach, sie anzulächeln, woraufhin die Kleine regelrecht zusammenzuckte. Sofort korrigierte Erik seinen Gesichtsausdruck und wandte sich ab. Er hatte schließlich gelernt, dass es schlimmer war, wenn er die Mädchen anlächelte, als wenn er sie einfach ignorierte. Aber nach dieser Kurznachricht konnte er einfach nicht anders. Wieder stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er öffnete die Tür zum Arztzimmer. „Ah, der junge Herr Donner! Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.“ Der ergraute ältere Herr im weißen Kittel stand aus seinem Sessel auf und reichte Erik die Hand. „Wie geht’s dir denn so?“ „Ist das eine Höflichkeitsfloskel oder schon eine ärztliche Frage?“, meinte Erik lächelnd. Seine gute Laune war hartnäckig. Der Mann lachte freundlich. „Groß bist du geworden. Ich hätte dich nicht erkannt. Früher warst du so klein und schmächtig und hast dich trotzdem immer mit den Größeren angelegt.“ Erik unterließ es, seinen Arzt darüber aufzuklären, dass er sich nicht mit den anderen angelegt, sondern diese ihn schlicht und einfach verprügelt hatten. „Setz dich doch.“ Der ältere Herr wies auf einen Stuhl und nahm selbst wieder an seinem Schreibtisch Platz. „Wie ist es dir so ergangen?“ „Ja. Gut.“, antwortete Erik. „Hast du noch Kontakt zu den Leuten von früher?“ Erik versuchte seine Miene neutral zu halten. „Nicht wirklich.“ Wieso sollte ich?, fügte er in Gedanken hinzu. Sein alter Hausarzt Herr Schwing schien die Abscheu in seinem Gesichtsausdruck nicht bemerkt zu haben und redete munter weiter drauf los. „Oh wie hieß die Kleine von Seiferts? Tanja. Die mochtest du doch.“ Eriks Augen waren nun leicht verengt vor Unmut. Mit Tanja war er in die Grundschule gegangen. In der Vierten war sie mit einem der Jungs zusammengekommen, (was auch immer Viertklässer unter Zusammensein verstanden). Daraufhin hatte dieser ihn zusammen mit seinen Kumpeln ständig beleidigt und verprügelt. Erik hatte bis zum Schluss nicht verstanden, wieso. Er war damals alles andere als ein Mädchenschwarm gewesen. Mit Tanja hatte er nur Kontakt gehabt, weil seine und ihre Eltern damals befreundet gewesen waren, (bevor die Firma von Tanjas Vater pleite gegangen war). An Eifersucht hatte es somit ganz sicher nicht gelegen. Außerdem hatte Tanja nicht selten mitgeholfen, ihn zu schikanieren. Vielleicht waren die ganzen Hänseleien ja erst durch sie in Gang gesetzt worden. Und wie es nun mal war, hatte sich seine Opferrolle auch auf das Verhalten aller anderen Kinder ausgewirkt. Nachdem sie oft genug zu hören bekommen hatten, was für ein stinkreiches, verzogenes Muttersöhnchen er war und dass er sich für was Besseres hielt, hatten auch sie sich von ihm ferngehalten. Angesichts dessen war Erik geradezu dankbar gewesen, nach der vierten Klasse ins Internat zu kommen, fernab von allen Leuten, die er aus der Grundschulzeit kannte. Genug Zeit, der zu werden, der er heute war. „Ich habe nicht wirklich Interesse daran, meine Zeit mit den Leuten von damals zu verschwenden.“, sagte er. Herr Schwing lachte. „Was red ich auch. Du wirst dich vor Verehrerinnen ja kaum retten können. So, nun aber zu dem Anlass deines Besuchs. Was gibt es denn? Wo tut’s weh?“ Erik musste schmunzeln, Herr Schwing redete immer noch mit ihm wie vor sieben Jahren. „In letzter Zeit tut mein linker Arm manchmal weh und ich bin zweimal davon ohnmächtig geworden.“ „Ohnmächtig?“, fragte der Arzt überrascht. Erik bejahte. „Könntest du dich freimachen. Ich schaue mir deinen Arm mal genauer an.“ Er verwies auf die Untersuchungsliege. Erik setzte sich auf diese und entledigte sich seines Oberteils, woraufhin Herr Schwing seinen Arm betastete. „Am Oberarm.“, präzisierte Erik. Der Arzt drückte auf verschiedene Stellen. „Tut das weh?“ Erik schüttelte den Kopf. Der Arzt hob den Arm in verschiedene Positionen und wies ihn an, es zu sagen, falls er etwas spürte. Erik schwieg. Herr Schwing ließ von ihm ab. „Bist du sicher, dass die Ohnmacht mit dem Arm zusammenhängt?“ „Bevor ich das Bewusstsein verloren habe, ist mir der Schmerz jedes Mal in den Arm geschossen.“ „Ist irgendwas beim Muskeltraining passiert oder hast du sonst etwas gemacht, wobei der Muskel gezerrt oder der Knochen angerissen worden sein könnte?“ Erik schüttelte den Kopf. Herr Schwing holte sein Blutdruckmessgerät aus einer Schublade und legte es Erik an. Er legte das Stethoskop auf Eriks Ellenbeuge, pumpte die Manschette gehörig auf und ließ dann langsam die Luft wieder ab, während er lauschte. Schließlich hängte er sich das Stethoskop wieder um die Schultern und entfernte die Blutdruckmanschette wieder. „Die Werte sind normal.“ Er ging hinüber zu seinem Schreibtisch und griff nach dem Zettel, den Erik zuvor hatte ausfüllen müssen. „Du hast keine sonstigen Erkrankungen und nimmst auch keine Medikamente.“, entnahm er den Angaben. „Nein.“ Der Arzt wies ihn an, sich auch seines Unterhemds zu entledigen und sich auf die Liege zu legen. Erik leistete Folge. Herr Schwing betastete seinen Magen und drückte ziemlich tief hinein. Das war zwar nicht angenehm, doch Schmerzen spürte Erik keine. Dann sollte er sich wieder aufsetzen. Herr Schwing nutzte abermals sein Stethoskop und horchte ihn ab, erst vorne, dann hinten, dazu sollte Erik husten, sobald er ihn dazu aufforderte. „Nichts Auffälliges. Hast du sonst irgendwelche Symptome. Herzrasen, vermehrte Müdigkeit, Appetitlosigkeit oder sonst was?“ Erik verneinte. „Und nimmst du oder hast du in der Vergangenheit irgendeine Form von Steroiden eingenommen?“ „Nein.“ „Wie genau sind denn die Ohnmachtsanfälle abgelaufen?“ „Das eine Mal war auf einem Schulausflug. Ich hatte vorher schon den Arm gespürt, aber dann war es wieder weg. Und plötzlich kam der Schmerz wieder und ich hab einfach das Bewusstsein verloren. Das letzte Mal war gestern. Da war es genauso. Ich hatte den Schmerz vorher schon gespürt, dann war er wieder weg, kam aber nicht lange danach wieder, sodass ich ohnmächtig wurde. Dabei hatte ich eine Art Wahnvorstellung.“ Herr Schwing machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wahnvorstellung? Du bist aber nicht irgendwie mit Drogen in Berührung gekommen.“ „Nein.“ „Alkohol auch nicht?“ „Nein.“ „Häufig werden Synkopen, also kurze Ohnmachtsanfälle, durch niedrigen Blutdruck ausgelöst. Deine Werte zeigen aber keinen niedrigen Blutdruck an. In deinem Alter kann das zwar vorkommen, aber es ist üblicherweise nicht mit Schmerzen verbunden. Hat jemand beobachtet, ob du während der Ohnmacht Muskelzuckungen hattest?“ Erik schüttelte den Kopf. „Davon haben sie nichts gesagt.“ „Da du sagst, dass es direkt mit dem Schmerz zusammenhängt und du diesen als schießend beschrieben hast, könnte es etwas mit den Nerven zu tun haben. Nur um auszuschließen, dass es mit deinen Knochen zusammenhängt, machen wir ein Röntgenbild. Und zur Sicherheit nehme ich dir noch Blut ab, um auszuschließen, dass es an Blutarmut, einem sonstigen Mangel oder einer Infektion liegt. Außerdem schreibe ich dir eine Überweisung zum Neurologen.“ Erik nickte bloß. Die erste Doppelstunde Wirtschaft ging zu Ende und leitete die erste große Pause ein. Erik war immer noch nicht erschienen und auch Herr Mayer schien nicht darüber informiert zu sein, warum er fehlte. Vitali hatte sich mitsamt seinem Stuhl zu den anderen gesellt. Ariane kontrollierte zum x-ten Mal ihr Handy. „Er hat immer noch nicht geantwortet.“ Dabei hatte sie sich ewig überlegt, was sie ihm schreiben sollte. Sie hatte sich zusammenreißen müssen, ihm nicht zu offenbaren, wie viel Sorgen sie sich machte, denn das hätte sicher wieder sein Misstrauen geschürt. Dennoch war es irgendwie peinlich gewesen, ihm diese Nachricht zu schicken. Vitali fragte spöttisch: „Du meinst, die Schatthen sind danach bei ihm aufgetaucht und haben ihn entführt?“ „Wie gesagt, er wird beim Arzt sein.“, erinnerte Justin. Ariane nickte. „Aber was wird ein Arzt finden?“ Auch die anderen wussten darauf keine Antwort. „Wir werden es erfahren, sobald er wieder da ist.“, erwiderte Justin und wechselte das Thema. „Wir sollten über den Angriff gestern sprechen. Wir wissen nicht, was er bezwecken sollte.“ „Das Gleiche, was er immer bezweckt?“, schlug Vitali vor. Justin sah wenig überzeugt aus. „Diese Schatthen waren anders und dann diese drei mit dem seltsamen Gerät um die Brust.“ „Das waren vielleicht die Endgegner, und ich hab sie platt gemacht.“, verkündete Vitali stolz. Ariane klärte Vitali auf: „Sie sind extra dagestanden, damit wir sie treffen konnten. Die anderen Schatthen sind uns ausgewichen. Es ist, als hätte der Schatthenmeister gewollt, dass wir sie auslöschen.“ „Hä? Was is’n das für ’ne Logik?“, fragte Vitali. „Der Schatthenmeister ist uns immer einen Schritt voraus. Er würde nichts tun, das keinen Sinn ergibt.“, meinte Justin. „Und was soll der Sinn dahinter sein?“, wollte Vitali wissen. Justin senkte den Blick. Das hätte er auch gerne gewusst. Vivien legte die gefalteten Hände auf Justins Schulter. „Hauptsache, wir haben es geschafft! Und Change und Desire haben neue Kräfte gelernt. Ist doch toll.“ „Nicht zu vergessen Tiny!“, rief Vitali begeistert. „Die schießt die Dinger sogar noch aus ein paar Metern Entfernung ab!“ Er untermalte seine Aussage mit einer ausladenden Armgeste. Serena senkte den Blick beschämt und knarzte: „Das war nur Zufall.“ „Von wegen! Du hast vier Schatthen auf einmal gekillt!“ Zu den anderen gewandt fügte Vitali hinzu: „Wir sollten sie nur noch im Fernkampf einsetzen!“ Als befänden sie sich in einem Rollenspiel. Vivien jubelte. „Ja, ich finde, wir werden immer besser!“ Justin schien mit dieser Behauptung nicht glücklich zu sein. „Wenn Arianes Schutzschild nicht gewesen wäre, hätten wir keine Chance gehabt. Die Schatthen waren viel zu schnell.“ „Aber wir hatten ja Arianes Schutzschild!“, rief Vivien überzeugt. „Und wenn Serena bei uns gewesen wäre, hätte sie die Schatthen paralysieren können.“, stimmte Ariane zu. Auch das konnte Justin nicht beruhigen. Vivien umschlang seinen Arm und bettete ihren Kopf gegen seine Schulter. „Es ist doch alles gut gegangen.“ Justin schwieg. Vivien spürte einen kurzen Anflug von Verstimmung, da er ihrer Berührung offenbar keinerlei Beachtung schenkte. Sie zog einen Schmollmund. „Justiiiin.“, sagte sie im nörglerischen Ton eines beleidigten Kindes. Endlich wandte er sich zu ihr und versuchte sich an einem Lächeln. „Entschuldige, ich…“ Er stockte und seine Augen wurden groß. „Geht’s dir nicht gut?“ War das etwa seine Erklärung dafür, dass sie sich an ihm festhielt?! Vivien ließ ihn los. Von seiner Begriffsstutzigkeit getroffen war sie für einen Moment niedergeschlagen. Vielleicht hätte sie sich freuen sollen, dass er zur Abwechslung mal nicht verstört zurückschreckte, wenn sie ihn berührte. Aber dass er es jetzt als eine Belanglosigkeit abtat, war einfach … frustrierend. Dann drehte sie sich wieder zu ihm, setzte ein peinlich berührtes Gesicht auf, die Hände in einer mädchenhaft bescheidenen Geste vor der Brust. Als wäre sie schüchtern, zog sie den Kopf ein und sprach mit leiser Stimme. „Wie soll es mir gut gehen, wenn es dir nicht gut geht?“ Sie wandte sich ab, den Kopf eingezogen, die Arme nun wie zum Schutz um sich gelegt. „Ich mache mir doch Sorgen um dich.“ Ihr Manöver erfüllte seinen Zweck. Justin drehte sich eilig zu ihr. „Nein, nein, mir geht es gut! Alles fantastisch!“ Vivien fuhr mit ihrem Finger über den Bereich unter ihrem Augen, als würde sie sich eine Träne wegwischen müssen, und schniefte. „Wirklich?“ „Ja! Schau doch, alles bestens.“, versicherte Justin mit einem künstlichen Lächeln, während seine Augenbrauen noch immer seine Besorgnis zur Schau stellten. „Ach Justin.“, seufzte Vivien und warf sich in seine Arme, sodass er augenblicklich erstarrte. Serena ächzte und wandte sich ab. Vitali verzog das Gesicht, während Ariane einfach nur sprachlos war. Zur zweiten Englischstunde traf Erik mit einer Bescheinigung seines Arztbesuchs in der Schule ein. Beim Eintreten schenkte er Ariane ein kurzes selbstsicheres Lächeln, auf das sie ungewohnt positiv reagierte, wie Vitali fand. Sonst schien sie immer wütend zu werden, wenn Erik seine Selbstüberzeugung zur Schau stellte. Warum auch immer. Vitali war erleichtert, endlich nicht mehr alleine in der ersten Reihe ausharren zu müssen. Ihm war heute erst aufgefallen, dass direkt vor der Tafel, und damit meist direkt vor der Lehrperson, zu sitzen, überhaupt kein Problem darstellte, solange Erik neben ihm saß. Nachdem Erik der Englischlehrerin die Bescheinigung für seinen Arztbesuch überreicht hatte, nahm er seinen üblichen Platz ein und holte seine Englischsachen hervor. Vitali war es gewöhnt, von Erik ignoriert zu werden, selbst wenn er ihn überdeutlich anstarrte. Zu seiner Überraschung erwiderte Erik jedoch seinen Blick und lächelte geradezu. Vitali konnte nicht anders als daraufhin breit zu grinsen. Im gleichen Moment hatte Erik wieder seine undurchdringliche Miene aufgesetzt und konzentrierte sich auf das, was Frau Schäfer gerade erzählte. Vitalis Lächeln blieb beständiger. Er raffte nicht, warum alle so einen Riesenterz um diese Wahrheitssache machten, anstatt einfach Tacheles zu reden. Ja, dann würde Erik halt erst mal durchdrehen. Der würde sich schon wieder einkriegen. Vitali stockte und sein Kopf drehte sich kurz in die Richtung von Serena. Wenn er es recht bedachte… Die Vorstellung, dass Erik genauso durchdrehen könnte wie Tiny damals in den Spiegelsälen, kam in ihm auf. Mann! Warum mussten diese zwei immer aus allem ein Drama machen! Vitali seufzte. Hauptsache, es ging Erik wieder besser. In der Pause forderte Vitali Erik dazu auf, sich zu den anderen zu stellen. Erik stöhnte widerwillig, erhob sich aber prompt. Vitali wusste, dass er das nur tat, um cool zu wirken. Außerdem hatte Ariane so eindeutig zu ihnen rübergesehen, dass es offensichtlich war, dass sie mit Erik reden wollte. Wie Vitali sie kannte, hatte sie sich einfach nicht die Blöße geben wollen, vor ihren Klassenkameraden zu Erik zu gehen. Diese beiden mussten ja auch immer einen auf unnahbar machen, als würde ihnen ein Zacken aus der Krone fallen, wenn sie offen zeigten, dass sie einander mochten. Und dabei taten sie immer so schrecklich erwachsen. Erik zögerte nicht, das Wort an Ariane zu wenden. „Ich konnte dir nicht früher antworten, weil ich untersucht wurde.“ Ariane sah ihn kurz verwundert an. „Du hast es wohl noch nicht gesehen.“ „Kein Problem.“, antwortete sie hastig. Vermutlich war Eriks Nachricht erst nach Unterrichtsbeginn bei ihr angekommen. Und Ariane war einfach viel zu sehr Musterschülerin, um in Anwesenheit einer Lehrkraft ihr Smartphone zu checken. Dann bemerkte Vitali, dass Ariane geradezu verlegen schaute und erkannte bei einem Blick zu Erik, dass dieser sie anlächelte. Nicht provokativ oder amüsiert wie sonst, sonden einfach ehrlich. Wow, das war neu. Vielleicht hatte der Arzt Erik ja irgendwas gespritzt. Vitali musste über seinen eigenen Scherz grinsen und hätte ihn gerne mit den anderen geteilt, aber er wollte nicht, dass Erik sich gezwungen sah, sich wieder seinem Image entsprechend zu verhalten. Deshalb behielt er ihn für sich. Auch in der Mittagspause zu Sport blieb Erik selbstbewusst und guter Laune. Nur Justin machte den Eindruck, dem Frieden nicht zu trauen. Noch so ein Kandidat, der sich zu viele Gedanken über Dinge machte, die man im Voraus eh nicht beeinflussen konnte, dachte Vitali. Das war wohl eine grassierende Krankheit unter seinen Freunden. Die einzige Ausnahme war Vivien. Vielleicht lag das daran, dass sie ein teuflisches Genie war, das seine Gerissenheit einsetzte, um Gutes zu tun. Zumindest schien sie die einzige zu sein, die sich nicht dauernd einredete, die Schuld an irgendwas zu haben... Vitalis Blick schweifte zu Erik. Im Sportunterricht war Justin wie üblich der erste, der sich dazu bereit erklärte, die Hilfsmittel hervorzuholen, die für die heutige Stunde gebraucht wurden. Und wie immer half Vitali ihm, auch wenn ihm anzusehen war, dass er Justins Helfersyndrom nicht gerade bejubelte. Da sein Arzt ihm angeraten hatte, seine Oberarmmuskulatur zu schonen, beteiligte sich Erik nicht, sondern blieb mit ein paar anderen Jungen auf der Bank sitzen. „Hey Donner, bist du echt mit der Serena zusammen?“ Bei dem Sprecher handelte es sich um Jonas aus seiner Klasse. „Nee, oder?“, mischte sich Samuel, ein weiterer Klassenkamerad, bestürzt ein. „Wer ist Serena?“, erkundigte sich einer aus der Parallelklasse. „Die hübsche Blonde? Oh, du Glückspilz!“ „Nee, eben nicht. Ihre Freundin, die große Brünette, die immer grimmig schaut.“, antwortete Jonas. „Was? Aber die ist doch voll –“ Der Junge brach im letzten Moment ab, als Erik ihm einen entschiedenen Blick zuwarf. „Ich meine, -“ „Habt ihr was dagegen?“, erwiderte Erik möglichst desinteressiert, konnte aber nicht verhindern, dass sein Tonfall drohend klang. „Alter, was findest du denn an der?“, rief Samuel. Erik empfand es unter seiner Würde, mit diesen Personen über ein solches Thema zu sprechen. Einer, der bisher nichts gesagt hatte, mischte sich ein. Er sah etwas zu blass, geradezu kränklich aus, hatte aber diesen Blick, den Erik schon in zu vielen Gesichtern gesehen hatte. „Das glaubt ihr doch selbst nicht.“, sagte der Junge in herablassendem Tonfall. Erik sah ihn bloß aus den Augenwinkeln an, mehr Beachtung war er nicht gewillt, diesem Individuum zuzugestehen. „Die Schönheit lässt nicht mal den Herrn Donner ran.“ Ein dreckiges Grinsen erschien auf dem Gesicht des Jungen. „Deshalb muss er sich mit der flachbusigen Vogelscheuche hochschlafen.“ Die anderen Schüler schraken im nächsten Moment zurück, als Erik an ihnen vorbei auf den Jungen stürzte, ihn an seinem Kragen packte und ihn auf die Beine zwang. „Sag das noch mal!“ Verachtung spiegelte sich auf dem zunächst erschrockenen Gesicht des Dunkelhaarigen. „Muss ja wahr sein, wenn du dich so aufregst.“ Eriks Griff wurde noch fester, doch ehe er die Beherrschung verlieren konnte, unterbrach ihn der Schrei des Lehrers. „Donner! Lass ihn los!“ Der bullige Herr Koch riss Erik und den anderen auseinander und brüllte Erik an. „Hast du sie noch alle?“ Erik schwieg. „Was war das?“, fragte Herr Koch in die Runde. Die Jungen antworteten nicht. „Johannes?“ Derjenige, der Erik provoziert hatte, schaute bloß gelangweilt. „Donner ist uns Normalsterbliche eben nicht gewöhnt.“, höhnte er. Herr Koch hielt ihm drohend die Hand hin. „Pass auf, was du sagst.“ Dann drehte er sich wieder zu Erik. „Und du, in die Ecke und zwanzig Liegestütze.“ Ohne etwas zu entgegnen, ging Erik zum anderen Ende des Raums. Als wären Liegestütze für ihn eine Strafe! Durch die körperliche Betätigung konnte er sich wenigstens von der Wut ablenken, die immer noch in ihm brodelte. Wenn Herr Koch nicht dazwischen gegangen wäre, hätte er diesen Johannes ganz sicher nicht einfach so davonkommen lassen. Am Ende der Stunde hatten die Sportübungen und Vitalis und Justins Gesellschaft Erik von seiner schlechten Laune befreit. Die beiden hatten von der ganzen Angelegenheit nichts mitbekommen und ihn daher auch nicht mit Fragen diesbezüglich behelligt. Nachdem Herr Koch sie entlassen hatte, zogen sich die Jungen in die Umkleidekabine zurück. Erik entledigte sich seines verschwitzten T-Shirts, griff nach dem Handtuch aus seiner Sporttasche und wischte sich den Schweiß von Gesicht und Nacken. Mit der anderen Hand gönnte er sich einen Schluck aus seiner Trinkflasche. Links und rechts von ihm wechselten Vitali und Justin ihre Kleidung. Hinter ihm erklang Johannes’ gehässige Stimme. „He Donner, wie weit gehst du mit den Sprungbrett-Mädels? Oder sollte ich Sprungbett sagen?“ Erik biss die Zähne zusammen. „Noch ein Wort.“ Ein anderer Junge mischte sich ein: „Ey, hört doch auf.“ Johannes grinste und kam näher. „Wieso denn, es wird doch gerade erst interessant.“ „Halts Maul.“, sagte Vitali, auch wenn er keine Ahnung hatte, wovon der Typ redete. „Nur weil du keine Freunde hast.“ „Besser als mit so ’nem Arschloch wie dem befreundet zu sein!“, blaffte Johannes, „Der seinen Schwanz noch in die hässlichste Tussi steckt.“ Erik wirbelte herum und wusste nicht, was er getan hätte, hätte Justin nicht nach seinem Arm gegriffen. Er konnte sich nur mit allergrößter Mühe zusammenreißen. Der Zorn sprach aus seiner ganzen Erscheinung. Alles in ihm schrie. „Willst du auf die Fresse oder was!“, rief Vitali Johannes zu. „Du nervst!“ „Ja, Johannes, Klappe jetzt.“, stimmte Hasan aus ihrer Klasse zu, während die meisten, das Gespräch schlicht ignorierten und die Umkleide bereits verließen. „Erik.“, sagte Justin beschwichtigend und ließ ihn wieder los. Erik drehte sich wieder von Johannes weg und flüsterte Justin zu. „Wenn er weiterredet, kann ich für nichts garantieren.“ „Davon wird es nicht besser.“, entgegnete Justin ruhig. „Mir ging’s besser!“, zischte Erik wutverzerrt. „Das ist es nicht wert.“, sagte Justin. Erik ballte kurz die Hände zu Fäusten und streifte sich dann ein Oberteil über. Als Johannes‘ Stimme erneut erklang, war sie noch näher. „Wie hält man es aus, die eklige Serena zu ficken?“ Erik war so schnell bei Johannes, dass nicht einmal Justin ihn noch hatte packen können. Von dem Schlag ins Gesicht sackte Johannes zusammen. Sofort waren Vitali und Justin an Eriks Seite. Erik blickte auf sein Werk. Johannes spuckte, er hatte sich auf die Lippe gebissen und blutete. „Du Arschloch.“ Hasan schubste Erik weg. „Bist du gestört?“ „Das wird dir noch leid tun.“, winselte Johannes. „Du Scheißkerl.“ Erik stand regungslos da, während Hasan sich zu Johannes beugte, um ihm aufzuhelfen. Johannes schlug Hasans Hand zur Seite und schrie abermals Erik an. „Verpiss dich.“ Erik rührte sich nicht. Er spürte, wie er weggezogen wurde und merkte dann erst, dass es Justin war. Vitali indes stand noch da. „Selbst schuld!“, spie er an Johannes gewandt aus. „Hättest einfach die Fresse halten sollen!“ Johannes spuckte ihm auf die Füße. „Du bist doch krank.“, stieß Vitali angewidert aus. „Vielleicht sagt er es nicht dem Lehrer.“, sagte Justin, Erik nahm es kaum noch wahr. Das Gefühl, jemanden geschlagen zu haben, war immer noch surreal für ihn. „Alles klar?“, erkundigte sich Vitali, sein Ausdruck veränderte sich, als er in Eriks Gesicht sah. „Mann, du siehst nicht gut aus.“, meinte Vitali. Wut trat auf seine Züge. „Und alles nur wegen dem Loser! Wenn du ihm keine reingehauen hättest, hätt’ ich’s getan!“ „Vitali!“, tadelte Justin. „Hättest du doch auch!“, verteidigte sich Vitali. „Gewalt ist keine Lösung.“, beharrte Justin. „Ja klar!“, spottete Vitali. Etwas in Erik fühlte sich verkehrt an, so als hätte er sich selbst verprügelt. Dieser Junge war viel schwächer als er. Trotzdem hatte dieser Typ ihn sich so hilflos fühlen lassen, dass er geglaubt hatte, sich nur noch durch Gewalt wehren zu können. „Das wird ein Nachspiel haben.“, hörte er Johannes noch rufen, bevor die Tür zuging und er offenbar den Raum verlassen hatte, vermutlich in Begleitung von Hasan, denn nun waren sie die letzten drei in der Umkleide. „Ey, der hat’s verdient.“, sagte Vitali nochmals. „Hör auf, so was zu sagen.“, forderte Justin. „Du hast doch gehört, was er über Tiny gesagt hat!“, schrie Vitali. „Er wird seine eigenen Probleme haben.“, meinte Justin. „Deswegen darf er noch lange nicht Serena beleidigen, das Arschloch!“, begehrte Vitali auf. Erik sah auf seine Sporttasche. „Er wollte nicht Serena beleidigen, sondern mich.“ Mechanisch fuhr er fort sich umzuziehen. „Hä?“ Nachdem Erik seine Jeans angezogen und seine Schuhe gebunden hatte, antwortete er ihm. „Ich hab ihm eine Machtposition gegeben.“ Dann stand er auf, schulterte seine Sporttasche und machte sich auf den Weg zum Bus, der sie zurück zur Schule bringen sollte. Erik saß still da und starrte aus den Busfenstern, sah wie die Umgebung an ihm vorüber zog. Beim Einsteigen hatte Herr Koch ihn bloß kurz gemustert, hatte aber nichts gesagt. Ob Johannes ihn bereits informiert hatte, wusste Erik nicht. Es war ihm auch egal. Hauptsache, Serena erfuhr nichts von Johannes’ Beleidigungen. Die Angelegenheit sollte unter ihnen bleiben. Das hatte er auch mit Vitali und Justin ausgemacht. Er fühlte sich erbärmlich und schuldig. Als er das Gerücht über seine Beziehung mit Serena für sich genutzt hatte, war er nicht auf die Idee gekommen, sie dadurch dem Spott anderer auszusetzen. Als er sie vor Amanda und ihrer Schwester verteidigt hatte, hatten deren dümmliche Gesichter ihn vielmehr zu der Annahme verleitet, Serena damit einen Gefallen zu tun. Und jetzt das. Er schluckte und biss die Zähne zusammen. Im nächsten Moment bekam er einen Stoß gegen den Oberarm. Vitali sah ihn streng an. „Hey, krieg dich mal wieder!“ Dann grinste er plötzlich schelmisch. „Was ist so lustig?“, fragte Erik grimmig. Vitalis Grinsen verformte sich noch weiter zu einem ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck. „Ich hab mich grad an Johannes’ blöde Fresse erinnert, als du ihm eine reingehauen hast. Boom!“ Erik warf ihm einen finsteren Blick zu, aber Vitali schien das nicht zu stören, stattdessen brach er in ein Lachen aus. „Keiner legt sich mit einem Donner an!“ Erik stockte. Die Erinnerung an seine Kindheit kam in ihm hoch und der Gedanke, dass er sich damals gewünscht hatte, sich wehren zu können, nur um jetzt zu erkennen, dass dies nicht im Entferntesten die Genugtuung bescherte, die er sich erhofft hatte. Er drehte sich wieder zum Fenster und stützte sein Kinn erneut auf seine Faust. „Das ist nicht witzig.“ „Doch.“, prustete Vitali. „Du bist wie so ein Actionheld!“ Als Vitali sich gar nicht mehr einkriegen wollte und ihm erheitert mit dem Ellenbogen anstupste, wurde Erik vollends aus seinen Überlegungen gerissen und konnte nicht anders, als in Anbetracht Vitalis hirnrissiger Unbekümmertheit einen seiner Mundwinkel zu heben. „Muss das Leben einfach sein, wenn man blöd ist.“ „Hä?“ Erik sah ihn aus den Augenwinkeln an, erkannte Vitalis verdatterten Gesichtsausdruck und musste sich die Faust vor den Mund halten, um sein Grinsen zu verdecken. „Hey, was meinst du damit?“, meckerte Vitali. „Dass du blöd bist.“ „Ich bin nicht blöd.“, rief Vitali und zeigte einen weiteren seiner vielfältigen Gesichtsausdrücke, deren unverfälschte Ehrlichkeit Eriks Laune hoben. „Dämlicher Muskelprotz.“, maulte Vitali mit einer übertrieben beleidigten Miene, angesichts derer sich Erik nicht länger zurückhalten konnte und belustigt schnaubte. Vitali schlug ihm dafür gegen den Oberarm, was Eriks vollends zum Lachen brachte. Vor Vitali brauchte er sich nicht verstellen. Vor Vitali brauchte er nicht besser sein als er war… Kapitel 70: Zusammen oder nicht zusammen? ----------------------------------------- Zusammen oder nicht zusammen „Hinter falschen Behauptungen kann man sich richtig gut verstecken.“ (Ernst Ferstl, österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker) Erst am folgenden Tag, in Datenverarbeitung, zog die Begebenheit im Sportunterricht weitere Kreise. Da sie noch immer mit der Theorie des binären Zahlensystems beschäftigt waren, fand der Unterricht im Klassenzimmer statt. Es handelte sich um die letzte Stunde vor der Klassenarbeit, daher wollte Herr Becker sie für Beispielaufgaben nutzen, als Herr Mayer, der Klassenlehrer, in den Raum trat. „Erik Donner, kannst du mal rauskommen?“ Schweigend stand Erik auf und folgte dem Aufruf. Sobald er den Raum verlassen hatte, begann ein Getuschel in der Klasse. „Was ist denn jetzt los?“, forderte Herr Becker zu erfahren. Erkan, der Klassensprecher, der auch sonst ein großes Mitteilungsbedürfnis hatte, meldete sich zu Wort. „Erik soll gestern einen von der Parallelklasse geschlagen haben, weil er seine Freundin beleidigt hat.“ Er warf einen Blick in Serenas Richtung. Auf diese Information hin entflammte eine große Diskussion zwischen den einzelnen Tischnachbarn und ihrer Umgebung. Hasan bestätigte. „Das stimmt.“ „Der Typ hat’s verdient!“, rief Vitali vehement und lautstark dazwischen. Herr Becker erhob seine Stimme. „Was auch immer! Wir sind hier im Unterricht. Ihr könnt Erik später fragen. Und jetzt macht mit den Aufgaben weiter. Am Freitag ist die Arbeit.“ Serena wandte sich nach hinten um zu Justin. „Was ist passiert?“, wisperte sie, wurde jedoch von Herrn Beckers verärgerter Stimme unterbrochen. „Serena! Was ist jetzt noch?“ Wieder mischte sich Erkan ein, wie der Moderator einer Reality-Soap. „Serena ist Eriks Freundin.“ „Schön, das heißt, ihr könnt eine neue Auflage von ‚Die Abschlussklasse‘ drehen, aber bitte nicht in meinem Unterricht.“ Die Schüler verstanden nicht, wovon Herr Becker redete, keiner von ihnen hatte je von einer solchen Sendung gehört. Herr Mayer hatte Erik von den Klassenräumen weg zum Foyer im Eingangsbereich der Schule geführt. „Johannes Sukowski aus der E1 ist zum Direktor und hat gesagt, dass du ihn geschlagen hast.“, informierte er Erik. „Was hast du dir dabei gedacht?“ Er klang mehr fragend als wütend. „Du warst an einem Elite-Internat, ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir dort auch so etwas geleistet hast oder hast du deshalb die Schule gewechselt?“ Auf diesen Kommentar hin verfinsterte sich Eriks Miene. Herr Mayer seufzte. „Du weißt, dass so etwas keine Lappalie ist, vor allem nachdem der Direktor informiert wurde. Sag mir einfach, was passiert ist.“ „Interessiert es Sie?“, fragte Erik abweisend. „Ich muss mir anhören, was du zu sagen hast.“ „Fakt ist, ich habe ihn geschlagen.“, antwortete Erik kalt. „Also gibst du es zu.“ Eriks Miene blieb emotionslos. „Ja.“ „Und aus welchem Grund?“, hakte Herr Mayer nach. Erik senkte den Blick. „Er hat Freunde von mir beleidigt.“ „Das ist kein Grund, jemanden zu schlagen.“ Erik stieß geräuschlos die Luft aus. „Das weiß ich. Ich bin nicht stolz drauf.“ „Du siehst deinen Fehler also ein.“ Erik schwieg. Herr Mayer wurde ebenfalls still. „Du bist nicht dumm, Erik. Und ich weiß, du hättest ihn nicht geschlagen, wenn du keinen Grund dazu gehabt hättest.“ Ungläubig starrte Erik seinen Klassenlehrer an. „Ich habe auch mit Herrn Koch geredet, er sagte mir, dass Johannes dich schon zuvor provoziert hat. Aber Johannes ist schwächer als du. Das solltest du nicht vergessen. Ich verstehe, dass du deine Leute beschützen willst, aber das ist der falsche Weg.“ Erik entgegnete nichts. „Johannes ist dafür bekannt, dass er gerne Leute provoziert. Aber du musst wissen, dass er aus schweren Verhältnissen kommt. Jemand wie du – gutes Elternhaus, beliebt – regt ihn dann wohl besonders auf.“ Ein Teil von Erik fühlte sich wie von Häme überschüttet. Die Beschreibung ‚gutes Elternhaus, beliebt‘ klang in seinen Ohren so verfehlt, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Wenn das Johannes’ Rechtfertigung für sein Verhalten war, hätte Erik ihm gerne die Realität seines ach so wunderbaren Lebens vor Augen geführt. Für einen kurzen Moment verspürte er den Fluch dieser immer wiederkehrenden Wirklichkeits-Verzerrung so intensiv, dass er Johannes für diese blinde Dummheit am liebsten noch einmal geschlagen hätte! „Lass dich nicht mehr provozieren.“, sagte Herr Mayer bestimmt. „Deine Lehrer bestätigen mir alle, dass du nicht gewalttätig bist, also mach dir keine Sorge wegen einem Schulverweis. Aber Johannes wird nicht aufhören und wenn so etwas noch mal vorkommt, dann bist du dran, verstanden?“ „Ja.“, bestätigte Erik. „Du kannst jetzt wieder in die Klasse gehen. Ich kümmere mich darum, dass es nur eine Stunde Nachsitzen wird.“ Erik wollte sich gerade entfernen, als er noch einmal innehielt und sich nach kurzem Zögern nochmals Herrn Mayer zuwandte. „Bekomme ich eine Sonderbehandlung, weil ich ein Donner bin?“ Sein Klassenlehrer gab ein spöttisches Geräusch von sich. „Davon träumst du. Wenn ich an deine Unschuld glaube, könntest du auch Hitler heißen.“ Eriks Mundwinkel hoben sich anerkennend und dankbar, dann wandte er sich ab. Herr Mayer rief ihm nach. „Donner!“ Erik drehte sich um. Sein Lehrer sah ihn entschieden an. „Für mich bist du Erik.“ Ihm konnte nicht bewusst sein, wie viel in diesen Worten begraben lag. Die Klassenzimmertür wurde geöffnet und sofort waren alle Blicke auf den Eintretenden gerichtet. „Erik, könntest du der neugierigen Meute die neuesten Infos in aller Kürze geben, damit wir im Programm weitermachen können?“, forderte Herr Becker. Gefasst und ernst richtete Erik seinen Blick auf die Klasse vor ihm. „Johannes ist tot.“ „Waaaas?!“, schrie die ganze Klasse. Erik verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, als hielt er seine Klassenkameraden allesamt für unterbelichtet. Ariane war froh, dass sie Eriks Galgenhumor bereits kannte und daher nicht darauf hereingefallen war. „Noch so ein Quatsch und du kannst gleich wieder vor die Tür gehen!“, schimpfte der Datenverarbeitungs-Lehrer. „Alles bestens.“, sagte Erik knapp und setzte sich. Von hinten rief Erkan: „Und weiter?“ „Nichts weiter!“, sagte Herr Becker streng. Daher musste die neugierige Meute noch eine ganze halbe Stunde auf die Befriedigung ihrer Wissbegier warten. In der Pause schließlich wurde Erik von der ganzen Klasse bestürmt, die zu erfahren drängte, was geschehen war, was Herr Mayer gesagt hatte, worum es bei dem Streit überhaupt gegangen war. Erik wollte schweigen, aber sogleich begann Vitali zu plappern. „Der Typ hat Serena beleidigt und dann hat Erik ihm eine reingeschlagen!“ Erik warf ihm einen wütenden Blick zu. Wie war das noch mit der Geheimhaltung? Doch Vitali war wohl der Meinung, dass die Katze ohnehin schon aus dem Sack war. „Bist du echt mit Serena zusammen?“, fragte einer aus der Runde. „Erik!“, schrie Serenas Stimme dazwischen. Sie war aufgestanden und sah ihn durchdringend an. „Ich muss mit dir reden.“ Sie machte dabei ein Gesicht, als habe sie noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Dennoch war Erik dankbar dafür, der gierigen Meute zu entkommen, auch wenn Serenas Miene nichts Gutes verhieß. Er erhob sich, ignorierte seine Klassenkameraden und schloss sich ihr an. Gemeinsam verließen sie den Raum. „Wohin?“, erkundigte sich Erik. „Keine Ahnung. Wo uns niemand hört.“, grummelte Serena. „Etwas schwer während der Pause.“ Sie traten durch die gläserne Tür zum Treppenhaus und standen in eine weiter entfernte Ecke. Hier war niemand. Serena drehte sich zu ihm um und musste ihre Stimme schwer beherrschen, um nicht loszuschreien. „Bist du bescheuert?“, zischte sie. „Wieso schlägst du einen Typen nur wegen mir?“ „Ich hatte meine Gründe.“ „Erik! Ich hab bei diesem ganzen Schwachsinn mitgemacht, solange es nur ein blödes Gerücht war! Aber jetzt denkt die ganze Schule, dass wir zusammen sind!“ „Aber Vitali weiß doch, dass es nicht echt ist.“ Serena zog eine unschöne Fratze. „Was hat das damit zu tun?! Das Ganze muss aufhören!“ In ernstestem Tonfall formulierte Erik seine Antwort. „Du willst also Schluss machen.“ „Wir waren nie zusammen!“, schleuderte sie ihm so leise als möglich entgegen, mit einem Gesichtsausdruck, als schriee sie so laut sie nur konnte. In aller Seelenruhe antwortete er auf ihren Einwand. „Wie schnell du unsere gemeinsam Zeit vergessen hast.“ Es bedurfte keiner Worte, um Serenas Ärger in überdeutlicher Weise Ausdruck zu verleihen. Sie stand kurz vor einer Explosion. Erik lachte. „Entschuldige, ich werde nicht mehr behaupten, dass wir zusammen sind.“ „Du wirst gefälligst klarstellen, dass wir nie zusammen waren!“ Eriks Gesicht zeugte von Unwille. „Wie soll das gehen? Soll ich ins Klassenzimmer stürmen und laut rufen: Serena und ich waren nie zusammen? Das klingt, als wäre es mir unangenehm. Das wäre beschämend für dich. Ich werde das nicht tun.“ Serena seufzte. Unbekümmert brachte Erik einen Alternativvorschlag. „Wie wäre es, wenn ich behaupte, wir wären nicht zusammen, aber ich wäre an dir interessiert?“ „Nein!“, blaffte Serena ihn an. Schritte hallten im Treppenhaus. Jemand kam herauf und sie schwiegen, bis derjenige wieder außer Hörweite war. Serena ergriff erneut das Wort. „Ist mir doch egal, was die anderen denken. Mir ist eh schleierhaft, wie jemals jemand glauben konnte, dass du dich für mich interessierst.“ Mit einem Mal stieg Wut in Eriks Gesicht. Er schlug mit der flachen Hand hinter ihr gegen die Wand des Treppenhauses, dass Serena vor Schreck zusammenzuckte. „Ach ja, weil ich ja so oberflächlich bin!“, fuhr er sie an, ohne länger seine Lautstärke zu kontrollieren. Er zog die Hand von der Wand und warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Du denkst genau wie die anderen.“ Er wollte sich abwenden, aber machte einen Rückzieher und wurde erneut aufbrausend. „Weißt du, warum ich den Typen geschlagen habe? Nicht wegen dir! Sondern weil er behauptet hat, dass ich mich über dich an Ariane ranmachen würde!“ Serena stand starr angesichts seines Wutausbruchs. Das Schulhaus wurde vom Läuten der Pausenglocke erfüllt. Abrupt ließ Erik sie stehen und ging. „Warte.“, rief ihm Serena hinterher. Widerwillig blieb Erik stehen und wartete auf sie. Als er sie neben sich wusste, setzte er seinen Weg fort. Andere Schüler kamen nun die Treppen herauf. Schließlich presste Serena Worte hervor. „Tut mir leid.“ Sie hörte ihn ausatmen, er hielt gerade die Glastür zum Treppenhaus auf und wartete offenbar, bis sie hindurchgegangen war. Sie tat ihm den Gefallen. Er folgte ihr, hielt die Tür aber weiterhin offen für die nachfolgenden Schüler, drehte sich aber zu ihr. Seine Stimme, als er sprach, war weicher als sie angenommen hatte. „Wirke ich wirklich so oberflächlich?“ Sie senkte den Blick, während Schüler an ihnen vorbeiströmten. „Nein. Tut mir leid. So meinte ich das nicht. Ich dachte nur…“ Sie brach den Satz ab. Erik ließ die Glastür los. „Du bist schön, Serena.“ Serena schluckte schwer bei seinen Worten. Er drehte sich kurz weg. „Tut mir leid, dass ich dich da mit hineingezogen habe.“ „Schon okay.“, sagte sie. „Danke, dass du mich verteidigt hast.“ „Wenn ich ihn nicht geschlagen hätte, hätte es Vitali getan. Das hat er selbst gesagt.“ Sie sah ihn ungläubig an. Erik schmunzelte. „Ist wohl besser klarzustellen, dass wir nicht zusammen sind, bevor es heißt, du würdest mich mit meinem besten Freund betrügen.“ Serena schaute säuerlich. „Blödsinn.“, maunzte sie. Erik grinste und ging mit ihr zurück ins Klassenzimmer. Der Mittwochmorgen war kalt, doch wie immer schienen auch die kühlen Temperaturen die Raucher nicht davon abhalten zu können, sich vor dem Haupteingang zum allmorgendlichen Gruppenrauchen zu versammeln. Zwei Mädchen lösten sich aus dem Knäuel an Menschen. Erik erkannte in ihnen zwei Klassenkameradinnen, die zu Amandas Clique gehörten, soweit er das einzuschätzen vermochte. Freundschaften und Feindschaften waren für ihn nicht immer eindeutig zu erkennen und die Mühe, die kleinen Symptome zu analysieren, die die wahre Natur ihrer Bekanntschaft enthüllt hätten, hatte er sich nicht geben wollen. „Ist es wirklich wahr, dass du mit Serena zusammen bist?“, fragte ein hübsches blondes Mädchen, das, soweit er sich entsann, den Namen Tatjana trug – die Namen seiner Klassenkameraden hatten ihn noch nie interessiert. Erik musste sich schwer zusammenreißen. Er hatte Serena versprochen, die Gerüchte nicht weiter zu schüren. Allerdings hatte er auch keine Lust, diesen Schnepfen reinen Wein einzuschenken. Also spielte er den Ernsten. „Sie hat mit mir Schluss gemacht.“ Zumindest behauptete er so nicht, noch mit Serena zusammen zu sein. „Was?“, rief Tatjana in affektiertem Mitgefühl. „Das tut mir leid.“ Ihre Kumpanin, eine Dunkelhaarige mit dem Namen Anna, schien in der Kunst der Heuchelei weniger geschickt. In harscher Stimme brachte sie ihren Einwand vor. „Ich verstehe sowieso nicht, wieso du mit ihr zusammen warst, die ist doch voll… komisch.“ Eriks Laune sank auf den Tiefpunkt, doch war er geübt genug darin, seinem Gegenüber nichts davon zu offenbaren. Sein Gesichtsausdruck blieb ernst, sein Blick offen, als spräche er die reinste Wahrheit. „Sie kommt nicht damit klar, dass Amanda sie immer so neidisch anschaut, deshalb wollte sie das Ganze beenden. Aber –“ Er sah die beiden jetzt direkt an und brachte sein einnehmendes Lächeln zum Einsatz. „Ich bin sicher, wenn Amanda ihr erklärt, dass das ein Missverständnis ist, beruhigt sie sich wieder.“ Seine Stimme driftete in eine geheimnisvolle Tiefe ab und in seinem Blick funkelte eine fesselnde Raffinesse. „Es wäre wirklich nett von euch, wenn ihr das in die Wege leiten könntet.“ In einer kurzen neckischen Bewegung hob er seine Augenbrauen, sein reizendes Grinsen wurde noch etwas breiter. Er zwinkerte ihnen zu und lief an ihnen vorbei. Augenblicklich verdrehte er die Augen. Wie tief war er gesunken. Auch nur im Spiel diese Personen anzuflirten, schien seinen Wert mit einem Mal zu mindern. Er betrat das Schulgebäude, wo er nicht länger verdrängen konnte, dass er erneut gegen sein Versprechen verstoßen hatte, alles aufzuklären. Wohl oder übel würde er Serena darüber in Kenntnis setzen müssen. Als er das Klassenzimmer betrat, wurde er von Ariane, Vivien und Justin begrüßt, er erwiderte den Gruß und wandte sich an Serena, die unerwarteter Weise direkt neben der Tür stand. Sie hatte wohl gerade ihren Spitzer über dem Mülleimer entleert. Erik sprach sie an. „Was das angeht, was wir gestern besprochen haben...“ Leise Skepsis schlich sich auf ihr Gesicht. „Ja?“ Auf Eriks Miene wagte sich keine Unsicherheit. „Es könnte sein, dass da etwas… sagen wir mal, nicht ganz so gelaufen ist wie geplant.“ Serenas Ausdruck dagegen wurde noch argwöhnischer. „Was hast du gemacht?“ Erik erzählte ihr in schlichten Worten von seinem Fauxpas. Serena gaffte ihn an. „Du hast ihnen gesagt, Amanda soll sich bei mir entschuldigen, damit wir wieder zusammenkommen?“ „Ja.“, antwortete Erik knapp. Serena sah ihn sprachlos an. Nicht wütend, sondern baff. Dann begann sie mit einem Mal zu strahlen, als hätte er ihr damit einen lang gehegten Wunschtraum erfüllt. Augenblicklich sprang sie in einem spontanen Glücksgefühl auf ihn zu und jauchzte lauthals. „Ich liebe dich!“ Im gleichen Moment trat Amanda mit ihren beiden Freundinnen ins Klassenzimmer, die ihr wohl gerade von dem Gespräch mit ihm erzählt hatten. Erik, von dem Serena nur einen Atemzug entfernt stand, drehte sich zu ihr um und lächelte reizvoll. „Ich habe ihr gesagt, dass du nichts gegen die Beziehung hast.“ Für einen Moment starr, sah Amanda die Szene, wandte sich dann in aufgesetztem Stolz ab und schritt ins Klassenzimmer, als habe sie nichts davon gehört. Ihre Freundinnen folgten, nicht ohne erneut Serena und Erik anzuglotzen. Serenas und Eriks Blicke folgten ihnen. Dann brach Serena in ein komisches knackendes Kichern aus, das wie das Knarzen eines Roboters klang, worauf Erik breit grinsen musste. Serena bekam sich gar nicht mehr ein und musste sich vor Lachen gegen ihn lehnen. Vitali kam ins Klassenzimmer und stockte, starrte die beiden an, mit einem alles andere als begeisterten Gesichtsausdruck. Serena jedoch war so voller Freude, dass sie ihn nur anstrahlen konnte, als wäre heute der schönste Tag ihres Lebens. Vitali, davon noch mehr entsetzt, konnte sie nur noch angaffen, während die anderen Schüler an ihm vorbei drängten. Dann stapfte er zu seinem Platz wie ein Zombie und ließ sich auf den Sitz fallen, mit stierem Blick. „Vielleicht sollte ich ihm das erklären.“, meinte Erik besorgt, derweil Serena erneut vergnügt in sich hineinkicherte, mittlerweile in einem natürlicheren Ton. „Es hat geklingelt.“, informierte Ariane sie lächelnd. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, erfreute sie sich an Serenas ungekanntem Freudentaumel. Sonnenhaft nickte Serena und löste sich von Erik, nicht ohne ihn nochmals anzustrahlen und sich breit grinsend Ariane zuzuwenden. Etwas weniger energiegeladen, lief Erik an seinen Platz neben Vitali. Aus Vitalis Körper schien eine düstere Aura zu entströmen. „Ähm, Vitali…“ Vitali stierte auf sein Wirtschaftsbuch, als enthielte es irgendwelche geheimen Zauberformeln, mit denen er Erik verfluchen konnte. Erik flüsterte ihm ins Ohr. „Ich hab ihr gesagt, dass du den Typen verprügeln wolltest, der sie beleidigt hat.“ „Was?“, schrie Vitali und wirbelte zu ihm herum. Erik legte sich den Zeigefinger auf die Lippen, als wäre das ein Geheimnis. In gewisser Weise war es keine Lüge, auch wenn es Vitali zu einer falschen Annahme verleitete. Vitali riss seinen Blick zu Serena herum. Zu seiner Verwunderung erwiderte Serena seinen Blick und strahlte ihn an. Hastig wandte sich Vitali ab. Er beugte sich fassungslos zu Erik. „Und… und deswegen freut sie sich so?“ Erik zuckte mit den Schultern. Vitali schaute skeptisch drein, lugte hinüber zu Serena, die sich mit ihrem Strahlen nun den anderen widmete, dann wieder zu ihm hinüber sah und ihm ihr schönstes Lächeln schenkte. Vitali wandte sich ab und stützte sich wie ein Mönch im Gebet auf seinen Tisch. „Kann nicht sein.“ Zumindest hatte Erik ihn so von dem Gedanken abgebracht, Serena und er seien plötzlich wirklich ein Paar geworden. Und so wie es aussah, hatte sich die Aktion Beziehung-Dementieren auch erledigt. Zumindest für diesen Tag. Religionslehre beziehungsweise Ethik fanden in der fünften und sechsten Stunde donnerstags statt, wozu Vitali, Vivien und Erik das Klassenzimmer verließen. Serena, Ariane und Justin, die katholische Religionslehre hatten, blieben zurück. Im Gegenzug strömten Schüler aus der E4 herein. Nachdem die fünfte Stunde vorüber war, war das Tagesthema in der Fünf-Minuten-Pause kaum zu überhören – Serenas und Eriks Beziehung. Serena schaute entnervt. „Ich hätte das sofort abstreiten sollen.“ Ariane kicherte. „Gestern warst du noch so fröhlich.“ Die Erinnerung zauberte ein unheimliches Lächeln auf Serenas Lippen, mit dem sie ein wenig an den Killer in einem Splatter-Movie erinnerte. In diesem Moment hörte Ariane ihren Namen fallen. Ohne sich umzudrehen, widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem Gespräch einiger Mädchen, die wenige Bänke hinter ihnen in der mittleren Reihe sitzen mussten. „Ja, ich hab’s genau gesehen! Auf dem Jahrmarkt! Die beiden saßen da und haben sich angeschmachtet. Das ist doch echt das Letzte!“ „Und das von ’ner Freundin.“, stimmte eine andere Stimme ein. „So’n Flittchen!“ Wie erstarrt, sah Ariane auf den Tisch. Dann hörte sie Serena laut rufen. „Wovon redet ihr da hinten?!“ Der Gesprächsstrom versiegte. „Das geht dich gar nichts an.“, sagte eine, deren Stimme noch nicht erklungen war. „Das geht mich wohl was an, wenn ihr meine Freundin beleidigt!“, fauchte Serena. „Tolle Freundin, die sich an deinen Freund ranmacht! Wie blöd bist du eigentlich?“ Ariane wirbelte herum. „Ich habe mich nicht an ihren Freund herangemacht!“ Sie erkannte, dass es sich um eine fünfköpfige Gruppe von Mädchen handelte. „Jeder weiß, dass du auf ihn stehst.“, sagte eine Brünette. Anna aus ihrer eigenen Klasse mischte sich auch ein. „Als wir auf der Burg waren, hast du dich auch an ihn rangeschmissen. Ich hab’s selbst mitbekommen!“ „Falsche Schlange.“, zischte eine mit rotgefärbten Haaren. Ariane war schockiert. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Nun mischte sich Justin ein, der die ganze Zeit still hinter Serena und Ariane gesessen hatte. „Das habt ihr falsch verstanden.“, sagte er. „Die beiden-“ Eine fuhr ihm ins Wort. „Da gibt’s nichts falsch zu verstehen. Die macht sich an den Freund ihrer Freundin ran!“ „Dass sie sich nicht schämt!“ Serena fuhr von ihrem Stuhl auf. „Haltet die Fresse! Ariane macht sich an niemandes Freund ran!“, brüllte sie. „Sie kann mit Erik flirten so viel sie will!“ Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Er hat nur behauptet, mit mir zusammen zu sein, damit ihr dämlichen Schnepfen ihn endlich in Ruhe lasst!“ Ariane sah geschockt zu ihr auf. „Serena…“ Doch Serena war noch nicht am Ende angekommen. „Die ganze Story, dass wir ein Paar sind, ist erstunken und erlogen!“ „Eh, seid ihr krank oder was?“, fragte Anna. „Erfindet, dass ihr zusammen seid. Wie gestört ist das denn?“ „War ja klar, dass er nicht mit der zusammen ist.“, meinte eine andere. „Hab ich’s mir doch gleich gedacht.“, stimmte eine weitere zu. Serena ignorierte sie und setzte sich wieder, drehte sich von den Lästereien dieser Mädchen weg. „Serena.“, versuchte Justin sie zu erreichen. „Das war sehr mutig von dir.“ Serena reagierte zunächst nicht. Sie zog den Kopf ein und hielt den Blick gesenkt, die Zähne zusammengebissen. „Glaubt ihr, ich lasse Ariane beleidigen wegen diesem Mist?“ Ariane sah sie gerührt an. Justin schwieg. Er hörte, die Mädchen jetzt über Serena herziehen. Auch Ariane konnte es hören. „Jetzt lästern sie über dich.“, flüsterte sie schuldbewusst. „Das haben sie vorher schon getan.“, sagte Serena bitter. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer in der Schule verbreitet und war Erik bereits zu Ohren gekommen, bevor er mit den anderen am Physiksaal wieder zusammentraf. Sein Versuch, mit Serena darüber zu reden, scheiterte daran, dass sie sich weigerte, ein Gespräch darüber zu führen. Vitali jedoch konnte die feinen Zeichen, die ausdrückten, dass Serena nichr reden wollte, nicht erkennen oder wollte sie einfach nicht akzeptieren. „Hä? Was ist passiert?“, rief er und sah Serena so durchdringend an, als verstünde er nicht, warum sie ihm nicht sofort alles darüber erzählt hatte. „Nichts!“, schrie sie aufgebracht. Vitali wirkte davon ziemlich beleidigt, woraufhin Justin ihn über die Ereignisse aufklärte: „Serena hat klargestellt, dass sie und Erik kein Paar sind.“ Vitali begriff nicht. „Das ist doch gut.“ Ariane machte den Ansatz, ihm die Angelegenheit zu erklären, doch Serena fuhr ihr ins Wort. „Lasst es einfach!“ Vitali schaute immer noch unzufrieden, hakte aber nicht nochmals nach. Vivien verhielt sich erstaunlich zurückhaltend, als interessiere sie die Angelegenheit überhaupt nicht, sie verwickelte Vitali sogar in ein völlig belangloses Gespräch, was Erik in seiner Schlussfolgerung bestärkte, dass es das Beste war, Serena ihre Ruhe zu lassen. Erst auf dem Heimweg, als sie ein gutes Stück von der Schule entfernt waren, wagte es Erik, Ariane danach zu fragen, was genau geschehen war. Da Serena sie dieses Mal nicht unterbrach, informierte Ariane ihn über die Umstände. Erik nickte ernst. „Und ich war nicht da.“ „Was bitteschön hättest du machen wollen!“, sagte Serena bissig. So viel Mühe sie sich geben mochte, ihr raues Benehmen machte Erik überdeutlich, dass das Verhalten der anderen Schüler sie mitgenommen hatte. Im Gegensatz zu Vitali, der Serenas wechselhaftes Wesen wie einen unleserlichen Geheimcode betrachtete, erschien sie Erik wie ein offenes Buch. Er sah mit zweifelloser Gewissheit, dass jedes Mal, wenn sie sich besonders abweisend, desinteressiert oder sarkastisch gebärdete, ihre darunterliegenden Gefühle umso intensiver waren. Gefühle, die die Zartheit ihrer Seele zu Tage gefördert hätten. Diese verletzliche Seite, die sie so tapfer zu vertuschen suchte und die dennoch in so vielen kleinen Momenten durchschien. „Du hättest nicht allein mit dem Spott umgehen müssen.“, antwortete er. „Ich bin daran gewöhnt.“, stieß sie hart aus. Erik fühlte den Satz wie eine Erinnerung aus alten Tagen auf seinen Schultern lasten. Umso entschiedener war der Blick, den er ihr zuwarf. „Das solltest du aber nicht!“ „Hätte ich Ariane besser beleidigen lassen sollen?!“, rief sie aufgebracht. Erik schwieg. Er hatte in Arianes Nähe keinen einzigen Gedanken an dieses Gerücht verschwendet oder daran, wie das Ganze von außen aussehen musste. Und seine Annäherungsversuche waren wohl für jeden Menschen – außer Ariane – mehr als offensichtlich. Zumal er gelernt hatte, dass Personen, wenn sie nur wollten, so ziemlich alles als Annäherungsversuch fehldeuten konnten. Wenn er es recht bedachte, war die Interpretation, er mache sich über Serena an Ariane ran, nicht so abwegig, wenn man sein Verhalten gegenüber Ariane vor dem Hintergrund der fiktiven Beziehung zu Serena sah. Angesichts dessen wäre die ganze Angelegenheit durch Aufschieben nur noch komplizierter geworden. Schließlich hatte er nicht vor, wegen diesem Gerücht Arianes Nähe zu meiden. „So schlimm war es nicht.“, wandte Ariane kleinlaut ein. „Doch war es.“, widersprach Serena heftig. Ihre Stimme wurde laut. „Sie haben es so hingestellt, als würdest du mir den Freund ausspannen!“ Ariane schwieg. Serenas Kiefer verhärtete sich bei ihrem Anblick, sie wirbelte zu Erik herum. „Wenn du nie behauptet hättest –“ Erik blieb ruhig. „Ich hab es nie wirklich behauptet. Die Leute haben es nach dem ersten Schultag nur gemunkelt.“ Serena erinnerte sich an die Begebenheit damals, als Amanda und Susanne sie vorgeführt hatten. Wenn Erik nicht gewesen wäre, hätte sie vermutlich nie wieder das Schulgebäude betreten. Sie senkte das Haupt. „Danke, dass du damals da warst.“ „Gern geschehen.“ Den Rest des Weges herrschte Schweigen. Als sie vor Serenas Zuhause ankamen, wandte sich Ariane zaghaft an sie. „Serena?“ Besagte zog immer noch eine sehr ernste Miene. Ariane dagegen wirkte geradezu ängstlich. „Darf ich…“ Ihre Stimme wurde noch leiser. „…dich umarmen?“ Arianes Zurückhaltung bestürzte Erik. Dachte sie ernsthaft, dass Serena das abweisen würde? Wusste sie denn nicht, dass Serena der Typ Mensch war, der sich derartige Zuneigungsbezeugungen von Herzen wünschte? Serena schien von der Frage überfordert und schwieg. „Sorry.“, sagte Ariane hastig, als hätte sie etwas Dummes vorgeschlagen. Erik stöhnte. „Umarm sie einfach.“ Ariane sah ihn an, als hielte sie das für übergriffig. Erik verdrehte die Augen und konnte nicht fassen, dass sich Ariane ausgerechnet bei Serena so linkisch anstellte. Ohne zu zögern trat er zu Serena und schloss die Arme um sie. Er löste sich wieder von ihr und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Ihre Mundwinkel hoben sich zaghaft. Dann trat er von ihr weg. An Ariane gewandt hob er gönnerhaft die Augenbrauen und gab ihr damit stumm zu verstehen, dass sie das ja wohl auch noch hinbekam. Ariane verzog missmutig das Gesicht, als sei sie neidisch, dass er so ein gutes Verhältnis zu Serena hatte – während sie von ihr nicht mal eine Antwort auf die Frage bekam, ob sie sie umarmen durfte. Ungewöhnlich zögerlich trat sie dann zu Serena und machte Anstalten, sie zu umarmen. Dabei gebärdete sie sich so unbeholfen, als hätte sie Angst, etwas falsch zu machen. Erik verstand wirklich nicht, was ihr Problem war. Für Ariane waren Umarmungen doch sonst keine große Sache. Ansonsten hätte sie sich sicher geweigert, ihm am ersten Schultag um den Hals zu fallen, auch wenn Vivien und Vitali dies als Strafe für diese bescheuerte verlorene Wette verlangt hatten. Endlich gelang es ihr, Serena zu umarmen, was diese nach erster Verunsicherung erwiderte. „Danke.“, hörte er Ariane in leisem Tonfall sagen und sah, wie Serena als Antwort ihren Griff um Ariane verstärkte. Ein Lächeln stahl sich auf Eriks Gesicht. Kapitel 71: Entartete Künste ---------------------------- Entartete Künste „Was man vergisst, hat man im Grunde nicht erlebt.“ (Ernst R. Hauschka) Donnerstagabend hatte die Arztpraxis noch bei Erik angerufen und mit ihm einen Termin vereinbart, sodass er freitags direkt nach der Schule den Bus zu der Arztpraxis von Herrn Schwing genommen hatte und nun dem ergrauten Doktor gegenübersaß. Noch einmal überflog sein alter Hausarzt die Ergebnisse, die ihm das Labor zugesandt hatte. „Mit deinen Blutwerten ist alles in Ordnung, es gibt keinen Hinweis auf einen Entzündungsherd, die Anzahl der Leukozyten ist normal. Eine Blutarmut kann ausgeschlossen werden. Ich sehe auch keinen Vitamin- oder Mineralstoffmangel. Diesen Werten nach muss ich dich beglückwünschen. Ich habe selten jemanden gesehen, der so kerngesund ist.“ Sein Arzt lächelte ihn an, doch angesichts Eriks unbewegter Miene, wurde er wieder ernst. „Ich kann keinerlei Ursache für diesen Schmerz feststellen. Hast du deinen Arm geschont?“ Erik erinnerte sich an die Liegestütze, von denen er mehr gemacht hatte, als der Sportlehrer überhaupt verlangt hatte, nur um dadurch seine Wut abzureagieren. „So gut es ging.“ „Und hast du seither wieder Schmerzen gehabt?“ „Nein.“ Herr Schwing schaute nachdenklich. „Ich kann es mir nur so erklären, dass es sich um eine Nervenreizung gehandelt hat.“ Er pausierte. „Die Frage ist nur, was diese Reizung verursacht haben soll.“ „Und wenn es eine Wunde war?“, fragte Erik. Herr Schwing horchte auf. „Hattest du dort eine Wunde?“ Erik hielt kurz inne. „Ich weiß nicht.“ Er hatte Glück, dass Herr Schwing ihm dennoch antwortete. „Wenn du dort eine Verletzung gehabt haben solltest, könnte ein Schmerznerv verletzt worden sein. Aber an eine solche Wunde würdest du dich gewiss erinnern.“ Finster starrte Erik auf den Boden. „Und was würde man in diesem Fall tun?“ „Man würde die Nerven in einer Operation unter Narkose freilegen müssen, um eine Verletzung zu sehen. Das tut man, wenn damit gerechnet wird, dass bleibende Schäden in der Funktion des Arms entstehen. Bei dir kommt so etwas nicht in Frage. Ich würde dir einfach Magnesium und Vitamin B verschreiben, aber laut deinen Blutwerten hast du keinerlei Mangel.“ Erik sah ihn noch immer ernst an. „Ich bin mir sicher, dass das nur eine vorübergehende Störung war. Sollte aber irgendetwas Akutes auftreten, dann kannst du mich gerne anrufen, falls dich das beruhigt. Ich gebe dir meine Privatnummer.“ Herr Schwing schrieb seine Nummer auf einen Zettel und stand auf. Auch Erik erhob sich. Sein Arzt legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Ich hätte eher Bedenken, dir unnötige Untersuchungen aufzubürden, als dass ich davon ausginge, dass du eine schlimme Krankheit hast. Aber beobachte es weiterhin und schone die nächste Woche deinen Arm wirklich. Frau Bechtel soll dir ein Attest für den Sportunterricht mitgeben. Und jetzt genieß das Wochenende. Du bist jung und solltest nicht so ein gramvolles Gesicht ziehen. Ja?“ Er klopfte Erik auf den Rücken und entließ ihn. Vitali gaffte mit fragwürdig verzogenen Gesichtsmuskeln geradeaus. „Was ist das?“ Er stand vor einem wild zusammengewürfelten Bild moderner Kunst. Serena antwortete auf ihre üblich liebenswerte Weise. „Dein Hirn.“ Vivien rief begeistert: „Wow! Du kennst den Künstler?!“ Vitali verstellte seine Stimme zu einem hochmütigem Nasalton: „Bitte. Bei mir klingelt ständig das Telefon von Künstlern, die mein Genie als Vorlage für ihre Werke verwenden wollen. Da kann ich mir nun wirklich nicht alle Namen merken.“ Vivien lachte. Serena stöhnte. Derweil hatte sich Ewigkeit neugierig zu ihnen gesellt und auf Vitalis Schulter Platz genommen, um ihrerseits das Kunstwerk in Augenschein zu nehmen. Zurückhaltend ergriff Justin das Wort. „Was genau sollen wir jetzt machen?“ Vivien hatte sie alle dazu überredet, ein Spezialtraining im Kunstmuseum durchzuführen. Serena hatte zwar eingewandt, dass sich dort Leute befinden würden, aber das hatte Vivien nicht als Grund gelten lassen. Stattdessen hatte sie darauf hingewiesen, dass auch Arianes Schutzschild für die Augen der anderen Leute unsichtbar gewesen war. Demnach mussten sie also die Aufmerksamkeit Außenstehender nicht fürchten. Außerdem war es eine hervorragende Übung, um ihre Kräfte auch in ungewöhnlichen Situationen einzusetzen! Zu ihrem Glück, aber entgegen Viviens vermeintlichem Plan, war das Kunstmuseum an diesem Freitagnachmittag jedoch kaum besucht. Sie waren die einzigen Leute weit und breit, von der Frau an der Kasse und der Angestellten, die sie hereingelassen hatte, einmal abgesehen. Entsprechend hatten sie sich nicht verwandelt, doch Vitali hatte darauf bestanden, dass sie sich trotzdem bei ihren Beschützernamen nannten. Schließlich war es Training! „Einfach so!“, rief Vivien und hatte im gleichen Moment mit ihrer Rechten eine glitzernde Energiewelle beschworen und diese mit einer einzigen Bewegung treffsicher an Justins Kopf vorbei geschossen. Sie kicherte, hastete dann zu dem offenen Durchgang, der in den nächsten Raum des Museums führte, und warf ihnen ein keckes Grinsen zu. „Fangt mich doch!“ Vitali ließ sich das nicht zweimal sagen. Er rief ebenfalls seine Kräfte herbei, hechtete Vivien nach und hatte keine Skrupel, dabei exzessiv seine Energiewellen in den Galerien zu verströmen. Serena sah ihnen und Ewigkeit, die sich in geschwindem Flug dem lustigen Treiben angeschlossen hatte, genervt nach. „Keinen Respekt vor Kunst.“ Ariane sah zweiflerisch auf das Wirrwarr an Linien, vor dem sie stand. Anschließend lächelte sie Serena auffordernd an und entließ von ihrer Hand einen apricotfarbenen Dunst wie aus einem Wasserzerstäuber, der als sanfter Hauch Serenas Gesicht berührte. „Komm schon!“, lachte sie und eilte den anderen hinterher. Noch immer von diesem heiteren Trubel wenig begeistert stand Serena reglos da. Justin trat zu ihr. „Gehen wir?“ „Das ist doch total bescheuert. Wenn die noch lauter sind, kriegen wir noch Ärger.“ Justin sah sie überrascht an. „Willst du nicht Change abschießen?“ Kaum hatte Serena die unerwartete Verheißung vernommen, stahl sich ein boshaftes Grinsen auf ihre Lippen. In ernstem Ton erwiderte sie, während ihre rechte Faust in einer himbeerroten Flamme aufloderte. „Wenn schon, denn schon.“ Justin lächelte. Sogleich folgten sie den anderen in den nächsten Raum. Vier zusätzliche Stellwände standen in seiner Mitte und bildeten einen viereckigen Bereich, an dessen Seiten ebenfalls Gemälde hingen. Allerdings wurden diese Wände von den Beschützern dreist zweckentfremdet, um vor den gegenseitigen Angriffen in Deckung zu gehen. Vitali, Vivien und Ariane turnten geschickt um die freistehenden Stellwände und versuchten dabei einander mit ihren Attacken zu treffen. Ihre Überraschung war groß, als plötzlich ein pinkrotes Licht den ganzen Raum einnahm und sie einhüllte. „Gewonnen.“, sagte Serena in lässigem Ton. „Ey, das ist voll unfair.“, schimpfte Vitali. „Nicht so schnell.“, rief Ariane und ließ einen Schutzschild entstehen, der sie augenblicklich vom Einfluss von Serenas Attacke befreite. Den Einsatz dieser Fähigkeit hatte sie seit Sonntag jeden Abend geübt und langsam begann sie das Prinzip zu begreifen. Ihrem Beispiel folgend entschwebte Vitali Serenas Lichterbrand, derweil Vivien in Arianes Schutzschild flüchtete. Dort ergriff sie ihre Hand, um sich ebenfalls mit der Verwendung dieser Fähigkeit vertraut zu machen. Serena erhob drohend den Arm gegen Vitali. „Du solltest runterkommen, bevor ich dich paralysiere.“ Doch Vitali war gewieft genug, stattdessen seine Unsichtbarkeit einzusetzen. „Das hilft dir gar nichts!“, rief Serena und wandte sich an Justin, der bisher nur zugesehen hatte. „Du kannst ihn ausfindig machen.“ Justin sah sie etwas besorgt an. „Du willst ihn doch nicht wirklich paralysieren.“ Kurz zuckte es unheilverheißend in Serenas Gesicht, dann zog sie eine wenig überzeugende Miene – das bösartige Lächeln spielte noch immer in einem ihrer Mundwinkel. „Natürlich nicht.“ Bei dem Gedanken musste sie noch breiter grinsen. „Von wegen!“, rief Vitalis Stimme und Serena wurde an den Haaren gezogen. Geschockt schrie sie auf und knallte im gleichen Moment unter einer schweren Last bäuchlings zu Boden. Plötzlich hörten die fünf die Tür zu den Ausstellungsräumen aufgehen und schnelle Schritte auf sie zukommen. Von dem Schrei aufgeschreckt, kam eine Museumsangestellte auf sie zu gestürmt. „Was ist hier los?“ Wie vermutet, nahm sie den Schutzschild um Ariane und Vivien nicht wahr, den diese dennoch sofort verschwinden ließen. Geistesgegenwärtig ergriff Justin das Wort. „Sie ist bloß hingefallen.“ Er deutete auf Serena, die immer noch am Boden lag. „Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich die Angestellte. Serena war kurz davor sie anzublaffen, ob es so aussah, als ob es ihr gut ginge! Sie spürte auf ihrem Rücken Vitalis Gewicht, der offensichtlich unsichtbar auf ihr lag. Dieser Trottel! Sie hätte ihn am liebsten getreten und geschlagen, allerdings hätte es sicher seltsam gewirkt, wenn plötzlich aus dem Nichts Schmerzenslaute gekommen wären. „Können Sie nicht aufstehen?“ Serena musste sich zusammenreißen. „Alles okay.“, antwortete sie, konnte sich aber nicht rühren. Warum ging dieser Trottel auch nicht von ihr runter?! „Soll ich Ihnen aufhelfen?“ Justin trat geistesgegenwärtig vor, um die Frau abzulenken, hatte aber nicht damit gerechnet, über die unsichtbaren Beine Vitalis zu stolpern. Fast wäre er gegen die Dame vom Museum geprallt, konnte aber gerade noch das Gleichgewicht wiederfinden, wodurch er sie nur leicht streifte. Im gleichen Augenblick schossen ihm fremde Bilder durch den Kopf. Die Szene, die soeben stattgefunden hatte aus der Sicht der Angestellten: Ein Schrei. Dann die Tür. Der erste Ausstellungsraum. Der zweite. Serena auf dem Boden. Er daneben. Ariane und Vivien im hinteren Teil des Raumes. Im gleichen Moment fühlte er etwas, als hätte er einen Faden zu fassen bekommen. Er ergriff das seltsame Flattern in sich. Seine Aufmerksamkeit zog daran und die Bilder lösten sich Stück für Stück auf, als würde er eine Strickarbeit aufribbeln. Daraufhin ließ er die Verbindung fahren und schreckte zurück. Die Frau stand für einen Moment wie gelähmt da, schaute dann auf den Boden auf Serena und zeigte Verwunderung. „Was ist denn hier los? Wieso liegen Sie am Boden?“ Justin war zu überrascht, als dass er hätte reagieren können. Die anderen Beschützer starrten die Frau dagegen verwirrt an. „Können Sie nicht aufstehen? Soll ich Ihnen helfen?“ Die Frau schien ziemlich verdutzt, warum ihr die Jugendlichen nicht antworteten. Sie hatte sie beim Hineingehen Deutsch sprechen hören, es konnte also nicht an einem Verständigungsproblem liegen. „Wollen Sie mir nicht antworten?“ Serena war zu verstört, um darauf zu reagieren. Nun wurde die Frau wütend. „Das ist hier weder ein Spiel- noch ein Schlafplatz. Wenn sie sich nicht benehmen können, möchte ich Sie bitten, das Museum zu verlassen.“ „Ich bin doch nur gestolpert!“, beschwerte sich Serena. „Dann sagen Sie es doch gleich!“ „Justin hat es Ihnen doch eben schon gesagt!“, rief Serena. Die Frau verstand offenbar nicht, wovon sie redete. „Wie auch immer. Zeigen Sie etwas Respekt vor den Kunstwerken.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ließ die Jugendlichen stehen. „Das war ja seltsam.“, sagte Ariane. Ewigkeit, die neben ihr schwebte, blinzelte unschuldig. Aufgebracht schimpfte Serena mit dem Gewicht, das immer noch auf ihrem Rücken lastete. „Geh endlich von mir runter, du Vollidiot!“ Der Beschützer regte sich nicht. „Change!“ Nichts. Ariane, die mittlerweile die Prozedur gewöhnt war und Vitalis seltsames Schweigen besser zu deuten wusste als Serena, kam an ihre Seite und tastete nach dem Unsichtbaren. Nach wenigen Sekunden hatte ihre Läuterung Erfolg. Vitali, nun wieder sichtbar, stieß sich aufgeregt von Serena ab und schimpfte los, noch ehe er wieder auf den Beinen war. „Du dumme Kuh! Musst du mich immer paralysieren!“ Serena begriff erst jetzt, was geschehen war. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sie ihre Fähigkeiten eingesetzt hatte. „Fass mich halt nicht an!“ Als hätte sie das absichtlich gemacht… Vivien machte ein nachdenkliches Gesicht. „Das wird schwierig, wenn ihr mal ein Paar seid“ „Wir werden kein Paar!“, brüllte Serena. Ariane half ihr auf. Serena grummelte. „Wir werden noch rausgeschmissen.“ „Eigentlich bist du gerade die Lauteste.“, sagte Ariane vorsichtig, bekam aber sofort einen bitterbösen Blick von Serena ab. In diesem Moment eilte Vivien an ihnen vorbei. „Trust?“ Den anderen fiel jetzt erst auf, dass Justin den Eindruck machte, als wüsste er mit einem Mal nicht mehr, wer und wo er war. Behutsam berührte Vivien ihn am Arm. Als habe sie ihm einen schmerzhaften Schlag versetzt, riss Justin seinen Arm zurück und wirkte fast panisch. Vivien sah ihn besorgt an. Beschämt senkte Justin den Blick, sein Gesicht verzog sich schmerzhaft. „Was ist denn?“, fragte Vivien fürsorglich. Voller Reue sah Justin sie an, als habe er gerade ein entsetzliches Verbrechen begangen. Vivien machte einen erneuten Ansatz, ihn zu berühren. „Nicht!“, schrie Justin. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Justin ballte die Hände zu Fäusten und ließ den Kopf hängen. „Ich könnte… Deine Erinnerungen...“ Keiner der anderen verstand. „Wovon sprichst du?“, fragte Ariane. Justin schluckte und blickte zu den anderen, sein Kiefer verkrampfte sich. „Eben… Ich… Die Dame, die da war. Ich glaube… ich habe ihre Erinnerungen…“ Man sah ihm an, dass er mit sich rang. „... gelöscht.“ „Hä?“, stieß Vitali aus. Ariane klärte Vitali auf. „Die Frau schien sich eben nicht mehr zu erinnern, nachdem Justin sie berührt hat.“ Vitali hatte von seiner Position aus nur die Hälfte davon mitbekommen. „Das heißt, du kannst Erinnerungen löschen?!“, rief Vitali aufgeregt. Ängstlich sah Justin ihn an. „Das wollte ich nicht.“ Vitali dagegen war begeistert. „Wie geil! Das heißt, immer wenn du was anstellst, kannst du einfach die Erinnerung vom anderen löschen!“ Mit seinen großen braunen Rehaugen sah Justin ihn unbedarft an und selbst Vitali konnte es nicht entgehen, dass sein Freund offensichtlich wenig mit den Vorschlägen anzufangen wusste, die er ihm gerne unterbreitet hätte. „Denkst du, du hast etwas Wichtiges gelöscht?“, wollte Ariane wissen. Justin macht ein Gesicht, das zu sagen schien, dass jede Erinnerung wichtig war. „Kannst du uns erzählen, was genau passiert ist?“, fragte Vivien sachte. Justin versuchte es in Worte zu fassen, wie er die Erinnerungen gesehen und dann an etwas Unsichtbarem gezogen hatte. „Was waren das für Erinnerungen?“, hakte Ariane nach. Justin antwortete. „Es war also noch im Kurzzeitgedächtnis.“, schlussfolgerte Ariane. „Du hast also nichts Existenzielles gelöscht.“ Justins Miene nach zu urteilen, fielen ihm gerade hundert Dinge ein, die im Kurzzeitgedächtnis sein konnten und deren Verlust schreckliche Konsequenzen hätte: Eine Krankenschwester, die dem Patienten zwei Mal ein starkes Medikament verabreichte, das dann zu Herzstillstand führte, jemand, der vergaß den Herd angemacht zu haben, so dass das Haus anfing zu brennen, oder ein Junge, der gerade von dem Mädchen, das er mochte, einen Korb bekommen hatte und sich gleich eine noch schlimmere Abfuhr holte, weil er sich nicht daran erinnern konnte. Vivien wandte sich an ihn. „Du hast gesagt, dass du an etwas gezogen hast, wenn du das nicht tust, löschst du bestimmt nichts.“ Sie lächelte ihn tröstend an. „Außerdem ist es doch ganz praktisch, Erinnerungen löschen zu können, falls jemand unsere Fähigkeiten sehen sollte!“, meinte sie. Euphorisch rief Vitali. „Du bist wie das Ding von den Men in Black!“ Justin verstand Viviens Überlegung, fühlte sich aber dennoch nicht wohl bei dem Gedanken, in jemandes Erinnerungen herumzupfuschen. Wieder machte Vivien den Ansatz, ihn zu berühren. Wieder zog er seinen Arm zurück. „Ich will nicht versehentlich deine Erinnerungen löschen.“, sagte er bekümmert. Vivien lächelte ihn heiter an. „Hauptsache, ich vergesse dich nicht!“ Sie kicherte. „Alles andere ist nicht so wichtig.“ Justin konnte diese Aussage nicht nachvollziehen. „Lass ihn.“, sagte Serena streng zu Vivien. „Es ist nicht schön, wenn man seine Kräfte ungewollt einsetzt.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und vermied den Blick zu Vitali, der sich auf ihre Worte hin zu ihr gedreht hatte. Vivien ließ sich nicht beirren. „Wenn man nicht daran arbeitet, dann lernt man auch nicht, sie zu beherrschen. Und vielleicht kann Ariane mit ihrer Läuterung die Erinnerungen ja wieder sichtbar machen!“ Justin hatte sichtlich Zweifel daran. Ewigkeit kam herbeigeflogen und landete ungeniert auf seinem Kopf. Sie hatte offenbar genauso wenig Sorge um die Auswirkungen von Justins Kräften wie Vivien. „Was sind Erinnerungen?“ Sie schien die Frage wirklich ernst zu meinen. „Echt jetzt?“, rief Vitali. Ariane dagegen bemühte sich um eine verständliche Erklärung. „Gedanken an das, was du schon erlebt hast.“ Interessiert hörte Ewigkeit zu. „Ist es schlimm, wenn Erinnerungen gelöscht werden?“ Ariane lächelte. „Das kommt wohl auf die Erinnerungen an.“ Ewigkeit blinzelte, als warte sie auf eine weitergehende Ausführung. Ariane tat ihr den Gefallen. „Naja, manche Erinnerungen freuen einen, aber manche sind auch traurig und man fühlt sich unwohl oder hat Angst wegen ihnen oder Schlimmeres.“ Das kleine Etwas hob die Schultern ängstlich und hielt seinen goldenen Anhänger umfasst. Serena gab ihrer Stimme einen betont genervten Klang. „Wenn man sich an nichts erinnern könnte, müsste man so blöd bleiben wie Change.“ „Alter!“, blaffte Vitali. „Was ist dein Problem?!“ Sie reagierte nicht. „Wenn dir was nicht passt, dann kann Trust ja jetzt deine Erinnerungen löschen!“, rief Vitali. Serena verzog säuerlich das Gesicht. „Wäre vielleicht besser, wenn ich mich nicht mehr an dich erinnere!“ „Ja gut, dann mach doch!“, schrie Vitali. „Hört auf, darüber Scherze zu machen!“, ermahnte Ariane die beiden. „Das ist gerade nicht leicht für Trust und ihr redet darüber, als wäre es ein großer Witz!“ Serena und Vitali schwiegen und drehten reuig ihr Gesicht weg. Justin sah betreten zu Boden. „Niemandem sollten seine Erinnerungen genommen werden.“ Ewigkeit, die immer noch auf seinem Kopf saß, meldete sich wieder zu Wort. „Wieso?“ Justin seufzte. „Erinnerungen machen einem zu dem, der man ist.“, erklärte er. „Wenn man jemandem die Erinnerung nimmt, dann nimmt man ihm einen Teil seines Lebens.“ Das Schmetterlingsmädchen lauschte den Worten begierig. „Und wenn man keine hat?“, fragte es weiter. „Ist das schlimm?“ „Klar ist das schlimm!“, rief Vitali. Ewigkeit schaute geschockt, dann blickte sie geknickt hinab auf ihren Anhänger. „Aber… ich habe keine Erinnerungen.“ Einen Moment herrschte Schweigen. Nochmals holte Justin tief Luft, überwand sich und holte Ewigkeit mit seinen Händen behutsam von seinem Kopf. Er hielt sie vor sich, so dass er sie ansehen konnte. „Natürlich hast du Erinnerungen.“, versicherte er. „Du bist doch die ganze Zeit bei uns und trainierst uns. Das sind alles Erinnerungen und jeden Tag kommen neue hinzu.“ Liebevoll lächelte er sie an. „Du wirst irgendwann ganz viele davon haben.“ Seine Worte brachten Ewigkeit zum Strahlen. Das beruhigte Justin. „Trust.“, sagte Vivien mit flehentlicher Stimme. Er drehte sich zu ihr. „Verbietest du mir jetzt, dich zu berühren?“ Sie zog ein so unglückliches Gesicht, als würde man ihr untersagen, jemals wieder ihre Lieblingssüßigkeit zu essen. Justin errötete und wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. „Unite, lass ihn in Ruhe.“, sagte Serena genervt. „Aber…“ Mit großen Kulleraugen sah Vivien nun sie an. Serena fasst sich an die Stirn. „Trust, sag ihr, dass sie dich wieder berühren darf, sonst gibt sie keine Ruhe.“ Vivien nickte bestätigend. Justins Gesicht wurde noch röter. Er brachte es nicht über sich, etwas Derartiges laut auszusprechen oder auch nur zu bejahen. Vivien sah ihn einen Moment lang an, in dem Justin sich am liebsten versteckt hätte, dann drehte sie sich zu den anderen. „Wir müssen noch unsere Strategien überarbeiten!“, rief sie übertrieben laut. Von dem abrupten Themenwechsel überrumpelt, starrten die anderen sie an. Vivien ließ sich davon nicht beirren. „Wenn wir unsere Kräfte geschickt kombinieren, kann uns nichts mehr aufhalten!“ Wie ein verrückter Wissenschaftler hielt sie die Arme in die Höhe und gab ein schallendes Lachen von sich. Während Ariane immer noch über den Themenwechsel verwundert schien, stieg Vitali glücklicherweise direkt darauf ein. „Ich hab schon den perfekten Plan!“, meldete er sich und begann mit Enthusiasmus seine Ideen auszubreiten. „Wenn die Schatthen uns das nächste Mal angreifen, ruft Desire ihr Schutzschild und Trust und du schießt die Schatthen ab. Ich mache Tiny und mich unsichtbar und wir fliegen raus. Von dort aus paralysiert Tiny die Schatthen. Und dann können wir sie einfach abschießen!“ Serena gaffte ihn an. „Das… ist…“ Sie stockte. „…schlau.“ Plötzlich riss sie ihre Hände in die Höhe und schlug sie über dem Kopf zusammen. „Aaah! Change hat einen schlauen Kommentar abgegeben! Das muss eine Wahnvorstellung sein!!!“ Vitali bedachte sie mit einem mürrischen Blick. Ariane wandte sich an Serena. „Du bist heute ziemlich aufgedreht.“ „Ja, sie versucht den ganzen Tag, Changes Aufmerksamkeit zu erregen. Süß, nicht?“, lachte Vivien. „Gar nicht!“, schrie Serena. Vivien kicherte und linste möglichst unbemerkt in Justins Richtung. Sie sah, dass er lächelte. Erleichtert atmete sie auf. Grauen-Eminenz seufzte und ließ sich in seinen Bürosessel fallen, seine Arme und Beine lasch von sich gestreckt. Nachdem er eine Minute so verharrt hatte, raffte er sich wieder auf, um seine Arbeit anzugehen. Wieder rief er drei Dutzend Bildschirme auf, die wie Hologramme vor ihm in der Luft schwebten und die Aufnahmen der Schatthen zeigten. Die Bilder waren so schrecklich verwackelt, dass ihm speiübel wurde. Das war der Nachteil daran, dass seine neuen Schatthen so flink den Attacken seiner Auserwählten ausgewichen waren. Er betätigte einen Knopf auf dem Kontrollpult vor ihm und schaltete auf Slow Motion. Er regelte die Stärke der Zeitlupenfunktion, bis sie seinen Wünschen entsprach. Rechts neben sich rief er dann einen weiteren Bildschirm auf. Auf ihm wurden die Werte angezeigt, die die Messapparaturen der drei Schatthen geliefert hatten. Sein Blick wanderte zwischen den Bildern der Jugendlichen, die ihre Fähigkeiten einsetzten, und den Werten hin und her. Er begriff es nicht. Die Werte sprachen eine eindeutige Sprache. Es waren Werte, wie er sie selbst erzielt hätte, hätte er seine eigenen Kräfte damit gemessen. Seine grauen Augen verengten sich. Er wählte drei Bildschirme aus der Vielzahl derer aus, die die Attacken seiner Auserwählten präsentierten, und vergrößerte sie. Das Licht, das ihre Gestalt umhüllte und Schatthen in einen bezaubernden Schimmer verwandelte, passte zu keiner einzigen Fähigkeit, von der er je gehört hatte. Kein Schatthenmeister konnte Schatthen einfach auflösen. Man konnte sie zerstören, aber nicht verschwinden lassen. Welcher Logik folgte es, dass diese Fähigkeiten und die seinen die gleiche Handschrift trugen? Er war ja nicht dumm. Wenn die Kräfte seiner Auserwählten den seinen entsprachen und seine Schatthen auflösen konnten, dann mussten die Schwingungen, die sie auslösten, irgendwie entgegengesetzt zu denen sein, die er benutzte. Aber wie sollte das gehen? Sie konnten sich ja schlecht freuen und dabei solche Kräfte freisetzen… Der Schatthenmeister dachte kurz darüber nach. Ach Quatsch. Grauen-Eminenz war frustriert. Er hatte fest damit gerechnet, eine völlig neue Kraft in seinen Auserwählten gefunden zu haben, Kräfte, die über das hinausgingen, was er kannte! Und was war? Nichts. Bloß eine seltsame Mutation von Schatthenmeister-Fähigkeiten. Na toll. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Dämliche Prophezeiung. Kapitel 72: [Schicksals Fluch] Verhohlen - Serenas Wunden --------------------------------------------------------- Verhohlen – Serenas Wunden „Gib Worte deinem Schmerz: Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.“ (Macbeth, IV. Akt, 3. Szene, von William Shakespeare) Sonntag. Erik saß auf seinem Bett, gegen die Wand gelehnt. In Gedanken ging er noch einmal die Ereignisse durch, die mit seinen Schmerzen zusammenhingen. Dann stand er auf und holte sich etwas zu schreiben, um alle Puzzleteile schriftlich festzuhalten. Das erste Mal war der Schmerz auf Burg Rabenfels aufgetreten. Wenige Minute nach dem ersten Anfall hatte der zweite ihn ohnmächtig werden lassen. Erneut war er dessen Opfer geworden, nachdem er bei Finster ein Kuvert abgegeben hatte. Und dann wieder auf dem Jahrmarkt, wo der zweite Anfall abermals in einer Ohnmacht geendet hatte. Begleitet von einer vermeintlichen Wahnvorstellung. Er dachte darüber nach, wie viel Zeit zwischen den Ereignissen lag und öffnete dazu seine Kalender App. Der Jahrmarktbesuch hatte am siebten Oktober stattgefunden. Am einundzwanzigsten September hatten sie Burg Rabenfels besucht. Ein paar Tage später – er konnte sich nicht mehr an das genaue Datum erinnern – war der Schmerz vor der Finster GmbH aufgetreten. Und der dritte September war der erste Schultag gewesen. Dies erachtete er ebenfalls als relevant, da er damals die fünf kennengelernt und die ersten Andeutungen über eine Wunde am Arm vernommen hatte. So lächerlich er diese ganze Rollenspiel-Sache auch empfand, die Parallelen zu seiner tatsächlichen Situation waren zu gravierend, als dass er sie einfach als einen Zufall hätte abtun können. Die fünf flochten willentlich reale Begebenheiten in den Plot mit ein. Dem war er sich durchaus bewusst, doch die Sache mit seinem Arm… Als hätte die Erfindung die Wirklichkeit beeinflusst. Erik stöhnte. Das ergab doch alles keinen Sinn. Vivien hatte ihm als Hintergrundstory erzählt, sie seien von Monstern entführt worden und hätten dabei Secret getroffen. Dieser habe eine Wunde gehabt, deren Herkunft unbekannt sei. Secret sei bei der Flucht zurückgeblieben. Und er sei Secret, der sich an nichts erinnere. Dieser Schritt schien logisch: Ab dem Zeitpunkt, in dem Ariane ihren Wetteinsatz einlösen und ihn als Secret behandeln musste, hatten sie ihn einfach in die Geschichte eingebaut und die Amnesie erfunden, um sein Unwissen zu rechtfertigen. Als seine Schmerzen im Arm aufgetreten waren, hatten sie das als Reaktion der Wunde umgedeutet. Wahrscheinlich hatte das eine tatsächlich nichts mit dem anderen zu tun und er verwechselte Ursache und Wirkung. Er hielt inne. Wieso hatte dann Ariane immer so verunsichert reagiert? Andererseits war es wohl einfach peinlich, dass sie und die anderen so ein Spiel spielten. Kein Wunder, dass die fünf ihm das nicht gleich auf die Nase gebunden hatten. Zumindest schienen sie ihm mittlerweile genug zu vertrauen, um ihn in diesen Kreis aufzunehmen. Er fragte sich wirklich, warum er so scharf darauf war, hinter dem Ganzen einen tieferen Sinn zu erkennen. Er legte das Schreibzeug beiseite. Von Schmerzen, die nicht durch körperliche Ursachen hervorgerufen wurden, hatte er schon gehört, sogenannte psychosomatische Störungen. Er stand auf und schaltete seinen Laptop an. Sobald das System hochgefahren war, informierte er sich über mögliche Symptome von psychosomatischen Erkrankungen. Wie er aus den verschiedenen Beiträgen entnehmen konnte, gab es offensichtlich so gut wie kein Symptom, das sich nicht auch auf psychische Ursachen zurückführen ließ. Auf einer Seite erfuhr er von Krankheiten, die nicht anerkannt waren, weil die Ärzte keine körperliche Ursache für die Symptome fanden, darunter eine Erkrankung namens Morgellons, bei der die Betroffenen Risse in der Haut und offene Wunden bekamen und über ein Gefühl klagten, als würden kleine Käfer unter ihrer Haut krabbeln. Automatisch fühlte er sich an den Film ‚Die Mumie‘ erinnert. Er wechselte zurück auf die Ergebnisse seiner Suchanfrage und folgte einem weiteren Link. Dort wurden als Hauptursache von psychosomatischen Erkrankungen Konflikte genannt. Oft seien sich die Betroffenen der Folgen nicht bewusst, würden die Zeichen nicht bemerken und stattdessen die Problematik verdrängen. Die verdrängten Gefühle würden sich dann über die Krankheitssymptome auf andere Weise äußern oder Entzündungen und andere Krankheiten begünstigen. Für ihn klang das alles etwas zu esoterisch. Wie konnte denn die Psyche körperliche Symptome hervorrufen? Andererseits schienen bestimmte Leute das wirklich zu haben. Erik schloss den Browser. Er hatte keine unterdrückten Konflikte. Seine Konflikte waren ihm durchaus bewusst, außerdem waren sie nicht bedeutend genug, um ihn körperlich zu belasten. Er war kein kleines Kind mehr. Das Bild eines kleinen, schmächtigen Jungen kam in ihm hoch. Wie er geweint hatte aus Scham, ein solch missratener Sohn zu sein. Wie bescheuert! Auch Serena saß alleine in ihrem Zimmer und versuchte sich auf ihre Geschichte zu konzentrieren. Seit sie von den Schatthen entführt worden war und die anderen kennengelernt hatte, hatte sie nicht mehr die Muse zum Schreiben gehabt. Die meiste Zeit war sie nun mit Training, Hausaufgaben oder dem schlichten Überleben beschäftigt. Unzufrieden stand sie von ihrem Bett auf. Sie erinnerte sich, etwas zu dieser Szene zuvor aufgeschrieben zu haben, aber das musste ewig her sein. Wer wusste, wo sie das Blatt hingetan hatte. Sie lief zum Regalschrank und öffnete zunächst die kleinen Schranktüren unterhalb des Regals. Sie wurde nicht fündig. Als nächstes durchstöberte sie die Schubladen, die mit allerlei Papieren angefüllt waren, holte die Papierberge heraus, um darunter vielleicht etwas zu entdecken, und stockte. Mit einer Hand holte sie das zusammengebastelte Heftchen hervor, auf dem ‚Happy Birthday‘ stand und ein Text, umrahmt von selbstgezeichneten und kolorierten Bildern. Sie legte das Heftchen kurz neben sich, bettete solange den Papierstapel wieder in die Schublade, und besah sich ihren Fund dann näher. ‚Liebe Serena, nun bist du 15! Ich hoffe, dass du dieses Heft, das ich dir gebastelt habe, nicht zu kindisch findest. Aber ich dachte, du würdest lachen, wenn du’s siehst. Wie auch immer. Ich wünsche dir…‘ Serena blätterte um. Auf den folgenden Seiten war stets ein Wunsch aufgeschrieben, mit unterschiedlichen Verzierungen umrahmt. Daneben war jeweils ein Bild aus einem Anime geklebt. Es waren nicht viele Seiten, aber die letzte konnte man aufklappen. Die Zeichnung eines blonden Mädchens im Mangastil war darauf zu sehen, die einen Blumenstrauß hielt, und in deren Sprechblase stand: ‚Ich wünsche dir, dass alle deine Wünsche in Erfüllung gehen!‘ Um die Figur herum waren verschiedene Sprüche geschrieben. ‚In der Bibel steht, dass niemand perfekt ist! Kein Wunder, vor 2000 Jahren gab es dich ja noch nicht!‘ Eine kleinere Zeichnung mit einer Wahrsagerin, die offensichtlich das gleiche Mädchen darstellen sollte, beinhaltete den Text: ‚Ich sehe in meiner Kristallkugel, dass es ein sehr gutes Jahr für dich wird. Dein 15. Geburtstag bringt viel Glück mit!‘ Und ein letzter Spruch: ‚Ist die Entfernung noch so groß, so schnell wirst du mich nicht mehr los!‘ Darunter die Unterschrift: ‚Deine Amanda‘. Serena fühlte etwas ihr Herz umkrampfen und ihren Magen zu einem harten Klumpen zusammenziehen. Dann wusste sie nicht mehr, ob sie aus Trauer oder aus Hass weinte. Am Dienstagvormittag verkündete ihre Deutschlehrerin, Frau Müller, ihnen: „Nächste Woche werden wir anfangen die Referate zu hören, die ihr über die letzten Wochen vorbereitet habt.“ Die Klasse gaffte sie entsetzt an. Welche Referate? „Ich hoffe doch, dass ihr die letzten Wochen für das Fertigstellen eurer Gruppenarbeit zu ‚Nathan der Weise‘ genutzt habt.“ Oh, diese Referate. Die Gesichtsausdrücke der Schüler geflissentlich ignorierend, setzte Frau Müller fort. „Heute habt ihr noch einmal Gelegenheit, daran zu arbeiten. Wer noch Plakate braucht, meldet sich. Also bitte geht in eure Gruppen und tauscht euch über eure Ergebnisse aus. In gemäßigter Geschwindigkeit teilte die Klasse sich in die Fenster- und die Wandseite auf. Serena, Justin und Erik waren Teil der Wandseite, Vitali, Ariane und Vivien mussten auf die Fensterseite wechseln, wo sich auch Amanda befand. In allen Ecken hörte man Tuscheln darüber, dass man noch nichts gemacht hatte. Wer tatsächlich noch an die Gruppenarbeit gedacht hatte, zählte zu den Ausnahmen. Selbst Erik, Ariane und Serena hatten sie völlig vergessen oder auch nur verdrängt. „Wie sollen wir das jetzt machen?“, fragte einer der Wandseite. „Am besten teilen wir uns erst einmal in Untergruppen.“, schlug Erik vor. „Hat jemand noch den Zettel von letztem Mal.“ Justin reichte ihm seinen. Er besah sich die Arbeitsanweisung. „Wir haben vier Unterpunkte, dann machen wir vier Untergruppen.“ Er las die Themen vor und sah dann Serena an. „Was wollen wir?“ Sie sah ebenfalls auf das Blatt und entschied sich dann für die Ringparabel und deren Bezug zu Heute. Nachdem sich auch der Rest der Gruppe aufgeteilt hatte, setzten sich Erik, Justin und Serena zusammen, um Ideen zu sammeln. Derweil kam Frau Müller mit einigen Plakaten zurück und verteilte diese an diejenigen, die sich auf ihre Frage hin meldeten. „Wollen wir ein Plakat?“, erkundigte sich Justin. „Und wer soll schreiben?“, fragte Serena, als wäre das eine blöde Idee. „Ich habe eine sehr schöne Schrift.“, sagte Erik schelmisch. Serena musste grinsen. „Wir können auch eine Powerpoint-Präsentation machen.“, schlug Justin vor. „Das ist besser.“, meinte Serena. „Wann und wo wollen wir uns treffen?“, fragte Erik. Da sie Eriks Haus lieber mieden, um den Zornesausbrüchen von Herrn Donner zu entgehen, schlug Serena vor, sich bei ihr zu treffen, weil sie dort genügend Platz hatten. Die Jungs stimmten zu. „Wie wollen wir das aufbauen?“ Bevor jemand auf Eriks Frage reagieren konnte, unterbrach sie ein Ruf von der Fensterseite. „Justin!“ Justin drehte sich um und sah Vivien mit beiden Armen winken. „Kann ich deinen Spitzer haben?“ Er nickte und holte ihn aus seinem Rucksack. Serena hatte sich darum bemüht, der anderen Gruppe keine Beachtung zu schenken, was bisher dank der Konzentration auf ihre Aufgabe und Eriks und Justins Gesellschaft ganz gut funktioniert hatte, doch aufgrund des Rufs war ihr Blick unwillkürlich zu der winkenden Vivien gewandert. Serena atmete ein und aus, versuchte sich aus der Realität zu entfernen, wo sie in diesem Moment nicht mehr sein wollte. Für Sekunden dachte sie nichts und sah leer auf Vivien, die mit Vitali und Ariane eine Gruppe um Amanda gebildet hatte und sich prächtig zu amüsieren schienen. Amanda lachte ihr warmes, süßes Lachen, wie Ahornsirup auf einem Pfannkuchen und neben ihr strahlten Vitali und Ariane. Justin war mittlerweile aufgestanden, um Vivien den Spitzer zu bringen. Vivien informierte ihn darüber, dass Amanda ihn brauchte, woraufhin er ihr den Spitzer reichte. Lächelnd nahm Amanda ihn entgegen und bedankte sich in dem warmen Tonfall, den Serena über die Gespräche aller anderen Schüler noch wahrnehmen konnte wie einen Teil von ihr, der zu einem abscheulichen Krebsgeschwür ausgeartet war. Sie fühlte gar nichts und sah, wie Amanda ihre Stifte spitzte und dann an ihrem Plakat weiterzeichnete, wie sie es früher bei ihren Gruppenarbeiten immer getan hatte. Ein unbändiger Kummer erfasste sie, den sie nicht zu beherrschen verstand. Sie konnte ihren Blick nicht mehr abwenden, noch konnte sie den Anblick ertragen. „Serena?“ Sie reagierte nicht. „Hey.“ Erik legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie nahm es nicht wahr. Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr. „Sie arbeiten nur mit ihr zusammen, weil sie müssen.“ Seine Worte erreichten das Gegenteil von dem, was sie wollten. Serena war wie betäubt und schluckte schwer. Ihr Blick wurde von etwas getrübt, das ihr in die Augen stieg, doch sie fühlte sich viel zu abgestumpft, um jeglicher Reaktion ihres Körpers Aufmerksamkeit zu widmen. Sie würde nie wieder weinen. Sie drehte sich weg. Ihr Antlitz hatte einen finsteren Zug angenommen, was Erik mit Besorgnis feststellte. Justin hatte mittlerweile seinen Platz wieder eingenommen. Serena vermied den Blick zu ihm. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen. Erik sprach sie direkt an. „Hast du eine Idee, wie wir die Präsentation aufbauen sollen?“ „Ist mir egal. Ich kümmere mich nur um die Interpretation.“, zischte sie abweisend. Erik ließ sich davon nicht beirren. „Das brauchst du nicht alleine machen.“ „Ich kann hier nicht arbeiten. Ich mache das zu Hause.“, keifte sie. Eriks Gesichtsausdruck wurde ebenfalls düster. „Und was sollen wir machen?“ „Ist mir egal.“ Langsam aber sicher wurde Erik wütend. „Man nennt es Gruppenarbeit, weil die ganze Gruppe etwas macht.“ Sie sah immer noch nicht von ihrer Lektüre auf und tat so, als wäre sie mit dem Text beschäftigt. „Das wäre mir neu.“ „Dann lernst du es jetzt.“, gab Erik scharf von sich. Serena schwieg. „Ich kann Lektürehilfen bei der Stadtbibliothek ausleihen.“, schlug Justin in vorsichtigem Ton vor. Es hielt es für schlauer, das Thema zu wechseln, als Serena auf ihre schlechte Laune anzusprechen. „Gut.“, antwortete Erik knapp und wandte sich dann wieder an Serena. „Was willst du alles bei der Interpretation reinbringen?“ Serena schwieg vehement. Erik war davon alles andere als begeistert. Schließlich ging er dazu über, das Thema allein mit Justin zu besprechen. Da Serena zwischen ihnen saß, bekam sie ohnehin alles mit. Im Gegensatz zu Vitali hatte Erik keine Probleme mit Interpretationen und war Präsentationen gewöhnt. Es fiel ihm entsprechend leicht, den Aufbau zu planen. Entseelt starrte Serena noch immer vor sich. Erik unternahm einen erneuten Versuch, sie ins Boot zu holen. „Du hattest doch so gute Ideen, wie wir den Alltagsbezug reinbringen. Wir sind drei Leute, drei monotheistische Religionen. Was fällt dir dazu ein?“ „Gar nichts.“ Erik stöhnte. „Serena, wir haben jetzt noch eine ganze Stunde Deutsch.“ Sie reagierte nicht. Eriks Augenbrauen senkten sich bedrohlich. „Na gut.“ Er stand auf. „Frau Müller, Serena geht es nicht gut, ich geh kurz mit ihr an die frische Luft.“ Die Lehrerin, die gerade noch im Gespräch mit einer anderen Gruppe gewesen war, sah auf und nickte bloß. Serena warf ihm einen Blick zu, aus dem sprach, wie unnötig und geradezu unverschämt sie sein Verhalten fand. „Soll ich mitgehen?“, fragte Justin besorgt. „Schon okay, wir sind gleich wieder da.“ Erik fasste Serena am Arm. Trotz ihrer Miene, wehrte sie sich nicht. Vor der Tür des Klassenzimmers stieß Serena ein tonloses Seufzen aus. Erik ging einige Schritte mit ihr, ehe er sie ansprach. „Was ist los?“ Wieder bekam er keine Antwort. So kannte er Serena nicht. Er war an ihre aufbrausende Art gewöhnt, an ihre oft verletzende Art, aber das hier bereitete ihm Unbehagen. „Warte hier.“ Er ließ sie stehen und ging noch einmal zurück zum Klassenzimmer, ohne Serena darüber in Kenntnis zu setzen, was er vorhatte. Es war ihr auch egal. Hauptsache, er holte die anderen nicht. Geknickt stand sie da. Erik kam zurück und drückte Serena ihre Jacke in die Hand. „Du brauchst frische Luft.“ Ohne Widerworte und ohne aufzublicken zog Serena ihre Jacke an. Erik führte sie die Treppe hinunter, zum Schulhof, wo sie sich auf ihre übliche Bank unter dem Kastanienbaum setzten. Er ließ ihr die Zeit Luft zu schnappen und den Kopf frei zu kriegen. „Willst du dich vom Unterricht befreien lassen?“, fragte er schließlich. Auf diese Idee war Serena gar nicht gekommen. „Geht schon.“ „Wenn dir nicht gut ist, ist es besser du gehst nach Hause.“ Serenas Lippen formten unwillkürlich einen verzweifelten Schmollmund. Erik legte seinen Arm um sie wie damals am ersten Schultag. Doch als Serena sich kurz darauf nach vorne beugte, ihre Ellenbogen auf ihre Beine stützte und ihre Stirn hielt, musste er von ihr ablassen. Eine Weile lang saß sie so da, ihre Hände bedeckten ihre Augen, vermutlich hatte sie sie geschlossen. Sie gab kein Geräusch von sich und ihr Atem war regelmäßig. Erik blieb neben ihr sitzen und beobachtete sie bloß stumm. Ihre Handflächen fuhren manchmal über ihre Stirn hin zu ihren Augen, dann wieder zu ihrem Haaransatz, dann gruben sich ihre Finger in ihre Haare, wie um eine Beschäftigung zu finden. Erik überlegte sich, was er sagen sollte, aber alles erschien ihm wertlos. Schließlich läutete die Pausenglocke, die nicht wirklich eine Pause einläutete, sondern nur ein Überbleibsel der 45-Minuten Stunden war. „Willst du nicht rein zu den anderen?“, fragte Erik. „Vitali macht sich sicher Sorgen.“ Serenas Gesichtszüge verkrampften. „Das ist ihm doch scheißegal!“ Der plötzliche Ausbruch war überraschend. Erik wurde klar, dass er jetzt nichts Falsches sagen durfte, um nicht Gefahr zu laufen, dass sie wieder in Schweigen verfiel. „Er wird jetzt sicher zu unserem Tisch rennen und fragen, was los war.“ Serenas Kopf fuhr hoch und schrie. „Es ist ihnen scheißegal, was mit mir ist!“ In ihrem ganzen Zorn sah sie völlig hilflos aus. Erik wusste, dass er sie reizen musste. „Das stimmt nicht.“ Serenas Stimme war kurz davor zu brechen. „Natürlich stimmt das! Es ist ihnen alles egal.“ Noch immer hatte sie die Zähne zusammengebissen, die Verformung ihres Mundes und ihrer Augenbrauen sprach jedoch eine entgegengesetzte Sprache. „Sie sorgen sich um dich.“ Serena erbrach eine Mischung aus Schluchzen und einem Laut, als hätte man ein Tier plötzlich am Genick gepackt. Sie schien mit einem Mal keine Luft mehr zu bekommen. Geschockt beugte sich Erik zu ihr, um sie irgendwie zu halten. Wie im Delirium stützte sich Serena an seine Schulter und brachte Laute hervor, als wolle sie atmen, wage es aber nicht, Sauerstoff in ihre Lungen zu lassen. Nichts sollte mehr ihr Inneres berühren, nichts und niemand. Alles um sie schien zu verschwimmen, ihre Augen rollten. „Serena! Serena! Atme! Du musst atmen!“ Sie zitterte in seinen Armen, dann packte er sie an den Schultern und schüttelte sie. „Serena! Serena!“ Immer wieder rief er ihren Namen. Aber Serena schien nicht wieder zur Besinnung kommen zu wollen. „Serena!“ Erik wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als mit seiner flachen Hand sachte ihre Wange zu beklopfen. Sie begann wieder zu atmen, sog Luft in ihre Lungen, starrte auf den Boden. „Geht’s wieder?“, fragte Erik besorgt und hielt sie an ihren Schultern aufrecht. Serenas Kopf fühlte sich so schwer an. So furchtbar schwer. Unwillkürlich senkte sich ihr Haupt, als würde es von einem unsichtbaren Gewicht hinuntergezogen. Erik lehnte sich rechtzeitig weiter vor, so dass ihr Kopf auf seine Schulter fiel. Serenas Augen schlossen sich. Sie roch etwas an Erik, der Geruch seiner Haut oder der Duft, den sein Rasierschaum auf der Haut hinterlassen hatte. Ein dezenter männlicher Duft, moosartig und frisch. Dahinter eine weit sanftere, zarte Note, die den anderen Nuancen erst ihre Süße verlieh. Erik spürte, dass jegliche Anspannung aus Serenas Körper gewichen war, getraute sich aber nicht, ihre plötzliche Ruhe durch Worte zu unterbrechen. Er hielt sie einfach nur fest. Erst Momente später kam Serena wieder zu sich. Der Geruch, der von Erik ausging, schien wie ein Riechsalz gewirkt zu haben. Sie löste sich von ihm. „Entschuldige.“ „Geht es dir besser?“ „Ja.“ Erik atmete auf. Dann wurde er nachdenklich. Eine weitere Stunde Deutsch würde sie nicht überstehen. „Hör zu, wir gehen zu Herrn Mayer, der entlässt dich. Ich hole deine Sachen. Dann gehen wir zusammen nach Hause. Okay?“ Serena sah scheu zur Seite, aber offenbar war ihr selbst bewusst, dass sie es nicht aushalten könnte, noch einmal ins Klassenzimmer zu gehen. „Komm.“ Er nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zurück ins Schulhaus. Sie liefen die Treppen hinauf ins erste Obergeschoss und klopften am Lehrerzimmer. Sie hatten Glück, dass Herr Mayer eine Freistunde hatte. Serenas Anblick genügte, um Herrn Mayer davon zu überzeugen, dass sie besser nach Hause ging. Allerdings sollten ihre Lehrer darüber informiert werden. Erik erklärte, dies zu übernehmen. Sein Klassenlehrer war allerdings weniger begeistert davon, dass Erik sie begleiten wollte. „Ich kann sie nicht allein gehen lassen.“, verkündete Erik überzeugt. „Kommst du denn bei dir zu Hause rein?“, erkundigte sich Herr Mayer bei Serena. Sie nickte. „Ich komme danach gleich wieder.“, versprach Erik. Herr Mayer stimmte zu und wünschte Serena gute Besserung. Erik führte sie zurück ins Erdgeschoss und ließ sie dort beim Haupteingang warten. „Bin gleich wieder da.“ Er wollte nicht riskieren, dass der bloße Anblick der Klasse sie wieder in den vorigen Zustand zurückversetzte. Was er aus ihren Worten herausgehört hatte, hatte ihn davon überzeugt, dass die Anwesenheit der anderen nun fatal gewesen wäre. Er betrat das Klassenzimmer. Justin drehte sich sogleich zu ihm und warf ihm einen besorgten Blick zu. Auch die Aufmerksamkeit der anderen war auf ihn gerichtet. Aber er ignorierte sie und ging stattdessen auf Frau Müller zu, die gerade in der Nähe von Amandas Tisch stand. Er informierte sie kurz, dass er Serena nach Hause bringen würde. Frau Müller sah zu Justin. „Deine Gruppe ist dann allein, kann nicht jemand anderes sie nach Hause bringen?“ Sofort erklang Vitalis Stimme. „Ich kann sie nach Hause bringen. Wir sind eh fast fertig.“ „Gut, dann gehst du.“ Erik fuhr ihr ins Wort. „Ich gehe!“ Frau Müller über seinen Tonfall entsetzt, starrte ihn an. „Du bist nicht entlassen.“, erinnerte sie ihn. „Herr Mayer weiß Bescheid.“, antwortete Erik. „Ich bin hier immer noch die Lehrerin und es handelt sich um meine Stunde.“ Erik sah sie feindselig an. Fast hätte er ihr ins Gesicht gespuckt, dass ihm das egal war. Gerade noch rechtzeitig mischte sich Justin ein. „Es macht mir nichts aus, alleine zu arbeiten. Erik kann ruhig gehen.“ Dafür bekam er von Vitali einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. „Wir sind ihre Freunde!“, platzte Vitali heraus. Erik bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, dann wandte er sich einfach ab, ging zu Justin hinüber, ergriff sowohl Serenas als auch seine Sachen und ging. Frau Müller rief noch seinen Namen, aber schon war er aus der Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Also, das ist doch! Der wird noch was zu hören bekommen!“ Justin setzte sich für ihn ein. „Frau Müller, er macht sich nur Sorgen. Außerdem ist Serena in unserer Gruppe, es wäre doch unfair, eine andere Gruppe damit zu belasten.“ Das Argument schien die Lehrerin langsam zu besänftigen, dennoch war sie offensichtlich über die Missachtung ihrer Autorität empört. Vitali traktierte Justin mit tödlichen Blicken. „Was soll der Scheiß?!“ „Vitali!“, schrie daraufhin Frau Müller. „Ich verbitte mir solche Kraftausdrücke!“ Vitali schaute nur wütend und sagte nichts mehr. Er war stinksauer. Was sollte der ganze Mist?! Seine Fäuste schlugen zornig auf den Tisch. Nachdem Frau Müller weitergegangen war, flüsterte Amanda: „Das macht sie nur wegen der Aufmerksamkeit.“ „Was?“, fragte Ariane verwirrt. „Serena tut immer so, als wäre sie das Opfer.“ Amanda sah nicht auf, während sie das sagte, aber ihr Gesichtsausdruck zeugte von Unmut. „Wie meinst du das?“, hakte Ariane nach. Amanda ließ sich mit der Antwort Zeit. Schließlich erwiderte sie: „Sie beleidigt einen ständig und stellt sich dann als das arme Opfer hin. Es ist ihr egal, was andere fühlen.“ „Ja, ganz genau!“, pflichtete ihr Vitali bei. „Und wenn irgendwas ist, heult sie!“ Ariane ließ ihm einen tadelnden Blick zukommen. „Sie hält sich für was Besseres, deshalb nimmt sie sich das raus.“, setzte Amanda fort. Vivien, gerade mit dem Anmalen der Überschrift beschäftigt, sprach in unbekümmertem Tonfall. „Ich glaube nicht, dass sie sich für was Besseres hält. Sie hält sich eher für was Schlechteres, deshalb hat sie Angst vor anderen Leuten.“ „So tut sie ja immer!“, begehrte Amanda auf. „Sie tut immer so, als wäre sie so bescheiden und lieb und nett, aber in Wirklichkeit ist sie ganz anders!“ Vitali verzog das Gesicht. Bescheiden, lieb und nett? Sie musste eine andere Serena meinen. Tiny tat doch immer so, als wäre sie nichts davon! Und nur manchmal konnte man dahinter erkennen, wie sanft und zerbrechlich sie eigentlich war. „Ich liebe Serena.“, sagte Vivien freimütig. Nicht nur Amanda stockte aufgrund ihrer Wortwahl. Dann trat etwas Missmutiges in Amandas Züge. „Wart nur ab, bis du sie richtig kennenlernst.“ Vivien erwiderte ihren Blick und kicherte. „Ich freue mich über alles, was ich noch von ihr erfahre. Dafür sind Freunde da.“ „Freunde, die dich wie ein wertloses Stück Dreck behandeln, sind keine Freunde.“ Viviens Ausdruck wurde weich, sie schenkte Amanda ein mitfühlendes Lächeln. „Sie hat dich in ihrem ganzen Leben sicher nie als ein Stück Dreck gesehen.“ Amanda biss die Zähne zusammen, ihr Blick bekam etwas distanziert Stolzes. Sie reckte das Kinn wie eine Adlige und weigerte sich, jegliches weitere Wort an Vivien zu verschwenden. Kapitel 73: Unverhohlen - Kränkung auf allen Seiten --------------------------------------------------- Unverhohlen – Kränkung auf allen Seiten „Wenn der Freund dich kränkt, verzeih’s ihm; und versteh: Es ist ihm selbst nicht wohl, sonst tät er dir nicht weh.“ (Friedrich Rückert, dt. Dichter, 18.,/19. Jhr.) „Was sollte das?!“ Vitali war sofort mit dem Läuten zur Fünfzehn-Minuten-Pause zu Justin gestürmt und stellte ihn zur Rede. Justin, der gerade dabei war, die Tische wieder an ihren richtigen Platz zu rücken, sah fragend zu ihm auf. „Serena gehört zu uns!“ Justin warf ihm einen strengen Blick zu, doch Vitali stoppte seine Tirade nicht. „Warum hast du Erik unterstützt? Das geht ihn gar nichts an! Und dann führt er sich auch noch auf, als wäre er Serenas persönlicher Beschützer! Der hat sie doch nicht alle! Was fällt dem ein! Als wäre er was Besseres. Und Serena, die dumme Kuh! Was soll der Scheiß! Die spinnen doch!“ Vitali wollte sich gar nicht mehr einkriegen. „Was soll das!“ Er schlug mit seiner Faust wütend auf den Tisch und zog eine grässliche Grimasse, die Augen auf den Tisch gerichtet. „Vitali.“, sprach Justin ihn an. „Vielleicht ist es besser, wenn Erik sich um sie kümmert. Er versteht Serena besser als wir.“ Vitalis Gesicht fuhr hoch, völliger Unwille sprach aus seiner Mimik, als habe sein Freund ihn persönlich beleidigt. „Gut, dann soll sie doch machen, was sie will!“, schrie er viel zu laut, wandte sich um, holte seinen Rucksack und lief aus der Tür. Justin sah ihm besorgt nach. Irgendwie wirkte Vitali auf ihn, als würde er vor lauter ohnmächtiger Wut kurz davor stehen zu weinen. Die Mädchen waren derweil zu ihm getreten. „Was ist los?“, fragte Ariane. Justin sah schuldbewusst zu Boden. „Vitali ist wütend, weil ich es unterstützt habe, dass Erik sich um Serena kümmert.“ Ariane machte nun auch ein besorgtes Gesicht. „Wir müssen zum Chemieraum.“, sagte Vivien quietschfidel. Sie schien als einzige von der gedrückten Stimmung nicht angesteckt zu werden. Ariane und Justin waren davon äußerst verwirrt. Der Chemieraum stieg nach oben an wie ein Zuschauerraum in einem Theater. Links und rechts gab es je einen langen Tisch. Üblicherweise saßen Vitali und Erik in der ersten Reihe der Wandseite, die anderen vier in der Reihe dahinter. Als die drei den Raum betraten, hatte Vitali bereits seinen Platz eingenommen, er hatte offenbar keine Lust gehabt, sich zu ihnen in die zweite Reihe zu setzen. Dass er freiwillig alleine in der ersten Reihe saß, zeigte, wie wütend er war. „Ich setz mich zu Vitali.“, verkündete Vivien und war auch schon an seiner Reihe angelangt, wo sie ihren Rucksack abzog und ihn abstellte. Sie ließ sich neben Vitali auf den Hocker fallen. „Was willst du?“, fragte Vitali missmutig, in teils eingeschnapptem, teils grollendem Ton. „Ich sitze hier.“, sagte Vivien unbekümmert. Vitali schaute nach vorne. „Seit wann?“ „Seit jetzt. Schau. Sitze!“ Vitali drehte sich ihr zu. Sein vorgetretener Mund und die zusammengezogenen Augenbrauen verrieten seine Stimmung unweigerlich. „Und was soll das?“ Sie holte ihre Schreibsachen hervor, als habe sie nichts gehört. „Hör mir gefälligst zu!“, schimpfte er lautstark. Vivien sah ihn arglos an. Was sollte er denn darauf sagen? „Ist mir doch egal.“, stieß er schließlich hervor und drehte sich wieder nach vorne. Nach wenigen Sekunden begann sie neben ihm eine Melodie zu summen. „Was machst du da?“, grollte er. „Hm?“ Wieder dieser dämlich unschuldige Ausdruck. Langsam fühlte Vitali sich träge. „Ah, Vitali! Du bist doch gut in Naturwissenschaften, kannst du mir das erklären?“, rief Vivien mit einem Mal und zeigte ihm im Buch die Aufgabe, die sie aufgehabt hatten. Überrascht betrachtete er die Aufgabe, auf die sie zeigte und begann ihr das Rutherfordsche Atommodell zu erklären. „Danke!“, rief Vivien begeistert. „Jetzt versteh ich das! Du bist echt toll, Vitali!“ Sie sah ihn mit großen leuchtenden Augen an. Vitalis Mundwinkel formten automatisch ein stolzes Grinsen. „Hehe, ja, ich kann das schon gut.“, sagte er, noch breiter grinsend. „Unheimlich gut!“, feuerte Vivien ihn an. Er verschränkte die Arme wie ein Herrscher und schien mit einem Mal mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Genau rechtzeitig zum Beginn der Stunde. Justin und Ariane hatten das Schauspiel stumm beobachtet. Ariane beugte sich zu Justin und flüsterte ihm leise ins Ohr. „Hat sie das nicht nur gemacht, um seinem Ego zu schmeicheln?“ Er nickte stumm, ehe ein träumerischer Ausdruck auf seine Züge trat. Vivien zwinkerte ihm heimlich zu, worauf er zu lächeln begann. Ariane hatte dabei gemischte Gefühle. So positiv sich Viviens Einsatz auch auswirkte, so unheimlich fand sie ihr manipulatives Geschick, mit dem sie scheinbar mühelos, jeden nach ihren Wünschen ummodeln konnte – selbst Erik. Ariane bekam eine Gänsehaut, wenn sie bedachte, wie oft Vivien sie vielleicht schon nach ihrer Pfeife hatte tanzen lassen. Der Heimweg verlief still. Zumindest machte Serena jetzt weniger den Eindruck, als würde sie gleich das Bewusstsein verlieren. Erik hatte die eine Hand in seine Jackentasche gesteckt – zu dieser Jahreszeit trug er noch seine kurze, schwarze Lederjacke – mit der anderen hatte er Serenas Hand ergriffen. Es fühlte sich ein bisschen an, als wären sie zwei Grundschulkinder, die zusammen nach Hause liefen. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln. „Man kann Menschen nicht vertrauen.“, sagte Serena leise. Erik hatte es dennoch gehört. „Da hast du Recht.“ Serena sah zu ihm auf, als erwarte sie weitere Worte von ihm, doch da musste er sie enttäuschen. Sie senkte den Blick wieder. „Warum verstehen sie sich so gut mit ihr? Ich halt das nicht aus.“ Erik war über ihre ehrlichen Worte überrascht. Serenas Reaktion auf Amanda hatte ihm zwar deutlich gezeigt, was sie so bedrückte, aber er hätte nie damit gerechnet, dass sie dies laut aussprechen würde. Er wartete, um ihr die Möglichkeit zu geben, weiterzureden. „Ich kann niemandem vertrauen.“ „Das musst du doch auch nicht.“, entgegnete er. Serenas Gesicht verzog sich schmerzhaft. Ihre Reaktion bestürzte ihn. Die Trauer, die aus ihren Zügen sprach, ließ nur eine Deutung zu. „Du… möchtest vertrauen.“ Serena drehte ihr Gesicht weg. Erik konnte sich nicht des Gedankens erwehren, dass sie das unschuldigste Wesen war, das er seit langem gesehen hatte. Ihre Naivität schmerzte ihn. Es gab keinen Trost, den er ihr hätte spenden können. Vertrauen war nichts, was man sich wünschen sollte. „Es ist falsch zu vertrauen.“ Er wusste nicht, wieso er diese Worte aussprach; er konnte einfach nicht anders. Serenas Unterlippe kräuselte sich. „Wenn du vertraust, tun dir die Menschen nur weh. Darum: verlang nichts von Menschen, damit sie dir nicht wehtun können.“ Serena fühlte bei seinen Worten, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog, wie eine Hoffnung, die zerquetscht wurde. „Freundschaft ist nur wichtig, solange es einem gut geht. Wenn es einem schlecht geht, ist man allein besser dran.“ Sie atmete tief ein und aus. Die Bilder von den anderen, wie sie um Amandas Tisch standen, wurden erneut in ihr wach und Hitze ergriff von ihr Besitz, stieg in ihren Kopf. Automatisch blieb sie stehen. „Serena?“ Erik sah, dass sie erneut einem Anfall nahe war. „Serena! Komm zu dir!“ Verdammt, er musste sie irgendwie ablenken. Hilflos griff er in seine Hosentasche, wo er allerdings nur sein Handy fand. „Schau mal, das neue iPhone. Damit kann man gestochen scharfe Bilder machen, und… Musik hören und… im Internet surfen.“ Was redete er da eigentlich? Wie in Trance starrte Serena auf sein Smartphone. Eilig drückte Erik auf die Musikgalerie und blätterte mit dem Finger zwischen den Titeln hin und her, so dass sie dem Ganzen folgen konnte. Als er ihre Aufmerksamkeit zu verlieren drohte, wählte er einen Titel aus und ließ ihn abspielen. Serenas Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich hasse Hip Hop.“ Amanda hörte diese Musik. Erik hatte leider nicht viel mehr auf Lager und er hatte auch keine App für den Radioempfang heruntergeladen. „Entschuldige.“ Serena ließ den Kopf hängen. „Ich kann den anderen nicht mehr unter die Augen treten.“ Erik steckte sein iPhone wieder weg. „Wie kommst du darauf?“ „Ich kann nur hässlich zu ihnen sein.“, flüsterte sie. „Wenn das wahr wäre, wären sie sicher nicht mit dir befreundet.“ Serenas Gesicht verzog sich, als würde sie gleich losweinen, aber es flossen keine Tränen. Erik lehnte sich zu ihr. „Hey. Wer redet dir so was ein?“ Wieder schwieg sie. „Lässt du dir von Amanda so was einreden?“ Plötzliche Wut packte ihn. „Was soll das? Wieso lässt du dich so manipulieren? Das ist dumm!“ Er ergriff ihr Handgelenk und zog sie mit sich. „Komm.“ Sie waren nur noch ein paar Schritte von Serenas Zuhause entfernt. Erik schleifte sie mit sich und blieb erst vor der Haustür stehen. „Tu mir einen Gefallen und hör auf so viel zu denken, klar? Zieh dir einen Film rein oder mach sonst was, aber denk nicht so viel. Okay?“ Serena nickte, holte ihren Schlüssel aus dem Rucksack und schloss auf. Sie trat ein und drehte sich Erik zu, um Tschüss zu sagen. Sie sah immer noch elend aus. Erik machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Es ist alles gut.“ Dann löste er sich wieder von ihr. „Wir sehen uns morgen.“ Es klopfte an der Tür des Chemieraums. Frau Schmitz unterbrach ihre Ausführungen, da die Tür sich ohne Schlüssel nur von innen öffnen ließ. Erik entschuldigte sich höflich für seine Verspätung. Durch das Gespräch mit Serena hatte ihre Eskortierung länger gedauert, wodurch die erste Chemiestunde bereits fast zu Ende war. Frau Schmitz war über die Umstände bereits informiert worden, und ging zurück zum Tageslichtprojektor, um die Folie weiter zu besprechen. Als Erik auf seinen üblichen Sitzplatz sah und dort Vivien entdeckte, fing er sich einen bösen Blick von Vitali ein. Er hatte es nicht nötig, diesen zu erwidern. Stattdessen lief er zur zweiten Reihe, schlüpfte an Ariane und Justin vorbei und nahm neben Justin Platz. Keiner der beiden stellte Fragen, stattdessen gab ihm Justin zwei Arbeitsblätter und sagte ihm in Kürze, wo sie gerade waren. Auch in der Fünf-Minuten-Pause gab es keine Nachfragen. Ariane schien ihn ansprechen zu wollen, wurde aber von Justin davon abgehalten, wodurch Erik Zeit hatte, den Aufschrieb des ersten Arbeitsblatts nachzutragen. Erst als die Schulklingel das Ende des Unterrichts einläutete und sie gemeinsam den Raum verließen, wurde das Thema angesprochen. „Ist alles okay mit Serena?“, erkundigte sich Ariane. Erik nickte. „Was ist passiert?“, fragte sie. Ernst blickte Erik nach vorne. Der Haupteingang war nicht mehr weit. „Ihr solltet nicht so viel mit Amanda reden.“ „Aber -“ Ehe Ariane daran erinnern konnte, dass es sich dabei doch nur um eine Gruppenarbeit handelte, wurde sie von Vitalis tobsüchtigem Schrei unterbrochen. Er stand plötzlich vor Erik. „Das geht sie ’nen Scheißdreck an, mit wem wir reden!“ Serenas halb ohnmächtiges Gesicht schoss Erik durch den Kopf und sein Zorn über Vitalis Einwurf kannte keine Grenzen. „Weil sie dir scheißegal ist!“ Automatisch versetzte Vitali ihm einen wütenden Stoß vor die Brust. Zornig funkelte Erik ihn an. „Wo warst du, als sie geweint hat?“ „Niemand hat dich darum gebeten, dich um sie zu kümmern!“, schrie Vitali. „Während du dich prächtig mit Amanda unterhalten hast.“, spottete Erik. „Lass Amanda da raus.“ Angewidert schüttelte Erik den Kopf und wollte an Vitali vorbeigehen. Vitali verstellte ihm den Weg. „Für wen hältst du dich eigentlich? Für Serenas Beschützer?“, blaffte er. Erik warf ihm nur einen verächtlichen Seitenblick zu. „Du bist es jedenfalls nicht.“ Vitalis Erregung erreichte einen Höhepunkt „Du weißt ’nen Scheiß!“ „Geh doch zu deiner heißgeliebten Amanda.“ Vitalis Brüllen war ohrenbetäubend. „Wenigstens schmeißt sie sich nicht an dich ran, wenn kein anderer da ist!“ Eriks Zorn wurde übermächtig. Er stieß Vitali mit aller Gewalt von sich, dass dieser mit dem Hintern auf dem Boden landete. Drohend streckte er ihm die Hand entgegen. „Pass auf, was du sagst!“ Vitali sprang wieder auf und wollte auf ihn losgehen, doch Justin war zur Stelle, um die beiden auseinander zu halten. „Hört auf!“ „Ihr benehmt euch lächerlich!“, rief Ariane lautstark. Erik entzog sich Justins Griff, reckte das Kinn und verließ mit erhobenem Haupt das Schulgebäude. Vitali schrie ihm noch ein Schimpfwort hinterher. „Vitali!“, schrie Justin ihn an, wie um ihn wieder zur Besinnung zu bringen. Vitali durchbohrte ihn mit wutentbrannten Blicken. Seine Stimme wuchs zum unkontrollierten Brüllen an. „Und ihr unterstützt die Scheiße auch noch! Er kann machen, was er will! Serena kann machen, was sie will! Aber euch interessiert das ja nicht! Ich scheiß auf Serena!!!“ Der Bereich um Vitalis Augen hatte eine purpurne Farbe angenommen, als würde er weinen, ohne Tränen zu vergießen. Er wandte sich in einer brutalen Bewegung ab und rannte aus dem Schulhaus. „Vitali!“, schrie Ariane ihm noch nach, doch es half nichts. Sie spurtete ihm hinterher. Justin stand hilflos da, sah Ariane und Vitali hinterher. Er fühlte sich schrecklich und dachte, er sei der Schuldige an dieser ganzen Misere. Hätte er nicht Erik als Serenas Begleiter bekräftigt, wäre das vielleicht alles nicht passiert. Vivien trat neben ihn und lächelte ihn sachte an. „Ariane macht das schon. Sie kann gut mit den Jungs. Vertrau ihr.“ Justin sah wenig überzeugt aus. Betrübt senkte er das Haupt. Vivien sprach weiter. „Vitali ist nie lange böse.“ Die Behauptung ging an Justin vorbei. Er sah keine Möglichkeit, dass Vitali ihm vergab. Vielleicht hätte er ihm als Freund beistehen müssen, zu ihm halten. Aber als es um diese Entscheidung gegangen war, hatte er als Beschützer gedacht und daran, was für Serena das Beste war. Er hatte ja nicht ahnen können, was er damit anrichtete. Er hatte alles falsch gemacht. „Justin?“ Er sah nicht auf. „Erik und Vitali sind gute Freunde. Und Serena und Vitali sind auch gute Freunde.“ Während ihrer Worte sackte Justin immer mehr zusammen. „Die Welt geht nicht unter, wenn sie mal streiten. Dafür haben sie sich viel zu gern.“ Nun war Justin nur noch ein Schatten seiner selbst. Wie eine verdorrte Pflanze stand er da, Vivien wunderte sich etwas darüber und betrachtete ihn eingehend. „Justin. Vitali mag auch dich viel zu gern, als dass er dir jemals lange böse wäre.“ Sie sah an seiner Körperreaktion, dass sie dieses Mal den richtigen Punkt getroffen hatte. „Weißt du nicht, dass du Vitalis bester Freund bist?“ Offenbar nicht. „Vitali macht vieles, ohne darüber nachzudenken. Bei dir ist es umgekehrt.“ Nun erst sah er sie wieder an. „Wenn er dich anschreit, hat er sich das nicht lange überlegt. Er tut das einfach, weil ihm danach ist, und eine Minute später ist es wieder vergessen. Das würdest du nie tun.“ Justin schien ihr da voll und ganz zuzustimmen, er würde das nie tun. Automatisch lächelte sie. Vielleicht war es auch das, was sie so sehr an ihm liebte. Unsicher sah Justin zu ihr. „Komm.“, sagte sie, nahm seine Hand und zog ihn mit aus dem Schulhaus. Auf dem Weg zur Bushaltestelle neben der Grünfläche holte Ariane Vitali ein. „Warte doch!“ Ruckartig drehte er sich zu ihr um. „Ich hab die Schnauze voll davon zu hören, dass wir ständig auf Serena Rücksicht nehmen sollen!“ Sein Mund nahm eine unstete Form an, als wisse er nicht, welcher Gefühlsregung er nachgeben sollte. „Vitali…“ Ariane streckte die Hand nach ihm aus und berührte sachte seinen Oberarm. „Ich hab einfach die Schnauze voll!“, wiederholte er, mehr schwach als zornig. „Das verstehe ich.“ „Da bist du aber die einzige.“ Seine Gesichtsmuskulatur war noch immer angestrengt damit beschäftigte, nicht noch mehr zu offenbaren, doch wie immer gelang es ihr nur schlecht. „Ist ja gut.“ Sie fuhr ihm beruhigend über den Arm. „Warum sind alle immer auf Serenas Seite? Warum darf sie immer alles machen und es ist allen egal?“ Nun war der verletzte Klang aus seiner Stimme deutlich herauszuhören. „Sie macht das nicht, um dir wehzutun.“ Augenblicklich verzog sich Vitalis Mimik unschön, er redete wie ein beleidigter kleiner Junge. „Die blöde Kuh.“ Ariane musste angesichts dieser Wendung lachen. Vitali sah sie an und konnte nicht anders als in das Lachen mit einzustimmen, wie man es manchmal tat, wenn man nicht mehr wusste, was man sonst mit den ganzen Emotionen machen sollte, die sich in einem angesammelt hatten. „Wieder gut?“, erkundigte sich Ariane. „Natürlich.“, meinte Vitali betont gelassen. „Ist ja nichts gewesen.“ Ariane schüttelte belustigt den Kopf und stieß ihn schelmisch an. Vitali lächelte. Vivien hatte richtig vermutet. In einigen Metern Entfernung standen Ariane und Vitali. Sie schleifte Justin, der bei Vitalis Anblick automatisch stehen geblieben war, weiter mit sich. Justin torkelte hinter ihr her und hatte den Blick gesenkt. Als Vitali ihn kommen sah, nahm sein Gesicht wieder den Ausdruck eines eingeschnappten Jungen an. „Was wollt ihr denn hier?“, sagte er so künstlich desinteressiert, als gäbe es nicht den geringsten Anlass mit ihnen zu reden. Aber er war ein so schlechter Schauspieler, dass Vivien für einen Moment nur grinste. Justin dagegen stand mit eingezogenem Kopf da. „Äh?“ Vitali deutete verwirrt auf Justin. „Was ist mit dem los?“ Vivien antwortete nicht, stattdessen ließ sie Justin los. Justin reagierte nicht. Daraufhin trat Vitali auf ihn zu und boxte ihm vorsichtig gegen die Schulter. „Hey!“ Kleinmütig sah Justin auf. „Oh nee. Jetzt machst du auch schon so ’ne Fresse wie Serena!“ Vitali riss seine Hände an den Kopf. „Ich werde verfolgt!“ Dann packte er Justin entschieden bei den Schultern. „Du bist ein Mann! Männer gucken nicht so!“ „Natürlich schauen Männer so.“, wandte Ariane ein. „Tun sie nicht!“, rief Vitali. Ariane senkte die Augenlider halb. „Du hast vor einer Minute noch so geschaut.“ „Waaas?! Hab ich nicht!“, schrie Vitali. „Hast du wohl.“ „Hab ich nicht!“ Ariane verdrehte die Augen. „Dann ist es eben männlich so zu schauen!“, entschied Vitali und klopfte Justin bestätigend auf die Schulter. Justins Gesichtsausdruck nach zu urteilen verstand er nichts davon. „Du solltest trotzdem damit aufhören.“, meinte Vitali. Justin war verwirrt. „Justin…“, sagte Vitali mit Grabesstimme und verwuschelte dem einen halben Kopf kleineren Jungen das kastanienbraune Haar. Von der groben Behandlung gar nicht begeistert, entzog sich Justin eilig seinem Griff und hielt sich den Kopf. Vitali lachte auf. Justin, davon überrascht, schien in diesem Moment erst zu begreifen, dass Vitali ihm tatsächlich nicht mehr böse war und seine Geste kein Angriff sein sollte. Vitali grinste ihn an, als wäre nie etwas gewesen. Noch immer zögerte Justin. Dann lächelte er schüchtern, was Vitalis Grinsen noch breiter werden ließ. Vivien indes hakte in Gedanken die beiden auf ihrer mentalen Liste ab. Jetzt fehlte nur noch Serena. Kapitel 74: Hölle - Serenas Pein -------------------------------- Hölle – Serenas Pein „Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz; ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang […]. Ein jeder Engel ist schrecklich.“ (aus der ersten der Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke) Serenas schnurloses Telefon klingelte. Sie stand auf und nahm das Mobilteil ans Ohr. „Ja?“ „Vivien.“, sagte ihre Mutter und legte auf, ehe Serena protestieren konnte. Sie schwieg, doch offenbar konnte man ihr Atmen am anderen Ende des Hörers hören. „Hallo?“, fragte Vivien. „Was ist?“ „Hallo! Wie geht’s dir?“ „Gut.“ „Ich hab dich ganz doll vermisst!“ Serenas Blick wurde kalt. Sie antwortete nicht. „Kommst du morgen wieder?“ Wieder schwieg Serena. „Alles okay bei dir? Ich mach mir Sorgen.“ Auch das brachte keine Reaktion von Serenas Seite. Vivien wechselte die Strategie. „Vitali war eifersüchtig wegen Erik.“ Nichts. Langsam wusste sich Vivien nicht mehr zu helfen. „Wenn du Sorgen hast wegen Amanda. Wir arbeiten nur mit ihr zusammen, weil wir müssen.“ Serena spürte erneut die ihr wohlvertraute Trauer in sich aufsteigen. „Ich hab dich lieb, Serena! Du bist meine beste Freundin. Du und Ariane.“ Serena fühlte in ihren Augen etwas, doch es kamen keine Tränen mehr. Sie brachte keinen Ton heraus. „Du hast mich auch lieb, Serena, das weiß ich!“, rief Vivien. „Also vertrau mir! Denn ich würde dich nie im Stich lassen!“ Stille. Viviens Stimme verlor an Kraft. „Du musst auch nichts sagen. Das ist okay…“ Serenas Schweigen schien ihr zuzusetzen. „Ich… Wir sehen uns morgen, ja? Ich warte auf dich.“ Keine Reaktion. „Ich hab dich lieb.“, sagte Vivien nochmals sachte, ohne dass Serena darauf geantwortet hätte. Letztlich gab sie auf und beendete das Gespräch. Serena hörte das Tuten von der anderen Seite und sank zu Boden. Um sie herum standen Vivien und die anderen, sie alle waren verwandelt, genau wie Serena, doch in ihrer Mitte war noch jemand anderes. Amanda stand in einem weiß-goldenen Kostüm mit langen Handschuhen und hohen Stiefeln zwischen ihnen. Wie bei den Beschützern war auch bei ihrer Kleidung ein Edelstein in einer bestimmten Form und Farbe ein wiederkehrendes Merkmal. Der ihre war herzförmig, in der Farbe Rosa. Serena verstand nicht. Dann hörte sie Ewigkeit frohlocken, dass sie endlich den letzten Beschützer gefunden hatten: Geheim! „Ich bin Mystery.“, stellte sich Amanda selbstbewusst lächelnd vor. Die anderen nahmen es ohne Weiteres hin, dass ihre Vermutung, Erik sei der sechste Beschützer, falsch gewesen war, und hießen Mystery aufs Wärmste willkommen. „Schön, dass du jetzt zu uns gehörst.“, sagte Desire. „Jetzt müssen die Schatthen sich auf was gefasst machen!“, verkündete Change, derweil Unite Mystery überschwänglich umarmte und Trust sie anlächelte. Serena stand einfach nur da. Augenblicklich begannen die anderen mit dem Training. Mystery war sehr schnell und wendig, der Kräfteeinsatz bereitete ihr keinerlei Schwierigkeiten. Die anderen klopften ihr freundschaftlich auf die Schulter und lachten sie freudig an. Mystery neckte sich mit ihnen, machte Späße und die anderen waren von ihr begeistert. Keiner schaute in Serenas Richtung. Plötzlich drehte Mystery ihr das Gesicht zu und blanker Hohn schoss ihr entgegen. Ein boshaftes Lächeln lag auf Mysterys Lippen. Wie betäubt stand Serena da. Wieso sahen die anderen das nicht? Wieso sahen sie nicht, was sie tat? Wieso sahen sie nicht, dass diese Person sie ihr wegnehmen wollte? Wieso… wieso – Tränen kullerten ihre Wangen hinab. Hilflos wollte Serena ihren Arm nach den anderen ausstrecken. Man musste es doch sehen! Es war doch so offensichtlich! Wieso seht ihr meine Tränen nicht? Geht nicht weg... Lasst mich nicht allein! Serena erwachte an ihrem eigenen Wimmern. Nur langsam verflüchtigte sich der Traum. Die Dunkelheit um sie herum hielt sie noch für Sekunden in der Zwischenwelt von Realität und Illusion gefangen. Die Eindrücke des Traums ließen nicht von ihr ab. Sie öffnete die Augen, um den Nachbildern, die hinter ihren Augenlidern lauerten, zu entkommen. Doch ihre Augenlider waren unendlich schwer und ihr Verstand spielte ihr grausame Streiche. Gedanken drangen auf sie ein, sponnen das Szenario weiter aus, wiederholten es, peinigten sie mit den immer gleichen Bildern, den immer gleichen Gefühlsfetzen, die sie einkeilten, sie zu ersticken drohten. Keiner der anderen bemerkte auch nur, was sie ihr antaten. Es war ihnen völlig egal. Egal, welche Schmerzen sie hatte. Sie war ihnen egal… Dieses Mal waren die Tränen echt. Vitali saß im Klassenzimmer und wartete auf Serena. Er hatte sich vorgenommen, sie zu ignorieren. Jawohl! Er würde kein Wort mit ihr wechseln! Den ganzen Tag lang! … Oder zumindest bis sie den ersten Satz zu ihm sagte. Dann würde er schnippisch und abweisend reagieren. Genau! Th, wenn ihr Erik so lieb war, dann sollte sie doch mit ihm reden! Th. Die anderen waren noch nicht da. Vitali wartete. Endlich betrat Serena das Klassenzimmer. Vitali grinste in sich hinein. Er würde sie nicht grüßen. Ja, kein Hallo und kein gar nichts! Er wollte doch mal sehen, wie ihr das schmeckte! Ohne auch nur aufzusehen setzte sich Serena auf ihren Platz, als hätte sie erst gar nicht gemerkt, dass er überhaupt anwesend war. Dabei hatte er extra einen Bus früher genommen, um ja früh genug hier zu sein! Er war kurz davor sie anzuschreien. Aber das hätte ja bedeutet, mit ihr zu reden! Er riss sich mühsam zusammen und schwieg, lugte aber zu ihr hinüber und starrte sie dann überdeutlich an. Serena indes sah aus, als befände sie sich in einer anderen Welt, als hätte ein Videospiel ihr die Seele ausgesagt – zumindest war das Vitalis Bild dazu. Er wurde langsam ungeduldig. Konnte sie nicht endlich merken, dass er sie ignorierte?!!! Das konnte doch nicht so lange dauern! Blöde Kuh. Und jetzt kam auch noch Erik ins Klassenzimmer. Der Idiot. Er grüßte Serena und blieb vor ihrem Tisch stehen „Wie geht’s dir?“ Serena schaute nur genervt. „Alles okay?“ Offenbar hatte Serenas Verhalten ihn beunruhigt. Vitali konnte nicht verstehen, wieso. Sie benahm sich genauso abweisend und fies wie immer… „Ja.“, antwortete sie widerwillig. Eriks Brauen zogen sich verwundert zusammen. Schließlich wandte er sich ab und lief an seinen Platz. Gerade so, als wäre es ungewöhnlich, dass Serena einen so behandelte. Th. Vitali hatte keinen Bock, sich zu Erik umzudrehen und hörte nur, wie dessen Schultertasche auf dem Boden aufkam, das Rascheln seiner Lederjacke, Stuhlrücken und einen dumpfen Laut, der anzeigte, dass Erik sich hingesetzt hatte. „Hast du was zu ihr gesagt?“ Vitali ignorierte ihn. „Hey, ich rede mit dir.“, drang Eriks Stimme an sein Ohr. „Das hör ich.“, sagte er möglichst desinteressiert. „Hast du was mit ihrer schlechten Laune zu tun?“ Vitali brummte in sich hinein. Wieso sollte er was mit ihrer Laune zu tun haben? Erik war doch jetzt ihr bester Kumpel! „Was hast du gemacht?“ „Ich hab gar nichts gemacht!“, schrie Vitali. „Warum ist sie dann so?“, fragte Erik. „Woher soll ich das wissen?!“ „Weil du ihr Freund bist.“ Aus Vitalis Zügen wich jäh die Härte. Verwunderung legte sich darauf. Dann zog er ein Gesicht, als würde er von etwas auf peinliche Weise bedrängt. „Eh.“ Er drehte die Augen weg und nuschelte: „Ich bin nicht ihr Freund…“ „Und gestern noch groß getönt, huh?“ Vitali verzog den Mund. „So war das nicht -“ Eriks Augenbrauen hoben sich. „Du gehst immer davon aus, dass dich alle für ihren festen Freund halten.“ Vitali zog eine unschöne Grimasse. In einer unverkennbaren Anspielung entfernten sich Eriks Augen von ihm, so als brauche er zu diesem Thema nichts mehr zu sagen. „Das geht dich nen Dreck an…“, murrte Vitali halblaut. Es klang wie das trotzige Gerede eines kleinen Jungen. Derweil kam Ariane im Klassenzimmer an. „Morgen!“ Die Jungs grüßten zurück. Serena schwieg. Davon noch nicht beunruhigt, setzte sich Ariane. „Wie geht’s dir?“ Serena hatte ihr am Morgen eine Nachricht geschrieben, dass sie heute zur Schule gefahren wurde. So wie Ariane Serenas Mutter kennengelernt hatte, war es naheliegend, dass sie ihre kranke Tochter lieber selbst zur Schule fuhr als das Risiko einzugehen, dass Serena auf dem Schulweg zusammenbrach. Wobei sie es überraschend fand, dass Serenas Mutter sie überhaupt aus dem Haus gelassen hatte. „Gut.“, sagte Serena in einer Tonlage, die so ziemlich alles von ‚Was soll die Frage?‘ über ‚Lass mich einfach in Ruhe‘. bis zu ‚Ich bin sauer!‘ bedeuten konnte, aber sicher nicht ‚Gut‘. „Bist du sauer?“ Offensichtlich hatte Ariane sich für Interpretation Nummer Drei entschieden. „Nein.“ Deutsches Lexikon des serena-ischen Wortgebrauchs. ‚Nein‘ wird verwendet für ‚Ja‘, wenn in dem Nein eine über das Normalmaß hinausgehende Negation herauszuhören ist. Ariane war diese Definition weder geläufig noch hätte sie sie für verständlich gehalten. „Was ist denn los?“ „Nichts.“ Serenas Stimme hatte einen schrillen Ton angenommen wie der Schrei einer Harpyie. Ariane schreckte zurück und sah davon ab, ihr noch weitere Fragen zu stellen. Die Gefahr, von ihr attackiert zu werden, wirkte zu groß. Zu ihrem Glück kamen gerade Justin und Vivien ins Klassenzimmer. Bei Serenas Anblick begann Vivien zu strahlen und beugte sich über die Schulbank, um Serena in die Arme zu schließen. Augenblicklich riss sich Serena von ihr los, als sei sie eine giftige Schlange, die sie aus dem Paradies ihrer Einsamkeit vertreiben könnte. Die anderen fuhren von ihrer jähen Bewegung zusammen. Serena funkelte Vivien bedrohlich an, als würde sie beim nächsten Angriff ihre Krallen ausfahren. Für einen Moment stand Vivien still, dann wandte sie sich mit schwachem Lächeln an Justin und ging an ihren Platz, als wäre nichts gewesen. Justin folgte ihr mit einiger Bestürzung. Er sah nochmals zu Serena, deren Ausdruck nicht nur ihm Angst einjagte. Auch nach der Doppelstunde Wirtschaft wirkte Serena nicht umgänglicher und keiner der anderen wagte es, sie anzusprechen. Dafür schlug Vivien vor, hinaus an die frische Luft zu gehen. Die übrigen stimmten zu, Serena schwieg und widmete ihre Aufmerksamkeit etwas anderem. Während die anderen aufstanden und ihre Jacken anzogen, blieb sie sitzen. „Aufstehen“, forderte Vivien sie auf und war vor ihren Tisch getreten. Serena antwortete nicht. Stoisch starrte sie auf den vor ihr liegenden Block, auf die leeren weißen Karoblätter, in einem vergeblichen Versuch, ihren Geist genauso leer zu machen und diese ganze Farce für immer hinter sich zu lassen. Dann sah sie eine Hand in ihr Blickfeld eindringen, sich ungeniert ihres Mäppchens bemächtigen und sein Innerstes ausschlachten, um einen Stift als Trophäe der schändlichen Tat zu entwenden. Vor Wut über diese Dreistigkeit biss Serena die Zähne zusammen. Die Hand mit dem Stift bewegte sich über die leere Fläche der Karoblätter, besudelte sie mit schwarzen Buchstaben, die von Serenas Seite aus lesbar waren – und zerstörte damit auch noch Serenas letzten Zufluchtsort. Jacke anziehen Serenas Blick fuhr auf und schleuderte dem rothaarigen Mädchen ihren geballten Zorn entgegen. Doch Vivien begegnete dem bloß mit ihrem unerschütterlichen Lächeln, zuversichtlich wartend, als gäbe es für sie keine Realität, in der Serena nicht mit ihnen mitging. Erfolglos versuchte Serena ihrerseits, sie mit Blicken zu traktieren, bis sie schließlich das Haupt senken musste, um den weit grausameren Folterungen dieses Mädchens zu entgehen. „Serenaaaaaa…“, quengelte Vivien. „Lass mich in Ruhe!“, brauste Serena auf, ihre Stimme klang schrill und erbärmlich. Automatisch war sie mit dem Stuhl nach hinten gerückt. „Was ist mit dir los?“, mischte sich Justin ein. Auf seinen Zügen glaubte Serena einen abwertenden Unglauben zu erkennen. In einer Schutzhaltung zog Serena den Kopf ein, ihre Augen waren zu Schlitzen verengt. „Ist schon okay.“, meinte Vivien unbekümmert. „Serena hat mich trotzdem lieb.“ Serena hörte das Zersplittern von etwas in ihrem Inneren. Sie sprang von ihrem Sitz auf und schrie. „Lasst mich einfach in Ruhe!“ Die anderen starrten sie stumm an, als wäre sie eine Abart, ein krankes Phänomen. An ihnen vorbei stürzte Serena aus dem Klassenzimmer. Die anderen blieben zurück, von dem Geschehen überwältigt. „Habt ihr irgendwas zu ihr gesagt?“, drängte Erik zu wissen. Vitali schimpfte: „Du warst doch gestern mit ihr zusammen!“ Erik warf ihm nur einen strengen Blick zu. Justin wandte sich in ernstem Ton an Erik. „Was genau ist gestern vorgefallen?“ Eriks Augen wanderten zur Seite, er zögerte. „Serena ist fast ohnmächtig geworden.“ Entsetzen machte sich auf den Gesichtern der anderen breit. Empört rief Ariane: „Und das fandest du nicht wichtig genug, um es uns zu sagen?“ Erik war nicht zum Spaßen aufgelegt. „Wenn sie euch nicht selbst erzählt, was mit ihr los ist, kann ich es wohl schlecht tun!“ „Und was ist mit ihr los?“, wollte Justin wissen. Erik seufzte. „Sie fühlt sich verraten, wenn ihr euch mit Amanda einlasst.“ Vitali wurde laut. „Und deswegen rastet sie so aus? Hat die sie noch alle?!“ Erik verdrehte die Augen auf seinen Kommentar hin, als wäre es ihm zu blöd, mit einem Kleinkind wie ihm zu reden, dennoch antwortete er den anderen. „Ich weiß nicht, was zwischen ihr und Amanda vorgefallen ist, aber wenn ihr ihre Freunde seid, könntet ihr etwas einfühlsamer sein und euch nicht mit ihrer schlimmsten Feindin gut stellen. Besonders du,“, er heftete seinen Blick auf Vitali, „der schon durchdreht, wenn ich mit Serena rede. Was würdest du tun, wenn sie sich blendend mit jemandem verstehen würde, den du über alle Maßen hasst?“ Vitali verzog das Gesicht. „Aber es ist doch bloß eine Gruppenarbeit.“, wandte Ariane ein. „Deswegen lassen wir doch Serena nicht im Stich.“ „Ich sag auch nicht, dass es richtig ist, wie sie sich verhält.“, entgegnete Erik. „Aber?“, fragte Ariane. „Ihr solltet sie besser kennen als ich.“, erwiderte Erik verstimmt. Vitalis Stirn umwölkte sich. Seine Stimme wurde leise. „Sie hat schon mal wegen Amanda geweint.“ Erik brauste auf. „Das wusstest du und führst dich trotzdem so auf?!“ „Halts Maul…“, murrte Vitali beleidigt, offenbar begreifend, dass sein Verhalten nicht richtig gewesen war. „Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte Ariane. „Wir können schlecht die Gruppenarbeit abbrechen.“ Vitali verschränkte unwillig die Arme vor der Brust. „Sie regt sich schon wieder ab.“ Ariane sah ihn fassungslos an. „Das glaubst du nicht wirklich, oder?“ Derweil war Vivien in Schweigen verfallen. Sie blickte leer auf Serenas Tisch und hing unschönen Gedanken nach. Zum ersten Mal gab es nichts, was sie für Serena hätte tun können. Jedes Mal, wenn sie sich Serena näherte, schien sie ihr damit noch mehr Leid zuzufügen. Bisher hatte sie Serena einfach durch ihre Hartnäckigkeit aus der Reserve locken oder sie sonstwie ablenken können. Doch nun war Serena völlig isoliert. Jede Annäherung schien für sie in einer brennenden Pein zu enden wie beim Berühren einer offenen Wunde. Plötzlich sah Vivien auf und hatte einen Entschluss gefasst. Sie rannte aus dem Klassenzimmer, ohne die anderen in ihre Pläne einzuweihen. Vivien wusste, wo sich Amanda und ihre Freundinnen normalerweise aufhielten. Da eine von ihnen Raucherin war, standen sie meist vor dem Haupteingang. Sie stürmte aus dem Schulgebäude und sichtete Amanda, die sich gerade mit ihren Freundinnen und einem Jungen unterhielt. Sie schenkte dem keine Beachtung, lief auf sie zu und sprach sie ohne Umschweife an. „Wieso hast du dich mit Serena verstritten?“ Amanda sah sie teils überrumpelt, teils skeptisch an. „Weil sie ein Miststück ist!“ Erst jetzt bemerkte Vivien Amandas Schwester Susanne, die an deren Stelle geantwortet hatte. „Warum?“, fragte Vivien. „Die ist voll der Teufel!“ „Warum?“ Susanne sprach in voller Inbrunst. „Die denkt sie wäre was Besseres!“ „Warum?“ Susanne fühlte sich wohl von Viviens Frage auf den Arm genommen, daher wandte Vivien sich wieder Amanda zu. „Was hat sie dir denn getan?“ Erst schien Amanda nicht antworten zu wollen und maß Vivien mit abschätzigem Blick, dann ergriff sie doch das Wort. Ihre Stimme war beherrscht und distanziert. „Sie stellt mich immer als die Böse hin und hetzt alle gegen mich auf. Ich hab diesen Streit nicht angefangen. Das war sie. Und ich lasse mir das nicht mehr bieten.“ „Was ist passiert?“, hakte Vivien nach Amandas Blick wurde kurz abwägend, als würde sie Vivien nicht trauen. Schließlich stieß sie ein langes hohes Seufzen aus. „Bei Serena war immer ich schuld.“ Vivien bemerkte, wie Amanda die Linke zur Faust ballte. „Sie war ständig eingeschnappt. Sobald ich ihr nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet habe, hat sie mir Vorwürfe gemacht. Ich kam mir vor wie in einem Gefängnis! Dauernd haben wir gestritten und dann kam sie mit irgendwelchen Briefchen mit lieben Worten und Entschuldigungen oder mit Geschenken an, aber an ihrem Verhalten hat sich überhaupt nichts geändert! Ich konnte und wollte dieses Drama nicht mehr! Ich hab ihr gesagt, wir können nicht mehr beste Freundinnen sein, sondern nur noch ganz normale. Ich habe daraus keine Feindschaft gemacht. Das war sie! Sie hat mich dauernd beleidigt! Ich habe mich nur gewehrt!“ Während des Sprechens war Amanda immer aufgewühlter geworden. Von der erhabenen Distanziertheit, die sie sonst zur Schau stellte, war nichts geblieben, und Vivien hatte zum ersten Mal den Eindruck, die Person zu sehen, mit der sich Serena damals angefreundet hatte. Es gab hier keinen Schuldigen. Nur zwei Menschen, die nicht miteinander umgehen konnten und alles auf sich bezogen. Zwei Verletzte. Vivien schenkte Amanda ein mitfühlendes Lächeln. „Sie wollte dir nicht wehtun. Sie dachte nur, du könntest sie retten.“ Bei den Worten fühlte Vivien Trauer in sich aufkommen. Sie wandte sich um, um zurück ins Schulhaus zu gehen. In ihrem Rücken hörte sie Susanne Amanda ansprechen und sich über Serena in hässlichen Worten aufregen. Vielleicht in einem Versuch, ihre jüngere Schwester davon zu überzeugen, dass Wut leichter war als Schmerz. Serena wusste nicht mehr wohin. Sie war ganz allein. Sie hielt das alles nicht mehr aus! Sie hatte in der Mädchentoilette ein Versteck suchen wollen. Der Versuch war aufgrund der vielen Mädchen dort gescheitert. Sie war den Gang im Untergeschoss entlang gelaufen, wo die Schulküche sich befand, deren Sinn ihr schleierhaft war. Hier war es dunkel, die Türen waren alle geschlossen. Kein Licht konnte durch irgendwelche Fenster hereindringen. Niemand war hier. Serena starrte die dunkle Wand vor sich an. Es war alles so leer, leer und sinnlos. Ihr ganzes Leben. Sie wusste nicht, wie sie jetzt wieder ins Klassenzimmer gehen sollte. Es war ihr auch egal. Ihre Gefühle bildeten ein solches Chaos, dass sie gar nicht mehr wusste, was sie spürte und was nicht. Sie spürte nichts und spürte alles. Sie war traurig, wütend und verzweifelt. Sie wollte jemanden schlagen, weinen, sich die Seele aus dem Leib schreien, um ihrem schrecklichen Gefängnis zu entgehen. Wie Monster waren die anderen Menschen um sie herum, Monster, die einen töteten, wenn man ihnen auch nur eine Sekunde den Rücken zukehrte. Aber sie war des Kämpfens müde. Und im Moment ihres Schlafes würde sie Schlimmeres erwarten als der Tod. Sie war so dumm. So unglaublich dumm. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte, was sie glauben sollte. ‚Vertraue niemandem‘, klang es in ihrem Kopf. Das gleiche, was Erik ihr geraten hatte, dasselbe, was ihre Mutter ihr gesagt hatte, als sie einmal mehr einen nicht enden wollenden Heulkrampf wegen Amanda gehabt hatte. ‚Vertraue niemandem‘. Die Worte zerquetschten ihr Inneres. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht. Das war zu viel verlangt, viel zu viel. Wie betäubt war Serena wieder ins Klassenzimmer gewandelt, ohne den Blick vom Boden zu heben. Als sie ankam, waren Ariane, Vitali und Erik schon aus dem Raum zu ihrem Spanischkurs gegangen. Serena setzte sich, ohne Vivien und Justin anzusehen. Ihr Kopf war gesenkt und alles war nur noch eine Abfolge von stumpfen Sinneseindrücken. Vivien betrachtete ihr Verhalten mit tiefster Besorgnis. Sie wollte etwas zu ihr sagen, wollte sie in den Arm nehmen, wollte sie halten und ihr zu verstehen geben, dass sie sie niemals alleine lassen würde. Das Verlangen danach war übermächtig. Allein die Befürchtung, Serena damit noch mehr Leid zuzufügen, hielt sie zurück. Nichts lag ihr ferner, als sie noch mehr in die Enge zu treiben. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung und verpasste dadurch einen Teil des Französischunterrichts. Serenas eingefallene Körperhaltung erinnerte sie stets aufs Neue an die Sorgen, die auf ihrer Seele lasteten. Dann spürte Vivien die Wärme und den sanften Druck einer Hand und sah auf. Justin schenkte ihr ein tröstendes Lächeln. Viviens Mundwinkel hoben sich leicht. Obwohl er sonst bei jeder ihrer Berührungen zurückschreckte, hielt er sie immer dann fest, wenn sie es am nötigsten hatte. Egal was kam, ihr Vertrauen würde sie nicht verlassen. Damals im Schatthenreich hatten sie Serena schon einmal gerettet und sie würden es wieder tun! Als die anderen wieder ins Klassenzimmer kamen, machte Ariane den Ansatz, Serena anzusprechen, fürchtete jedoch, erneut ihren Zorn auf sich zu ziehen und schwieg. Als sie zur sechsten Stunde, Textverarbeitung, zum Computerraum gingen, stand Serena stumm da, keiner wagte, ein Wort an sie zu richten. Auch nach Unterrichtsende änderte sich dies nicht. Serena stand auf und verließ den Raum, ohne Tschüss zu sagen, zunächst hatte Ariane sie aufhalten wollen, sich dann aber erneut zurückgehalten. Stattdessen schloss sie sich den vier anderen an. „Was sollen wir bloß tun?“, fragte Ariane besorgt. Die anderen schwiegen. „Vielleicht… geht es ihr morgen besser.“, sagte Justin zögernd. Das klang, als würde man darauf warten, dass zwei verfeindete Staaten endlich Frieden schlossen. Ariane wandte sich an Justin. „Warum ist sie überhaupt auf Erik und dich wütend, wo ihr doch nichts mit Amanda zu tun habt?“ Das schien sich auch Erik schon gefragt zu haben. Er schwieg kurz. Mit gesenktem Blick sprach er. „Es ist einfacher.“ „Wie?“, hakte Ariane nach. „Sie kann nicht euch ignorieren und mich nicht. Und von Justin fühlt sie sich auch verraten.“ „Aber er hat doch gar nicht-“, setzte Ariane an. „Das ist egal. Ihr versteht das Prinzip nicht. Es geht nicht um Gerechtigkeit, es geht um ihren Schutz.“ Ariane sah Erik in ehrlicher Ahnungslosigkeit an. „Wenn ihr Serena zu nahe kommt, dann gefährdet ihr sie.“ „Woher willst du das –“Ariane unterbrach sich, Eriks Blick mahnte sie, ihre Frage fallen zu lassen. „Aber…“ Eriks Augen hefteten sich wieder auf den Boden. „Sie möchte euch vertrauen.“ Sein Kiefer verhärtete sich, etwas wie Widerwille nahm seine Züge ein. „Das ist ihr Problem.“ „Was ist daran ein Problem?“, wollte Ariane wissen. Eriks Blick wurde finster. „Wenn sie das nicht täte, würde sie sich selbst nicht mit dieser dummen Hoffnung quälen.“ Seine Worte waren hart, und bitter wie Galle. Ariane war über seine Sichtweise schockiert, doch die Härte in Eriks Gesicht machte ihr deutlich, dass er Widerspruch nicht dulden würde. Vivien schien anderer Meinung zu sein. „Solange man hofft, hat man noch nicht aufgegeben.“ Sie schenkte Erik ein Lächeln. Erik sah sie an. Vivien, die stets lächelte und nichts von dem Schmerz zu verstehen schien, den Menschen einem antun konnten. Er wandte sich ab. „Wer vertraut, kann verraten werden. Wer nicht vertraut -“ „- verrät sich selbst.“, beendete Vivien den Satz, ehe er es auf seine Weise tun konnte. „Wenn man zu sich selbst unehrlich ist und seine eigenen Wünsche unterdrückt, dann verletzt man sich selbst. Jeden Tag aufs Neue.“ Ihr Blick war fest und überzeugt. „Jeder hat Angst zu vertrauen, aber … nichts ist schlimmer als sich selbst nicht zu vertrauen. Denn wenn man sich selbst nicht vertraut,“ Ihre Augen bekamen etwas Leidvolles. „…ist man einsam.“ In Viviens Worten lag etwas, das Erik kurz glauben lassen wollte, dass es Glück bedeutete, diesen dummen Hoffnungen Platz zu geben. Platz in dem von Zweifeln und Selbstverstümmelung entstellten Herzen. Dann kam er wieder zur Vernunft. Es gab kein Vertrauen. Umso mehr man es sich wünschte, umso dringender war es, dagegen anzukämpfen, gegen diesen romantischen Unsinn. ‚Freunde sind da für gute Zeiten, nicht wenn es einem schlecht geht.‘ Sein Herz krampfte sich noch mehr zusammen. Längst war er an diesen Schmerz gewöhnt, bei dem er sich zumindest nicht dumm und naiv vorkam. Serena war schwach, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als zu lieben und geliebt zu werden. Er würde nie den gleichen Fehler begehen. Serena kam zu Hause an und verzog sich in ihr Zimmer. Sie fühlte sich erbärmlich, hilflos und schwach. Sie sank auf ihre Knie und verabscheute sich selbst. Sie wollte nicht gemein zu den anderen sein!!! Sie – Sie vergrub ihr Gesicht in ihrer Bettdecke. Sie wollte nicht sie selbst sein. Sie wollte gar niemand mehr sein, aber vor allem nicht sie selbst! Sie war schrecklich und feige und dumm. Sie hielt das alles nicht mehr aus! Sie wünschte, die anderen würden sie hassen, das würde alles so viel einfacher machen. Dann würde ihr Herz zu Stein werden und sie würde dem Wahnsinn verfallen und wäre für immer von diesem Irrsinn verschont. Wenn doch nur alles schlecht wäre und diese entsetzliche Hoffnung sie nicht weiter quälen würde. Ihre schweren Gedanken drückten so sehr auf ihren Kopf, dass sie einfach nur noch die Augen schloss, um ihnen für einige Sekunden zu entkommen, während der Schmerz in ihrem Herzen sie nie loslassen würde. Kapitel 75: Hohn- Der Wunsch, geliebt zu werden ----------------------------------------------- Hohn –Der Wunsch, geliebt zu werden „In dieser Welt ist nichts so sinnlos wie jemanden zu 'lieben'. 'Geliebt werden wollen' ist nichts als ein heißer Wunsch, an dem man am Ende doch nur verzweifelt.“ (aus dem Manga Skip Beat! von Yoshiki Nakamura Band 1) Der nächste Tag verlief ähnlich still, aber Serena machte ein weniger wütendes Gesicht. Ariane hatte sich nicht getraut, Serena am Morgen abzuholen, zumal sie nicht wusste, ob Serenas Mutter sie wieder fuhr. Als während der Mathestunde ihr Tintenkiller versehentlich auf Serenas Seite kullerte, schrak Ariane zusammen. Der Stift stieß gegen Serenas Arm und Ariane entschuldigte sich hastig. Serena sah nur auf den Tintenkiller, nahm ihn in die Hand und reichte ihn Ariane, ohne aufzublicken. „Danke.“, flüsterte Ariane unsicher. Serena entgegnete nichts. Als die anderen sich später in der Pause unterhielten, lugte Serena vorsichtig in ihre Richtung. Vivien bemerkte es mit Freude, unterließ es aber, zu viel von Serena zu verlangen, und sprach sie daher nicht an. In ihren verlegenen Bewegungen entdeckte Vivien wieder die ängstliche Serena, die nicht wusste, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Vivien schenkte ihr ein warmes Lächeln, woraufhin Serena verschämt den Blick senkte. Nach der Schule wartete Serena auf die anderen und schlich kleinmütig neben ihnen her. Erneut wagte Ariane es nicht, sie anzusprechen und zu fragen, ob sie heute gemeinsam nach Hause gingen. Erik hatte damit weniger Probleme. „Läufst du heute mit uns?“ Serena senkte den Kopf noch etwas tiefer. „Hey Tiny!“, rief Vitali. Serena blickte überrascht auf. Vitalis Anrede hatte jedoch offenbar nicht die Einleitung zu etwas werden sollen, denn als sie ihn nun ansah, verstummte er und wich ihrem Blick aus. Erik konnte nicht fassen, wie ungeschickt Vitali war. „Wenn du mit ihr reden willst, solltest du vielleicht was sagen.“ Vitali zog ein vielsagendes Gesicht, dann drehte er sich entschlossen zu Serena. „Es ist kalt heute.“ Serena war nun deutlich verwirrt. „Ich meine, also, kälter als gestern. Findest du nicht?“ Erik schlug sich gegen die Stirn. Serena dagegen nickte. Augenblicklich strahlte Vitali und deutete triumphierend auf sie. „Siehst du!“, rief er Erik zu. „Was? Dass es kälter ist als gestern?“, spottete Erik. Vitali zog erneut eine Grimasse. „Bei dir hat sie überhaupt nicht reagiert!“, schimpfte er. Erik war davon wenig beeindruckt. Vitali war eingeschnappt, dann blickte er erneut zu Serena und lächelte breit. „Glaubst du, morgen ist es noch kälter?“ Erik stichelte: „Auf was Geistreicheres kommst du nicht?“ „Halt die Klappe.“, sagte Vitali und fügte in überheblicher Manier hinzu. „Ich unterhalte mich gerade.“ „Du meinst, du redest.“, berichtigte Erik. „Klappe!“ Vitali drehte sich zu Serena. „Wir unterhalten uns! Nicht wahr?“ Serenas linke Augenbraue senkte sich, während die rechte sich leicht hob. „Ehuh.“, machte Erik spöttisch. „Halts Maul! Sie spricht durch ihr Gesicht!“, rechtfertigte sich Vitali. „Ich dachte, nur du könntest das.“, meinte Erik. „Halt einfach die Klappe!“, brauste Vitali auf. „Dir fällt auch nichts Neues ein.“, erwiderte Erik. „Raaaah!“ Verstimmt wandte sich Vitali an Serena. „Sag mal, wieso darf der mich an deiner Stelle beleidigen? Das ist doch dein Job!“ Serena war ehrlich sprachlos. „Nur meine Partnerin darf mich beleidigen!“, informierte Vitali Erik überzeugt. „Als wäre sie deine Partnerin.“, sagte Erik gelangweilt. „Natürlich ist sie meine Partnerin!“, rief Vitali. „Beschützerpartnerin.“, erklärte Justin. Daraufhin schenkte Erik Vitali ein höhnisches Grinsen, sodass dieser sich wütend auf die Unterlippe biss. Serena zögerte einen Moment, während dem ihre Augen auf den Boden gerichtet waren, dann reckte sie ihr Kinn vor und rief so laut sie konnte: „Niemand darf Vitali beleidigen, außer mir!“ Die Blicke aller waren augenblicklich auf sie gerichtet. Sie spürte, Hitze in sich aufwallen und in ihre Wangen steigen. Peinlich berührt zog sie den Kopf ein. „Yay!“, rief Vitali und hielt ihr seine Faust hin, doch Serena war zu schüchtern, um einzuschlagen. Vitali bemerkte dies mit einiger Unzufriedenheit. Verstimmt ergriff er ohne Hemmungen ihre Rechte und führte sie selbst zu seiner Hand, sodass sie sich berührten. Er grinste zufrieden und wandte sich anschließend stolz triumphierend zu Erik um. Erik musste sich prustend abwenden. „Hey! Was gibt’s da zu lachen!“, schimpfte Vitali lautstark, während sich Erik nicht mehr einzukriegen schien und Vivien begeistert mitlachte. Auch Justin und Ariane lächelten vergnügt. Serena fühlte eine Emotion in sich, immer noch stumpf und von dem bleichen Grau ihrer Trauer zu einem blass pastellfarbenen Aquarell abgeschwächt. Dieses flüchtige Glück, nach dem sie sich so sehnte. War es nicht das, was sie wollte, alles, was sie brauchte? Einmal mehr wünschte sie sich nichts inständiger, als daran glauben zu dürfen, mit allen leuchtenden Farben ihrer Seele! Und spürte die Freude über die bloße Anwesenheit der anderen so stark, dass sie den Moment gerne eingeschlossen hätte, um sich zumindest an diesem Bild ewig satt sehen zu können, wenn sie wieder hinaus gestoßen würde, in die graue Ödnis ihrer Verlassenheit. Die erste Stunde freitags wurde auf dringenden Wunsch der Gruppen nochmals für die Gruppenarbeit in Deutsch verwendet. Dieses Mal schien sich Serena gut damit abzufinden. Erik, Justin und sie belebten daraufhin den Plan neu, nach der Schule mit zu ihr zu gehen, um die Powerpoint-Präsentation zu erarbeiten. Serena musste nur noch ihrer Mutter Bescheid geben. In der Stunde trugen sie bereits alles Wichtige zusammen, Justin hatte auch die Lektürehilfen mitgebracht, die er in der Stadtbibliothek hatte ausleihen können. Alles wirkte wieder normal, sodass der Vormittag von keinen Zwischenfällen überschattet wurde. Nach Ende der sechsten Stunde, als sie am Einpacken waren, trat Amanda vor den Tisch von Ariane und Serena. „Und, kommt ihr?“ Serena starrte sie perplex an und drehte sich zu Ariane. Diese schien sichtlich verlegen angesichts Serenas Blick. Sie hatte es bisher umgangen, Serena darüber zu informieren, dass sie die Präsentation mit Amanda noch absprechen wollten. Vitali war derweil neben Amanda getreten, bereits den Rucksack aufgesetzt. „Aber nicht, dass das so lange dauert.“ Amanda kicherte. „Wir besprechen kurz die Präsentation.“, klärte Vivien Serena auf. „Training ist morgen. Ewigkeit weiß Bescheid.“ Sie strahlte Serena an. „Hab dich lieb.“ Bei dem letzten Satz wurde Serena übel. Vivien schloss sich Vitali an, auch Ariane hatte sich in der Zwischenzeit erhoben und blickte unsicher zu Serena. „Tut mir leid, ich … bin nicht dazu gekommen, es dir zu sagen. Aber Erik und Justin gehen ja auch noch mit zu dir, damit ihr euch besprechen könnt.“ Sie versuchte sich an einem entschuldigenden Lächeln und stellte ihren Stuhl auf. „Wir sehen uns morgen.“ Serena sah zu Amanda. Diese hatte keinen einzigen Blick für sie übrig, stattdessen lächelte sie die drei anderen zuckersüß an und kicherte geziert. Serena wollte nur noch, dass sie alle aus ihrem Blickfeld verschwanden. „Ich ruf dich an, sobald wir fertig sind!“, versicherte Vivien und schien eine Rückmeldung von ihr zu erhoffen, die Serena ihr aber nicht gab. Kurz wirkte sie davon verunsichert, dann setzte sie ihr herzlichstes Lächeln auf, das Seren in diesem Moment nicht länger ertragen konnte. Endlich verabschiedeten die drei sich. Vitali warf Serena einen flüchtigen Blick zu und ging dann mit den anderen nach draußen, als kenne er sie gar nicht. Amanda flötete noch ein überfreundliches „Tschüüüß“ und sie waren aus der Tür. Erik trat zu Serenas Tisch. Sie wirkte sehr gefasst. Ihre Haltung war aufrecht, aber etwas glomm in ihren Augen, dem er nicht mit Worten begegnen konnte. Sie erhob sich. „Ich muss noch kurz auf die Toilette. Bin gleich wieder da.“ Erhobenen Hauptes verließ sie das Klassenzimmer. Sobald sie außer Hörweite war, sprach Erik erzürnt zu Justin: „Sie hätten es ihr auch vorher sagen können!“ „Wann denn?“, wandte Justin ein. „Dann hätte sie wieder den ganzen Tag nicht mit ihnen geredet. Und Vivien hat extra gesagt, dass sie sie später anrufen wird.“ Erik warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Und du meinst, das macht es besser? Dieses Ding vor ihrem Tisch stehen zu haben und ihre Freunde anquatschen zu sehen?!“ „Amanda ist auch nur ein Mensch.“, sagte Justin ruhig. „Für Serena nicht.“ Justin sah ihn aufmerksam an. „Kann es sein, dass du mehr hineininterpretierst als sie?“ Eriks Stirn umwölkte sich. „Was willst du damit sagen?“ „Du siehst wütender aus als Serena.“ „Warum wohl?! Gerade hat sie wieder einen Schritt auf uns zugemacht und –“ Justin unterbrach ihn. „Hat sie das? Wir haben einen Schritt auf sie zugemacht. Sie ist die ganze Zeit passiv.“ „Ist das so schwer verständlich?!“ Justins Blick blieb sanft. „Serena gehört zu uns. Jedem von uns ist sie wichtig. Sie ist die einzige, die das anders sieht. Das ist das Problem, nicht das Verhalten der anderen.“ Eriks Mund wurde zu einem dünnen Strich. „Aber sie machen es schlimmer.“ „Und besser.“, erwiderte Justin überzeugt. „Serena kann ihre Verantwortung nicht immer auf andere abschieben. Sie muss lernen, dass sie selbst auch ihren Teil dazu beitragen muss. Jeder der anderen vertraut ihr, sonst würden sie über ihre Beleidigungen und ihr verletzendes Verhalten nicht einfach so hinwegsehen. Da ist es nur fair, dass sie einen Bruchteil davon auch von ihr zurückverlangen. Wenn wir immer nur Rücksicht auf sie nehmen, lernt sie es nicht.“ Erik musterte ihn kalt, als hätte Justin in Wirklichkeit ihn angegriffen und sein Verhalten kritisiert. Er hatte keine Lust, weiter mit Justin zu diskutieren. Serena schloss die Tür der Toilettenkabine. Hier drinnen konnte niemand sie sehen. Sie schloss die Augen und atmete aus, ließ die Stille auf sich wirken, das Abgeschnittensein vom Rest der Welt, das Sich-nicht-länger-verstellen-müssen. Eine Gänsehaut ging kurz über ihren Körper. Sie stützte sich gegen die Tür vor ihr. Die Zeit zog quälend langsam an ihr vorüber. Sie wünschte sich, dass die Sekunden, die Minuten und Stunden schneller verstrichen, bis sie endlich wieder alleine wäre, bis sie endlich nicht mehr denken musste. Nach Augenblicken, die sie künstlich in die Länge zog, verließ sie die Kabine wieder. Zu dieser Uhrzeit war hier keiner mehr. Sie wusch sich die Hände und sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Dieses hässliche Ding war sie. Sie griff nach den Papiertüchern, um sich die Hände zu trocknen. Nahm sich ein weiteres. Nur um Zeit zu schinden. Sah noch einmal leer in ihr Spiegelbild. Je länger sie es anstarrte, umso fremder erschien es ihr, als würde etwas Böses jenseits ihrer Augen lauern, etwas das nur darauf wartete, hervorzubrechen und sie zu zerfleischen. Sie bekam es mit der Angst zu tun und wandte sich ab. Mit der Hand an ihrer Stirn keuchte sie schwer. Ihr war so schwindlig. Hitze stieg plötzlich in ihr hoch. Bilder und Gesprächsfetzen wirbelten durch ihren Geist, vor denen sie sich verschließen wollte und sich ihnen dabei noch viel mehr öffnete. Ihr Herzklopfen war allgegenwärtig. Sie wollte sich wehren, wollte das alles nicht ertragen, ging halb in die Knie. Sie wollte ihre Gedanken nicht zulassen, hielt ihre Ängste, ihre Wut, ihre Verzweiflung nicht mehr aus! Sie wollte tot sein. Augenblicklich, ohne dass sie dies noch mitbekommen hätte, gaben ihre Beine unter ihr nach und ihr Geist versank in vollkommener Finsternis. Erik machte ein nachdenkliches Gesicht. Auch Justin kam es langsam komisch vor, dass Serena so lange brauchte. „Warte hier.“, meinte der Schwarzhaarige und war im Begriff den Raum zu verlassen. „Ich gehe mit!“, rief Justin gerade noch. Ernst drehte Erik sich ihm zu. „Es ist schlimm genug, wenn einer sie weinen sieht. Mach es nicht noch schlimmer.“ Justin erwiderte nicht weniger bestimmt. „Serena ist nicht wie du.“ Eriks Augen verengten sich. Die Züge seines Gegenübers dagegen wurden weich und versöhnlich. „Ich verstehe Serena nicht so gut wie du. Ich weiß nicht, wieso sie so oder so reagiert. Aber was ich weiß, ist, dass sie nicht alleine sein möchte. Sie ist nicht so stark wie du. Sie braucht Vertrauen.“ Erik gab keine Widerworte. Er trat aus dem Klassenzimmer, gefolgt von Justin, der vorher noch Serenas Sachen an sich nahm. Sie liefen zu der Mädchentoilette im Untergeschoss. Erik klopfte. „Serena? Bist du da drin?“ Keine Antwort. „Serena, ich komm rein.“ Er zog die Tür auf. Der Anblick schockierte nicht nur ihn. Serena lag bäuchlings auf dem Boden, bewegungslos. Justin ließ Serenas Sachen fallen, er und Erik stürmten hinein. Sie drehten Serena auf den Rücken. Erik an ihrem Kopf, Justin zu ihren Füßen. Ersterer bettete ihren Kopf auf seinen Schoß und redete auf sie ein. Aber es erfolgte keine Reaktion. „Lass ihren Kopf auf dem Boden.“, befahl Justin und hob ihre Beine an. „Damit das Blut zurück in den Kopf fließt.“ Dann warf er einen Blick hinter sich. „Mach das Fenster auf, sie braucht frische Luft.“ Erik tat wie ihm geheißen, stand auf, um an Serena vorbei zu dem Fenster zu gelangen. Justin sah auf die am Boden Liegende. Eine normale Ohnmacht dauerte nur wenige Sekunden. Wie lange lag sie schon so da? Plötzlich glaubte er, etwas zu hören, einen Laut in seinem Kopf, eine Mischung aus verschiedenen Geräuschen. Schluchzen, Schreien, ein Kreischen wie im Wahn. Der Klang war entsetzlich, am liebsten hätte er sich losgerissen, aber er bezwang sich, um Serenas Beine nicht auf den Boden fallen zu lassen. Dann erst wurde ihm bewusst, wessen Stimme er gehört hatte. „Wir müssen jemanden holen.“, sagte Erik aufgeregt. Justin sah ihn mit großen Augen an. Er musste schnell denken. „Bleib du bei ihr! Hol den Rucksack draußen und leg ihn unter ihre Beine. Erik hastete hinaus und kam mit dem Rucksack zurück. Justin ließ ihre Beine langsam nach unten, dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf. „Lass sie so liegen. Sie atmet normal. Also ganz ruhig. Ich hole jemanden.“ Mit diesen Worten ging er um Erik herum aus dem Raum. Justin rannte ein paar Meter, in seinem Kopf wirbelten Gedanken hin und her. Er konnte niemanden holen. Das war keine normale Bewusstlosigkeit, da war er sich jetzt sicher. Was sollte er tun? ○ Ewigkeit!, rief er in Gedanken. Das Schmetterlingsmädchen erschien flugs vor ihm und strahlte ihn fragend an. „Ewigkeit, Serena – Schicksal, es geht ihr nicht gut, sie ist ohnmächtig. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Du musst die anderen holen. Sag ihnen, sie müssen zurück zur Schule kommen, ins Untergeschoss zu der Mädchentoilette. Beeil dich.“ Ewigkeit nickte eifrig und war im gleichen Moment verschwunden. Justin blieb zurück. Wenn er einen Lehrer holte, dann würden nur noch mehr Leute im Weg stehen, vermutlich würden sie Serena ins Krankenhaus stecken, wo die anderen und er überhaupt nicht mehr an sie herankämen. Aber wie sollte er Erik davon abhalten, jemanden zu Hilfe zu rufen? Da fiel ihm ein, dass Erik ein Handy besaß, mit dem er den Notruf verständigen konnte. Er musste ihn davon abhalten. Justin rannte zurück. Vitali und die Mädchen waren nicht mehr weit von Amandas Zuhause entfernt. Amanda hatte ein Gespräch mit ihnen angefangen, in das sie gerade vertieft waren, als Ewigkeit ohne Vorwarnung vor ihnen erschien. „Schicksal ist ohnmächtig! Ihr müsst zurück zur Schule! Zur Mädchentoilette.“ „Was?!“, schrie Vitali. Amanda, die von der Anwesenheit des Schmetterlingsmädchens nichts mitbekommen und daher schlicht weitergeredet hatte, blieb abrupt stehen und drehte sich perplex zu ihnen um. Geistesgegenwärtig zog Vivien ihr Handy aus der Jackentasche. „Ja? Was? Was ist passiert?“ Ewigkeit betrachtete dieses Verhalten mit Verwirrung, ehe sie wieder hektisch wurde. „Ihr müsst zu Schicksal! Ihr müsst zu Schicksal!“ „Gut, in Ordnung, wir kommen.“ Vivien nahm ihr Handy vom Ohr und wandte sich an Amanda: „Es ist was Schlimmes passiert, wir müssen sofort weg. Tut uns leid. Wir erklären es dir ein andermal.“ Mit diesen Worten rannte sie in die entgegengesetzte Richtung, bevor Amanda noch irgendetwas erwidern konnte. Vitali und Ariane eilten ihr nach. Sobald es ging, bog Vivien in eine andere Straße ein, um vor Amandas Blicken sicher zu sein. Vitali und Ariane blieben dort ebenfalls stehen, während Ewigkeit in ihre Mitte schwebte. „Wir müssen weiter!“, drängte Ariane. „Wir sind schneller, wenn wir uns teleportieren.“, erwiderte Vivien. „Und wenn es nicht klappt?!“, wandte Vitali ein. „Wir rennen lieber!“ Schon wollte er weiter, wurde aber von Vivien am Arm gepackt. „Natürlich klappt es!“, rief sie und ergriff Arianes und Vitalis Hände. Niemand war auf der Straße zu sehen. „Konzentrier dich einfach auf unser Klassenzimmer.“ „Kommt jemand?“, fragte Erik in hektischer Besorgnis, als Justin die Mädchentoilette wieder betrat. Er kniete neben Serena. Noch immer war sie nicht bei Bewusstsein. Justin nickte. Er sah auf das Waschbecken. „Wir sollen ihr schon mal kalte Kompressen in den Nacken legen.“ Erik nickte und stand auf, um ein paar der Papiertücher anzufeuchten. Vorsichtig hob er Serenas Kopf an, um die Tücher zu positionieren. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Du warst auch schon so lange bewusstlos.“, sagte Justin in tröstendem Ton. „Und sie atmet normal.“ „Das ist nicht normal!“, brauste Erik auf. Er sah verbittert auf Serenas blasses Gesicht und fühlte seine Machtlosigkeit. Justin wusste nicht, was er noch sagen sollte. Er konnte nicht abschätzen, wie lange die anderen brauchen würden, um hierher zu kommen. Und es gab nichts, mit dem er Erik hätte beruhigen können. Er kniete sich ebenfalls zu Serena und ergriff ihr Handgelenk wie um ihren Puls zu kontrollieren. In Wirklichkeit versuchte er, ihre Gedanken erneut zu lesen. „Warum kommt denn niemand?!“, schrie Erik und unterbrach damit Justins Konzentration.“ „Und was sollten die tun?“, rief Justin erregt. „Sie können auch nichts anderes als warten. Sie hat keinen Herzstillstand.“ Erik machte ein wehrloses Gesicht und schwieg. Justin wurde von Unruhe geplagt. Wie lange würden die anderen noch brauchen? Vielleicht war das alles eine dumme Idee. Wenn er Serenas Kräfte besessen hätte, hätte er Erik wenigstens in Schlaf versetzen können, um ihn von unbedachten Handlungen abzuhalten. In dieser Situation kamen ihm seine Fähigkeiten wenig hilfreich vor. „Haben die kein Riechsalz im Krankenzimmer oder so was?“, fragte Erik. Wieder musste Justin lügen. „Nein.“ „Wozu haben wir ein verfluchtes Krankenzimmer! Es kann doch nicht sein, dass wir sie hier einfach liegen lassen!“ „Beruhig dich endlich!“, befahl Justin harsch. „Was glaubst du, wie es uns ging, als du ohnmächtig warst!“ Erik sah unsicher aus, er senkte den Blick. „Das war was anderes.“ „Serena hat keine schwere Krankheit. Eine Ohnmacht bringt sie nicht um.“ „Wie kannst du nur so locker damit umgehen!“, schimpfte Erik. „Weil es ihr nicht hilft, panisch zu werden.“, sagte Justin streng. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich Erik wieder wie ein Kind. Sonst war er der Reifste unter Altersgenossen. Aber nun musste er sich von diesem Jungen, der sogar jünger war als er selbst, solche Worte anhören und zu allem Überfluss auch noch erkennen, dass sie zutrafen. Er kam sich dämlich vor, dass er sich von seinen Gefühlen so hatte kontrollieren lassen. Das war sonst nicht seine Art. Etwas lief falsch, sobald er mit diesen fünfen zusammen kam. Gehörig falsch. Er versuchte, wieder ruhig zu werden und seinen überschießenden Emotionen keinen Raum mehr zu lassen. Justin hatte Recht, es half niemandem, wenn er sich gehen ließ und er würde sich vor diesem Jungen nicht noch einmal eine Blöße geben. Dann hörte er etwas. Die Tür wurde aufgerissen, sodass er herumwirbelte und die Leute vom Notdienst oder zumindest endlich einen anderen Helfer vermutete. Stattdessen standen Vivien, Ariane und Vitali in der Tür. „Tiny!“, schrie Vitali so laut, dass es in den Ohren wehtat. In diesem Moment ging etwas durch die Atmosphäre, wie der Schlag eines Herzens, und riss sie alle mit sich. Kapitel 76: Hel – Serenas Unterwelt ----------------------------------- Hel – Serenas Unterwelt „Es gibt einen Ort, den ich kenne. Dort ist es nicht schön und wenige waren je da. Wenn ich ihn euch jetzt zeige, wird euch das vertreiben? Oder werdet ihr bleiben? Auch wenn es euch wehtut, auch wenn ich versuche, euch hinauszustoßen. Werdet ihr zurückkehren und mich daran erinnern, wer ich wirklich bin?“ (übersetzt aus dem Lied 'Dark Side' von Kelly Clarkson) Als Erik wieder zu sich fand, saß er noch immer auf dem Boden, nur dass der Boden nicht länger derselbe war. Noch ehe er sich umgesehen hatte, wusste er instinktiv, dass hier etwas völlig falsch war. Er fand sich in einer seltsam entstellten Realität wieder: Eine Ebene – grau – die in undefinierbarer Ferne in formlose Nebelschwaden überging. Das musste wieder eine Wahnvorstellung sein, eine Ohnmacht. Daran bestand kein Zweifel, denn alles hier wirkte wie ein verzerrter Traum. Doch fühlte es sich so fremd an, als wäre er in den Traum eines anderen eingedrungen. Erik stand auf. An diesem Ort zu verweilen, widerstrebte ihm. Etwas war unheimlich hier, als würde ihn etwas bedrohen, etwas Undefinierbares, das ihm auf merkwürdige Weise völlig vertraut und völlig fremd vorkam. Wie eine kranke Erinnerung, die nicht seine eigene war. Ohne darüber nachzudenken, setzte er einen Fuß vor den anderen, ging weiter und weiter, als würde ihn etwas rufen, anziehen, ihm etwas sagen und sich doch nicht offenbaren wollen tief in den Schwaden des mysteriösen Nebels. Seine Sinne wurden in schläfrige Betäubung gewiegt. Halb in Trance brach er durch die dichten Nebelschwaden, wo die Umgebung plötzlich heller wurde. Das Grau der Dämmerung. Er hörte jemanden sprechen, nicht weit von dem Punkt, an dem er stand, und folgte den Geräuschen. Indem er die nächste Nebelbank hinter sich ließ, fand er sich in einem Schulhof wieder. Mehrere Schüler wuselten umher. Als einer ungebremst auf ihn zu lief, schritt er geisterhaft durch Erik hindurch. Bestürzt griff Erik nach seinem eigenen Körper, als müsse er sicherstellen, dass er noch aus Fleisch und Blut bestand. Er versuchte, sich zu beruhigen. Was er sah, war die Illusion, nicht er selbst. Er ließ den Gedanken fallen. Etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Auf einer einen halben Meter hohen Mauer oder Sitzgelegenheit – Erik konnte nicht genau sagen, um was es sich handelte – stand Serena und strahlte. Sie war weit schmächtiger als er sie kannte und ihre Gesichtszüge waren deutlich kindlicher. Er schätzte sie auf elf. Sie unterhielt sich gerade mit leuchtenden Augen mit zwei anderen Mädchen, die nicht nur aufgrund des Umstandes, dass Serena auf der Erhöhung stand, deutlich kleiner waren als sie. Offenbar gab sie in begeisterten Worten den Inhalt einer Anime--Serie wieder, was sie mit einer expressiven Armgestik untermalte, die selbst Vitali Konkurrenz gemacht hätte. Erik konnte sich nicht entsinnen, sie jemals auf so überschwängliche Weise agieren gesehen zu haben. All die Unschuld, die er nur Tage zuvor in ihrer ängstlichen Miene zu erkennen geglaubt hatte, sprach hier aus jeder ihrer Bewegungen, als habe sie nichts zu verstecken. Wie naiv. Das eine Mädchen kicherte. „Serena, du bist so kindisch.“ Serena lachte heiter und tänzelte über die Mauer. „Darüber könnte ich den ganzen Tag reden!“ Das Mädchen bekam einen höhnischen Ton in der Stimme, kaschiert durch eine fröhliche Verspieltheit. „Das kann ich mir denken.“ Erik hasste diesen Ton. Er hatte ihn zu oft gehört in seinem Leben. Serena strahlte. Unwillkürlich trat Erik vor, wie um Serena zu warnen, aber bevor er sie erreicht hatte, löste sich das Bild auf. Er drehte sich um und stand mit einem Mal in einem Klassenzimmer. Serena stand mit ihrem Rücken zu ihm, vor einer Bank, an der die beiden Mädchen von zuvor saßen. Sie schien versteinert. „Wir haben ausgemacht, dass Isabelle dieses Jahr neben mir sitzt. Tut mir leid.“ „Aber wieso habt ihr nichts gesagt?“, fragte Serena. „Vergessen.“ Serena rührte sich nicht. „Da hinten sind noch Plätze frei.“ Serena hob kurz den Kopf. Erik konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber allein ihre Körperhaltung sagte ihm, wie sie sich fühlte. Zu groß für ihr Alter, zu groß, als dass es zu ihrem kindlichen Gemüt gepasst hätte, stand sie hilflos da, als hätte man sie in eine Welt gestoßen, deren Regeln sie nicht verstand, als würde man Dinge von ihr erwarten, deren Sinn ihr nicht begreiflich war. Sie torkelte hilflos in die letzte Reihe und setzte sich. Tränen bahnten sich ihren Weg ihre Wangen entlang. Die Mädchen, die vor ihr saßen, bedrängten sie daraufhin mit Fragen, offensichtlich besorgt. Doch ihre Freundlichkeit schien Serena eher noch zu verstören. Obwohl sie ihnen antwortete, machte sie dabei eine verletzliche Miene, an der die netten Worte der Mädchen nichts ändern konnten. Zum ersten Mal glaubte Erik nun etwas in ihrem jungen Gesicht zu sehen, was sie auch in ihrer sechzehnjährigen Form besaß. Diese ängstliche Verschlossenheit, ein Wissen, betrogen zu werden, das schon zuvor dagewesen sein musste, noch tiefer liegen musste. Die Tür zum Klassenzimmer wurde geöffnet, doch als Erik sich umdrehte, sah er einen anderen Raum, aus dessen Inneren Serena gerannt kam. „Wartet!“, schrie sie laut. Erik sah noch wie ihre beiden Freundinnen um die Ecke rannten und kicherten. Serena stürzte hinterher und schrie den Namen des einen Mädchens, obgleich viele andere Schüler umherstanden. Plötzlich rutschte sie aus und knallte zu Boden. Die Umstehenden gafften sie an. Mit eingezogenem Kopf versuchte sich Serena aufzurappeln. Ihr Körper war verkrampft vor Scham. Sie kam wieder auf die Beine und schrie den Namen des Mädchens noch schriller als zuvor. Erik lief ihr nach, die Treppen hinunter. Bei Serenas Geschwindigkeit musste er sich nicht sonderlich beeilen. Sie war offenbar noch nie sportlich gewesen. Hilflos sah sie sich auf dem großen Schulhof um, entschied sich für eine Richtung und lief den Weg entlang zu einem kleinen Platz, grün bewachsen, wo die beiden Mädchen saßen. „Wieso seid ihr weggelaufen?“, fragte sie atemlos. Die beiden kicherten bloß. „Du brauchst uns ja nicht hinterherlaufen.“ „Lieber klein und zackig als groß, dumm und dappig.“, sagte eine von ihnen. Erik biss die Zähne zusammen. Serenas Haltung konnte er ansehen, wie sehr der Satz sie traf. Sie konnte doch nichts für ihre Größe. Plötzlich lösten ihre Freundinnen sich auf. Serena lief den Weg zurück, allein. Eine aus dem Nichts erschienene Lehrerin sprach sie an. „Wieso bist du so alleine?“ „Eva-Maria ist heute krank.“ „Du könntest doch mit den anderen Mädchen laufen.“ Serena sah beschämt zu Boden. Erik glaubte ihre Gedanken überdeutlich zu hören: ‚Ich bin nicht wie die anderen.‘ Das Bild wandelte sich und Serena saß alleine in einer Bank. Nicht in einem Klassenraum, sondern in der Leere stehend, während schwarze Schemen an ihr vorüber zogen. Ohne Charakter, ohne Existenz. So saß sie da, blinzelte. Gefangen in einem Karussell von Andersartigkeit. ‚Ich bin anders. Ich bin anders. Anders. Anders…‘ Erik wollte auf sie zugehen und ihr sagen, dass das nicht stimmte, doch allein der Gedanke daran, ließ seinen Mund austrocknen, etwas wehrte sich so vehement gegen ihn, dass er den Druck auf seinem Körper spürte wie eine riesige Hand, die ihn zerquetschen wollte. ‚Komm mir nicht zu nahe!‘ Noch einmal, lauter, schriller, hilfloser: ‚KOMM MIR NICHT ZU NAHE!‘ Erik bekam keine Luft mehr. Er wollte ihr sagen, dass sie aufhören sollte, aber er konnte nicht. Plötzlich packte ihn die Wut. Er war nicht der Grund, dass sie so war! Sie hatte kein Recht, ihn dafür leiden zu lassen. „Hör auf!“, brüllte er. Seine Umgebung verschwand. Justin stand am hinteren Ende eines Klassenzimmers, das nicht seines war. Die Schüler, die mit dem Rücken zu ihm saßen, waren auch zu jung, um am Wirtschaftsgymnasium zu sein. Sie waren vielleicht dreizehn, vierzehn. Es schien Pause zu sein, denn sie unterhielten sich angeregt. Justin war verwirrt. Er fand nur eine Erklärung für diese plötzliche Vision: Seine Fähigkeit, Erinnerungen zu sehen, musste wieder eingesetzt haben und zwar weit intensiver als das Mal zuvor. Plötzlich erregte eine Person, die allein in der zweiten Reihe von hinten an der Fensterseite saß, seine Aufmerksamkeit, so als hätte er sie schon einmal gesehen. Unsicher, ob er sich überhaupt bewegen können würde, trat er ein paar Schritte vor. Je näher er dem Mädchen mit den langen braunen Haaren kam, desto mehr wuchs die Ahnung in ihm zur Überzeugung heran, dass das Serena sein musste. Ihre Körperhaltung war verkrampft, ihre Schultern weit nach oben gezogen wie in einer Schutzhaltung. Ihr Kopf war leicht gesenkt. Ehe er sie ganz erreicht hatte und ihr Gesicht sehen konnte, wurde plötzlich etwas von hinten auf ihre Bank geworfen. Er erkannte erst auf den zweiten Blick, dass es sich nicht um eine Granate oder sonstige Waffe, sondern um ein Bonbon handelte. „Hier! Gegen den Mundgeruch.“, rief eine Stimme von der hinteren Bank. Justin drehte sich um und sah zwei Mädchen in der Bank sitzen. Sie wirkten etwas älter. Die eine war relativ hübsch, die andere groß und stark. Doch beide hatten diese harte Ausstrahlung. Er sah wieder zu Serena oder zu derjenigen, die er für Serena hielt. Sie regte sich nicht. „Hey! Willst du heut nicht mit uns reden?“, rief das zweite Mädchen. Justin konnte den Ton nicht ganz identifizieren. Es klang nicht einfach höhnisch und auch nicht bloß drohend, es hatte etwas Tonloses, das man nicht richtig einzuordnen wusste. Die Größere begann wieder zu sprechen. „He, wann ist dein Geburtstag? Wir würden dir gern was schenken.“ „Ja, damit du nicht mehr so stinkst.“ Als Serena noch immer nicht reagierte, schoben die beiden Mädchen ihren Tisch näher an sie heran. Serena wirbelte herum und sprang auf. „Lasst mich in Ruhe!“ Sie stieß den Tisch der beiden mit aller Kraft zurück, sodass das Handy der einen auf dem Boden landete. Die beiden Mädchen schrien. „Hast du sie noch alle?“ Die beiden sahen Serena an, als wäre sie eine wild gewordene Irre, die ohne jeglichen Grund aggressiv wurde. Die Schlankere von beiden stand auf, um ihr Handy vom Boden aufzuheben. Sie sah ehrlich bestürzt aus. „Warum hast du das gemacht?“, rief sie verständnislos. Davon verschüchtert, entschuldigte sich Serena. Aus ihrem Gesicht sprach die jähe Reue. Ängstlich beugte sie sich zu dem Mädchen. „Ist es noch ganz?“ Das Mädchen sah sie an, als hätte Serena ihr eine Ohrfeige gegeben. Es sagte nichts. Die zweite sprach. „Wir versuchen nur nett zu dir zu sein!“ Plötzlich verschwamm das Bild vor Justins Augen und bildete sich neu. Mit einem Mal stand er in dem Vorraum der Mädchentoiletten. Serena stand dort, von einigen Mädchen umringt. „Hör mal, Serena, wir wollen dir was Gutes tun.“ „Ja.“, stimmte eine andere zu. „Wir wollen dich aufstylen, damit du nicht mehr so langweilig aussiehst.“, erklärte eine weitere. „Wir schminken dich.“, sagte eine, die nicht so aussah, als würde sie viel davon verstehen. „Und deine Klamotten solltest du ändern.“ Serena stand da und hörte aufmerksam zu. Wieder wechselte die Umgebung. Nun stand Justin in einem Bus. Es musste sich um den Bus handeln, der Klassen zum Sportunterricht fuhr, denn die Insassen waren alles Schüler mit Sporttaschen. Serena stand vor ihm. Mit ihrer bunten Jacke stach sie aus der Masse heraus. Auch ihr Rucksack mit dem verspielten Muster ließ sie kindlicher erscheinen als ihr großer Wuchs es vermuten ließ. Neben Serena saßen die beiden Mädchen von zuvor. „Wo sind deine Freunde?“, fragte die Größere. Serena schwieg. Justin lief vor sie, um ihr Gesicht zu sehen. „Hast du keine Freunde?“ Serenas Blick ging nach vorne. Justin folgte ihm und sah die Mädchen, die er eben um sie herum gesehen hatte. Er besah sich nochmals Serenas Gesicht. Sie hatte den Blick wieder gesenkt, als würde sie niemanden dadurch beschämen wollen, indem sie behauptete, mit ihm befreundet zu sein. Ihre angeblichen Freunde schienen dem zuzustimmen, keinen interessierte es, wie Serena hier stand. Sie war ganz allein in einem Bus voller Leute. „Weißt du, warum dich keiner leiden kann? Weil du komisch bist.“ Die Aussage machte Justin wütend. Und dass Serena diesem Gerede ausgesetzt war, machte ihn noch wütender. „Lasst sie in Ruhe!“, schrie er die beiden Mädchen an, auch wenn er wusste, dass sie ihn nicht hören konnten. Er wandte sich wieder Serena zu. „Serena.“ Sie reagierte nicht. Natürlich nicht. Das hier war längst geschehen. Die Vergangenheit konnte er nicht ändern. Vivien rannte. Sie rannte der Gestalt hinterher, die wie ein Phantom durch die Dunkelheit vor ihr geisterte. Der Weg, auf dem sie lief, war links und rechts von Straßenlaternen gesäumt, die ihr kränklich gelbes Licht auf den Boden fallen ließen und an ihr vorbeizogen. „Serena!“, schrie sie. Sie wusste, dass sie hier in Serenas Welt sein musste. Das war das einzige, was Sinn ergab. So wie Serena damals in Vitalis Seelenwelt gelandet war, war Vivien jetzt in Serenas gezogen worden. Mit dem Unterschied, dass Serenas Unterbewusstsein sie zu leiten schien. Vielleicht hatte Serena sie und die anderen ja deshalb hier hineingesogen – um ihnen etwas Wichtiges zu zeigen! Vivien rannte weiter, doch wurde ihr klar, dass das Rennen nichts nutzte. Sie würde ewig dem unendlich gewundenen Weg durch die Dunkelheit folgen. Sie blieb stehen. „Serena! Serena, wenn du mir etwas zeigen willst, dann tu es! Ich werde dir zuhören.“ Für einen Moment geschah gar nichts. Kein Ton war zu hören. Um Vivien herum gab es nur eine undefinierbare schwarze Weite jenseits des Lichtes der Straßenlaternen. Etwas Unheimliches ging von diesem Unbekannten aus. Vivien kratzte ihren Mut zusammen. Sie musste die Straße verlassen. Ihr Herz klopfte laut, als wolle es sie warnen, nicht vom rechten Weg abzukommen. Sie kam sich vor wie Rotkäppchen. Aber wie unbedeutend wäre das Märchen geworden, wenn sie dem Wolf nicht begegnet wäre. Vivien machte den ersten Schritt weg von der Straße. Sofort ging ein Schauer über ihren Rücken, sie bekam eine Gänsehaut. Sie schüttelte die Angst ab. „Serena! Ich lass dich nicht alleine!“, schrie sie und lief los in die Finsternis. Kapitel 77: Heilig - Für immer allein ------------------------------------- Heilig – Für immer allein „Das hebräische Wortfeld, das dem deutschen Begriff 'heilig' korrespondiert, ist hauptsächlich von der [hebräischen] Wortwurzel ['q-d-sch'] samt ihren Derivaten besetzt. Die Idee, die dieser Wortwurzel zugrunde liegt, bedeutet zunächst 'getrennt sein', 'anders sein'.“ (Dr. Jörg Sieger) Ariane lief durch einen Kellerraum, der sie an ein unterirdisches Requisitenlager erinnerte, wie es sie in Theatern gab, – oder an eine Asservatenkammer oder das Lager von Terroristen in einem Actionfilm. Dass sie sich plötzlich an einem unbekannten Ort wiedergefunden hatte, konnte sie längst nicht mehr schocken. Das gleiche war schließlich passiert, als sie mit den anderen versucht hatte, den Weg zu ihren Wappen wiederzufinden. Vielleicht war das hier etwas Ähnliches. Damals hatte die Umgebung eine bestimmte Bedeutung gehabt. Mit Sicherheit hatte sie hier eine Aufgabe zu erledigen. Sie musste nur richtig auf das reagieren, was die Umgebung ihr zeigte. In den Räumlichkeiten war vieles eingelagert. Abgesehen von den hohen Schränken waren die Wände kahl, das Licht gelblich. Die Verwahrstücke waren in Kartons – über und über mit Klettband beklebt – und in sonstigen starken Verpackungen jedweder Form gesichert worden. So fest eingewickelt, dass nicht ersichtlich war, was sich im Inneren befinden mochte. An der einen Wand sah sie einen Plattformwagen stehen, auf dem weitere lange Pakete aus Pappkarton lagen. Es konnte sich dabei sowohl um Einbauregale, wie auch um Maschinengewehre oder etwas völlig anderes handeln. Etwas an diesem Inneren faszinierte Ariane und sie konnte nicht anders als sich über das mit Geheimnissen angefüllte Abenteuer in diesen Kellerräumen zu freuen. Neugierig lief sie durch die meterhohen Regale. Pakete in den unterschiedlichsten Größen waren darin verstaut. Sie ließ ihrer Fantasie freien Lauf und erfreute sich an den unzähligen Möglichkeiten, was sich in den Paketen befinden konnte. Vielleicht waren es Plastikblumen, vielleicht Kostüme für eine Gala, vielleicht Degen und Schwerter. Strahlend schlenderte Ariane durch die Gänge und drehte sich um die eigene Achse. Vielleicht waren es Bücher, viele alte Bücher, oder neue Bücher, vielleicht alchemistische Bände, Bände über Schwarze Magie, Teufelsbeschwörungen, vielleicht auch eine Bibel, ein Koran, vielleicht weiße Schleier und Kerzen, Spitze und Marienbilder, Engelsstatuen und Dämonenskulpturen, Totenköpfe für Hamlet. Freudig lief sie aus der ersten Reihe Regale, bog ab und wandelte durch die nächste. Dieses Mal schneller, denn wer wusste schon, welche Wunder dieser Keller noch für sie bereithielt. Sie flitzte weiter und gelangte zu einem Durchgang. Hier sah es mit einem Mal weniger einladend aus. Das Licht an der Decke hatte offenbar einen Starterfehler und flackerte unangenehm. Außerdem war es hier dunkler. Mit Bedacht trat Ariane in den Gang. Links gab es mehrere Räume. Wenige Meter weiter vorne ging rechts ein Weg ab, der sich nach kurzem Rechtsschlenker wieder nach vorne ausrichtete. Ariane überlegte, dem Weg zu folgen, aber die Räume interessierten sie. Sie wollte wissen, womit sie aufwarteten. Sie drehte sich zum ersten Raum links und öffnete vorsichtig die Tür, lugte zunächst hinein, ehe sie die Tür ganz öffnete, um Licht aus dem Gang hineinfallen zu lassen. Dennoch konnte sie nichts erkennen. Mit behutsamen Schritten trat sie in den dunklen Raum, in dem ihre Schritte augenblicklich zu hallen begannen. Sie tastete nach einem Lichtschalter, fand eine große Buchse und legte den Schalter um. Ein Raum riesigen Ausmaßes in Länge und Höhe breitete sich vor ihr aus. Mit einem Mal kam sie sich klein vor. Sie tat weitere Schritte, bei denen das Echo ungewöhnlich laut erschallte. Hier drinnen mussten Riesen wohnen. Wobei – dafür war die Decke dann doch zu niedrig. Sie war nur etwa vier Meter hoch. Ariane ging weiter und sah an den Wänden ab einer gewissen Höhe Fotos von Kindern hängen, mit einem roten Stift durchgestrichen. Klassenfotos, ebenfalls mit Rot über die gesamten Leute gefahren, jegliche Gesichter unkenntlich gemacht wie in einem Akt der Raserei. Irgendwie hatte der Anblick etwas Verstörendes. Es erinnerte sie auf groteske Weise an die Bilder in Verstecken von Soziopathen wie man sie in Thrillern sah. All diese Fotos mit unkenntlich gemachten Gesichtern machten ihr zunehmend Angst. An manchen Stellen war der rote Stift sogar über die Bilder hinweg über die Wände geschrammt und in einem irren Gekrakel weitergelaufen. Dies wiederum ließ in Ariane die Assoziation zu Horrorfilmen aufkommen, in denen blutverschmierte Sätze an den Wänden des Raumes erschienen. Die rote Farbe des Stiftes war nicht gerade geeignet, diesen Eindruck abzuschwächen. Sie schritt weiter voran und versuchte den Bildern mit den bis zur Unkenntlichkeit beschmierten Personen keine Aufmerksamkeit mehr zu widmen. Dann kam sie an einen Teil der Wand, an dem die Bilder nicht länger erst über Augenhöhe aufgehängt waren. Nun nahmen sie die gesamte Wand ein. Es war die Wand rechts und die Fotos waren nicht länger bekritzelt, das Gesicht der Person war deutlich sichtbar. Unzählige Bilder waren hier liebevoll angeordnet, wie in einer Collage, in die jemand sein Herzblut gesteckt hatte. Bilder, die demjenigen unheimlich wichtig waren. Ariane zuckte zusammen und starrte entsetzt auf das Ausmaß dieses Bilderkunstwerks, das sich über einen Meter fortsetzte. Immer mit Bildern der gleichen Person, wie die Fotosammlung eines Wahnsinnigen. Das waren Bilder von Amanda. Ariane wurde schlecht, sie torkelte zurück, starrte auf die Fotos an der Wand, die in ihrem Kopf leises, unheimliches Flüstern zu erwecken schienen. Unwillkürlich umfasste sie sich selbst, um ihren Körper vor der plötzlich spürbar gewordenen Kälte zu schützen. Automatisch riss sie ihren Kopf in Richtung des Ausgangs, als würde ein wahnsinniger Killer in der Tür stehen, der sie dabei beobachtete, wie sie sein Versteck ausspionierte. Sie musste hier raus! Ariane rannte, rannte durch den Raum, der ihr mit einem Mal viel länger vorkam als zuvor, rannte schneller, war nicht mehr fähig rechtzeitig abzubremsen, stieß gegen die Wand des Ganges, aus dem sie gekommen war, als die Tür hinter ihr wie von Geisterhand zugeschlagen wurde. Panisch drehte sich Ariane um, suchte wild die Gegend ab. Da war niemand. Aber wie war dann die Tür zugegangen? Sie zitterte, ihr Atem war flach und hektisch. Sie musste zur Besinnung kommen. Sie rief sich die Bewegungsabläufe in Erinnerung, die sie bei der Selbstverteidigung gelernt hatte. Die beiden Türen neben der, aus der sie gerade geflüchtet war, standen mit einem Mal offen. Noch einmal blickte sie sich um, ehe sie zaghafte Schritte auf die nächste Tür zu machte, darauf gefasst, einen Angreifer abwehren zu müssen. Doch als sie den Raum erreicht hatte, überfiel sie statt eines Angreifers nur ein befremdlicher Anblick. Der Raum war klein, dunkel, doch etwas weiter hinten brannte eine Lampe, die von der Decke hing und aussah wie die Beleuchtung in einem alten Krimi, wenn die Polizisten die Kriminellen befragten, oder auch die Beleuchtung über einem Billiardtisch, wo sich Ganoven trafen. Dort saßen vier Personen. Eine weitere stand und reichte einer sitzenden einen Gegenstand. Es sah aus wie ein Standbild, wie ein regungsloses Verharren von Schauspielern. Doch diese Schauspieler, diese Szene, war Ariane allzu gut vertraut, da sie sich nur drei Tage zuvor abgespielt hatte. An einem aus zwei Schulbänken zusammengestellten Tisch saßen Amanda, Vivien, Vitali und sie selbst. Justin stand dabei und reichte Amanda gerade seinen Spitzer. Was - ? Ariane betrat den Raum, lief auf das Standbild zu, das sich plötzlich geisterhaft zu bewegen begann. Amanda nahm den Spitzer entgegen. „Dankeschön.“ Ihre Stimme war zuckersüß. „Gern geschehen.“, sagte Justin so strahlend lächelnd, als habe er Vivien und nicht Amanda vor sich. Amanda drehte sich zu Arianes Doppelgängerin und den beiden anderen. „Würdet ihr nicht viel lieber meine Freunde sein als Serenas?“ „Das ist eine gute Idee.“, stimmte die gefälschte Ariane begeistert zu. „Serena meckert eh bloß rum.“, meinte Vitali überzeugt. „Ich bin froh, wenn ich mich nicht mehr mit ihr abgeben muss. Wisst ihr, was sie mir gestern wieder alles an den Kopf geworfen hat? Das hält doch kein Mensch aus.“ Vivien kicherte fröhlich. „Dann kannst du ja mit Amanda zusammenkommen.“ „Als würde ich ihn wollen.“, entgegnete Amanda. Justin lächelte. „Ich fände es schön, wenn wir uns besser kennenlernen würden.“ „Das finde ich auch.“, pflichtete Arianes Doppelgängerin bei. „Amanda passt ohnehin viel besser zu uns, nicht wahr?“ Vivien nickte eifrig. „Ja, sie ist voll lustig!“ Sie kicherte vergnügt. „Vielleicht können wir ja Ewigkeit überreden, Serena auszutauschen, kann ja nicht so schwierig sein.“, brachte Vitali ein. „Selbst wenn sie keine Kräfte hat, stellt sie sich wenigstens nicht so blöd an wie Serena.“ „Ja, Vivien könnte ihr doch mit ihren Fähigkeiten unsere Kräfte übertragen.“, war der Einfall von Arianes Doppelgängerin. „Genau!“, frohlockte Vivien. „Das wäre doch toll!“ Justin nickte ernst. „Dann hätten wir ein richtig gutes Team.“ „Und wir hätten Serena endlich los.“, fügte Vitali an. Sie lachten miteinander. Ariane starrte unwillig auf das Szenario. Was war das für ein perfides Spiel? Wer hatte sich dieses kranke – Sie stieß einen Schreckenslaut der Erkenntnis aus. Sie rannte hinaus auf den Gang, zum nächsten Zimmer. Es war ein heller, weißer Raum, Ariane trat ein. Die Wände waren voller Fotos von ihr selbst und den anderen, sowohl in ihrer normalen, als auch in ihrer verwandelten Form. Die Bilder zeigten sie in den verschiedensten Situationen. Die unterschiedlichsten Gesichtsausdrücke waren zu sehen, Lachen und Freude, Beleidigtsein und Ärger, Ernsthaftigkeit und Trauer, aber vor allem Lächeln. Serena… Ariane spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Kein Platz im Raum war ausgespart, alles war angefüllt mit Momenten, mit Emotionen, mit Liebe. Der Eindruck war so heftig, dass sich Ariane nicht dagegen wehren konnte. Es strömte auf sie ein, dass Serena etwas Heiliges in diesen Bildern sah, etwas, dem gegenüber sie unterlegen war. Nicht Teil davon, sondern ewig zu einer Dienerin degradiert. Hin und her gerissen zwischen dem Wissen um ihren anmaßenden Wunsch, zwischen Göttern weilen zu wollen, und ihrer traurigen Ausgeschlossenheit, abgesperrt im Kloster ihrer Einsamkeit. Wieso sah Serena das so? Das war völliger Unsinn! Ariane betrachtete die mit Bildern tapezierten Wände und die Decke. Vor ihrem inneren Auge erschien Serena, wie sie in gebrochener Haltung auf dem Boden kauerte, in einer pervertierten Huldigung, einer flehentlichen Bitte um Erlösung. Ariane ertrug das nicht länger. Sie hastete wieder hinaus auf den Gang, schnappte nach Atem und konnte den soeben gewonnenen Eindruck immer noch nicht fassen. Nein, so durfte Serena nicht denken! Das war so falsch! Ariane hob den Blick und ermahnte sich weiterzugehen. Sie musste die anderen Räume sehen. Eilig riss sie die nächste Tür des Ganges auf. Sie fand ein kleines Kämmerchen vor, in das man nicht einmal eintreten konnte, da es nur eine Tiefe von wenigen Zentimetern hatte. Das Licht war hier stark gedimmt, es war recht dunkel, aber nicht unheimlich, eher heimelig, irgendwie vertraut, auch wenn es sich seltsam anfühlte. Ariane wurde elend. Die Kammer war Erik gewidmet. Erik, der Serena verstand, Erik, der die gleichen Emotionen mit ihr teilte. Arianes eigene Gedanken unterbrachen den Strom, als ihr die Eingebungen bewusst wurden. Erik die gleichen Emotionen wie Serena? Das war abstrus, das war absurd. Das… Woher wusste er, wie Serena sich fühlte, wieso verstand er ihre Ängste, ihre Wut, ihre Trauer? Ariane konnte die Überlegung nicht weiter verfolgen, etwas in ihr wehrte sich gegen eine Wahrheit, die ihr unerträglich gewesen wäre. Ihr Blick ging wieder zu den Bildern. Wieder setzte der Strom an Emotionen ein, der keinen Sinn mehr ergab, sobald sie ihn zu fassen versuchte. Erik, der Serena festhielt, ohne sie zu berühren, indem er den gleichen Schmerz wie sie trug, indem er das gleiche Eingesperrtsein erlebte. Ariane begriff das alles nicht mehr. Sobald sie versuchte dem mit ihrem Verstand Herr zu werden, verschwamm alles. Erik, der wie Serena litt, Erik, der sie dennoch genauso abstieß wie die anderen. Ariane verstand diesen Satz nicht. Abstoßen? Erneut versuchte sie den Strom einfach fließen zu lassen, spürte sich plötzlich so verschmäht, als hätte ihr jemand einen Schlag gegen die Brust versetzt. Wieso? Sie durfte keine Fragen stellen… Sie starrte die Bilder an, empfand Leere, weiße Leere, sanfte, weiße Leere. Sie schloss die Augen und hielt sich den Kopf, sah wieder auf. Trauer, unermesslich enttäuschende Trauer. Ein Gefühl von Anmaßung, von Kirchenraub, wie sie es eben in dem anderen Raum zu erfassen geglaubt hatte. Serena hatte keinen Anspruch. Erik war genauso fern von ihr wie die anderen. Obgleich er ihr so nahe schien, obgleich er ihre Schmerzen teilte, obgleich sie seine Seele berühren konnte ohne Angst, gab sie den Versuch ohne Weiteres auf, als würde ein ungeschriebenes Gesetz, ein selbst auferlegtes Gebot der Hochachtung, ein Gebot der Aufrichtigkeit, sie dazu zwingen, von diesen lächerlichen Träumen und Fantasien abzulassen, die doch nur sinnlos waren, verschwendet. Der Strom versiegte. Die Kammer hatte ihren Geist ausgehaucht. Ariane schnappte nach Atem und sah sich in dem Gang um. Schließlich richtete sie sich auf und ließ sich von ihrem Instinkt leiten. Sie wurde weiter geführt, an weiteren Türen vorbei, weiter, noch weiter, noch – bis sie eine Tür fand, von ihr angezogen wurde, nicht mehr dachte, einfach nur nach der Klinke griff und sie öffnete. Schluchzen. Auf dem Boden kauerte in der Finsternis Serena, wimmerte. Ihr Schluchzen hallte von den in der Schwärze liegenden Wänden wider, als befänden sie sich in einer Grotte und Serena sei die darin befindliche Marienstatue. Ariane wankte hinein, wollte nach Serena greifen, sie festhalten, aber die vermeintliche Serena war nichts als ein holografisches Bildnis, Ariane fasste durch sie hindurch, konnte sie nicht berühren, sie nie erreichen, während die Schluchzer um sie herum widerhallten. Ariane brach in Tränen aus. Vitali wusste beim besten Willen nicht, wo er hier war. Was sollte das? Genervt starrte er nach vorne. Es konnte doch nicht sein, dass er eben noch in der Schule vor der ohnmächtigen Serena gestanden hatte, und plötzlich sonst wo war! Vielleicht hatte er sich wieder versehentlich teleportiert. Aber wie hätte er sich hierher teleportieren können, wo er nicht einmal wusste, wo hier war! Also das hatte er sich ganz sicher nicht vorgestellt. Er stand vor einer Tafel, die wie ein Pult vor ihm angebracht war und ihn unangenehm an die Schautafeln in einem Museum erinnerte. Er nahm das Schild in Augenschein und konnte nicht sagen, ob es sich bei den zwei parallellaufenden Linien und der Beschriftung darauf um einen Zeitstrahl oder um eine Übersicht der Museumsräume und deren Ausstellungsstücke handelte. Er nahm sich auch nicht die Zeit, dem mehr Beachtung zu schenken. Links führte der Weg offensichtlich in die Ausstellungsräume. Vitali stöhnte. Na toll. Wie konnte er bloß in einem Museum landen? Er hasste Museen! Vitali dachte nicht länger nach. Er folgte dem Weg in die Ausstellungsräume, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, einen anderen Ausgang zu finden oder sich zurückzuteleportieren, als blockiere etwas seine Gedanken. Er wunderte sich nicht länger über die fremde Umgebung, lief einfach dem vorgefertigten Weg nach, als sei es das Logischste. Als existierten keine Alternativen. Als er die Schwelle zu den Ausstellungsräumen überschritt, ertönte eine Art Durchsage. „Wirst du es mir irgendwann erzählen? Was zwischen euch passiert ist?“ Er fand diese Effekthascherei echt peinlich. Was sollte ihm denn das jetzt sagen? Außerdem klang der Sprecher unnötig emotional, total unmännlich! Hm, aber wenn in diesem Museum verschiedene Sinne angesprochen wurden, vielleicht würde es dann ja auch was zu Essen geben. Seine Laune besserte sich augenblicklich. Und fiel wieder steil ab, als sein Blick endlich auf das fiel, was hier drinnen ausgestellt wurde. Befremdet musste er feststellen, dass es sich um zahlreiche bühnenähnliche Plattformen in Schaukästen handelte, jeweils links und rechts. Ihr Boden befand sich etwa einen Meter über dem Grund, auf dem er stand. Die einzelnen Abschnitte der Ausstellungsreihe waren durch hohe weiße Wände voneinander abgetrennt, um das Ganze in einzelne Entwicklungsphasen einzuteilen. Auf den Podesten waren lebensechte Umgebungen eingerichtet und innerhalb dieser standen Menschen nachempfundene Figuren. Vitali riss seinen Blick von der rechten Einrichtung zu der linken, dann nach vorne, wo er Einblick in die noch vor ihm liegenden Abteile nehmen konnte. In allen befanden sich zwei menschliche Wachsfiguren, die seltsamerweise nicht Napoleon oder Höhlenmenschen oder Berühmtheiten darstellten, sondern Amanda und Serena. Wo zum Teufel war er hier gelandet? Was für ein gestörter Mensch hatte das hier eingerichtet?! Er raffte es nicht und hatte auch nicht wirklich Lust, sich diese Ausstellungsfenster genauer anzusehen. Was sollte das? Wenn er irgendwann erfahren sollte, was zwischen Serena und Amanda gelaufen war, dann von Serena selbst! Plötzlich stockte er, lief dann zurück zum Eingang der Galerie und überquerte nochmals die Schwelle. „Wirst du es mir irgendwann erzählen? Was zwischen euch passiert ist?“ Vitali starrte nach oben, als könne er dort irgendwen entdecken. Jemanden, der sich einen Scherz daraus machte, ihm seine eigene Äußerung vorzuspielen, die er damals gemacht hatte, als Serena aus dem Hauptquartier gestürmt und in Tränen ausgebrochen war. Sein Blick wanderte zurück zu den Exponaten. Wie in Trance lief er langsam auf diese zu. Er besah sich das rechte Ausstellungsstück. Zwischen ihm und den Wachsfiguren befand sich keine Scheibe. Wären die Figuren von Serena und Amanda nicht ein paar Meter entfernt gestanden, hätte er sie berühren können. Er betrachtete die beiden. Sie saßen in einem Klassenzimmer, soweit er das einschätzen konnte, doch außer ihren beiden Bänken war nichts und niemand zu sehen. Die beiden Bänke waren parallel zu ihm angeordnet, sodass er von der Seite auf sie blicken konnte. In der Vorderen saß Amanda, in der Hinteren Serena. Amanda hatte eventuell längere Haare als heute, Vitali war sich da aber nicht so sicher. Serena sah ziemlich gleich aus. Sie machte ein böses Gesicht wie immer. Er entdeckte eine Informationstafel rechts von ihm: Ende 8. Klasse. Plötzlich kam ein Geräusch von der Ausstellungseinrichtung, sodass Vitali eilig den Kopf hob. Wie in einem Märchen-Schaukasten, in den man Geld warf, um das Spiel der Figuren zu sehen, kam schlagartig Leben in die beiden Wachsfiguren. Mit einem Mal sahen sie alles andere als wächsern aus. Amanda drehte sich zu Serena um. Letztere hielt den Blick gesenkt und kritzelte auf ihrem Block herum. „Kannst du mir ein Pikachu malen?“, fragte Amanda. Serena sah sie skeptisch an und schlug die Augen wieder nieder. „Ich meine das ernst.“, sagte Amanda. „Ich mag auch Animes.“ Immer noch misstrauisch nahm Serena sie abermals in Augenschein. Amanda nannte ihr einen Titel, Vitali verstand ihn nicht. War wohl der Name eines Animes. Sie fragte Serena, ob sie diesen auch kenne. Zaghaft nickte Serena. Amanda kam ins Schwärmen und kicherte mit ihrer zuckersüßen Stimme. Unverhofft erkannte Vitali eine ihm völlig fremde Regung auf Serenas Zügen. Noch nie hatte er sie so lächeln sehen. Nicht dass er behaupten konnte, ihr lächelndes Gesicht gut zu kennen, aber dieses Lächeln war darüber hinaus auch noch so sanft und ängstlich, dass sie ihn grässlicherweise an ein argloses Lamm erinnerte. Mit diesem Bild endete die Szene. Vitalis Augen waren noch immer auf Serenas Gesicht fixiert. Wie konnte er sie kennen und doch nie einen solchen Ausdruck bei ihr gesehen haben? Er kannte ihr ängstliches Gesicht, ihr trauriges und konnte sich mit Fug und Recht einen Spezialisten auf dem Gebiet ihres wütenden Gesichtsausdrucks nennen. Aber ein solches Gesicht hatte er nie an ihr gesehen. Allgemein schaute sie eh immer bloß so, als wäre er ihr zutiefst zuwider oder – in diesen besonders unangenehmen Momenten ihrer Heulattacken – als würde er sie einschüchtern. Wieso bitteschön sah sie dann Amanda auf diese Weise an? Vitali drehte sich um und schritt auf die gegenüberliegende Konstruktion zu. Hier befand sich kein Informationsschild, aber dieses Mal setzte sich die Szene bereits in dem Moment in Gang, als er in ihren näheren Bereich trat. Amanda und Serena standen in einer Küche mit Essbereich, die er nicht zuordnen konnte. Amanda machte den CD-Player an und ließ über Bluetooth Musik von ihrem Smartphone abspielen. Daraufhin begann sie zu tanzen. Serena, die am Tisch saß, lachte heiter. Der Laut klang so fremdartig, dass er ihn erst gar nicht mit Serena in Verbindung brachte. Schließlich hatte er sie noch nie lachen hören! Er wusste gar nicht, dass sie dazu in der Lage war!!! Außerdem war es ein so mädchenhaftes Kichern, dass er daran zweifelte, dass es zu ihr gehören konnte. Aber von der Synchronität zwischen ihrer Körperbewegung und dem Gelächter, sowie davon ausgehend, dass Amandas Mund geschlossen war, musste das Lachen von Serena stammen. Amanda hielt Serena die Arme hin und forderte sie damit auf, sich ihr anzuschließen. Serena ergriff ihre Hände und stand auf. Amanda ließ sie los und entfernte sich tanzend ein Stück von ihr, indem sie ihre Hüften schwang und ihre Arme im Rhythmus der Musik bewegte. Was bei Amanda lasziv und geschmeidig aussah, wirkte bei Serena eindeutig deplaziert. Vitali prustete los und hielt sich den Mund zu, als dürfe sie sein Gelächter nicht hören, und sah wieder auf. Allein die Kleidung der beiden machte einen Unterschied. Amanda hatte ihr T-Shirt so verknotet, dass sie bauchfrei war. Ihre schmale Taille passte sich gekonnt den Tönen der Musik an. Serena in ihrem T-Shirt mit dem Tribal-Aufdruck und ihren mehr leger als eng anliegenden Jeans sah dagegen eher plump aus, was nicht zuletzt an ihrer ganzen Ausstrahlung liegen mochte. Wo Amanda aufrecht stand, erhobenen Hauptes, wirkte Serena stets etwas geduckt. Dennoch war Vitalis Blick auf Serena fixiert. Er konnte nicht davon ablassen, bei ihren Tanzbemühungen zu grinsen. Sie und Amanda tanzten umeinander und Serena schien es wider Erwarten Spaß zu machen. Er hatte sie noch nie so lächeln gesehen. Sie wirkte tatsächlich glücklich. Die Figuren gefroren, die Szene war vorbei. Vitali sah noch immer Serenas fröhliches Gesicht und konnte nicht umhin, etwas Unangenehmes zu verspüren. Es war nicht schön, Serena so zu sehen, als habe Amanda für sie eine größere Bedeutung als er und die anderen, als würden sie Serena nie auf die gleiche Weise erreichen können, als wäre diese Tür für immer zugetan. Das gefiel ihm nicht. Je mehr er dargeboten bekam, desto mehr wollte er wieder seine Tiny haben. Für diese hier existierte er gar nicht! Sie hatte nur Augen für Amanda. Er wandte sich ab und ging zu einer anderen Installation. Sie zeigte Serena in ihrem Zimmer. Sie hielt den Telefonhörer ans Ohr. Ihre Stimme war so freudig und beseelt, dass sie ihn mehr an Ewigkeit erinnerte als an Tiny. „Morgen fängt die Schule wieder an. Dann sehen wir uns endlich wieder!“ Amandas Antwort drang bis zu ihm. „Aber mach nicht wieder so ein Theater in der Schule. Das ist peinlich.“ Serenas Mundwinkel fielen herab. „Du brauchst dich ja nicht so überschwänglich freuen, wenn wir uns sehen.“, fügte Amanda an. Vitali glaubte zu sehen, wie Serena Tränen runterschluckte. „Okay.“ In dem nächsten Fenster standen Serena und ihre Mutter in der Küche ihres Hauses. „Du weißt, ich trau ihr nicht. Es ist doch nicht normal, dass sie nie zu dir kommen darf.“, sagte Frau Funke. „Ihre Mutter ist halt streng.“ „Dafür trägt sie aber ziemlich kurze Röcke.“ „Mama!“, rief Serena empört. „Ist doch wahr. Serena, ich will nur nicht, dass du enttäuscht wirst.“ „Danke.“, sagte Serena mit verkniffenem Mund und ließ ihre Mutter stehen. Vitali wandte sich ab, wollte weitergehen, als plötzlich die Beleuchtung ausfiel und ihn in Finsternis tauchte. Ein Satz hallte wie ein Gespenst durch den Raum. „Wir können keine besten Freunde mehr sein.“ Schlagartig zersplitterte Glas um ihn herum, ein Klirren und Krachen dröhnte in seinen Ohren, er warf sich zu Boden und schützte sich mit seinen Armen. Die Schwärze um ihn herum explodierte. Ein Knallen und Tosen, ein Donnern und Grollen, ein allumfassendes Zerbersten. Der Boden zitterte, drohte sich aufzutun und ihn zu verschlingen. Leuchten fielen von den Decken, er hörte sie in der Schwärze zu Scherben zerspringen. Er musste hier raus, bevor die Decke über ihm zusammenbrach! Er schleppte sich voran, selbst auf allen Vieren konnte er kaum das Gleichgewicht halten. Die gesamte Welt schien aus den Fugen zu geraten. Dann ging ein rotes blinkendes Licht im ganzen Raum an, wie der Alarm zu einer Katastrophe. Das Blinken machte Vitali noch verrückter, der ständige Wechsel zwischen Schwärze und Röte raubte ihm vollkommen die Orientierung. Er drohte umzukippen, wusste gar nicht mehr, in welche Richtung er überhaupt kippen konnte, ob er nicht in die Leere stürzen würde. Alles drehte sich. Schwarz, Rot, Schwarz. Ihm wurde schlecht. Die Erde bebte und er fiel. Unwillkürlich war Vivien langsamer geworden. Die Schwärze, in die sie immer tiefer hineinlief, war zwar nicht völlig undurchdringlich, aber die Schemen, die das nicht zu identifizierende Licht heraufbeschwor, wirkten alles andere als vertrauenerweckend. Ihre Fantasie begann ihr Streiche zu spielen. Dann hörte sie einen Schrei. Sie rannte los, weiter geradeaus, in die Richtung von Serenas Stimme. Wie von einem plötzlichen Vollmond beleuchtet, sah sie, wie Serena von etwas verfolgt wurde, einer Gestalt in einer schwarzen Robe. Eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze verdeckte das Gesicht des Verfolgers, in den Händen hielt er eine Sense. Serena rannte, aber schon hatte er sie eingeholt und ließ die Sense erbarmungslos in ihren Rücken fahren. Vivien schrie. Serena war bäuchlings zu Boden gefallen, der Tod hob seine Sense um zum finalen Schlag anzusetzen, im gleichen Moment warf sich Vivien über Serena. Sie zog Serena an sich und versuchte sie wegzuziehen, besudelte sich dabei mit Serenas Blut. Sie durfte nicht darüber nachdenken. Zitternd blickte sie auf zu dem tödlichen Antagonisten. Dieser zog mit einem Mal die Kapuze ab und entblößte darunter Serenas Gesicht. Im gleichen Moment vollführte er eine blitzschnelle Armbewegung, trennte sich mit der Sense den eigenen Kopf ab und stürzte leblos in sich zusammen. Vivien kreischte, warf sich zu Boden und hörte nicht mehr auf zu schreien. Betäubt öffnete Vitali die Augen, schloss sie wieder. Seine Stirn tat weh, als würde eine zentnerschwere Last auf seinen Kopf drücken. Doch sein Bewusstsein drängte zurück an die Oberfläche. Er erwachte und hievte sich auf, woraufhin sein Kopf noch mehr schmerzte. Dann erkannte er, dass er sich auf einem mondbeschienenen Trümmerfeld befand. Um in herum lag Schutt. Der Boden war gesäumt von Bruchstücken. Überbleibsel von etwas, das nicht wert war, erinnert zu werden. Als er aufstand, bröselte Staub von ihm, er hörte Steine auf den Boden kullern. Es knirschte unter seinen Füßen. Vor ihm in einem Kranz aus Ruinen saß eine Person. Im gleichen Moment wusste er, dass es Serena war. Er lief hastig auf sie zu, wurde langsamer, als er sich ihrer eingesunkenen Gestalt näherte. Gebrochen kniete sie in den Trümmern ihrer Trugbilder. Das Licht des Vollmondes beschien ihr Unglück. So leise als möglich stieg er über weitere Schuttberge, trat vorsichtig an ihre Seite, fürchtete sich, sie aus ihrem Leid zu erwecken. Schweigend blieb er einen Schritt von ihr entfernt stehen, wartete, wusste nicht, was er ihr hätte sagen können. Leise Worte zerfielen in der Luft zu einem Hauch von Leere. „Hoffnung ist umsonst. Jedes Mal wird man verraten.“ Vitali konnte nicht antworten, stand nur stumm bei ihr. Er suchte nach einer Lösung, doch ihre edle Gestalt versagte es ihm, sie zu berühren, als würde er damit etwas Heiliges entweihen. In schmerzlicher Perfektion erhob sie sich und wandte sich ihm zu. Vollmondlicht hüllte sie ein, fiel über sie wie ein himmlisches Geschmeide und verlieh ihren Zügen eine grausam fließende Schönheit. Die Melancholie in ihren Augen – ein See gestrandeter Illusionen. Er machte den Ansatz, einen weiteren Schritt auf sie zuzugehen. „Serena…“ Ihre seidene Trauer fiel sanft auf ihn und sie schenkte ihm ein Lächeln, dessen aufgebende Schönheit ihm das Herz zerriss. In einem aufwallenden Gefühl des Trotzes machte er den letzten Schritt auf sie zu und überschritt das Gebot, ihre Einsamkeit unangetastet zu lassen. „Nein!“, rief er entschieden, während seine Arme sie umfassten. Er wusste, dass es falsch war, sie zu berühren, dass er es nicht um ihretwillen tat, dass es allein seiner Hilflosigkeit huldigte. „Tut mir leid.“ Serenas Stimme klang wie das Mondlicht – sanft, erhaben. „Du kannst mich nicht berühren. Niemand kann das.“ In der Pause ihres Atems vergingen Ewigkeiten. „Weil ich es nicht kann.“ Der Hauch ihrer Worte war das einzige, das ihm von ihr blieb, als ihre Gestalt in Nichts zerfloss. Ewigkeit starrte mit einiger Bestürzung auf die zusammengebrochenen Beschützer, die auch auf ihre Versuche, sie zu wecken, nicht reagierten. Erst dann wurde sie der Aura gewahr, die von Schicksal ausging. Interessiert schwebte sie hinüber zu der Beschützerin und blieb über ihr in der Luft stehen. Sie schloss die Augen und lauschte den Schwingungen, die Schicksal aussandte. Ihr Herz zog sich auf eine zerreißende Weise zusammen, als würde alles in ihr in verschiedene Richtungen ziehen. Ewigkeit öffnete wieder die Augen und konnte mit diesem Sinneseindruck nichts anfangen. Für sie war es bloß ein schrecklich unangenehmes Gefühl, das sie jedoch ansonsten nicht einordnen konnte. Doch etwas in ihr reagierte anders. Etwas in ihr wurde auf so intensive Weise davon angesprochen, dass es ihr für einen Moment Angst einjagte. Es durfte nicht an die Oberfläche dringen! Sie zog sich zurück, schwebte über das Waschbecken und umkrampfte ihren goldenen Anhänger. Das Gefühl, das etwas in ihr ausbrechen wollte, ließ nicht von ihr ab. Es war entsetzlich. Sie wollte das nicht. Noch nicht! Langsam kehrte Ruhe zurück in ihren Geist. Als ob die Versprechung einer späteren Erfüllung den Drang in ihr bis auf Weiteres gestillt hatte. Für einen kurzen Moment war sie darüber verwundert. Aber sie hielt sich nicht lange mit Überlegungen auf. Sie musste den Beschützern helfen! Fest entschlossen näherte sie sich ein zweites Mal Schicksal. Ein immenser Sog ging von den Schwingungen um das Mädchen herum aus, der aber immer wieder durch eine Welle der Abstoßung durchbrochen wurde, wie in einem Sturm. Alles wirkte durcheinander. Der Geist der Beschützerin war in Aufruhr. So stark, dass ihre Kräfte völlig verrücktspielten, als drängten sie auf eine Bereinigung der Ursache. Ewigkeit begriff, dass sie das Bewusstsein der anderen Beschützer und des schwarzhaarigen Jungen in sich eingesogen haben musste. Langsam verlor das kleine Etwas an Höhe, sodass nur noch wenige Zentimeter es davon trennten auf Schicksals Brust zu landen. Es konzentrierte sich und hielt sein Medaillon in der kleinen Faust. Sein Anhänger begann zu leuchten. Erik wusste nicht mehr, in was für einer Art Wahnvorstellung er gelandet war. Mit einem Mal war jegliches Zeichen von Serena verschwunden. Die Umgebung bestand nun aus fahlen Dünsten, die wie Wasserdampf in sanft fließenden, flüchtigen Bewegungen langsam nach oben stiegen. Eine endlose Weite blitzte an manchen Stellen wie kurze Erinnerungen hindurch. Weiße Schwaden schlängelten über den Boden und machten dabei den Eindruck verlassener Geschöpfe, die suchten, was zuvor noch da gewesen und nun verschwunden war. Wie Blinde tasteten sie sich voran und wankten über den Grund. In Erik kam der Gedanke auf, ob auch sie Serena suchten. Er ermahnte sich, wieder seinen gesunden Menschenverstand zu benutzen, sonst würde er nur noch länger in dieser Traumwelt verweilen müssen. Üblicherweise wachte er in Kürze auf, sobald ihm klar wurde, dass er träumte. Aber etwas in ihm wehrte sich dagegen aufzuwachen. Er wollte nicht weg von hier. Er hatte hier noch etwas zu erledigen. Ariane hatte versucht, die anderen Räume zu betreten. Doch die Türen waren mit einem Mal verriegelt. Schließlich erreichte sie das jähe Ende des Ganges, nein, des ganzen Gebäudes. Als habe jemand den Rest des Lagers mit einem riesigen Kran unbarmherzig abgerissen, endete die Räumlichkeit schroff in einer deformierten Abriss-Stelle. Ungläubig näherte sich Ariane dem grotesken Durchgang, der sie an eine bestialische Verstümmelung erinnerte. Jenseits abgerissener Betonreste und herausstehender Kabel und Metallträger erkannte sie eine weite Ebene. Dabei war sie sich sicher gewesen, sich in einem Keller zu befinden. Kurz zögerte sie noch, in das Unbekannte hinauszutreten. Dann überschritt sie die Schwelle. Um Justin herum war in allen Richtungen ein grauer Horizont zu sehen. Der Himmel wirkte trostlos und verlassen, als habe sich etwas von ihm zurückgezogen. Ein japanischer Mythos kam ihm in den Sinn, in dem sich die Sonnengöttin in eine Höhle zurückzog und die Welt in Dunkelheit versank. Die Umgebung – zuvor noch bunte Projektionsfläche – war nun zur toten Leinwand verkommen. Ein verlassener Raum im Kino, in eine unwerte Vergessenheit geraten. Einer Sache war er sich gewiss: Serena war diejenige, deren Bewusstsein diesen Raum ausgefüllt und sich mit einem Mal verflüchtigt hatte. Dann erinnerte er sich an die Worte, die er Erik gesagt hatte: ‚Sie braucht Vertrauen.‘ Justin verwandelte sich. Viviens Augen wanderten über den Weg, der keiner war und nirgends hinführte als in die Leere. Von Leere zu Leere. Serena war nicht mehr hier. Sie wollte ihr nicht länger etwas zeigen. Sie hatte sich zurückgezogen und Vivien hier alleine gelassen. Es gab keinen Zweck mehr, zu welchem Vivien hier eingesperrt war. Etwas hielt Vivien davon ab, Worte hervorzubringen. Nichts durfte die feierliche Stille durchbrechen, als würde die Leere um sie herum es nicht gestatten, mit irgendetwas angefüllt zu werden. Genau wie Serena, die sie tagelang davon abgehalten hatte, mit ihr zu sprechen. Sie durfte sich nicht länger davon abbringen lassen! „Serena“, begann sie atemlos. Jedes Wort erschien ihr schwer und kaum aussprechbar. „Ich“ Sie stockte. Warum lag ihr die Zunge so schwer im Mund, wieso band sie etwas? Sie konnte nicht sprechen. Sie griff nach ihrem Mund, doch es half nichts. Wieso brachte sie nicht hervor, was sie hervorbringen wollte? Noch nie war es ihr so schwierig vorgekommen, etwas zu sagen. Auch wenn sie den Mund öffnete, schaffte sie es nicht, etwas zu artikulieren. Sie brach ab. Weder zeigte sich Serena ihr, noch ließ sie sie sprechen. Vivien war völlig wehrlos in diesem Gefängnis, das sie weder hinein noch hinaus ließ. Wieso hältst du mich fest? Wenn Serena sie nicht hier haben wollte, warum hatte sie sie hier hinein gezogen? Wenn Serena sich vor ihr verstecken wollte, sie so weit wie möglich von sich entfernen wollte, warum warf sie sie nicht aus ihrer Seelenwelt? War sie dazu nicht in der Lage? Aber es waren nicht sie und die anderen gewesen, die hier eingedrungen waren. Das war Serenas Fähigkeit. Serena musste es veranlasst haben, ob bewusst oder unbewusst. Wenn Serena sie also hier festhielt trotz all dem, dann konnte das nur einen Schluss zulassen. „Lügnerin!“, schrie Vivien. „Du willst, dass wir dich finden, deshalb versteckst du dich, deshalb quälst du uns. Du willst, dass wir bei dir sind, auch wenn du davor Angst hast.“ Vivien fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Das alles war nichts als ein Test, eine Tortur, mit der sich Serena selbst davon überzeugen wollte, dass die fünf nicht ihre Freunde waren. Und doch hätte sie diese Erkenntnis umgebracht. Vivien sah erneut Serena vor sich, wie sie sich immer wieder in verschiedenen Formen selbst tötete. Alles lief auf dasselbe hinaus: Wenn die fünf aufgaben, würde Serenas Welt zusammenbrechen, und wenn sie nicht aufgaben, dann würde sie sie solange quälen, bis sie es taten. Für Serena gab es kein Entkommen. Und in diesem Irrsinn scheute sie nicht davor zurück, das Leben der fünf aufs Spiel zu setzen, um ihre eigenen zwiespältigen Wünsche in Reichweite zu halten. Sie drehte sich in einem Karussell der Selbstzerstörung, beseelt von einer Besessenheit, in der sie die fünf weder an sich heran noch von sich lassen konnte. Ihr Verlangen war so groß und ihre Abscheu so gewaltig, dass sie nicht anders konnte, als sich selbst dafür zu zerfleischen. Vivien hielt es nicht länger aus. Entschlossen streckte sie den Arm in die Höhe. Sie brauchte keine Worte, um ihr Wappen zu rufen. Das Leuchten, die wache Freude ihres Wahrzeichens floss in ihre Adern, ermutigte sie und hüllte sie in ihre Beschützerkleidung. Breitbeinig mit entschiedenem Blick stand Unite da und ließ ihre Stimme erschallen. „Und wenn du mir noch so viele Schatten schickst! Ich bin eine Beschützerin und ich werde dich beschützen!“ In der Finsternis weitab ihrer Hörweite begann jemand zu weinen und zu hoffen. Kapitel 78: Höhle - Die letzte Zuflucht --------------------------------------- Höhle – Die letzte Zuflucht „Sterben – schlafen – Nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf Das Herzweh und die tausend Stöße endet, […] ’s ist ein Ziel, Aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen –  Schlafen! Vielleicht auch träumen!“ (aus Hamlet von William Shakespeare, 3. Aufzug, 1. Szene, in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel)   Alles um sie herum war dunkel. Die Größe des Raumes war nicht abzuschätzen, noch ob es überhaupt ein Raum war oder eine unbekannte Weite. Die Schwärze selbst konnte die Wand sein, die direkt auf ihren Körper drückte, oder aber eine Leere ohne Halt, ohne Schutz. Mit halb geöffneten, halb geschlossenen Augen, den Blick gesenkt, schwankte sie regungslos in der Finsternis, stand nicht still, bewegte sich nicht, war nicht wach, schlief nicht, war nicht lebendig, war nicht tot, konnte nichts sein. Auf ewig in dem Zwischenstadium zwischen Sein und Nichtsein gefangen. So fand sie Ewigkeit. Bei ihrem Anblick erfasste das Schmetterlingsmädchen ein jähes Grauen. Schicksals Antlitz war ein Spiegel, führte ihr ein Schicksal vor Augen, das sie längst vergessen hatte: ihr Bewusstsein in Ketten, entzwei gerissen, abgetrennt von allem – allein. Von der verheerenden Erkenntnis in Schrecken versetzt, wollte Ewigkeit fliehen, schreien. Tränen bildeten sich in ihren Augen und sie stürzte. Auf unbekanntem Boden kam sie auf. Ihr eigenes Leuchten war erloschen. Und sie glaubte, nicht ihre Hände zu spüren, nicht ihren Körper. Keine Flügel. Ein Säuseln wie aus einem lang gehegten Traum formte sich in ihren Gedanken zu einem verschwundenen Andenken. Finster war es, wo sie sich wieder fand. Sie spürte ihren Körper, ohne sich regen zu können, fühlte die alte Gewohnheit, ihr Zuhause, zurück wo sie herkam. Ihre Augen konnte sie nicht öffnen. Wie scheintot lag sie da. Eine beseelte Hülle, beraubt des Lebens. Von hier stammte sie, doch von hier musste sie fort. Hier konnte sie nichts tun. Hier war sie gefangen. Doch kein Gedanke blieb ewig in Fesseln. Ewigkeit öffnete die Augen. Sanft verströmte sich das Licht ihres Körpers um sie herum. Die feenhaften Schmetterlingsflügel auf ihrem Rücken vollführten eine Bewegung zart wie ein Hauch und ihr Körper erhob sich in die Lüfte, als würde ihr Atem sie nach oben schweben lassen. In der Höhe richtete sie sich auf. Wieder sah sie vor sich Schicksal, versunken in einem See aus Finsternis. Ewigkeit zögerte nicht, flink flog sie auf die Beschützerin zu.   Eingesperrt in einem selbstgezimmerten Sarg, wartete Schicksals Wesen. Wusste nicht, warum es noch wartete, wusste zu genau, worauf es wartete, und hasste sich dafür, dass es wartete. Bei dem Gedanken riss etwas an seiner Haut. Die Vorstellung, den eigenen Körper zu zerfetzen, wurde hier traurige Realität. Aber der Schmerz kam nicht bei ihm an. Das Reißen war nichts weiter als ein Gedankenkonstrukt, das hier lebte und atmete wie Schicksal, wie alles hier lebte und atmete wie Schicksal. „Was machst du?“ Die Stimme, hell und verspielt wie Silberglöckchen, durchschnitt die Finsternis um Schicksals betäubtes Wesen herum wie ein Lichtstrahl. Es drehte seinen Kopf halb in Richtung Ewigkeit. Dann senkte es den Blick und wandte sich wieder ab. „Warum bist du hier allein?“ Der Mädchenkörper kauerte sich noch mehr zusammen. „Sie dürfen mich nicht erreichen.“ „Wer?“ „Sie.“ Bei den Worten erschienen Blickfenster um Ewigkeit und Schicksals Geist herum in der Dunkelheit. Jedes zeigte jeweils einen der Beschützer, auf einem war der schwarzhaarige Junge zu sehen. Sie alle irrten in einer grauen Einöde umher. „Warum nicht?“ Schicksals Wesen wurde immer kleiner. Für Sekunden schwieg es. Stille beherrschte den Raum um sie herum. Ewigkeit besah sich erneut die Blickfenster. „Sie suchen dich.“ Schicksals Wesen krümmte sich. Im nächsten Moment schluchzte es auf. Ewigkeit legte den Kopf schief. „Warum weinst du?“ Herzzerreißende Klagelaute. Das Schmetterlingsmädchen wartete, doch das zusammengekrümmte Wesen schluchzte nur immer schmerzhafter in einem Anfall von Verzweiflung. „Ich kann nicht.“, wimmerte es. „Ich kann nicht.“ „Warum nicht?“ „Ich will nicht, dass sie mir wehtun.“ Ewigkeit dachte darüber nach. „Tun sie dir weh?“ „Ja.“ „Tut es sehr weh?“ „Ja.“ Wieder hielt Ewigkeit inne. „Willst du nicht, dass sie hier sind?“ Ein erneutes Wimmern erschallte. Dann Schluchzen, so laut, hilflos, hemmungslos, als würde es an den eigenen Tränen ersticken. Das Schmetterlingsmädchen stand daneben. Die Pein ließ nicht nach. Schicksals Wesen japste. Worte, kaum als solche zu erkennen, brachen sich einen Weg aus den Tiefen seines Ichs, drängten aus seinem Mund hervor. „Ich will nicht allein sein!“ Ein sanftes Lächeln erschien auf Ewigkeits Lippen. „Dann warten wir gemeinsam, bis sie hier sind.“   Der Horizont war milchig, als bestünde er aus einem feinen Nebel. Als bestünde diese ganze Welt nur aus nervigem Nebel! Vitali lief weiter und versuchte vor seinen eigenen düsteren Gedanken davon zu laufen. Das Bild von Serena in den Ruinen wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Verdammt! Er war wütend. Verflucht wütend. Am liebsten hätte er Serena mit aller Gewalt geschüttelt, sie angeschrien und beschimpft – oder geheult, er wusste nicht mehr was davon. Seine Gefühle brauten sich in seinem Magen zusammen wie ein Geschwür oder Gewitter. Er war noch nie gut im Finden von passenden Bildern gewesen. Er wusste nur, dass er sich scheiß machtlos fühlte. Und das hasste er! Verdammt! Er blieb abrupt stehen. Was brachte es, hier rumzulatschen, wenn er nicht mal wusste, wohin! Mit aller Macht brüllte er, schrie aus Leibeskräften. „Tiny, du dämliche Kuh!!!“ Seine Muskeln zitterten vor Verkrampfung. Sein Unterkiefer verhärtete sich, dann formten seine Augenbrauen eine leidende Miene und seine Unterlippe kräuselte sich. „Wo bist du…?“ Plötzlich ging eine Veränderung in der Atmosphäre vor, dass Vitali fast glaubte, sein Aufschrei habe etwas bewirkt. Ein Schleier schien sich zu lüften oder von seinen Augen gerissen zu werden. Die weite Ebene, auf der er stand und die bis zu diesem Moment völlig leer gewesen war, offenbarte plötzlich vier Gestalten. Sobald sie in sein Blickfeld traten, rannte Vitali los.   Die fünf eilten aufeinander zu, ohne lange darüber nachzudenken. Die Aussicht, nicht länger alleine in dieser grausigen Horrorwelt herumirren zu müssen, verlieh ihnen neue Kraft. In gleichen Moment färbte sich der Himmel blutrot. Geschockt blickten sie auf und sahen die bedrohliche Farbe den Horizont einfärben, ein lautes Krachen erklang, dann schossen Blitze aus grauen Wolken, deren Donner sie fast taub machte. Plötzlich rutschten sie auf etwas Glitschigem aus und wären fast gestürzt. Ihr Blick fiel auf den Boden, der mit einem Mal eine teerartige Konsistenz anzunehmen begann. Schwarz wie der Tod. Sie kämpften sich weiter. Nur noch ein paar Meter trennten sie. Schlagartig schoss etwas aus dem Teer hervor wie ein Leichnam oder ein Halbtoter, der versuchte der schwarzen Masse zu entkommen. Schreie durchwirkten die Luft. Vitali kippte nach hinten und landete im Pech. Um ihn herum tauchten weitere Pechmonster auf. Dann hörte er Trust seinen Angriff rufen und erinnerte sich erst dadurch an seine Fähigkeiten. Er beschwor sein Wappen. Change setzte seinen Wind der Veränderung frei und fragte sich, ob das gegen diese Monster überhaupt etwas nutzte. Für einen Moment waren die Schlammmonster verschwunden, dann bildeten sie sich von Neuem. Change wartete nicht darauf. Er rannte weiter zu den anderen. Ohrenbetäubender Donner rollte über ihn hinweg. Vor sich sah er Trust mit festem Stand verharren und mit beiden Händen die Pechmonster abschießen. Damit machte der Beschützer den Weg für die anderen frei. „Hierher!“ Trusts Stimme wurde schließlich von dem Grollen des Himmels übertönt. Unite und Desire reagierten sofort und liefen auf Trust zu. Change beschleunigte nochmals, aber Trust drehte sich mit einem anderen Befehl zu ihm um. „Change! Flieg zu Erik!“ Change erkannte, dass Erik am weitesten von ihnen entfernt war und – aufgrund seiner fehlenden Beschützerkräfte – allein mit Muskelkraft und purem Willen versuchte, sich gegen die Angreifer zur Wehr zu setzen. Change hob ab.   Desire und Unite erreichten Trust kurz nacheinander. „Der Schutzschild!“, rief Trust. Desire verwies darauf, dass sie knöcheltief in der Masse standen. „Das hilft nichts.“ Unite schoss währenddessen weitere Pechwesen ab. Desire sah zu Change. „Er kann Erik nicht hier rüber fliegen.“ Der Zorn des Himmels dröhnte in ihren Ohren. „Change muss ihn teleportieren.“, antwortete Trust und setzte seine Attacke frei. Unite schrie über das Donnern hinweg: „Sag ihm per Telepathie Bescheid. Wir kümmern uns solange um die Monster.“ Trust folgte der Anweisung und konzentrierte sich. Augenblicklich schrak er zusammen und riss seine Arme an den Kopf. Von seiner Bewegung aufgeschreckt, griff Unite automatisch nach seinem Arm. Unvermittelt strömten Trusts Eindrücke auf sie ein. Zunächst hörte sie die Pechwesen, unartikulierte Laute, gurgelnde Geräusche, als würde jemand ersticken, als würde jemand verzweifelt nach Luft schnappen, dann ein Klagen und Stöhnen wie es Menschen taten, die nicht mehr die Kraft hatten zu sprechen und nur noch durch Geräusche ihren Schmerz ausdrücken konnten. Und dahinter spürte sie Gefühle, die Trust nicht wahrnehmen konnte. Ein Aufbäumen und in sich Zusammenbrechen, ein Wehklagen über Verstorbene, sich in immer neuen Schmerzesbezeugungen ergehend, weil man den Verlust nicht loslassen konnte. Als würde man den Leichnam seines Kindes an sich drücken. Automatisch ließ Unites Hand von Trust ab, wie um sich selbst vor den Gefühlen zu schützen, die in sie geflossen waren. „Es funktioniert nicht.“, sagte Trust bestürzt, ehe er Unites Gesichtsausdruck sah. „Was sind das für Dinger?“, rief Desire. „Serenas Wünsche.“, antwortete Unite. Die beiden anderen starrten sie an. Unite versuchte es in gehetzten Worten zu erklären. „Ihre Wünsche sind tot, aber sie kann sie nicht loslassen. Sie dreht völlig durch, weil sie uns haben will und gleichzeitig von sich stoßen will. Sie wird uns töten.“ Ihre Stimme klang verstört. „Wird sie nicht.“, verkündete Desire überzeugt. „Ich kümmere mich um die Zombie-Wünsche, lauft ihr Change und Erik entgegen.“ Trust wollte widersprechen, aber Desire ließ es nicht zu. „Ich bin Wunsch.“ Trust biss die Zähne zusammen und nickte. „Wir kommen zu dir zurück.“ Desire nickte, dann trennten sie sich. Während Unite und Trust sich entfernten, drehte sich Desire den Angreifern zu. Eben hatte sie so entschlossen gewirkt, aber eigentlich hatte sie keinen Plan, wie sie nun handeln sollte. Wie sollte sie Serenas abgestorbenem Wunsch begegnen und welcher Wunsch war es? Wieder tauchte das Bild von Serena in ihrem mit Fotos tapezierten Raum vor ihrem geistigen Auge auf, wie sie sich nach ihnen sehnte. Für einen Moment machte es sie wütend. Es war leichter, Fotos anzubeten, als sich der Realität zu stellen. Es war leichter zu verletzen als verletzt zu werden! Die Pechmonster kamen auf sie zu. Desire schloss fest die Augen, schnappte noch einmal nach Atem und hielt die Luft an. Keine Sekunde zu früh. Das Pech klatschte über sie wie eine schwarze Welle. Es war kalt und klamm. Es klebte. Es war widerlich. Desire musste sich konzentrieren. Sie konnte auf keinen Fall länger als eine Minute die Luft anhalten. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie versuchte nicht mehr zu denken. Wenn Unite Recht hatte, dann sollte dieses Pech ihr etwas zu sagen haben. Es war schwierig sich bei angehaltenem Atem zu konzentrieren. Das funktionierte nicht. Desire setzte ihre Kräfte frei, indem sich ihre Energie aus ihrer gesamten Körperoberfläche löste und damit das Pech auflöste. Sie schnappte nach Luft. Wenn ihr dieses Pech etwas sagen wollte, dann nicht so! Sie schoss erneut ihre Attacke ab, um wenige Sekunden zum Nachdenken zu haben. Dann schloss sie wieder die Augen und suchte die Ruhe in sich. Sie entfernte sich von dem Schmerz, der ihr durch Serena angetan wurde. Fühlte das kühle Quellwasser ihrer Läuterung sie durchströmen Hinter ihren Augenlidern glaubte sie, plötzlich etwas anderes zu ihren Füßen zu erkennen, etwas zutiefst Trauriges. Wie etwas Schönes, das verrottet und vergammelt war. Sie sah es vor ihrem inneren Auge, sah die Schönheit dieser schwarzen Brühe, etwas Leuchtendes darin. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Boden zu einem glitzernden Meer verwandelt, wie das Bild, das sie eben vor sich gesehen hatte. Wie eine Wiedergeburt.   In der Finsternis warteten zwei Seelen. Die Sichtfenster gewährten den Blick auf die fünf Jugendlichen, die sich unter einem rotgefärbten Himmel weiterkämpften. Vertrauen und Vereinen waren bei Verändern und dem Jungen angekommen. Ewigkeit frohlockte, als sie sah, wie Wunschs Fähigkeit die abgestorbenen Reste längst verdorbener, in den Wahnsinn getriebener Sehnsüchte erlöste und zu neuem Leben erweckte. Doch ihre jähe Freude versiegte, als sie Schicksals Reaktion sah. Schicksals Wesen zitterte wie unter größter Pein. Ihr wiederbelebter Wunsch brannte in ihrem Herzen wie Höllenfeuer. Hätte man sie doch für immer von diesem Leid beraubt, für immer in Finsternis gestoßen, sie von jeder Hoffnung frei gemacht! Hier drin war sie sicher. Hier drin konnte ihr niemand etwas antun. Verlangen und Verstand stritten in ihr. Ihr Verlangen fühlte sich an wie eine Todsünde, und wenn man dieser Sehnsucht nachgab, würde sie auf ewig in die Hölle verdammt. Ihr Körper zog sie hin zu den anderen, alles in ihm zog sie weiter nach vorn, aber ihr Verstand sprach von den ewigen Qualen. Sie durfte nicht. Dieser schreckliche Körper!   Die Erde erbebte, zitterte und flatterte wie das Herz eines Vogels, dann riss der Boden auf. Die Erdplatten drifteten auseinander und legten ihren Untergrund frei, wie das Fleisch einer Person. Eine rot glühende, zähe Flüssigkeit wie Lava oder kochendes Blut wurde sichtbar. Erik starrte auf die entsetzlichen Wunden, als wären es seine eigenen. Unite, Trust und Change um ihn herum reagierten schneller. Er wusste nicht, wieso er automatisch ihre Beschützernamen verwendete. Es erschien schlicht angebracht. Wie eine Heldentruppe in kunterbunten Kostümen hatten sie sich um ihn aufgebaut. Das Rollenspiel, von dem sie ihm erzählt hatten, in Kombination mit alten Kindheitserinnerungen aus einer Zeit, als er sich die Power Rangers angeschaut hatte, war gewiss die Ursache für diese abstruse Szene. Als wären sie an solche Begebenheiten schon gewöhnt, wichen die drei den sich ausweitenden Rissen im Boden aus, die Vorboten des Auseinanderbrechens waren. ´ „Schnell!“, rief Trust und ergriff Eriks und Unites Hand. Unite setzte die Kette fort und verband sie mit Change. Augenblicklich fühlte Erik eine Leichtigkeit in seinen Körper strömen, als würde sein Atem ihn nach oben ziehen. Seine Füße berührten nicht länger den Boden. Langsam stieg die Gruppe auf. Dabei kippten ihre Köper in eine schräge Haltung, die Erik im ersten Moment unbehaglich vorkam. Seine freie Hand hielt er automatisch nach vorne, als müsse er einen etwaigen Sturz abfangen. Dann richtete er seinen Blick wieder geradeaus und erkannte, dass sie in gemäßigter Geschwindigkeit auf Desire zu flogen, die ihnen entgegengerannt kam. Instinktiv streckte er ihr seine Hand entgegen. Er brauchte sie nicht nach oben ziehen. Sobald sie seinen Arm ergriffen hatte, wurde auch sie auf magische Weise in die Lüfte erhoben, während die Gruppe weiter in den mittlerweile purpurroten Himmel stieg, der von gleißenden Blitzen durchzuckt wurde. „Wohin?“, schrie Change über das Donnern hinweg. „Da vorne!“, brüllte Trust zurück. Das Leuchten der Blitze erhellte den Eingang zu einer Höhle, die zuvor nicht da gewesen war. Jedes Mal, wenn das Licht der Blitze abklang, war der Eingang verschwunden, erschien nur für kurze Sekunden. Erik sah nach unten, wo sich ein rot-schwarzes Meer ausbreitete. Schwarze, geschmolzene Gesteinsbrocken verschmolzen mit dem tiefen Rot und sahen aus wie verdammte Seelen, die versuchten der Hölle zu entkommen. Plötzlich glaubte er, jemanden schreien zu hören, schrill und unter Pein, als würden die Hilferufe der Toten an sein Ohr dringen. Bei dem nächsten Blitzschlag glaubte er eine Figur im Eingang der Höhle zu erkennen. Eine schwarze Gestalt, die ihn schaudern ließ. Gebieterisch hob sie ihren Arm, im gleichen Moment erlosch das Licht des Blitzes, und die Höhle und mit ihr die Figur verschwand. Zwischen dem Donnern hörte er jäh einen erstickten Laut aus Changes Richtung kommen. Dann riss die Erdanziehungskraft ihn und die anderen unbarmherzig nach unten. Der Druck presste ihnen die Luft aus den Lungen, sodass sie nicht einmal schreien konnten, während sie hilflos in den flammenden Fluss unter ihnen stürzten.   Die fünf erwachten in völliger Finsternis. Sie hörten das Atmen voneinander. Auch im Sturz hatten sie einander nicht losgelassen. „Ist alles okay bei euch?“, rief Trust. Er versuchte vergeblich, durch das Rufen seiner Kräfte einen Lichtschein zu erzeugen, und erhob sich. Die anderen gaben mehr oder weniger zustimmende Laute von sich. „Change ist paralysiert.“, sagte Unite. Trust machte ein Geräusch, als habe er das bereits geahnt. Desire ließ Erik los und rappelte sich auf, tastete in der Finsternis nach Change und neutralisierte den Effekt von Destinys Fluch. Kaum war ihr das gelungen, stieß Change ein Schimpfwort aus, gefolgt von etwas, das einem unterdrückten Schluchzen glich. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt. Dann hörte man ihn wieder auf die Beine kommen, wie in einem Versuch, sich selbst abzulenken. Es herrschte Schweigen. Erst Desire wagte es, die Stimme zu erheben. „Wo sind wir?“ Es schien ihr weniger um die Frage zu gehen, als darum die Grabesstille zu durchbrechen. Die anderen antworteten nicht. Schließlich rang sich Unite zu einer Antwort durch. „In Serenas Seelenwelt.“ Eriks Stimme erklang, kalt und distanziert, wie sie es von Secret gewöhnt waren. „In Serenas Schattenreich.“ Changes schweres Atmen erklang in der Finsternis. Dann schrie er ein Schimpfwort, schrie erneut. Seine Wut war noch unerträglicher als wenn er geheult hätte. So blieb einem jede Möglichkeit ihn zu besänftigen verwehrt. Unite starrte zu Boden. Eriks Worte dröhnten in ihren Gedanken. Schattenreich. Schatthenreich. Schatthen. Wie der Schatthenmeister beobachtete Serena sie. Wie der Schatthenmeister lenkte sie ihre Schritte, befehligte ihre Welt und stellte sie vor unmögliche Aufgaben. Unite hielt sich den Kopf. Sie wollte das nicht denken. „Der Schatten ist das Symbol für die Seele.“, antwortete Erik. „Wer keine Seele hat, hat keinen Schatten. Und wer tot ist, ist nur noch ein Schatten.“ „Das Totenreich.“, murmelte Trust. Gefühlsneutral sprach Erik weiter. „In der griechischen Mythologie gibt es in der Unterwelt einen flammenden Fluss aus Lava oder kochendem Blut: Phlegethon.“ Die anderen dachten an das Flammenmeer, in das sie gestürzt waren. „Und was soll das?“, fragte Change ungehalten. „Der Phlegethon fließt in den Tartaros.“, erklärte Erik. „Wo die Sünder bestraft werden.“, sagte Desire und spürte einen Stich. „Wir müssen zu Serena.“, rief Trust. Change brüllte, sein Ausruf ließ die anderen zusammenzucken: „Sie will nicht, dass wir zu ihr kommen! Es ist ihr doch scheißegal!“ Seine Stimme wurde noch schriller. „Sie will nicht, dass wir hier sind!“ Die Heftigkeit seiner Worte ließ die anderen verstummen. Allein Erik blieb ruhig. „Serena braucht dich.“, sagte er entschieden. „Einen Scheiß!“, schrie Change. Das Geräusch seiner schweren Atmung verdeutlichte, wie sehr er mit seinen Gefühlen kämpfte. Seine Stimme verlor an Kraft. „Egal, was ich tue, es ist völlig egal.“ Er holte Luft. „Es ist ihr völlig egal!“ Seine Worte, ausgesprochen im Ton größten Elends klangen in Eriks Ohren so vertraut, dass er die Zähne aufeinander beißen musste, um das altbekannte Gefühl in sich zu unterdrücken: Es war die siedende Erkenntnis, dass es nutzlos war, um die Zuneigung eines Menschen zu buhlen. Das Gefühl der Demütigung. Er wusste nicht, was er Change hätte sagen können. Und den übrigen erging es wohl ebenso. Ausgerechnet Change war es, dessen schwache Stimme schließlich das Schweigen brach. „Ich hab sie gesehen. Wie sie in den Trümmern saß. Ich konnte sie nicht… Wir sind völlig nutzlos!“ „Das ist nicht wahr!“, rief Unite. „Sie will, dass wir hier sind. Sie braucht uns!“ „Sie bringt uns um, bevor wir sie erreichen!“, begehrte Change auf. Erik glaubte, sich verhört zu haben. Eine solche Aussage ausgerechnet von Change, der ihn am liebsten verschlagen hätte, als er gesagt hatte, sie müssten Serena im Schatthenreich zurücklassen! Erik stockte, geschockt von seinem eigenen Gedanken. Er hielt sich den Kopf. Ihm kam das Szenario so seltsam bekannt vor, wie ein Déjà-vu. Wie ein Traum, den er schon einmal gehabt hatte. Ein Traum, in dem Serena versucht hatte, sie zu töten, und er das nicht hatte hinnehmen wollen. Sie alle waren da gewesen. Sie waren da gewesen und hatten die gleichen Anzüge getragen. Wie oft hatte er schon von ihnen geträumt? Desire, die nach hinten durch einen Spiegel geschleudert wurde. Serena tot am Boden, halbtot, eine Träne. Er hatte sie retten wollen. So wie er sie jetzt retten wollte. „Keiner wird zurückgelassen.“ Die Beschützer stockten, als sie die gefühlsneutrale Stimme die Worte sagen hörten, die damals Trust gesprochen hatte. „Secret…“ Als Desire seinen Namen aussprach, schien sich Realität und Fiktion zu vermengen. Ob es Wahn war oder die Logik eines Traums: Er war Secret. So sicher, wie er vor ihnen stand, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Diese unvorhergesehene Gewissheit verwirrte ihn für einen Moment. Er war Secret. Das war so logisch. Und in dieser Dunkelheit schien Erik Donner nicht mehr zu existieren, als habe er ihn hinter sich gelassen. „Lasst uns gehen.“, befahl Secret. „Wohin?“, fragte Trust. „Dorthin wo Serena ist.“ „Mann, wir sehen nichts!“, sagte Change. Unite antwortete. „Wenn Serena will, das wir zu ihr kommen, dann ist das egal.“ „Dann hätte sie uns auch vorher schon zu sich bringen können!“, beschwerte sich Change. Desire erwiderte: „Sie wollte uns noch etwas zeigen.“ Auf diesen Einwand hin schwieg Change. „Nehmt euch an den Händen.“, empfahl Trust. Desire ergriff Changes Hand und streckte ihre Linke in die Schwärze. „Secret?“ Eine Sekunde zögerte er, wusste nicht, ob es wirklich richtig war, auf diesen Namen zu reagieren. Seine Meinung änderte sich alle paar Sekunden. Auf einmal hatte er das Gefühl weder Erik, noch Secret zu sein, gar nicht mehr zu wissen, wer er war. Namenlos. Mein Name ist geheim. Ihm wurde schlecht bei dem Satz. Diese fremden und so eigenartig vertrauten Gedanken machten ihm Angst. Als würde er damit auf ein schreckliches Geheimnis stoßen, etwas Entsetzliches aufdecken, das in ihm begraben lag. Wie ein Kampf mit sich selbst. Sein Zögern hatte Desire offenbar verunsichert, denn sie wiederholte ihren Aufruf. „Erik?“ „Ich weiß nicht, wer.“, antwortete er. Desires sanfte Stimme ließ ein Lächeln erahnen. „Ist nicht so schlimm. Lass nur nicht los.“   Wie in einem Knäuel, dicht beieinander tasteten die fünf sich durch die Finsternis. Der Boden war fest wie Asphalt. ihre vorsichtigen Schritte erzeugten gedämpfte Geräusche, die Umgebung schluckte das Echo. Nach einer Weile gingen sie dazu über, alle hintereinander zu laufen und sich an den Schultern, beziehungsweise um die Taille festzuhalten – aus Gründen ihrer Größe kam für Unite nur die zweite Variante in Frage. Sie wollten nicht Gefahr laufen, sich etwas zu brechen oder zu verstauchen, indem sie auf eine im Dunkeln nicht sichtbare Stufe traten und umknickten. Trust lief an der Spitze, gefolgt von Unite, Change und Desire. Secret bildete das Schlusslicht. Im Ton aufgesetzter Verstimmung fragte Change: „Glaubt ihr nicht, dass sie uns hier ewig rumlaufen lässt?“ Secret antwortete. „Wozu hätte sie uns dann hier rein geholt.“ „Um uns zu Tode zu quälen.“, antwortete Change grimmig. Desire gab einen amüsierten Laut von sich. „Klingt nach Serena.“ Dann fiel ihr wieder ein, auf welche Weise Serena sie und die anderen betrachtete. Sie drehte ihren Kopf halb nach hinten zu Secret. „Warum verstehst du sie so gut?“ Secret schwieg. Die Frage erschien ihm irgendwie grotesk. „Wieso fragst du?“ „Ich…“ Desire unterbrach sich. „Nur so eine Frage.“ Secret antwortete nicht darauf. „Weil er genauso krank ist wie sie!“, schimpfte Change vor ihnen. „Sehr schön festgestellt.“, sagte Secret trocken. Wohl wissend, dass seine Gelassenheit Change mehr ärgerte als alles andere. „Jeder von uns versteht sie ein bisschen.“, sagte Unite. „Change versteht sie ein bisschen wenig.“, neckte Secret ihn. „Halt die Klappe!“ Unite kicherte. „Change braucht sie nicht verstehen. Es reicht, dass er sie mag.“ Eine leicht knarzige, leise Stimme ertönte, die man nur schwer als Changes identifizieren konnte. „Ich mag sie nicht.“ „Aber du magst doch auch Trust.“, rief Unite verwundert. „Aber nicht so!“ Secret stieß geräuschvoll die Luft aus. „Du machst immer denselben Fehler.“ Change war von ihm genervt. „Irgendwann werde ich dir das alles heimzahlen.“, grummelte er. „Was? Dass ich dich auf deine Fehler hinweise? Das ist ein kleiner Freundschaftsdienst von mir.“, entgegnete Secret eindeutig grinsend. „Du könntest etwas dankbarer sein.“ „Für deine Großkotzigkeit?“, schimpfte Change. Ein gönnerhafter Ton trat in Secrets Stimme. „Dafür dass ich mich deiner Begriffsstutzigkeit annehme.“ „Kann ich gerne drauf verzichten.“ Desire, die zwischen den beiden eingekeilt war, unterbrach sie: „Wie wäre es, wenn ihr hintereinander lauft.“ Sie hörte Eriks Grinsen aus Secrets Stimme heraus. „Hast du mir nicht eben noch gesagt, ich dürfe dich nicht loslassen?“ Desires Stimme blieb gelassen. „Hast du nicht eben noch gesagt, dass du nicht wüsstest, wer du bist? Du klingst eindeutig nach Erik.“ Hinter ihr ertönte ein Lachen. Plötzlich stoppte Trust und daraufhin die ganze Truppe. „Was ist?“, erkundigte sich Desire. „Hört ihr das?“ Die fünf lauschten. Ein dumpfes Pochen war zu hören. Als würde es von ihrer Umgebung ausgehen. Wie der Schlag eines Herzens. Sie fühlten sich an die Videos im Biologieunterricht erinnert, in denen die Kamera den menschlichen Körper durchleuchtete, durch das Innengewebe drang. „Das ist voll eklig.“, sagte Change. Er stellte sich vor, dass sie gerade die Speiseröhre von Serena entlang wanderten. Vielleicht würden sie demnächst in Magensäure enden. Der Ton verstummte, wurde abgelöst von etwas anderem. Einer Melodie, die so tragisch klang, als würde sie Abschied nehmen. Secret kam die englische Redewendung ‚to play on someone’s heartstrings‘ in den Sinn, die so viel bedeutete wie ‚jemanden im Herzen rühren‘. Aber in wörtlicher Übersetzung hieß: ‚auf den Saiten des Herzens spielen‘. „Serena!“, rief Unite erregt. Aus ihrer Stimme war ihre Aufgewühltheit herauszuhören. „Wartet!“, rief Secret. Ein Gedanke begann sich in ihm zu formen. Noch konnte er ihn nicht greifen. Als würde die Idee nicht ihm entspringen, sondern von etwas anderem, Geheimem gespeist werden. Auf den Saiten des Herzens spielen. Serenas Herz. Die Melodie. Im Verborgenen. „Wo sind wir hier?“, fragte er die anderen. „Woher sollen wir das wissen?!“, schimpfte Change. Secret sprach Unite an. „Du hast es vorhin Serenas Seelenwelt genannt, richtig? Wo ist dann Serena?“ „Das wüsste ich auch gern!“, blaffte Change. „Das alles ist Serena.“, erklärte Trust. Aus Secrets Stimme sprach Überzeugung. „Dann brauchen wir nicht zu ihr gehen. Sie ist schon hier.“ Schlagartig brach die Musik ab. Die Atmosphäre schien zu flackern, wie das angespannte Schwirren einer Emotion, bevor sie ausbrach. Ein entsetzlicher Laut kreischte durch die Schwärze. Als die fünf ihre Hände wieder von ihren Ohren nehmen konnten, begann alles um sie herum in Aufruhr zu geraten. Ein Wimmern ertönte von rechts. Change rief atemlos Tinys Namen. Abrupt wandelte sich das Wimmern in Schreien. Und ebenso schwoll Changes Stimme an. „Serenaaaa!!!“   Schicksals Wesen schrie. Schrie! Und es gab nichts, das Ewigkeit tun konnte, um es zu beruhigen. Die Gestalt des Mädchens schien sie nicht mehr zu hören, eingehüllt in den Klang der eigenen Schreie, wie in einen schützenden Mantel. Die Schreie wurden immer hysterischer, schneller, kürzer, steigerten sich, gingen über in ein katzenähnliches Jammern, um gleich wieder zu einem Kreischen anzuschwellen. Aber auch das konnte Veränderns Stimme nicht für immer fernhalten. Verändern schrie einen Namen. Immer wieder. Erst Serena, dann Tiny. Er schrie so herzzerreißend, dass Ewigkeit nicht mehr wusste, wen sie mehr bemitleidete. Dann durchbohrte seine Stimme den Schleier, den Schicksal um sich aufgebaut hatte.   Serena erwachte. „Tinyyyy!!!!“ Eine Stimme so gebrochen, dass man sie kaum noch erkennen konnte. Es schnürte Serena die Kehle zu. „Change…“ Sie begriff, wo sie war, wo sie die ganze Zeit gewesen war. Kurz war sie davor, erneut ins Delirium abzudriften. Sie wollte das alles nicht ertragen. Aber – Tränen rannen über ihre Wangen. Sie wusste nicht mehr, wo ihr Körper war. Wo waren ihre Beine. Sie musste – sie musste – Sie wollte nicht mehr hier bleiben! Sie wollte nicht. Wirklich nicht. Weitere Tränen schossen ihr in die Augen. „Chaaaange!“ Sie schrie Changes Namen. Hilflos. Als könne er sie retten. „Change…“ Es war mehr Schluchzen als sonst etwas. Hitze erfüllte sie. Sie schnappte nach Atem. Ihr Kopf drehte sich, wo sie doch nicht mal wusste, wo ihr Kopf war. Sie fand sich auf dem Boden wieder. Zumindest glaubte sie, dass es ein Boden sein musste. Glaubte, dass ein Körper auf dem Boden lag. Rufe. Rufe. Rufe. Trommeln gegen die Zellwand, die sie von ihnen trennte. Sie wollte zu ihnen. Aber wo war sie? Die Zweifel rissen an ihrem Körper, wollten sie zurückdrängen, brachten sie wieder in die schwebende Position über dem Boden, sicher in der Ungestalt. Aber das wollte sie nicht. Es war ihr egal, wie dumm sie war. Es war ihr egal, wie tief sie fallen würde. Sie wollte zu ihnen. So sehr. So sehr! Bitte! Serena versuchte sich aus dem Griff des Zweifels zu befreien, aber es gab nichts, an dem sie sich festhalten konnte. Sie griff nach der Luft. Und als wäre sie etwas Fassbares zog sie sich daran weiter, hangelte sich weiter, hörte auf ihren Atem, hörte auf ihren Körper. Ich will zu ihnen. Ich will zu ihnen. Lass mich zu ihnen! Die Umgebung verschwand.   Serena fand sich auf einer weißen Ebene wieder. Alles war hell und weit. Nichts mehr war da, um sie von den anderen zu trennen. Sie sah auf, erblickte die fünf direkt vor sich, in wenigen Metern Entfernung. Sie standen geschockt da und starrten sie an wie ein wildes Tier im Zoo. Nein… Nein.   Nein!   Plötzlich war alles weiß geworden, sodass Oben und Unten nicht mehr zu unterscheiden war, als wären sie selbst das einzig Existente in einer Ebene aus Licht. Umso deutlicher hob sich Serenas Gestalt von der weißen Umgebung ab. Change wollte zu ihr rennen, aber Trust packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. Change starrte ihn an, doch Trust schüttelte nur den Kopf und wies ihn mit den Augen an, sich Serena zu besehen. Sie kauerte da, die Arme mit einem Mal schützend vor sich gezogen. Wie ein gequältes Tier, das sich den Folterungen entziehen wollte. Wie ein Wünschender, dessen Aussicht auf die Erfüllung ihn in Panik versetzte. „Sie muss von sich aus zu uns kommen.“, sagte Trust. Aus seiner Stimme klang nicht die Entschlossenheit, die er sonst innehatte. Erst als Trust die Hand von seiner Schulter nahm, bemerkte Change, dass sein Freund zitterte. Trusts Antlitz verzog sich in qualvoller Selbstbeherrschung. „Wir müssen auch ihr vertrauen.“ Change senkte den Blick. Er wusste, dass Trust Recht hatte, aber – Er drehte sich hilfesuchend nach den anderen um und sah, dass Unite noch schlimmere Kämpfe auszutragen hatte als er selbst. Nicht auf Serena zu rennen zu dürfen, schien für sie die größte Pein zu sein. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich so großer Schmerz ab, als wäre sie diejenige, die die ganze Zeit geschrien hatte. Schließlich wandelte sich Unites Miene und Entschlossenheit trat in ihr Gesicht. Sie machte einen entschiedenen Schritt nach vorne, legte ihre Hand auf Changes, hob seine und die eigene wie zu einem Eid und rief feierlich. „Alle für einen!“ Ihre Worte brachten die Erinnerung an die Begebenheit im Schatthenreich zurück, an ihren Schwur, den Unite mit den Worten besiegelt hatte: ‚Wir sind jetzt für immer die allerbesten besten Freunde und das heißt, dass uns gar nichts mehr passieren kann!‘ Nacheinander legten sie die Hände auf Unites. Für einen Moment zögerte Secret, als würde er von diesem Augenblick überwältigt werden, als könne er die Situation nicht verarbeiten. Er hielt sich kurz die Stirn. Dann trat er vor und gesellte seine Hand zu den ihrigen, richtete seinen Blick wie die anderen auf Serena. Serena hatte ängstlich den Kopf gehoben. Ihr Gesicht war verweint, geschwollen, rot und von der Verzerrung ihrer Muskeln regelrecht entstellt. Und der Anblick der Geste von ihnen schien eine neue Salve an Emotionen in ihr auszulösen. Auch sie erinnerte sich. Mit geradezu panischen Atemgeräuschen versuchte sie, sich aufzuraffen. Ihr Versuch wirkte angestrengter als alles, was sie bisher gesehen hatten. Torkelnd kam Serena auf die Beine, wollte einen Schritt machen, setzte ihren Fuß nach vorne und fiel längs zu Boden. Nun konnten die fünf sich nicht mehr zurückhalten. Sie wollten auf Serena zu eilen, aber sie liefen gegen eine unsichtbare Barriere. Serena lag am Boden. Halb betäubt. Machte nicht länger den Versuch aufzustehen. Es war zu schwer. Es war besser, hier liegen zu bleiben. Liegen zu bleiben und ins Koma zu fallen. Dann trat Ewigkeit in ihr Blickfeld. „Du hast es fast geschafft!“ Serena schloss die Augen. „Was ist?“ „Ich kann nicht...“ „Warum nicht?“ Sie schwieg. Ewigkeit betrachtete ihr Gesicht. „Du willst doch zu ihnen.“ Seelenleer starrte Serena aus ihren Augen. Die kleinen Muskeln um ihre Augen zogen sich zusammen. Plötzlich pochte etwas in Ewigkeits Innerem. Sie spürte es wie ihren Herzschlag. Wie als sie sich zuvor Schicksals ohnmächtiger Gestalt genähert hatte, oder als sie sie in der Finsternis gefunden hatte. Wieder wollte etwas in ihr zu ihr sprechen. Ihr Medaillon begann zu glühen. Jäh fühlte sie sich selbst, wie etwas Wiedergefundenes, Gedanken, so vertraut, standen zu ihrer freien Verfügung und verbanden sich zu neuen Mustern. Mit einem Mal schien alles so klar. Es war nicht die Furcht vor Serenas Freunden, die sie hier gefangen hielt, es war die Furcht vor ihren Erinnerungen. „Du brauchst keine Angst haben.“ Ihre eigene Stimme klang in ihren Ohren ungewohnt, aber schön. Wie etwas, das sie lange nicht gehört hatte. „Die Vergangenheit bestimmt nicht deine Zukunft. Egal was war, du bist nicht diejenige von damals. Du bist stark. Und du darfst vertrauen. Denn du weißt, dass du die richtige Entscheidung triffst. Du bist nicht Opfer des Schicksals. Du bist Schicksal.“ Während Eternity sprach, erschien Schicksals Wappen über Serenas Körper. Es leuchtete auf, ergoss warmes Licht über sie und hüllte das Mädchen in seine Beschützerkleidung. Destiny blinzelte. Ehe die Beschützerin auch nur einen Gedanken fassen konnte, hatte ihr Körper sich wie von selbst aufgerichtet, lief auf die anderen zu, ohne jeglichem Gedanken Macht über sich zu überlassen. Alles war egal. Alles war gut. Ihre Füße trugen sie. Sie kam den anderen näher. Sie stoppte nicht, lief einfach weiter. Die Barriere war verschwunden, aber wie in stiller Bewunderung standen die anderen da. Destinys Hand legte sich auf die der anderen. Ihre Stimme war nur noch ein Hauchen. „Einer für alle.“ Schluchzend warf sich Unite in ihre Arme, schneller noch als es die anderen taten. Destiny spürte das viel zu feste Drücken von allen Seiten wie den schönsten Schmerz ihres Lebens. Den Schmerz, dass sie lebte. Eine Mischung aus Schluchzen und Lachen stieg aus ihrem Bauch. Und sie konnte nicht aufhören zu lachen.   Kapitel 79: Heil - Geheime Sehnsucht ------------------------------------ Heil – Geheime Sehnsucht   „Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft - keinen größeren Reichtum, keine größere Freude.“ (Epikur, Philosoph der Antike)   Erik spürte die Realität, wie es allein der Fall war, wenn man aus einem Traum erwachte. Dieses Gefühl, das einem erst versicherte, das man geträumt hatte, indem die Umgebung mit all ihren verschiedenen Eindrücken wieder auf einen einströmte und einem die Absurdität des Traums langsam vor Augen führte. Er nahm seinen Atem war und den harten Boden, auf dem er lag. Ein kalter Boden. Keine Erde. Kein Beton. Kachelboden. Licht war hinter seinen Augenlidern zu erahnen. Was war geschehen? Sein Verstand begann wieder zu arbeiten. Er war in der Schule gewesen, wollte mit Justin und Serena ihr Referat vorbereiten. Dann war Serena – Erik riss die Augen auf und fuhr auf. Was ihm als erstes auffiel war, dass die anderen – nicht nur Justin, sondern auch Vitali, Ariane und Vivien – vor ihm knieten, beziehungsweise vor Serena. Wo kamen sie her? Er erinnerte sich, dass er sie die Tür aufreißen gesehen hatte, aber danach… Er hatte gedacht, das wäre bereits Teil des Traumes gewesen. Sein Blick fiel auf Serena, die in ihrer Mitte lag und in diesem Moment die Augen öffnete. Er sagte ihren Namen. Sie versuchte sich aufzusetzen. Als ihr das gelungen war, schwenkte ihr Blick über die Leute, die um sie herum saßen. Sie machte ein Gesicht, als müsse sie erst noch ordnen, was Realität war. Erik fasste sie bei der Schulter. „Ist alles okay?“ Serena sah ihn mit großen Augen an. Sie nickte langsam und sah verwirrt zu Boden. Dann hob sie wieder den Blick und drehte sich zu den anderen um. Augenblicklich stiegen ihr Tränen in die Augen und als hätten die anderen sich bisher nur schwer zurückhalten können, stürzten Vivien und Vitali gleich auf sie, während Ariane ihr nur eine Hand auf die Beine legte und Justin allein durch seinen Gesichtsausdruck zeigte, wie nahe ihm das alles ging. Erik atmete auf, als wäre eine schwere Last von ihm abgefallen. Die Realität mit der ohnmächtigen Serena kam ihm mit einem Mal schrecklicher vor als der Albtraum, den er gehabt hatte. Wie alle Realität immer schrecklicher war als ein Traum. Er sah zu Justin, dieser war aber immer noch auf Serena fixiert und erwiderte seinen Blick nicht. Daraufhin stand Erik auf. Er wusste nicht, wieso, er musste sich bewegen. Sein Kopf tat weh, als hätte er zu lange zu viel nachgedacht. Sein Atem ging schwer. Er musste erneut ohnmächtig geworden sein. Doch dann hätten die anderen das sicher nicht ignoriert. Aber wie war er sonst eingeschlafen? Er wollte nicht darüber nachdenken. Alles war gut. Seine Schritte hatten ihn zu der Tür der Mädchentoilette gebracht, wo er sich gegen den Türrahmen stützte. Sein Kopf. Er hielt sich die Stirn, dachte nichts, konzentrierte sich auf das Pochen zwischen seinen Augenbrauen, sog die Luft durch den Mund ein. Das war alles etwas zu viel für seine Nerven gewesen. Er wusste, dass er stark war, was seine eigenen Probleme anging. Er hätte nie gedacht, dass etwas, das jemand anderen betraf, ihn so mitnehmen würde. So hatte er sich nie zuvor gefühlt. Als würde jemand anderes ihm wichtiger sein als er selbst. Wieder drängte sich ihm das Bild seiner Kindheit auf, als er seinen Vater vergöttert hatte. Er hasste den Gedanken. Er hasste ihn so sehr, dass er unwillkürlich die Zähne zusammenbiss und sicher einen bedrohlichen Anblick bot. Das war längst passé. Auch nur eine Sekunde seines Lebens an jemand anderen zu verschwenden, war sinnlos. Er wandte sich zurück zu den fünfen. Vitali und Vivien schienen sich gar nicht mehr einkriegen zu wollen, aber auch Ariane und Justin waren ganz auf Serena fixiert, als könnte sie nichts mehr von ihr trennen. Und Serena wehrte sich nicht gegen die Umarmungen und Zuneigungsbekundungen, schien sich stattdessen noch in sie zu schmiegen. Erik glaubte, sie ganz leise „Ich hab euch lieb“ flüstern zu hören. Und etwas in ihm war so sehr gerührt, dass er blinzeln und einen tiefen Atemzug holen musste und danach noch einen. Wenn er diese fünf ansah, dann fühlte er etwas in sich, das ihn zu Tränen rührte und er wusste nicht einmal, wieso. Es musste wirklich an seinen Nerven liegen. Leute unter Alkoholeinfluss wurden schließlich auch sentimental und neigten zu Tränenausbrüchen. Das Gleiche galt sicher auch für Menschen, die seltsame Ohnmachtsanfälle hatten. Dennoch wollte etwas in ihm Serena und die anderen anschauen und wenn er es für immer getan hätte. Die bloße Gewissheit ihrer Nähe ließ ihn ruhig werden, dann fing er Justins Blick auf. Der Junge lächelte ihm zu, auf eine Weise, die Erik nicht kannte, die er noch nie an einem echten Menschen gesehen hatte, wie es sie nur in Filmen gab – wenn überhaupt. So voller Güte und Zutrauen. Justins Worte kamen ihm wieder in den Sinn. ‚Sie braucht Vertrauen.‘ Erik war atemlos. „Du blöde Kuh, mach das nie wieder!“, japste derweil Vitali, der sich just von Serena abgewandt hatte, als hätte er nie die Kontrolle über sich verloren. „Du Idiot.“, schluchzte Serena, aber ihre Mundwinkel waren nach oben gezogen. Immer noch in Viviens Armen, richtete Serena ihren Blick in Eriks Richtung und streckte ihren Arm zu ihm aus, als hätte sie keine Sekunde darüber nachgedacht. Erik zögerte einen Moment. Sein Herz klopfte. Er fühlte sich weit entfernt, als würde er die Szene von außen betrachten, als wäre er außen vor, wie er es immer war. Außen vor und überlegen, über den Dingen und Menschen stehend. Abseits. Es war falsch, diesen Standpunkt zu verlassen. Von hier aus konnte er alles überblicken. Und die Kontrolle bewahren. Er gehörte nicht da rüber. Er gehörte nicht in dieses Bild. Erik bemerkte, dass er zurückgewichen war und seine Schulter gegen die Wand hinter sich stieß. „Erik?“, fragte Justin. Erik kam sich lächerlich vor, aber er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Er musste sich wieder unter Kontrolle bringen. Er war Erik Donner! Entschlossen lief er auf Serena zu und reichte ihr seine Hand. Wie ein Pfleger seine Hand einem Patienten reichte, distanziert und professionell. Mehr Emotion hätte ihn umgebracht. Er verzog keine Miene, als Serena ihn anlächelte und mit ihr die ganze Truppe. Er stand hier, aber er stand nicht bei ihnen. So weit würden sie ihn nicht bringen.   Ewigkeit saß unentdeckt auf dem Türrahmen und beobachtete die Szene. Ihr war eingebläut worden, dass sie sich dem schwarzhaarigen Jungen nicht nähern durfte. Aber sie genoss es, ihn und die Beschützer zu sehen. Sie ergriff ihr Medaillon, den kleinen goldenen Anhänger, der sich nicht öffnen ließ, als berge er ein Geheimnis. Sie betrachtete ihn lächelnd und flüsterte leise. „Danke.“ Dann schenkte sie ihre ganze Zuneigung wieder den sechsen. Kapitel 80: - 3. Band Gleichgewichts-Bedroher - [Angriff der Allpträume] Der Beginn eines Albtraums --------------------------------------------------------------------------------------------------- Der Beginn eines Albtraums   „Endlich Nacht, kein Stern zu sehn / Der Mond versteckt sich, / Denn ihm graut vor mir. / Kein Licht im Weltenmeer. / Kein falscher Hoffnungsstrahl. / Nur die Stille und in mir / Die Schattenbilder meiner Qual.“ (aus dem Lied Die unstillbare Gier aus dem Musical Tanz der Vampire) Dienstag, 02. Oktober, bis Sonntag, 07. Oktober - Beschattung der Testpersonen   Sonntag, 07. Oktober - Angriff auf Jahrmarkt. - Abtrennung des Angriffsbereichs durch Tarnzauber. - Datenerhebung durch Messgeräte an Schatthen abgeschlossen.   Samstag, 13. Oktober - Aus den Werten der Testreihe ergibt sich kein klares Muster. - Eindeutige Parallelen zu den Fähigkeiten von Schatthenmeistern. - Auflösung der Schatthen noch immer ungeklärt.   Grauen-Eminenz betrachtete seine Aufzeichnungen. Sonst verfasste er seitenlange Berichte über die Ergebnisse seiner Untersuchungen und ausgerechnet bei seiner ganz persönlichen Versuchsreihe war die Ausbeute so dürftig? Naja, war ja nicht gerade so, als ob er die langen Berichte freiwillig schrieb. Laut seinem Vertrag war er nun mal dazu verpflichtet bei den Experimenten, die er für die Organisation durchführte, jedes Detail festzuhalten. Üblicherweise handelte es sich dabei um Tests mit den Schatthen anderer Schatthenmeister. Das war so eine Art Schatthen TÜV, ob sie denn auch den Ansprüchen des renommierten Pandämoniums (Name seiner Organisation) genügten. Daher musste er auch immer eine bestimmte Zahl seiner Schatthen an das Pandämonium abgeben. Er fand das lächerlich. Und damit meinte er nicht mal den Titel seiner Schatthenmeistervereinigung, der offenbar auf John Milton’s ‚Paradise Lost‘ Bezug nahm, wo die Hauptstadt der Hölle Pandämonium genannt wurde. Was Originelleres war denen nicht eingefallen…  Zurück zum Schatthen TÜV. Wie gesagt. Lächerlich. Aber manche der Schatthenmeister bildeten sich enorm viel darauf ein, dass ihre Schatthen beste Qualität boten und den höchsten Ansprüchen genügten. Ihm war das ziemlich egal. Seine Schatthen entsprachen den Mindestanforderungen und mehr wollte er gar nicht. Er hatte die These aufgestellt, dass man geisteskrank sein musste, um besonders hochwertige, gewiefte Schatthen zu erschaffen, und darauf konnte er gerne verzichten. Seine abwertende Haltung konnte man natürlich auch als den selbstgerechten Versuch werten, die eigene Unterlegenheit herunterzuspielen. Aber ganz ehrlich: Er war sicher, die waren geisteskrank! Ihm fiel auf einem der zahlreichen Bildschirme um ihn herum die Mitteilung auf, dass er vier ungelesene Nachrichten in seinem E-Mail-Postfach hatte. Indem er eine entschiedene Bewegung ausführte, hatte er den entsprechenden Bildschirm vor sich und klickte auf die Schaltfläche. Zwei Mails waren Werbung. Die dritte war der hirnlose Newsletter für Schatthenmeister, in dem meist Tipps standen, die er sich schon in den ersten paar Monaten seiner Ausbildung selbst beigebracht hatte, und Termine für Fortbildungen, die ebenso unsinnig waren. Er hatte anfangs noch auf dringenden Wunsch seiner Organisation an diesen Gruppentreffen teilgenommen.   - Hallo, ich bin Holger und ich erschaffe Schatthen. - Hallo Holger. Wir kennen dein Problem, Holger. Wir fühlen mit dir.   Natürlich lief das nicht so ab – auch wenn der Gedanke ihn trotzdem immer zum Grinsen brachte – war ja alles hoch offiziell und selbstverständlich ging es hier um Berufliches. Und die anderen Schatthenmeister waren ja ach so stolz auf ihre Tätigkeit! – noch ein Grund, warum er sie nicht ausstehen konnte. Die einen prahlten die ganze Zeit, wie viele und welch starke Schatthen sie erschaffen konnten, wieder andere sprachen kein Wort und hatten stattdessen einen Blick drauf, als würden sie eine neue Fähigkeit ausprobieren: das Töten durch Blicke. Obwohl er schon öfters solche Blicke abbekommen hatte, war er bisher stets mit dem Leben davon gekommen, was entweder auf die Unfähigkeit dieser Schatthenmeister zurückzuführen war oder aber darauf, dass diese Fähigkeit doch nicht existierte. Wäre ja auch ziemlich ungeschickt, wenn man das versehentlich einsetzte. Man stelle sich nur vor, man geht zum Bäcker, das belegte Brötchen, das man haben wollte, ist schon wieder ausverkauft, man schaut böse, und plötzlich fällt das Verkaufspersonal tot um! Wenn das mal nicht unangenehm war. Dann musste man sich nur deswegen gleich einen neuen Bäckerladen suchen! Sicher war das die Ursache für die ganzen Back Shops ohne Bedienung, die überall aus dem Boden schossen.   Letzte Mail. Beim Anblick des Absenders und des Betreffs verzog sich Grauen-Eminenz‘ Miene.   Von: Pandämonium. Betreff: Auftrag.   Na toll. Hätte er sich ja denken können. In letzter Zeit hatte es keine Einsätze gegeben. Das Testen der Schatthen von Kollegen (Schatthen TÜV) war eine sehr unbeliebte Tätigkeit unter Schatthenmeistern, da sie mit permanenter Lebensbedrohung einherging. Das größte Problem war die Aufbewahrung und der Abtransport der Schatthen. Die fremden Schatthen sahen den Tester verständlicherweise nicht als ihren Meister an und starteten entsprechend Ausbruchsversuche, die nicht selten in der Tötung dieses Schatthenmeisters resultierten. Aus diesem Grund war seine Organisation dazu übergegangen nur willigen Mitgliedern diese Aufgabe zu übertragen. Diejenigen wurden entsprechend mit weniger anderen Aufträgen behelligt. Grund genug, dass er sich dafür entschieden hatte. Des Weiteren konnte man sich für die Aufgabe des Schatthen-Abholens und Transportierens melden. Und wer es sich zutraute, durfte sich für das Wiedereinfangen von entfleuchten Schatthen einsetzen lassen, wenn sie mal wieder einen Schatthenmeister getötet hatten – manchmal forderte der Betroffene auch noch rechtzeitig Hilfe an, konnte die Flucht aber nicht verhindern. Grauen-Eminenz hatte sich für jedes dieser Ämter eingetragen. Das war ihm weit lieber als die bescheuerten anderen Aufträge vom Pandämonium, die die Alternative gewesen wären. So blieb er die meiste Zeit von dergleichen verschont. Allerdings hatte die Anzahl der Einsätze in den letzten zwei Jahren abgenommen. Die Sicherheitsvorkehrungen der Schatthenmeister waren mittlerweile verbessert worden, sodass es seltener zu Problemen kam. Das hieß, dass er nun doch wieder mehr der anderen Aufgaben übernehmen musste. Und jetzt war es wohl mal wieder an der Zeit dafür. Er öffnete die E-Mail. Eigentlich hoffte er ja immer noch darauf, dass ihm die Organisation eine microSD Karte zuschickte, die er dann in seinen TabletPC stecken konnte, woraufhin ein Video abgespielt würde.   „Guten Morgen, Grauen-Eminenz, […Informationen über den Auftrag…] Ihr Auftrag, falls Sie ihn übernehmen, ist es, […genaue Nennung…]. Sollten Sie oder jemand aus Ihrem Team gefangen oder getötet werden, wird der Minister jegliche Kenntnis von Ihrer Operation abstreiten. Diese Nachricht wird sich in fünf Sekunden selbst zerstören. Viel Glück.“   Aber irgendwie wollte die Organisation ihm den Gefallen nicht tun. Kein Sinn für Nostalgie.   Sehr geehrter Herr Graue Eminenz, Na toll, jetzt arbeitete er doch schon lange genug für die, dass sie sich merken könnten, dass es Grauen-Eminenz hieß. GRAUEN-Eminenz! Nicht Graue Eminenz! Das war ein Wortspiel, verdammt noch mal! Wahrscheinlich unterkringelte Word ihnen die Bezeichnung und schon änderten sie es entsprechend. Diese …! Denen wäre es wohl lieber gewesen, wenn er als Pseudonym Herr Maier gewählt hätte. Schatthenmeister Herr Maier. Großartig. Und so furchteinflößend…   Sie werden in den nächsten Tagen eine Lieferung an die von Ihnen angegebene Adresse erhalten. Die Lieferung umfasst eine neue Form der Lichtlosen, die sie auf ihre Tauglichkeit untersuchen und den beiliegenden Anweisungen entsprechend einsetzen sollen.   Mit freundlichen Grüßen   Pandämonium   Grauen-Eminenz hatte schon gehört, dass andere Schatthenmeister-Vereinigungen Versuche mit Schatthen unternahmen und neue Formen der Lichtlosen erschufen, aber bisher hatte seine Organisation eher einen konservativen Standpunkt vertreten und solche Forschungen abgelehnt. Offenbar hatte sie dem Konkurrenzdruck nun aber doch nicht mehr standhalten können. Vielleicht hatte er auch irgendeine Fusion mit einer kleineren Organisation nicht mitbekommen. Er interessierte sich weniger für die ganzen internen Angelegenheiten. In seiner Ausbildung hatte er entsprechend dem Credo des Pandämoniums auch nicht viel über neue Formen der Lichtlosen gelernt, nur dass sie noch wenig erforscht und daher unsicher und unnötig seien – zumindest laut dem Pandämonium. ‚Lichtlose‘ war der Überbegriff für eine Klasse von Kreaturen, zu denen die Schatthen zählten. Historisch hatte man die ganze Klasse ‚Schatthen‘ genannt, aber aus Unterscheidungsgründen zu der Subklasse Schatthen hatte man sich auf einen Alternativbegriff geeinigt. Gebräuchlich war auch die Bezeichnung ‚Dämonen‘. Schatthen galten als die ältesten Vertreter dieser Rasse. Wobei die Subklasse Schatthen zwei Formen umfasste: die sogenannten Eigenschatthen und die Schlagschatthen. Zu letzteren zählten die Kreaturen, die von Schatthenmeistern erschaffen wurden. Einfachheitshalber ließ man dabei das „Schlag-“ weg und sprach schlicht von Schatthen. Im Gegensatz dazu war ein Eigenschatthen ein von einem Menschen in der eigenen Seele (unbewusst) erschaffener Schatthen, der nach dem Tod der Person weiter existierte. Solch ein Eigenschatthen besaß keinen Körper. Er war eine Art Geist. Grauen-Eminenz war nie einem solchen Exemplar begegnet, daher hielt er das Ganze für eine Legende, die sich aus alten Zeiten bis heute bewahrt hatte. Hoffentlich würde sich diese neue Spezies wenigstens als nützlich erweisen. Er sah auf die Uhrzeit. Zwei Uhr Nacht.   Ewigkeit saß auf dem Fenstersims von Justins Zimmer. Der Beschützer schlief bereits. Ewigkeit konnte nicht schlafen. Sie blickte in den schwarzen Himmel auf, wo der zunehmende Halbmond mit seinem sehnsuchtsvollen Licht eine Sichel in die Finsternis schnitt. Ein Gefühl wurde in ihr wach, das sie nicht verstand. Als wolle sie um jemanden weinen. Sie umklammerte den goldenen Anhänger ihrer Kette, den sie die ganze Zeit in ihren Händen verborgen hatte. Dann hielt sie der Empfindung nicht mehr stand. Sie drückte das Medaillon gegen ihre Wange und begann ganz leise zu schluchzen, in der Hoffnung, dass ihre Tränen sie mit dem verbanden, was sie so sehr betrauern wollte.   Erik schreckte aus dem Schlaf. Es war finster in seinem Zimmer. Die Uhrzeit-Anzeige seiner Stereoanlage im Regal leuchtete in rotem Licht. Zwei Uhr Nacht. Ein grauer Mann. Er schloss die Augen wieder und versuchte das Bild abzuschütteln. Er wollte gar nicht wissen, was Freud zu seinen Träumen gesagt hätte. Sicher irgendetwas über Kastrationsängste. Er öffnete wieder die Augen. Als Kind hatte er Angst vor der Dunkelheit gehabt. Er wusste nicht, wieso ihm das gerade jetzt einfiel. Das drückende Gefühl in seiner Brust musste das verursachen. Er setzte sich auf. Sein ganzer Körper tat weh, als hätte er eine Grippe. Er spürte den Schweiß auf seinem Rücken. Der schwache Schimmer, der durch die Fenster fiel, reichte gerade so aus, um den Weg zu dem Waschbecken in seinem Zimmer zu finden. Er knipste das Licht über dem Waschbecken an und bereute es sogleich. Der grelle Schein war grässlich. Dann stach ihm sein Spiegelbild ins Auge. Er sah blass aus wie seit Jahren nicht mehr und hatte tiefe, dunkle Augenringe, als hätten ihn Erinnerungen im Traum wachgehalten. Das ausgezehrte Gesicht, das ihm entgegen starrte, erinnerte ihn auf entsetzliche Weise an den kleinen Jungen, der sich nicht wehren konnte, der nichts weiter wusste als zu weinen. Es fühlte sich an, als würde er sich in seiner eigenen Vergangenheit wiederfinden, als würde sie ihn verfolgen, hätte ihn eingeholt – überholt! Als würde er mit jeder Sekunde weiter darauf zu gehen, wieder zu dem werden, was er einmal gewesen war – schwach und erbärmlich. Der Gedanke machte ihn krank. Er wollte dieses Gesicht nie wieder sehen. Er knipste das Licht aus. Aber nach wenigen Sekunden konnte er erneut die Züge des Jungen im Spiegel erahnen, als würde nichts dieses Bild davon abhalten können, sich für immer an ihn zu klammern wie ein böser Geist.   Erik erwachte früh am nächsten Morgen, obwohl es Samstag war. Nach seinem Albtraum hatte er nicht wieder in einen ruhigen Schlaf gefunden. Sein Körper war schweißgetränkt. Entsprechend begab er sich direkt unter die Dusche. Was auch immer ihn in seinem Schlummer heimgesucht hatte, hinterließ auch im Wachzustand seine Spuren. Sein Ich fühlte sich grau und abgestumpft an. Automatisch musste er an Secret denken und drehte das Wasser weiter auf, um die unliebsame Erinnerung zusammen mit dem Moschus-Shampoo den Abfluss hinab zu spülen. Der Regler stieß auf Widerstand. Stärker würde der Wasserschwall nicht mehr werden. Erik fühlte den Strahl heftig auf sein Haupt prasseln und seinen Körper hinab fließen, er versuchte, sich allein auf dieses Gefühl zu konzentrieren, auf das Gefühl des Wassers auf seiner Haut, das mit Gewalt versuchte, alles von ihm weg zu schwemmen. Aber es misslang ihm. Er hob seinen Kopf und der Wasserstrahl schoss ihm ins Gesicht. Dann musste er nach Luft schnappen und lehnte sich Hilfe suchend gegen die geflieste Wand. Er war kurz davor loszuweinen. Mit einer harschen Bewegung drehte er das Wasser ab, riss das Handtuch von der Duschwand, trocknete sich in überstürzten Bewegungen ab und stürzte aus der Dusche. Er zog seine Unterwäsche an und trat an den Spiegel, starrte seinem Spiegelbild mit wütendem Blick entgegen. Ein junger Mann mit stechend blaugrünen Augen starrte ihm aggressiv entgegen. Seine Züge waren ungewöhnlich gut aussehend, aber sie hatten etwas Hartes an sich, etwas, das er mit Stärke assoziierte. Als hätte ihn der Anblick beruhigt, wandte er sich ab. In seinem Zimmer zogen seine Gedanken weitere Kreise. Dieses Mal hatte er seine Wahnvorstellung vor Serena und den anderen nicht erwähnt. Er hatte sie nicht danach gefragt, ob er ohnmächtig geworden war. Er hatte das Thema einfach totgeschwiegen. Nicht einmal darüber nachdenken wollte er. Die Quellen seiner Wahnvorstellung waren offensichtlich. Er hatte Serena ohnmächtig am Boden vorgefunden, er wusste um ihre Probleme und Sorgen, und er hatte den Wunsch, ihr zu helfen, sie zu beschützen. Das in Verbindung mit den Geschichten der fünf von Gleichgewichtsbeschützern und magischen Fähigkeiten, gemischt mit irgendwelchen sonstigen Fantasien in seinem Kopf, hatten vernunftgemäß einen solchen Traum ergeben. Ja, wenn man es analytisch betrachtete, ergab das alles einen logischen Sinn. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Wenn er so weiter machte würde er noch in der Klapse landen. Er verließ sein Zimmer und ging hinunter in die Küche. Unverhofft traf er dort auf seine Mutter. Sie trug nicht wie üblich ein schwarzes Kostüm, sondern sportliche Freizeitkleidung, als hätten die Frauenmagazine es an ihr gesehen und es daraufhin als Merkmal für selbstbewusste, starke Frauen verkauft. Selbst in Freizeitkleidung wirkte sie noch immer Respekt einflößend und erhaben. Sie hätte wohl selbst im Schlafanzug geradewegs in ein Meeting von Firmenchefs platzen und die Leute dort das Fürchten lehren können. Was es war, das andere an ihr Furcht einflößend fanden, hatte Erik nie verstanden. Er hatte nicht eine Sekunde seines Lebens Angst vor seiner Mutter gehabt. Nicht wie andere Kinder, wenn sie etwas angestellt hatten. Andererseits hatte er ohnehin immer die Regeln befolgt. „Du schon wach?“, fragte seine Mutter überrascht. Er war wohl der einzige Mensch, der aus ihrer kühlen Stimme und ihrem unbewegten Gesichtsausdruck Überraschung herauszulesen vermochte. „Du noch da?“, gab er zurück. „Meine Schwester kommt nächstes Wochenende.“ Seine Mutter hatte eine eigenwillige Art, ihm Informationen mitzuteilen. Keine Einführung, kein Hinwenden zum Thema, einfach das Aussprechen dessen, was sie ihm noch hatte sagen wollen und wozu sie bisher nicht gekommen war. Dies war dem Umstand geschuldet, dass sie ihn so gut wie nie sah und keinen Fuß in sein Zimmer setzte – als wäre es heiliger Boden, den sie aus ihrer atheistischen Überzeugung heraus mit Verachtung strafte. „Aha.“, machte Erik. „Sie bleibt anderthalb Wochen.“ Erik hielt es nicht für nötig, darauf zu antworten. Auch fragte er nicht, ob sein Vater schon darüber Bescheid wusste, auch wenn es ihn interessierte. Sein Vater hasste Tante Rosa. Sie war die jüngere Schwester seiner Mutter und war schon immer eine Art schwarzes Schaf der Familie gewesen. Das genaue Gegenteil seiner Mutter. Anstatt einen sinnvollen Beruf zu erlernen, war sie in der Weltgeschichte umhergereist, hatte verschiedene Männergeschichten gehabt und war nie über den ‚Kleine Schwester‘-Status hinaus gewachsen. Mit ihren nunmehr über vierzig Jahren benahm sie sich immer noch wie ein Teenager. Zumindest ging Erik davon aus. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Zu den Zeiten ihrer Besuche war er im Internat gewesen. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass man Erik nicht unnötig zu diesen Familientreffen nach Hause holen und dadurch von seinen Studien ablenken dürfe. Erik sah den wahren Grund darin, dass sein Vater ihn so wenig wie möglich dem schlechten Einfluss dieser Person aussetzen wollte. Nicht dass sich der Taugenichts-Defekt durch die Luft übertrug! Man konnte ja nicht vorsichtig genug sein. Die tiefe Abneigung, die sein Vater für seine Schwägerin empfand, beruhte auf Gegenseitigkeit. Als Erik noch klein gewesen war, hatte er Rosa sich gegenüber seiner Mutter ständig über seinen Vater beschweren hören. Seine Mutter hatte auf ihre übliche gekonnt ignorierende Weise darauf reagiert: als hätte sie die Worte gar nicht vernommen oder als seien sie es nicht wert, jeglichen Kommentar dazu abzugeben. Erik war weniger locker damit umgegangen. Bei jedem schlechten Wort, das Rosa über seinen Vater fallen gelassen hatte, hätte er ihr am liebsten wehgetan. Als eine Art Ersatz war er zum Schweigen übergegangen. Egal wie oft sie versucht hatte, mit ihm zu reden, er hatte sie nur böse angefunkelt und ignoriert. Rosa jedoch hatte das bloß ein Lachen entlockt. Darüber war Erik damals nur noch wütender geworden. Im Nachhinein fragte er sich, ob er das nicht nur gemacht hatte, um sich seinem Vater näher zu fühlen. „Sie wird im Gästezimmer übernachten.“ „Hat sie wieder mit einem Typen Schluss gemacht?“ Nun zeigte ihm seine Mutter ein kaltes, spitzbübisches Grinsen. Nur ihr einer Mundwinkel war gehoben, während der andere geradezu tadelnd nach unten zeigte, auch ihre Augenbrauen wirkten eher ermahnend, doch Erik wusste, dass er seine Mutter amüsiert hatte. „Du hast sie schon lange nicht mehr gesehen.“, sagte sie. Erik behielt für sich, dass das nicht an ihm lag. Seine Mutter schien es trotzdem zu verstehen und deutete erneut eine Art Lächeln an. Für Erik war das schon zu viel Lächeln auf einmal. Es machte auf ihn einen verstörenden Eindruck, wenn seine Mutter zu oft auch nur ansatzweise freundlich schaute. Es schien die Weltordnung zu gefährden. Er sah zum Kücheneingang. „Dein Vater ist in die Kanzlei gefahren.“ Erik sagte nichts. Er brauchte ihr nicht noch bestätigen, dass sie seine Gedanken gelesen hatte. Deshalb blieb sein Blick auf den Kücheneingang gerichtet. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er widerstand dem Impuls zusammenzuzucken und seine Mutter entsetzt anzustieren. Die Berührung währte nur einen Atemzug. Der flüchtige Kontakt war ihm so fremd, als hätte sie ihm plötzlich ohne Vorwarnung ins Gesicht geschlagen. Nicht einmal als er als kleines Kind verprügelt worden war und direkt vor ihren Augen geweint hatte, hatte sie ihn berühren können. Sie war vor ihm gestanden - mit ihren perfekt gestylten pechschwarzen Haaren und ihren stechend blauen Augen - und hatte ihn angesehen, als wäre er ein Angestellter, der sich über das Verhalten der anderen Mitarbeiter beklagte. Nicht ein einziges Wort hatte sie gesagt, war einfach dagestanden wie eine tote Götterstatue. Machtvoll und erhaben. Als Erik sich zu ihr wandte, zeigte sie ihm den gleichen würdevollen Blick wie in seiner Kindheitserinnerung. Es war die gleiche Frau. Die Jahre hatten die Härte ihres Ausdrucks nur noch gefestigt. Dann jedoch hoben sich die Mundwinkel seines Gegenübers sachte und zeigten Erik einen Menschen, der ihm fremd war. Tamara Donner verließ den Raum, ohne noch etwas zu sagen.   Wieso brauchten die vom Pandämonium nur immer so lange, um ihm etwas zu schicken? Es war schon Sonntag! Langsam sollte das Paket doch angekommen sein! Er hatte schon mehrmals die Verbindungstür zu dem Lager benutzt, wo das Paket ankommen sollte. Natürlich konnten sie es nicht in sein Schatthenreich liefern. Schließlich besaßen sie keinen Zutritt dazu. Noch so ein Vorteil seines Schatthenreichs. Es war keine gängige Methode, mit seinen mentalen Kräften einen Zugang zu einem eigenen Reich zu schaffen und sich dort zu bewegen. Es war auch nicht Teil seiner Ausbildung gewesen, aber er hatte darüber gelesen, als er auf der Suche nach einem Ort war, wo keiner unbemerkt hinkommen konnte. Er traute dem Pandämonium nicht und auch wenn er sich an den Vertrag hielt, hatte er die Befürchtung, dass sie den Grund für seine Treue für sich ausnutzen könnten. Deshalb war er umso begeisterter von dieser Methode gewesen. Sie war nicht sonderlich genau beschrieben worden, aber nach endlosen Versuchen war es ihm schließlich gelungen, sie zu meistern. Er hatte dem Pandämonium gegenüber zwar angeben müssen, dass er diese Dimension erschaffen hatte, aber da sie keiner ohne Erlaubnis betreten konnte, oder zumindest nicht ohne dass er etwas davon mitbekam, war das nicht weiter schlimm. Seine Lehrmeister hatten ihm auf diese Information hin in schillernden Farben beschrieben, welche entsetzlichen Gefahren eine so unausgereifte Technik mit sich brachte. Schließlich konnte jederzeit alles zusammenbrechen und ihn begraben. Grauen-Eminenz sah das lockerer. Bei anderen Einrichtungen wusste man nie, wie fest das Material war und wie viel Energie es aushielt. In seinem Schatthenreich konnte er dagegen alles regeln und kontrollieren. Okay, manchmal formten sich die Räume um, wenn er sich ihnen nicht genug widmete und manchmal gingen ganze Bereiche verloren. Das war eben dem Prozess des Vergessens geschuldet. Er konnte sich ja nicht an alles erinnern. Aus diesem Grund war er auch dazu übergegangen, alle Bereiche schriftlich festzuhalten, mitsamt einem Vermerk zu den Eigenschaften und einem Bild. Die Alternative wäre gewesen, sich extra Räumlichkeiten zu mieten und sich um deren Instandhaltung zu kümmern. Dann noch die Kosten und der Papierkram und die involvierten Menschen! Nein, danke. Da war ihm das so lieber. Ach, er würde einfach noch mal schauen, ob das Paket nun endlich angekommen war. Die Leute vom Pandämonium würden ja wohl kaum auf eine christliche Tradition der Arbeitsruhe am Sonntag pochen können. Wieder stand er auf und ging zu der Tür, die er extra für diesen Zweck in sein Schatthenreich integriert hatte. Er öffnete sie und spürte sogleich den kalten Hauch der Luft ihm entgegen strömen. Als er in die verlassene Lagerhalle trat, hallten seine Schritte auf dem Betonboden. Oh Mann, er konnte kein Paket entdecken. Langsam war er frustriert. Er hatte darauf gehofft, sich wenigstens mit etwas Arbeit davon ablenken zu können, dass seine eigenen Untersuchungen momentan nur in Sackgassen führten. Er kam sich schon vor, wie die Leute, die alle paar Minuten ihre Mailbox oder irgendeine App checkten. Dann bemerkte er eine pechschwarze Box im Schatten einer Ecke. Sofort hob sich seine Stimmung. Er näherte sich dem Objekt. Die Oberfläche war edel, matt glänzend wie ein Handy-Gehäuse. An der Vorderseite war der Verschluss angebracht wie bei einem Tresor. Oben auf dem Deckel war eine durchsichtige Einschiebetasche, in der ein dickes schwarzes Kuvert steckte. Er zog es heraus und öffnete es. Daraufhin hielt er einen ganzen Stapel Papier in Händen.   Schatthenmeister 436854253894 Er wusste jetzt nicht, ob er diese Anrede besser finden sollte, als die ständige Falschschreibung seines Namens. Es handelte sich um ein Formular über die Lieferung und deren Inhalt: Einhundert Allpträume. Grauen-Eminenz sah noch mal auf die Bezeichnung des Inhalts. Allpträume? Er ließ die Lieferungsbestätigung hinter die anderen Blätter in seiner Hand gleiten. Daraufhin hatte er eine Artenbeschreibung vor sich.   Kurzinfo Spezies: Allptraum Diese in den Sechzigern vermutlich durch einen Unfall entstandene Art zählt zu der körperlosen Klasse der Lichtlosen. Sie besitzt die Eigenschaft, tiefsitzende Ängste in Menschen aufzuspüren und als Grundlage für Trugbilder zu benutzen. Dabei ist es irrelevant, ob es sich um real existierende Entitäten handelt.   Was zum Teufel war eine ‚Entität‘? Gingen die davon aus, dass jeder Schatthenmeister einen Doktortitel hatte oder wollten sie bloß den Absatz von Fremdwörterbüchern steigern? Er überflog die nächsten Zeilen.   Kontroverse - Bla - Angstzustände als Energiequelle - Bla - noch nicht ausreichend erforscht - Bla Traumwelt-Theorie -- fehlende empirische Belege-- Psyche von Menschen … im Schlafzustand auf der gleichen Frequenz … wie die Allpträume -- Eigenschaft des Ängste Aufspürens - mutierter Spiegelneuronen - Angstbilder heraufbeschwören, die der Schlafende als Albtraum erlebt. Sichtbar sind Allpträume nur in einem Frequenzbereich, der dem Traumzustand ähnelt. Allgemein gelten Allpträume als physisch wenig gefährlich. Nur in Fällen von bestehenden Erkrankungen, wie einer Herzinsuffienz, kann es zu Todesfolge kommen.   Was auch immer eine Herzinsuffienz war… Wahrscheinlich Herzschwäche. Es folgte eine Auflistung von Referenzen, Titel, die weitere Informationen für den interessierten Leser lieferten. Deren Lektüre wurde wärmstens empfohlen! Grauen-Eminenz blätterte um, ohne dem weitere Beachtung zu schenken. Er hasste es, wenn die Leute anfingen in ihrem Expertenjargon zu schreiben, als müsse man verstehen, was sie damit meinten. Hier nun fand er die Beschreibung seines Auftrags. Er wollte sich die Vorfreude nicht vermiesen und blätterte darüber hinweg, worauf er auf einen ganzen Katalog an Sicherheitsvorkehrungen stieß. Kein Wunder waren das so viele Seiten… Er steckte den Papierberg wieder in das Kuvert und richtete seinen Blick auf die schwarze Tresor-Box. Erst mal musste er diese Dinger zu sich ins Schatthenreich schaffen. Nun bereute er es doch, dass er keinen Mitarbeiter hatte, der die Fracht für ihn hätte tragen können. So ein buckliger Assistent namens Igor wäre doch ganz nett gewesen.  Kapitel 81: Was sind Allpträume? -------------------------------- Was sind Allpträume?  „Mitternacht. Nicht ein Laut vom Gehweg. Hat der Mond seine Erinnerungen verloren? Er lächelt allein. In dem Licht der Straßenlaterne sammeln sich verwelkte Blätter um meine Füße und der Wind beginnt zu klagen.“ (übersetzt aus dem Lied Memory (= Erinnerung) aus dem Musical Cats)     „Was sind Allpträume?“, fragte Ewigkeit mit großen Kulleraugen. „Hä?“, machte Vitali. Er war gerade erst von seinem Radiowecker aufgeweckt worden, um sich sogleich der über ihm schwebenden Ewigkeit gegenüber zu sehen. Vitali setzte sich auf, sodass Ewigkeit ihm ausweichen musste, und hielt sich den Kopf. Er wollte schlafen. Seine Augen konnte er kaum offen halten. Dämlicher Montag! „Was sind denn nun Allpträume?“, stocherte Ewigkeit weiter und schwebte schon wieder vor seiner Nase herum. „Ich bin müde.“, lallte Vitali. „Lass mich in Ruhe.“ Ewigkeit tänzelte in einem unruhigen Hin und Her in der Luft herum, als warte sie darauf, dass sich das nächste Level eines Spiels endlich geladen hatte. „Oh Mann!“, beschwerte sich Vitali, den ihre Ruhelosigkeit noch mehr störte als ihre Fragerei. Er stand auf und schlich wie eine Urform des Menschen in buckliger Haltung aus seinem Zimmer hinaus, um im Badezimmer seine Evolution nachzuholen. Ewigkeit folgte ihm. „Willst du mir auch noch ins Bad folgen?“, brummte er. Die Kleine schien das wirklich vorzuhaben. „Hast du kein Schamgefühl?“ Augenblicklich machte Ewigkeit ein erschrockenes Gesicht. „Was ist Schamgefühl?“ „Wieso frag ich überhaupt.“, grummelte Vitali und ging ins Bad, Ewigkeit hinterdrein. Vitali stöhnte. „Lässt du mich in Ruhe, wenn ich dir sage, was Albträume sind?“ Ewigkeit nickte eilig mit einem begeisterten Lächeln. „Na gut. Also“ Er stützte sich mit der Linken auf das Waschbecken vor sich. „Albträume sind schlechte Träume. Träume, in denen was Schlimmes passiert und du Angst hast.“ Ewigkeit sah ihn überrascht und ein wenig zweiflerisch an. „Wirklich?“ Vitali warf ihr einen Todesblick zu. „Ja, wirklich.“ Dass sie jetzt auch noch an seiner Autorität zweifelte, ärgerte ihn ungemein. „Hm.“ Ihr Blick ging nachdenklich nach oben. „Was noch?“, grummelte Vitali. „Ich glaube, es war was anderes.“ „Hä?“ „Allpträume.“ „Albträume sind nichts anderes!“, schimpfte er lautstark. „Aber –“ „Nichts aber! Und jetzt raus!“, befahl Vitali und öffnete die Tür. Unzufrieden schwebte Ewigkeit auf die Tür des Bads zu, dann drehte sie sich nochmals zu Vitali um. „Und du bist sicher –“ „Raus!“ Anstatt hinaus zu schweben, war Ewigkeit im nächsten Moment einfach verschwunden. Vitali stöhnte abgrundtief. Im nächsten Augenblick stand er plötzlich wie unter Strom und zerstrubbelte in einem jähen Anfall seine Haare bis sie völlig chaotisch in alle Richtungen abstanden. Warum musste sie auch gleich eingeschnappt sein?! Und das am frühen Morgen! Weiber… Grmpf. … Er würde sich später bei ihr entschuldigen.   Ewigkeit hatte sich in den Kurpark teleportiert. Es war noch stockdunkel. Finster, aber auch faszinierend. Von dem Farbspiel der Laubbäume war jetzt noch nichts zu erahnen, aber die frische, kalte Luft, die nach Laub und Erde duftete, füllte ihre Lungen und ihr Atem brachte kleine Wolken hervor, sobald er ihre leuchtende Hülle verlassen hatte. Das amüsierte sie, sodass sie gleich noch mehr ausatmete, mit ihrem Mund immer weitere Wölkchen formte und fröhlich strahlte. Ihre Atemwölkchen waren ihr eine willkommene Gesellschaft, wie sie so schwerelos vor sich hin trieben. Genau wie sie. Sie kicherte, um den Wolken ihre Fröhlichkeit zu zeigen und winkte ihnen zum Abschied. Dann fielen ihre Mundwinkel. Selbst die Wölkchen flohen vor ihr. Ewigkeit hob ihren weißblonden Lockenkopf und blickte hinauf in den Himmel. Der Mond war noch sichtbar, aber Wolken zogen an ihm vorbei und verdeckten ihn immer wieder. Sie schloss für einen Moment die Augen. Ihre Finger suchten wie automatisch das Medaillon um ihren Hals. Dann wurde sie von einer Sehnsucht gepackt, die so entsetzlich war, dass sie für einen Moment glaubte, sie habe sich eine schlimme Krankheit eingefangen. Ihr Herz tat ihr so weh. Aber gleichzeitig hatte das Gefühl so etwas Verführerisches, dass sie nicht wagte, den Moment zu unterbrechen. Stattdessen hielt sie krampfhaft ihr Medaillon umfasst. Eine unglaubliche Wärme durchflutete sie bei der Berührung und vertrieb mit Leichtigkeit Schmerz und Einsamkeit, um etwas anderes in ihr zu besingen, für das sie keinen Namen kannte.   Vitali hatte sich wie die anderen in der Schule eingefunden. Für die erste Doppelstunde war Wirtschaft angesagt. Während des Unterrichts klopfte es an der Tür und eine Gruppe von Schülern bat darum kurz hereinkommen zu dürfen. Etwas widerwillig stimmte Herr Mayer, der Klassen- und Wirtschaftslehrer, dem zu. Es war ihm anzusehen, dass er jähe Unterbrechungen nicht leiden konnte. Die vierköpfige Gruppe aus Schülern, die aus den höheren Klassen stammten, begann ihr Anliegen vorzubringen. Der Junge der Gruppe hielt dabei ein Plakat in Händen, das auch am Eingang der Schule gehangen, dem aber kaum jemand Beachtung geschenkt hatte. Ein dunkelhaariges Mädchen verkündete: „Am Freitag findet unsere Abiparty hier in der Aula statt. Das Motto ist Halloween. Wir würden uns freuen, wenn ihr kommen würdet. Karten werden heute und morgen in den beiden großen Pausen verkauft.“ Noch wenige Worte des Abschieds und die Gruppe verließ wieder das Klassenzimmer, um auch die anderen Klassen persönlich zu informieren. „Eine Abiparty in der Aula?“, fragte Ariane. Davon hatte sie noch nie etwas gehört. Sie kannte es bloß, dass Abipartys in Discos stattfanden. Andererseits war es eine gute Idee, um Kosten zu sparen. Serena zuckte nur desinteressiert mit den Schultern. Offensichtlich konnte man mit ihr nicht über so etwas reden. Daher musste Ariane wohl oder übel warten, zumal Herr Mayer mit seinen Ausführungen fortfuhr, als wäre eine Abiparty eine Unterbrechung des Lehrstoffs nicht wert.   Nachdem die Schulglocke die Pause eingeläutet hatte, wandte Ariane sich an die anderen. „Wollen wir zu der Halloweenparty gehen?“ „So was Blödes.“, ächzte Serena. Ariane war von ihrer Nörgelei nicht sehr angetan. Warum musste Serena immer alles schlechtreden? „Also ich finde es eine schöne Idee.“ „Halloween ist am 31.“, meckerte Serena. „Nicht am 26.“ Ariane wandte sich an Vitali und Erik. „Was sagt ihr dazu?“ Erik sah sie spöttisch an. „Nächstes Jahr könnten wir auch den Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten feiern.“ Jetzt war Ariane restlos entnervt. „Halloween kommt aus Irland und wurde dort als Samhain-Fest gefeiert. Es ist keltischen Ursprungs.“ Angesichts ihrer Belehrung hob sich Eriks linker Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Ariane wandte sich ab und drehte sich zu Vivien und Justin. „Und was sagt ihr?“ „Ich finde es toll!“, meinte Vivien strahlend. Serena schimpfte: „Du findest alles toll.“ Vivien lächelte unbekümmert, als fände sie an Serenas Behauptung nichts Verwerfliches. Nun mischte sich auch Vitali ein, indem er das Wort an Serena richtete. „In deiner Welt hatten wir ja auch schon genug Halloween für die nächsten paar Jahre.“ Damit traf er einen wunden Punkt. Serena schrumpfte in sich zusammen, während Ariane und Justin Vitali sofort entschiedene Blicke zuwarfen. Erik hatte nichts von dem erwähnt, was vorgefallen war. Wahrscheinlich hielt er das Ganze nur für einen Traum. Aber wenn Vitali mit seinem losen Mundwerk nicht aufpasste, würde das die längste Zeit der Fall gewesen sein. „So schlimm sieht es bei Serena zu Hause nun auch wieder nicht aus.“, antwortete indes Vivien. „Sie hatte keine Zeit aufzuräumen.“ Justin musste wieder einmal feststellen, dass Vivien schneller improvisierte als er. Anstatt Vitali auch noch verdächtige Blicke zuzuwerfen, hatte sie seine Aussage einfach umgedeutet, um Erik so auf die falsche Fährte zu locken. „Hä?“, machte Vitali. „Ich meinte –“ Justin fiel ihm ein wenig zu laut ins Wort: „Ich bin auch dafür, dass wir auf die Halloweenparty gehen!“, In diesem Moment erhob sich Erik lautstark von seinem Platz. Das Geräusch des Stuhls, der über den Boden quietschte, ließ Justin und Ariane zusammenzucken. Erik lief auf die Tür des Klassenzimmers zu, ohne sie jeglichen Blickes zu würdigen. „Wohin gehst du?“, fragte Ariane und konnte den erschrockenen Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrücken In einer geradezu genüsslichen Langsamkeit drehte sich Erik ihr zu. Sein Anblick tilgte sofort den Gedanken, er sei sauer. Aus seiner ganzen Haltung sprach einmal mehr seine anmaßende Selbstgefälligkeit. Er schenkte ihr einen herablassenden Blick. „Karten kaufen.“ Serena begehrte auf. „Ich hab nicht gesagt, dass ich mitgehe!“ Erik stützte sich auf ihren Tisch und lehnte sich mit dem Oberkörper bedrohlich zu ihr. „Du wirst doch mein freundliches Angebot nicht ausschlagen wollen.“ Seine ganze Ausstrahlung unterband Serenas Protest, er fixierte sie an wie ein Raubtier seine Beute. Serena wich nach hinten. Offenbar genügte Erik das als Antwort. Mit einem kalten Lächeln auf den Lippen zog er sich ebenfalls zurück und ging aus der Tür. Ariane bemerkte Serenas Entsetzen mit etwas, das Genugtuung nahe kam. Die ganze Zeit hatte Serena es immer hingestellt, als wären Vitali und sie verrückt. „Verstehst du jetzt, was Vitali und ich meinten?“ Serena hätte sich eher die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass Ariane Grund zu ihrer Frage hatte. „Ewigkeit nennt ihn ja immer den unheimlichen Jungen.“ Ihre Antwort gefiel Ariane nicht. Kleinlaut murmelte sie: „Er ist nicht unheimlich.“ Sie starrte auf die Tischplatte und erinnerte sich an den Moment, als sie selbst Angst vor ihm gehabt hatte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie wollte das nicht denken. Derweil hatte Justin Vitali daran erinnert, dass er den Vorfall von Freitag gegenüber Erik nicht mehr erwähnen sollte. Vitali hatte sich zu ihnen gestellt. „Welchen Freitag? Der erste Freitag oder der letzte Woche?“, spottete er. Mit dem ‚ersten Freitag‘ nahm er offenbar Bezug auf die Nacht ihrer Entführung. „Beides.“. meinte Justin. Vitali stöhnte. „Der könnte sich ja auch echt mal erinnern. Wie macht der das bloß! Ich meine, wie kann er das ignorieren, was letzte Woche passiert ist?“ „Vielleicht ist es besser so.“, sagte Justin. Ariane hatte Einwände. „Wenn er sich irgendwann wieder erinnert und wir ihm nichts gesagt haben, dann wird er sich verraten fühlen.“ „Äh? Wir sagen es ihm doch dauernd!“, entgegnete Vitali verständnislos. Serena unterbrach: „Könnten wir das Ganze besprechen, wenn er nicht jede Sekunde wieder durch die Tür kommen kann?!“ Ariane schwieg. Sie hielt es immer noch für falsch, Erik nicht in ihr Geheimnis einzuweihen. „Vielleicht kann er es gar nicht.“, überlegte Justin laut. Ariane drehte sich verwirrt zu ihm. „Was?“ Justin stellte eine These auf. „Der Schatthenmeister könnte sein Gedächtnis durch einen Mechanismus davon abhalten, dass es sich Informationen merkt, die mit den Beschützern zusammenhängen.“ Vitali hob die Arme und legte die gefalteten Hände auf seinen Hinterkopf: „Das würde mehr Sinn ergeben.“ Er sah jedoch nicht überzeugt aus. Vivien lächelte optimistisch. „Er wird sich schon zum richtigen Zeitpunkt erinnern.“ Sie fuchtelte mit dem Stift, den sie in der Hand hielt, wie mit einen Dirigentenstab, um ihre Worte zu unterstreichen. „Und solange müssen wir einfach Vertrauen haben!“ Sie schenkte Justin einen vielsagenden Augenaufschlag. Verschämt wusste Justin nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Das ist nicht genug.“, klagte Ariane, die Viviens Flirtversuch noch weniger wahrzunehmen schien als Justin. „Könntet ihr jetzt endlich –“, Serena kam nicht dazu den Satz zu beenden. „Worüber redet ihr?“, kam es in lauerndem Ton von der Tür. Erik hatte das Klassenzimmer wieder betreten. Die anderen stockten. Doch wie stets war Vivien um keine Antwort verlegen. „Wir überlegen, wie wir Secret in das Spiel mit einbinden, ohne dass er sich dabei erinnern muss.“ Erik sah sie für einen Moment stumm an, als könne er aus ihrer Miene etwas ablesen. „Und wieso soll er sich nicht erinnern?“ „Weil er sich sonst an die schlimmen Sachen erinnert.“, antwortete Vivien unbekümmert lächelnd. Erik zog die Augenbrauen zusammen. „So schlimm kann es nicht sein, dass er lieber im Unwissen gelassen werden will.“ „Aber würde er das denn glauben?“, fragte Vivien mit regelrecht vorfreudigen Augen. „Dass ihr von Monstern entführt wurdet und magische Kräfte entwickelt habt?“ Erik schaute spöttisch. „Genau.“, sagte Vivien, als würde sie eine Tatsache bestätigen. „Würdest du uns das abkaufen?“ Erik zögerte. Wieder kam er sich vor, als müsste er überlegen, wo Realität anfing und Fiktion aufhörte oder umgekehrt. Diese Vermischung von Wirklichkeit und Rollenspiel würde ihn noch ins Irrenhaus bringen. Für einen Augenblick wollte er sich tatsächlich die Frage stellen, ob er ihnen das glauben könnte, wollte testen, wie er auf die Möglichkeit reagieren würde, dass nichts davon erlogen, sondern alles echt war. Dann fiel ihm ein, wie man es umgehen könnte, Secret die Wahrheit zu sagen: Indem man behauptete, es handle sich dabei nur um ein Rollenspiel. Alles drehte sich um ihn, Realität war eingelassen in die Fiktion, Fiktion eingelassen in die Realität, wie in einer unendlichen Spiegelung. Er erinnerte sich, dass er als kleiner Junge gerne mit dem Spiegelschrank bei ihnen zu Hause gespielt hatte, indem er sich zwischen zwei Türen stellte, die sich beim Öffnen der beiden aneinander grenzenden Schrankteile aufeinander zu bewegten. Je weiter er sie an sich heran zog und so einander annäherte, umso mehr Spiegelbilder von ihm entstanden in der immer enger werdenden Nische zwischen den Spiegeltüren. Ein ewiger Kreis aus Spiegelungen. Damals hatte ihm das Spaß gemacht. Jetzt machte ihm die Vorstellung Angst. Denn während er damals die Türen wieder schließen und die Spiegelungen bis auf eine verschwinden lassen konnte, hatte er nun das Gefühl, dass die Türen ihn zerquetschen würden, wenn er noch länger in sie blickte. Das war grotesk! Er wollte darüber nicht nachdenken! Es war doch nur eine Scherzfrage gewesen! Wie konnte er darüber nur ernsthaft nachdenken? Das zeugte ja schon davon, dass er einen Schatten hatte. Was war nur mit ihm los? „Absurd.“, antwortete er knapp und wandte sich den Karten in seiner Hand zu. Er hielt sie so, dass die anderen sie sahen. „Zwei hab ich geschenkt bekommen.“ „Geschenkt?“, fragte Ariane überrascht. „Die Verkäuferinnen mochten mich.“, entgegnete Erik, als sei das alltäglich. „Die sind zwei Jahre älter als du!“, rief Ariane geradezu empört. „Du wirst doch keine Altersdiskriminierung unterstützen.“, höhnte Erik amüsiert. Als Ariane darauf nichts entgegnete, fügte er nonchalant hinzu: „Ich bin nun mal attraktiv.“ Ariane brauste auf. „Wie kann man das nur so ausnutzen?“ „Ich nutze nichts aus.“, sagte Erik und hielt ihr eine Karte hin. Dann hob er in einer aufreizenden Bewegung die Augenbrauen. „Ich erfreue die Leute nur mit meiner Anwesenheit.“ „Das ist doch -!“, schimpfte Ariane, derweil Vitali laut forderte, eine der Umsonst-Karten zu bekommen. Erik erinnerte ihn daran, dass das nicht sehr gentleman-like war. „Ist mir egal!“, rief Vitali. „Du wirst deine Karte schön bezahlen!“, schrie Serena ihn an. „Wenn ich da mitgehen muss, obwohl ich nicht will, dann wirst du das ja wohl noch zahlen können!“ Vitali antwortete locker: „Kann ich doch nichts dafür, dass du dir von Erik Angst machen lässt!“ Während die beiden sich in einer ihrer üblichen Streitigkeiten ergingen, verteilte Erik die Karten an Vivien und Justin. „Die Karten haben je sechs fünfzig gekostet. Mit den Kostenlosen also sechsundzwanzig Euro. Von jedem von euch krieg ich vier Euro. Wir teilen das gerecht.“ Ariane unterbrach ihn. „Rechnerisch müssen es mehr als vier Euro sein.“ Erneut dieses spöttische Grinsen. „Wenn du mir dreiunddreißig Komma Periode drei Cent geben willst.“ Sie drückte ihm einen fünf Euro Schein in die Hand. „Jetzt zahlen du und ich fünf Euro.“ Kurz schien er widersprechen zu wollen, dann stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen und trat er zu Vitali, um ihm seine Karte zu überreichen. „Ihr könnt mir das Geld auch morgen geben.“ „Vielen Dank, dass du sie uns billiger gibst.“, sagte Justin. „Keine Ursache.“ Ursprünglich hatte Erik vorgehabt, ihm die Karte zu schenken. Schließlich wusste er, dass Justin nicht viel Geld hatte und sein Erspartes für die ganzen Fahrten auf dem Jahrmarkt ausgegeben hatte. Aber er wollte Justin nicht das Gefühl geben, dass er auf ihn herabsah. Für ihn war es nicht leicht zu entscheiden, wie man sich anderen gegenüber verhielt, die weniger Geld hatten. Er wollte niemanden durch unbedachtes Handeln beleidigen. Er hatte als Kind erlebt, dass Leute seine naive Spendierfreude als Angeberei fehldeuteten. Dabei hatte er denjenigen einfach nur eine Freude bereiten wollen. Er hatte nie den Wunsch gehabt, Freunde zu haben, wozu sich also welche kaufen? „Du hättest sie uns auch ganz umsonst geben können.“, nörgelte Vitali, nachdem sie sich wieder gesetzt hatten. „Du würdest dich von mir aushalten lassen, was?“ Vitali schaute ihn mit schwer unterdrücktem Grinsen an. „Wozu bin ich denn sonst mit dir befreundet?“ Erik boxte ihm spielerisch gegen die Schulter. „Man muss auch annehmen können!“, scherzte Vitali nun breit grinsend. „Bei dir ist das nicht annehmen, sondern ausbeuten!“, zickte Serena von ihrem Platz aus. Vitali blieb ruhig. „Sagt die Richtige.“ Serena wurde aufbrausend. „Mir braucht niemand Geld geben!“ „Aber du beutest meine Zuneigung aus.“ Serena erstarrte. „Ich muss dich ständig retten und komme dadurch in Lebensgefahr. Wenn das mal nicht ausbeuten ist!“ Erik tippte ihm auf die Schulter. „Weißt du, was du gerade gesagt hast?“ „Hä?“ Vitali drehte sich zu Serena, aber die hatte sich verschämt abgewandt. Er sah erneut zu Erik. „Was denn?“ Erik grinste breit und musste sich vor Belustigung auf den Tisch stützen. „Du bist so ein Trottel.“ „Wieso?“ Erik lachte bloß. „Hey, wieso?“, drängte Vitali. „Wiesooooo?“   Eine Plexiglasscheibe mit Einwegspiegel gewährte vom Beobachtungsraum aus Einblicke in den Versuchsraum. An der Wand neben der Sichtscheibe befand sich eine lüftungsschachtgroße Öffnung. Grauen-Eminenz hatte sie der Größe des Allptraum-Behälters angepasst. Den der Lieferung beigelegten Informationen hatte er entnommen, dass man über ein Eingabesystem die gewünschte Anzahl der Allpträume wählen konnte, die freigelassen werden sollte. Eine weitere Notiz hatte ihn darüber aufgeklärt, an welcher Seite der Allptraum ‚ausgespuckt‘ würde. Entsprechende Stelle hatte er so platziert, dass der Allptraum in den Versuchsraum befördert werden würde. Der Versuchsraum selbst war entlang der Wände durch eine Energiebarriere abgeschirmt. Grauen-Eminenz hoffte, dass das einen etwaigen Fluchtversuch des Allptraums vereiteln würde. Durch eine in die Wand integrierte Schleuse war der Versuchsraum mit einem Nebenraum verbunden, in dem ein Schatthen wartete. Zum richtigen Zeitpunkt hatte Grauen-Eminenz vor, die Schleuse zu öffnen und den Schatthen in den Versuchsraum zu entlassen. Die Kameras standen bereit, um den daraufhin stattfindenden Kampf der beiden Lichtlosen aufzuzeichnen. Ob auf einem Video jedoch überhaupt etwas zu sehen sein würde, war noch ungeklärt. Nur weil seine Vorgesetzten die wahnwitzige Behauptung aufgestellt hatten, ausgerechnet sein Schatthenreich besäße die nötige Frequenz, auf der Allpträume sichtbar wurden, hieß das noch lange nicht, dass er ihnen das einfach abkaufte. In den Infos war immer nur davon die Rede gewesen, dass Allpträume in Traumwelten agierten. Aber Probieren ging ja bekanntlich über Studieren. Grauen-Eminenz bediente die Automatik des schwarzen Behälters und stellte die Anzeige auf Eins ein. Er sah auf, hinein in den leeren Raum jenseits der Glasscheibe, und wartete das Ergebnis ab. Nichts. Entweder war der Allptraum weiterhin unsichtbar oder es war keiner in dem Raum. Grauen-Eminenz berührte die Scheibe und schaltete dadurch die Energieanzeige ein. Sollte sich etwas Energiereiches in dem Raum befinden, sollte es dadurch sichtbar werden. Der Raum war leer. Plötzlich machte die Box neben ihm ein seltsames Geräusch, das ihn unwillkürlich an die Geisterfallen der Ghostbusters erinnerte. Im gleichen Moment loderte eine Energie in Rot und Gelb auf der Scheibe vor ihm auf. Augenblicklich tippte Grauen-Eminenz die Scheibe nochmals an, um wieder auf normale Sicht umzustellen. Und tatsächlich! Dort war eine Kreatur zu sehen. Sie war klein mit grüner Haut und stachelbesetzten Fledermausflügeln und erinnerte ihn an einen koboldhaften Wasserspeier. Die Augen waren groß, leuchtend, überragt von zwei Augenwülsten, die aussahen wie boshaft zusammengezogene Augenbrauen. Das breite Maul nahm das gesamte Gesicht ein und war zu einem diabolischen Grinsen verzogen, das scharfe Eckzähne entblößte. Der Gesichtsausdruck wirkte, als befinde sich die Kreatur kurz vor einem euphorischen Ausbruch in ekstatischen Wahnsinn. Irgendwie fühlte sich Grauen-Eminenz nun noch mehr wie ein Geisterjäger. Nur dass er derjenige war, der dieses Ding auf die Menschheit loslassen sollte, anstatt es einzufangen. Irgendwie klang diese Aufgabe weniger reizvoll. Er schüttelte den Kopf, sah auf das Schaltpult vor ihm und kontrollierte, ob die Kameras das Bild ebenso einfingen. Die Videoaufnahme bestätigte dies. Das war ein erster Erfolg. Noch einmal nahm Grauen-Eminenz den Allptraum in Augenschein, der in dem Raum herumflog, ohne dabei mit seinen Flügeln schlagen zu müssen. Dann betätigte er einen Knopf und an der gegenüberliegenden Wand öffnete sich eine Luke. Der Schatthen ließ nicht lange auf sich warten. Er stürmte in den Raum, wie auf der Suche nach etwas, das er zerstören konnte. Blutrünstig ließ er seinen gierigen Blick durch den Raum schweifen, fand aber nichts, das seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Schließlich verharrte er in der Mitte des Raumes. Das kleine fliegende Ding interessierte ihn nicht. Selbst einer Fliege hätte der Schatthen mehr Beachtung geschenkt. Dafür näherte sich der Allptraum dem Schatthen umso interessierter. In geeignetem Abstand umkreiste er ihn einmal, zweimal, als würde er ihn inspizieren. Plötzlich stockte er. Es sah aus, als würde er an dem Schatthen riechen, dann verzog sich sein Maul in einer belustigten Mimik, ehe sein Kopf sich ruckartig in Grauen-Eminenz‘ Richtung drehte. Das unheimliche Grinsen der Kreatur wurde noch breiter. Ihr Kopf drehte sich kurz, ihr Blick schweifte über die Umgebung, während sie die Luft einsog, als würde sie Witterung aufnehmen. Sie ließ ein schrilles Gekicher erschallen, das Grauen-Eminenz durch Mark und Bein ging. Etwas in Grauen-Eminenz verkrampfte sich. Schlagartig schoss der Allptraum auf die Scheibe zu, als wisse er genau, dass Grauen-Eminenz an dieser Stelle stand. Die Kreatur funkelte ihn mit einem irren Blick an. Einem gierigen Wahnsinn. Dann zuckte etwas durch den Körper des Lichtlosen und seine Gestalt verformte sich auf groteske Weise. Der Allptraum machte einen Satz zurück, schwoll an, als würden tausende Geschwüre seinen Körper zerfressen, wuchs zu menschlicher Größe heran, ehe der schwarze Klumpen, zu dem er verkommen war, plötzlich wieder Farbe annahm, als hätte man ein Bild wieder scharf gestellt – das Bild einer blutüberströmten Person. Der Ausdruck des leichenblassen Gesichts schwankte zwischen Orientierungslosigkeit und Ohnmacht. Die dunklen Augen rollten, als drohe die Person die Besinnung zu verlieren. Von einer Wunde an ihrem Oberkörper ausgehend färbte sich ihre Kleidung in leuchtendes Rot. Die gebrechlichen Glieder drohten unter ihr nachzugeben, dann riss sie in einem letzten Aufbäumen den Kopf wieder hoch und starrte Grauen-Eminenz direkt in die Augen. Im gleichen Moment streckte sie hilfesuchend die Hand nach ihm aus. Mehr und mehr Blut quoll aus ihrem Inneren hervor, während ihr Gesicht immer bleicher und verzerrter wurde bis sie ihr Gegenüber in purem Hass anfunkelte. Die nach ihm ausgestreckte Hand war in eine vor Pein verkrümmte Haltung übergegangen. Schließlich fielen ihre Arme herab und sie erhob ihren Kopf zum Himmel. Ihre Augen verdrehten sich nach oben, nur noch das Weiß war sichtbar. Mit einem Schrei aus Hass und Schmerz warf sie sich zu Boden, In grausiger Erregung bäumte sie sich immer wieder auf, stieß kaum noch menschliche Klagelaute aus und versuchte sich auf die Scheibe zu zu schleppen. Ihre blutverschmierte Hand klatschte auf das Glas. Dann wurde ihr Blick wieder weich, weich und verletzlich, hilflos. „Hilf mir…“ Die Gestalt riss ihren Kopf zurück, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und begann zu kreischen. Grauen-Eminenz war zurück getorkelt, sein Blick immer noch von der grässlichen Vision gebannt. Erbarmungslos drangen ihre Schreie auf ihn ein. Sie begann seinen Namen zu rufen. Seinen richtigen Namen. Schmerzverzerrt. Hassverzerrt. Hilflos. Dann hielt er es nicht mehr aus. Er warf sich auf den Boden, weg von der Erscheinung. Er musste sich die Ohren zuhalten, bedeckte seine Ohrmuscheln mit beiden Händen. Seine Atmung war hysterisch, er zitterte. Er krümmte sich, griff sich verzweifelt an die Brust, hyperventilierte. Es war nur eine Illusion. Eine Illusion.   Wieder konnte Ewigkeit nicht schlafen, etwas wühlte ihr Inneres auf, als würde ein Teil von ihr Leid erfahren. Sie verließ ihren Platz neben Arianes Bett und schwebte lautlos zum Fenster. Für Momente starrte sie hinaus. Graue Wolken zogen an der hellen Mondsichel vorbei und schluckten ihr Licht. Ewigkeit teleportierte sich nach draußen, als wolle sie dem Mond zu Hilfe eilen. Hier hörte sie das Rascheln der Blätter, das der Wind erzeugte, während er durch die Bäume am Straßenrand fuhr. Der Schein, der sie umhüllte, schützte ihren Körper vor der Kälte. Mit ihrem Mund sog sie die kühle Luft in ihre Lungen. Sie war unruhig und wusste nicht, was sie tun sollte. Rastlos flog sie hin und her, durch die orangefarbenen Lichthöfe der Straßenlaternen. Ihr Kopf schien übervoll, als hätte ihr jemand zu viele Eindrücke auf einmal vermittelt. Eindrücke, mit denen sie nichts anzufangen wusste. Wie sollte sie jemals wieder Schlaf finden, wenn in der Nacht noch viel mehr in ihrem Kopf vorzugehen schien als den ganzen Tag über? Als speise eine andere Quelle ihr Denken. Sie ergriff ihr Medaillon und wusste nicht weiter. Kapitel 82: Halloweenparty --------------------------   Halloweenparty   „Niemand ist der, für den ihn and’re halten.“ (aus dem Lied ‚Maskenball‘ aus der Schumacher Verfilmung von ‚Das Phantom der Oper‘)   Freitagabend fand die Halloweenparty in der Schulaula statt. Die sechs hatten verabredet, sich vorher bei Serena zu treffen. Vitali hatte zwar protestiert, da für ihn der Weg zu Serena ungefähr doppelt so lang war wie der zur Schule, aber Vivien hatte darauf bestanden. Schließlich war Serenas Mutter ohnehin nicht begeistert gewesen, dass ihre Tochter abends ausging, selbst wenn es sich nur um eine Abiparty in der Schule handelte. Mengen an unbekannten Jugendlichen und eventuell sogar Alkohol, das war ganz und gar kein Ort für ihre Tochter! Und dann auch noch nach Einbruch der Nacht, wo alle möglichen Gestalten herumschleichen konnten! Um Serenas Mitkommen dennoch zu ermöglichen, hatte Vivien ihr daher vorgeschlagen, dass sie alle zusammen zur Schule liefen. Auch wenn Serena nichts gesagt hatte, hatte Vivien ihr die Dankbarkeit angesehen. Eigentlich hatten Erik und Ariane in den Bus, den Vitali genommen hatte, zusteigen wollen, Allerdings war von Ariane keine Spur. Erik schickte ihr eine Kurznachricht. Eine Minute später wurde ihm angezeigt, dass er eine Antwort erhalten hatte.   Sorry, bin noch nicht fertig. Hab Serena schon Bescheid gesagt. Beeile mich.   Sie hatte es also nicht für nötig erachtet, ihn darüber in Kenntnis zu setzen. Erik steckte sein Smartphone wieder weg.   „Mama, ich muss wirklich gehen. Die anderen warten auf mich.“, drängte Ariane und bereute es, ihre Mutter um Hilfe bei ihrer Frisur und dem Make-up gebeten zu haben. Frau Bach war leidenschaftliche Friseuse und Kosmetikerin und eine Gelegenheit, Ariane hübsch zu machen, schien für sie eine Art Weihnachtsgeschenk zu sein. Ariane verzichtete meistens auf Make-up und seit sie fünfzehn war, hatte sie ihrer Mutter die Freude genommen, ihr frühmorgens für die Schule eine besondere Frisur zu machen. „Gut Ding will Weile haben.“, sagte ihre Mutter. „Ich sitze hier schon zwei Stunden!“ „Gut, ich fahre dich zu Serena, dann bist du noch rechtzeitig. Aber jetzt lass mich mein Kunstwerk vollenden.“ Ariane stieß die Luft aus. Dann lächelte sie. Wenige Augenblicke später rief ihre Mutter ein stolzes „Voilà!“ Ariane wusste, dass das bedeutete: sie durfte aufstehen. Ihre Reflexion sah ihr aus dem großen Spiegel über dem Waschbecken entgegen. Sie hatte das glitzernde Augen-Make-up mit dem schwarzen Mascara und dem roséfarbenen Lipgloss zwar schon zuvor gesehen, aber nun in der Kombination mit der Frisur sah es noch beeindruckender aus. Hinter ihr hielt ihre Mutter einen Handspiegel so, dass Ariane ihren Hinterkopf zu sehen: In ihre Steckfrisur waren silberner Draht und glitzernde Perlen eingearbeitet, die hell funkelten und nur von den Ohrringen übertroffen wurden, die ihre Mutter ihr geliehen hatte. „Und? Wie gefällt es dir?“ Ariane konnte ihre Mutter im Spiegel freudig lächeln sehen. „Es ist schon fast zu perfekt.“, meinte Ariane freundlich. „Papperlapapp! Du musst doch ein wunderschönes Aschenputtel sein!“ „Mama, ich gehe nicht als Aschenputtel, sondern als gute Fee.“ Ariane griff nach dem Zauberstab, an dessen Kopfende ein großer Stern angebracht war, und hielt ihn ihrer Mutter demonstrativ vor die Nase. Ihre Mutter zuckte nur mit den Schultern. „Das sieht nach Aschenputtel aus.“ Sie deutete auf das lange Kleid aus perlmuttartig glänzendem Stoff, dessen helle Farbe je nach Lichteinfall bläulich schimmerte, und legte den Handspiegel weg. „Außerdem fehlen dir die Flügel.“ „Nicht jede Fee hat Flügel.“ „Und wo ist dein Feenhut?“ „Nicht alle Feen haben einen Feenhut.“ „Aber die, die keine Flügel haben.“ „Mama.“ „Gut, gut, dann bist du halt eine mit einem Zauberstab ausgestattete Prinzessin, die Wünsche erfüllt.“ Ariane gab es auf. „So, jetzt aber flott.“, sagte ihre Mutter und hetzte kurz aus dem Bad, um dann mit einer Schuhschachtel zurückzukommen, die sie Ariane reichte. Ariane öffnete sie und fand darin silberne Pumps. „Mama, du hast nicht gesagt, dass es solche Absatzschuhe sind!“ „Ach, die sind doch nur ganz klein, nur sechs Zentimeter.“ „Das sind Pfennigabsätze!“, klagte Ariane. „Ach papperlapapp, sieh es als Übung, du bist doch sportlich und kannst das Gleichgewicht halten.“, versuchte ihre Mutter sie zu bequatschen. „Und du willst doch nicht etwa deine Sneaker zu dem Kleid anziehen.“ Ariane verzog das Gesicht. Warum hatte sie keine weißen Ballerinas? Und warum merkte sie das jetzt erst? „Du kannst ja als die Tennis-Prinzessin gehen. Dann nimmst du einfach meinen Tennisschläger statt dem Zauberstab“, amüsierte sich ihre Mutter. Widerwillig zog Ariane die Pumps an.   Vitali hatte sich die Kapuze seiner schwarzen Kutte tief ins Gesicht gezogen. Seine linke schwarzbehandschuhte Hand streckte er leicht nach vorne, mit der anderen erhob er drohend die Plastiksense. „Ich bin gekommen, um dich zu holen!“, sprach er in gewollt tiefem Ton. Er hörte keine Entgegnung. „Sie hat die Augen verdreht.“, informierte Erik ihn. Vitali schlug die Kapuze zurück, um wieder etwas sehen zu können und erkannte nun eine in ein schmutzig weiß-graues Kleid gehüllte Person vor sich in der Tür stehen, einen genervten Blick auf ihn werfend. Ebenso weiß-graues Haar spielte um ihr unnatürlich blass geschminktes Gesicht, ihre Augen waren von rötlichen Schatten umrahmt und ihre Lippen waren tief schwarz gefärbt. Vitali drehte sich zu Erik. „Ich hab doch gesagt, es ist das falsche Haus.“ Erik grinste, während Serena entnervt stöhnte. „Kommt rein.“, sagte sie unwirsch. Die Jungen folgten ihrer Aufforderung und traten in die Diele des Hauses. Dort standen bereits ein Sheriff mit Cowboyhut, der zwei Winterjacken im Arm hielt, und rechts daneben eine gruselige Gestalt. Geschockt riss diese die Hände an den Kopf, als sie Vitali erblickte, und rief mit Viviens Stimme: „Serena, du hast den Tod ins Haus gelassen!“ „Muahahaha!“, machte Vitali. „Sheriff, beschützen Sie mich!“, flehte Vivien und klammerte sich an Justins Karohemd fest. Justin schien davon eher verwirrt, als dass er auf die Idee gekommen wäre, den Colt aus dem Holster um seine Hüfte zu ziehen. Als sich Vitali Viviens Kostüm näher besah, musste er lachen. Sie hatte ihre linke Gesichtshälfte durch zahlreiche künstliche Narben und Schminke zu einer lilafarbenen Fratze entstellt. Ihr Haar war an dieser Seite mit Spray umgefärbt und der Anzug, den sie trug, war ebenfalls in zwei unterschiedliche Farben geteilt. Sie erinnerte an eine weibliche Version des Bösewichts Two-Face aus Batman. „Ich hätte gedacht, du würdest eher als der Joker gehen.“, scherzte er. Vivien grinste irre. „Ja, das würde auch zu ihr passen!“, schimpfte Serena. Ihre übertrieben schlechte Laune verstimmte Vitali. „Was willst du überhaupt sein?“ „Eine Banshee.“, antwortete Serena mürrisch. „Was ist eine Banshee?“, fragte Vitali mit einer Grimasse. Serena schaute ihn an, als wäre es schon unter ihrer Würde, überhaupt mit ihm zu reden. „Eine Todesfee, die schreit, bevor jemand stirbt.“ „Ja, im Schreien bist du ja gut.“, grummelte Vitali. Jäh kreischte Vivien auf und erntete dadurch entsetzte Blicke. „Ihr seid im Partnerlook!“ Begeistert deutete sie zuerst auf Vitali, dann auf Serena. „Der Tod und diejenige, die ihn ankündigt!“ Vitali schien das als einziger amüsant zu finden, denn er lachte lautstark und grinste Serena schadenfreudig an. „Du bist mein Ansager!“ „Bin ich nicht!“, fauchte Serena aufgebracht. „Hast du gerade noch selbst gesagt!“ Während zwischen den beiden daraufhin wie üblich ein Streit entbrannte, trat Vivien zu Erik und ergriff seine behandschuhte Rechte, als wären sie Leidensgenossen. „Wir Entstellten müssen zusammenhalten.“ Ehe Erik darauf antworten konnte, klingelte es erneut an der Tür. Vivien ließ daraufhin von ihm ab und übernahm es, die Tür zu öffnen, da Serena sich offenbar nicht von ihrem Streit mit Vitali lösen konnte. Vor der Tür stand in ihrem hellen Märchenkleid Ariane. Das schwache Licht der Lampe neben der Tür spielte über ihre Züge, wurde von ihren Ohrringen zurückgeworfen und fing sich in ihrem Haarschmuck. Ihre edle Schönheit schien dem Mondlicht Konkurrenz machen zu wollen. „Du bist wunderschön!“, stieß Vivien lautstark aus. Bescheiden senkte Ariane den Blick, doch die Freude über das Kompliment war ihr anzusehen. Vivien zog sich zurück, um Ariane Platz zu machen. Die Wunschfee hob ihr langes Kleid, und schritt langsam und sehr vorsichtig über die Türschwelle, um mit den ungewohnten Schuhen nicht zu stolpern. Vivien schloss die Tür hinter ihr. „Aschenputtel!“, rief Vitali. „Ich bin nicht Aschenputtel. Ich bin die gute Fee!“, betonte Ariane und zog ihren Zauberstab wie eine Dienstmarke, die sie Vitali vor die Nase hielt. Erst anschließend fiel ihr Erik auf. Er trug einen edlen schwarzen Anzug mit weißer Fliege. Seine rechte Gesichtshälfte war halb mit einer Maske verdeckt, die seinen Mund aussparte. Auf diesem lag ein undeutbares Lächeln. Ariane erinnerte sich, dass ihre Mutter vor Kurzem einen Roman über das Phantom der Oper gelesen hatte und der Name des Phantoms tatsächlich Erik lautete. Die unverhoffte Namensübereinstimmung ließ sie für einen Moment innehalten. Das Phantom machte mit seinen weiß behandschuhten Händen eine höfische Geste wie um sie zu grüßen. Ariane antwortete mit einem leichten Hofknicks und lächelte. „Du siehst aus wie ein Filmstar!“, jauchzte Vivien. Auch Serenas Blick war auf sie fixiert. Verlegen strich sich Ariane eine Haarstähne hinters Ohr. „Unsinn.“ Vitali lachte: „Brauchst du nen Presslufthammer, um das Zeug wieder runterzukriegen?“ Er deutete mit den Händen an, dass sie eine Tonne Make-up trug. Spielerisch tat Ariane so, als würde sie nach ihm schlagen, was Vitali noch mehr zum Lachen brachte. Wieder fiel ihr auf, dass Eriks Blick auf ihr ruhte. „Was ist?“, fragte sie in seine Richtung. Seine Aufmerksamkeit war ihr unangenehm. „Ich dachte, Aussehen wäre dir egal.“, sagte er mit spöttischem Unterton. Seine Worte trafen sie. Ihr wurde wieder bewusst, was Leute über sie dachten, wenn sie sich so herausputzte. Sie wandte sich ab. Erik wunderte sich einen Moment lang darüber. Er war davon ausgegangen, dass sie seiner Bemerkung mit einer schlagfertigen Antwort begegnen würde. Doch offenbar hatte er einen wunden Punkt getroffen. Kurz drehte er sich zu den anderen. Doch diese schenkten Arianes Reaktion keine Beachtung. Daher wandte er sich mit betont spielerisch provokativer Stimme nochmals an Ariane: „Seit wann will denn die gute Fee auf den Ball?“ Seine Worte erfüllten ihren Zweck. „Seit das Phantom seine Oper verlässt.“, antwortete sie spitz. Ihr Konter ließ ihn schmunzeln. „Können wir dann gehen?“, unterbrach Serena. Nun wieder locker, antwortete Erik: „Seit wann hast du’s so eilig?“ Serena schmetterte seine Frage ab. „Wie viele ‚Seit wann‘-Fragen kommen heute noch?“ Erik reagierte mit künstlicher Überraschung. „Seit wann zählt man meine ‚Seit wann‘-Fragen?“ Serena stöhnte. Im nächsten Moment hörte man eine Tür sich öffnen, und Serenas Mutter trat in die Diele. „Serena, soll ich euch nicht doch fahren?“ Serena wich ihrer Mutter aus. „Ist schon in Ordnung.“ Bei ihren Worten lugte sie beschämt zu den anderen. „Ginge das denn?“, fragte dagegen Ariane. – Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie mit diesen Schuhen die ganze Strecke laufen sollte. Serena warf ihr einen verwirrten Blick zu, als wäre sie davon ausgegangen, dass die anderen es peinlich fanden, dass ihre Mutter sie fahren wollte. „Ja, natürlich!“, rief Frau Funke, die offensichtlich hoch erfreut über Arianes Antwort war. „Kommt!“   Wenige Minuten später ließ Frau Funke die sechs vor der Schule aussteigen. Dort standen trotz der Kälte bereits einige Verkleidete, andere strömten den Eingang hinein. Sie bedankten sich für Frau Funkes Chauffeurdienst und stiegen aus. Als das Auto abgefahren war, wandte sich Ariane an Serena. „Ist es dir unangenehm, wenn wir mit deiner Mutter fahren?“, fragte sie vorsichtig. Ihr war Serenas wenig begeisterter Blick nicht entgangen. „Nein…“, murmelte Serena. Ihre Stimme wurde noch kleinlauter. „Wenn es euch nichts ausmacht.“ Ariane verstand nicht. „Wieso denn?“ Mit halb eingezogenem Kopf zuckte die Banshee nur mit den Schultern. Vitali mischte sich ein: „Wenn wir wegen deiner Mutter schon extra zu dir kommen müssen, kann sie uns ruhig fahren!“ Im gleichen Moment hatte Serenas Stimme wieder ihre übliche Lautstärke wiedergewonnen. „Halt die Klappe!“ „Ist doch so!“ „Du hättest ruhig wegbleiben können!“ Kälte kroch Arianes Beine hinauf, sodass sie nicht das Ende des ausufernden Streits abwarten wollte. „Was haltet ihr davon, hineinzugehen?“, schlug sie stattdessen vor. Der Tod und die Todesfee schienen sich darauf einigen zu können, allerdings nicht ohne einander noch einen bösen Blick zuzuwerfen. Gemeinsam liefen die sechs auf den Eingang zu, an weiteren Gästen vorbei. Aus dem Schulinneren drang bereits Musik zu ihnen vor. Direkt hinter dem Eingang mussten sie bei zwei Schülern aus den höheren Klassen ihre Eintrittskarten vorzeigen. Von ihnen wurden sie darüber informiert, dass sie ihre Jacken in dem ersten Raum links ablegen könnten. Daraufhin begaben sie sich in diese Richtung. Als Garderobe konnte man den Raum, auf den sie verwiesen worden waren, nicht gerade bezeichnen. Es handelte sich um ein Klassenzimmer, in dem Jacken kreuz und quer auf Schulbänken, Stühlen und Fenstersimsen verteilt lagen. Die fünf legten ihre Jacken in eine hintere Ecke des Raums und hofften, dass später noch alles da sein würde. Serena zeterte, wie schlecht das Ganze organisiert war und ihre Mutter sie killen würde, wenn ihre Jacke geklaut würde. Vivien hing sich daraufhin an ihren Arm und strahlte sie an. „Ich freue mich, dass du dabei bist.“ Das machte Serena mundtot. Mit Vivien weiterhin an ihrem Arm hängend, machte sie sich mit den anderen gemeinsam auf den Weg zur Aula. Die Lautstärke der Musik nahm zu, je näher sie dem Zentrum der Veranstaltung kamen. Auch die Zahl der anderen Leute stieg an. Der Vorraum vor der Aula war zum Getränkeausschank umfunktioniert worden, weshalb es dort vor gruseligen und weniger gruseligen Gestalten nur so wimmelte. Die sechs drängten sich an ihnen vorbei, wobei Serena mehr als einmal schimpfte, sie hätte zu Hause bleiben sollen, dabei aber ihren Arm schützend um Vivien gelegt hatte, wie um das einen Kopf kleinere Mädchen davor zu schützen, von den fremden Leuten zerquetscht zu werden. Ariane war froh, hinter Vitali zu laufen, der vorausging. Serenas üble Laune schlug ihr aufs Gemüt, daher war sie umso dankbarer, dass Vitali das Ganze locker nahm. Sie erreichten ihr Ziel und Ariane wurde zu einem Lächeln verführt. Die Aula war mit warmen Orange- und Rottönen ausgeleuchtet. Das farbige Licht von Scheinwerfern schwenkte durch den Raum. Jemand hatte eine Discokugel aufgehängt, deren Reflexionen über den Boden spielten und an die Bilder der amerikanischen Abschlussbälle aus Filmen erinnerten. Auf der Bühne befand sich das Mischpult eines DJs, der gerade einen Remix aus verschiedenen Songs laufen ließ, unterbrochen von Gruselgeräuschen, die er zwischendurch einspielte. Hier drinnen war momentan deutlich weniger los als draußen bei den Getränken. Einzelne Grüppchen standen im Raum verteilt. Strahlend drehte sich Ariane zu den anderen hinter ihr. „Ist das nicht schön?“, rief sie über die Musik hinweg. Justin schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln, wie um ihr wenigstens etwas Zustimmung zuteil werden zu lassen. Vivien strahlte. Serena verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte wenig begeistert und Erik hatte den gleichen undurchdringlichen Gesichtsausdruck wie so oft. Ariane gab es auf und drehte sich – wie Vitali vor ihr – wieder der Bühne zu. Dabei bemerkte sie, wie sich aus einem der Grüppchen drei Personen lösten. Es handelte sich um Amanda, ihre Schwester und eine weitere Freundin. Offensichtlich wollten sie sie begrüßen. Erik trat mit einem Mal einige Schritte vor, als wolle er auf die drei sich nähernden Personen zugehen, scherte dann jedoch zur Seite aus und baute sich direkt vor Serena auf, wie um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Serena sah ihn nur unsicher an. „Gehen wir raus?“ Serena wusste nicht, was sie antworten sollte. Amanda hatte die Gruppe bereits mit einem lauten „Hallo“ begrüßt. Es gab kein Entkommen mehr. Erik schien das anders zu sehen. Er ergriff einfach ihren Arm und führte sie ohne Umschweife hinaus, als existierten keine gesellschaftlichen Konventionen.   Serena wehrte sich nicht und ließ sich einfach von ihm mitziehen. Der Weg war frei. Erst außerhalb der Aula mussten sie sich wieder an der Masse an Getränke-Bestellenden vorbeiquetschen. Jenseits der Menschenmenge blieb Erik schließlich stehen. Serena wagte es endlich zu sprechen. „Was werden sie jetzt denken?“ „Wen interessiert das.“, antwortete er knapp. An Serenas gesenktem Haupt konnte er jedoch ablesen, dass es sie interessierte. „Du musst dich ihr nicht noch freiwillig aussetzen. Schon gar nicht in Kombi mit der anderen Hexe.“ „Ich glaube, sie wollte eine Teufelin darstellen.“, kommentierte Serena und hatte offenbar ihren Humor wiedergefunden. Erik lächelte. „Passt ja.“ Serena senkte wieder den Blick. „Sie hat mich mal Teufel genannt.“ Erik legte ihr die Hand auf die Schulter. „Man sieht oft die eigenen Fehler in anderen.“ Serena sah entsetzt zu ihm auf. Erik brach in ein Lachen aus. Bei dem, was Serena an allen herumzukritteln hatte, war das wohl kein passender Spruch für sie. Er nahm wieder die Hand von ihrer Schulter und lachte weiter bis Serena in sein Lachen mit einstimmte.   „Was haben denn die?“, fragte Susanne, Amandas Schwester, geradezu angewidert. „Sie können euch wohl nicht leiden.“, meinte Vivien freundlich lächelnd. Susanne starrte sie fassungslos an. Vivien lächelte ungerührt weiter. „Das sollte ein Scherz sein.“, erklärte Justin eilig, um die gespannte Situation zu entschärfen – auch wenn er nicht sicher war, ob Vivien das nicht todernst gemeint hatte. Susanne jedenfalls machte nicht den Eindruck, als fände sie das witzig. Amanda kicherte herzallerliebst. Als Gegenpart zu ihrer Schwester in ihrem schwarz-roten Kleid mit dem tiefen Ausschnitt hatte sie sich als Engel verkleidet und stand in einem schulterfreien, sündhaft kurzen Kleid und hohen Absatzschuhen vor ihnen. Ihr bronzeblondes Haar fiel ihr in Locken über die entblößten Schultern und man konnte nicht umhin, sie als schön zu bezeichnen. Ihre Augen fielen auf Ariane. „Du siehst wunderschön aus.“, sagte sie liebenswert. Mit einem verlegenen Lächeln bedankte sich Ariane. „Mit dem Mascara hast du auch nicht mehr solche Schweinchenaugen. Du solltest dich immer schminken.“ Ariane blieb das Kompliment, das sie Amanda gerade noch aussprechen gewollt hatte, im Halse stecken. Ihre Wimpern waren von Natur aus braun und gingen an den Enden teilweise ins Blonde über, so dass ihre Länge erst durch die Wimperntusche richtig zur Geltung kam. Sie hätte nie geglaubt, dass jemand ihre Augen daher als Schweinchenaugen bezeichnen würde. „…Dankeschön.“, presste sie hervor. Amanda drehte sich zu Vivien und kicherte hell. „Das sieht wirklich gut aus. Ich kriege richtig Angst.“ Wieso hatte Ariane nur den Eindruck, dass Viviens Lächeln so viel sagen wollte wie ‚Genau das Gleiche habe ich bei dir gedacht‘. Vielleicht war es Wunschdenken, weil Ariane es nie gewagt hätte, etwas dergleichen zu entgegnen. Nachdem Amanda sich zuckersüß verabschiedet hatte, entschwand sie mit ihrem Gefolge in Richtung des Getränke-Ausschanks. Vitali schimpfte: „Was war das jetzt wieder?!“ „Das frage ich mich auch.“, sagte Ariane verstimmt. „Wieso sind die beiden jetzt einfach verschwunden?“ Ariane bemerkte ihren Fehler in der Interpretation von Vitalis Worten und schaltete eilig um. „Vermutlich wegen Amanda.“ Vitali grummelte, als wäre er beleidigt. „Hoffentlich laufen sie ihr dadurch nicht erst recht über den Weg.“, überlegte Justin laut. Viviens Grinsen ließ darauf schließen, dass sie die Szene gerne miterlebt hätte. „Ich sag den beiden Bescheid!“, rief sie und wollte gerade hinauslaufen, als sie von dem Sheriff aufgehalten wurde. „Nicht, dass wir dich verlieren.“, sagte er. Offensichtlich war das Gruppe-Zusammenhalten ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen. Vivien strahlte ihn mit ihrer nicht entstellten Gesichtshälfte an und nahm seine Hand. Dann rief sie Ariane und Vitali zu: „Wir sind gleich wieder da.“ Ariane rief ihr scherzhaft hinterher: „Das sollte man in einem Horrorfilm nie sagen.“ Dieses Mal drehte Vivien ihr die andere, entstellte Gesichtshälfte zu. „Wenn man der Bösewicht ist, schon!“ Sie grinste. „Justin, sie wird dich töten!“, schrie Vitali im Ton höchsten Entsetzens. Vivien lachte boshaft, während Justin überhaupt nichts zu verstehen schien. Erheitert sahen der Tod und die Wunschfee ihnen nach. „Und jetzt?“, fragte Vitali. „Am besten warten wir hier.“, meinte Ariane, dann trat etwas Vorfreudiges in ihren Blick. „Wir könnten tanzen!“ Vitali schlug mit dem Stock seiner Sense auf den Boden. „Ich bin Gevatter Tod, wenn ich mit dir tanze, wirst du leider sterben.“ „Ich bin eine Fee, ich sterbe nicht so leicht.“ Wieder benutzte Vitali seine Sense als eine Art Hammer. „Tut mir leid, aber das Risiko kann ich leider nicht eingehen.“ „Spielverderber.“ „Du kannst ja Erik fragen, wenn er wieder da ist.“ Augenblicklich verzog sich Arianes Mund. „Da tanze ich lieber alleine.“, murrte sie. „Was hast du gegen Erik?“, fragte Vitali schelmisch grinsend. „Ich habe gar nichts gegen ihn.“ „Ja, wenn du was gegen ihn hättest, hättest du es schon längst eingesetzt.“, scherzte Vitali. Ariane konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Unsinn. Ich will nur nicht mit ihm tanzen. Er ist das Phantom der Oper, ein psychopathischer Killer. Ich tanze mit Serena.“ Vitali prustete. Ariane zog eine Grimasse. „Ja, du hast Recht.“ Serena war so negativ eingestellt, was diese ganze Party anbelangte, dass mit ihr nichts anzufangen war. Sie gab es auf. „In der Gruppe tanzen ist eh das Beste.“ Vitali nickte. „Soll ich uns was zu trinken holen? Da muss man wohl ewig anstehen.“ „Ich brauche nichts. Aber wenn du etwas willst… Ich warte solange hier, damit die anderen uns noch finden.“ Vitali zog seine Kapuze ins Gesicht und gab seiner Stimme einen tiefen Klang. „Der Tod wird dich überall finden. Muahahaha!“ „Zieh das Ding lieber wieder ab, bevor du irgendwo dagegen rennst.“ „Der Tod kennt keinen Schmerz!“ Ariane lachte und sah Vitali davon staksen, ehe er nach wenigen Schritten, die Kapuze zurückwarf. Amüsiert schüttelte Ariane den Kopf und drehte sich in Richtung Bühne. Der DJ spielte gerade ein ruhigeres Lied und sie konnte nicht anders als im Takt der Musik mit zu wippen. Sie sah sich im Raum um. Mittlerweile wurde es etwas voller. Offenbar hatten einige Leute ihr Getränk mittlerweile erhalten, denn es standen viele mit Plastikbechern in Händen herum. An der linken Seite erkannte sie ein paar Mädchen, mit denen sie im gleichen Religionskurs war. Es waren diejenigen, die vor kurzem über sie gelästert hatten, sodass Serena mit der Wahrheit über die Beziehung zu Erik herausgeplatzt war, um sie zu beschützen. Eilig wandte Ariane ihren Blick ab. Sie hoffte, dass die Mädchen sie nicht bemerkt hatten. Die Vorstellung, hier alleine zu stehen, während diese Mädchen lautstark über sie lästerten und mit Fingern auf sie deuteten, gefiel ihr nicht. Vielleicht redete sie sich auch nur etwas ein. Wieso sollten diese Mädchen an ihr Interesse zeigen, schließlich war Erik nicht zugegen. Dennoch war ihr Körper steif geworden und ihr war die Lust daran vergangen, sich zu der Musik zu wiegen. Nun hätte sie sich gewünscht, Vitali wäre nicht gegangen. Ach, Unsinn. Sie war doch kein kleines Kind mehr. Sie drehte sich wieder zum Eingang der Aula, um zu sehen, wann die anderen zurückkamen. Die Sekunden kamen ihr ewig vor. Im nächsten Moment hörte sie eine gehässige Stimme neben sich. „Wen haben wir denn da?“ Ariane fragte sich, ob sie das leicht untersetzte Mädchen mit den feuerrot gefärbten Haaren mit ihren Gedanken unbewusst angezogen hatte. Wie sonst konnte es zu so einem Zufall kommen? Sie konnte sehen, dass die anderen Mädchen der Gruppe weiter an ihrem Platz verharrten, aber begierig zu ihr herüber stierten, als erwarteten sie einen Schaukampf. Soweit Ariane sich erinnerte, hieß das Mädchen, das zu ihr getreten war, Ruth. Ruth war als Marienkäfer verkleidet und trug ein kurzes rotes Kleid mit schwarzen Punkten. Auf ihrem Rücken waren zwei kleine Flügel angebracht und auf ihrem Kopf trug sie zwei Fühler. Das Outfit passte perfekt zu ihrer Haarfarbe und stand ihr wirklich gut. „Wo hast du Erik gelassen?“ Ariane wollte nicht erklären müssen, dass Erik und sie keine Beziehung führten, schließlich interessierte das dieses Mädchen ohnehin nicht. Sie hatte nicht vor, sich auf einen unnötigen Streit einzulassen. „Er kommt gleich wieder.“, sagte sie betont desinteressiert und unterließ es, Ruth dabei anzusehen. Nicht dass diese ihre Worte noch als Provokation missverstand.   Ein erzürnter Unterton trat in Ruths Stimme. „Hältst du dich für was Besseres?“ Ariane wirbelte herum. „Was?“ „Es ist wohl unter deiner Würde, mit anderen zu sprechen.“, stieß Ruth aus. „Das –“ Ariane wollte widersprechen, aber Ruth ließ ihr nicht die Zeit. „Kein Wunder wollen die anderen Mädchen nichts mit dir zu tun haben.“ Ariane blieb das Wort im Halse stecken. „Ich wollte bloß freundlich sein, aber meine Freundinnen hatten Recht. Du bist wirklich eine eingebildete Kuh.“ Mit diesen Worten drehte sich Ruth mit ihrem Getränk in der Hand um und wollte gehen, wurde aber im letzten von Ariane gepackt. Als Ariane bewusst wurde, dass sie unwillkürlich das kleinere Mädchen an ihren Flügeln festgehalten hatte, ließ sie abrupt los und schreckte zurück. Aber das machte den Schaden, den ihr Griff angerichtet hatte, nicht rückgängig. „Hast du sie noch alle?“, schrie Ruth und versuchte ihre Flügel wieder zurechtzurücken, was sich mit einer Hand als recht schwierig erwies. „Das hast du absichtlich gemacht!“ „Es tut mir leid.“, stieß Ariane kleinlaut hervor. „Du Miststück!“, brüllte Ruth, wirbelte herum und schüttete die rote Bowle aus ihrem Plastikbecher direkt auf Ariane. Die klebrige rote Flüssigkeit traf ihr Kleid und ergoss sich über den hellen Stoff. Für einen Moment war Ariane sprachlos. Dann registrierte sie, dass der Rest der Mädchengruppe herbeigerannt gekommen war und nun vor ihr stand. „Was ist passiert?“, wurde Ruth gefragt. „Sie hat mir den Flügel abgerissen. Mit voller Absicht!“ „Das stimmt nicht!“, widersprach Ariane hastig. Ihr Einwand zählte nicht. Die anderen Mädchen starrten sie feindselig an. „Spinnst du? Kannst du es nicht ertragen, dass andere Mädchen auch hübsch sind?“ Ariane war von dieser Frage viel zu überrumpelt, um etwas darauf antworten zu können. Dass man auch nur auf diese Idee kommen konnte, machte sie ganz wirr. „Nur weil du dir einbildest, du wärst die Allerschönste, kannst du dir nicht alles erlauben!“, keifte eine andere in einem Rotkäppchenkostüm. Ariane fand nicht mehr die Kraft für Widerworte. „Was glotzt du denn so dumm?!“ „Du würdest dich sicher nicht mehr so toll fühlen, wenn du weniger hübsch wärst!“, kreischte eine lange, dünne Brünette, die sich als Leopard verkleidet hatte. In einem Akt der Entrüstung tat sie es Ruth gleich und schüttete ihre Bowle über Arianes Kopf. Ariane schrie auf. Die Zucker-Alkoholbrühe verklebte ihr Haar und lief ihr übers Gesicht. Mit einem Mal kam sie sich völlig hilflos vor. In ihrer Not drehte sie sich um und entfernte sich einfach so schnell sie konnte von der Mädchengruppe. „Ja, verschwinde doch!“, schrie ihr die Leopardin hinterher. Ariane wollte rennen, aber die Absatzschuhe verhinderten das. Sie musste sich zusammenreißen. Sie erreichte den Eingang der Aula, wo die ganzen Leute standen. Sie durfte nicht nachdenken. Plötzlich stolperte sie über ihr Kleid, fing sich wieder, aber machte dabei eine falsche Bewegung mit ihrem Fuß und knallte zu Boden. Um sich herum hörte sie Gelächter. „Toller Auftritt!“, grölte eine Jungenstimme. Ariane musste sich wieder aufraffen. Sie biss die Zähne zusammen, zog sich die Schuhe von den Füßen, rappelte sich wieder auf und lief, ohne nach links oder rechts zu schauen.   „Ariane!“, schrie Vitali ihr nach. Sie hatte ihn nicht gehört und war bereits im Gang verschwunden. Vitali wusste nicht, was passiert war. Er war erst auf Ariane aufmerksam geworden, als die Traube, in der er stand, in ein Riesengelächter ausgebrochen war und er die Ursache hatte ausfindig machen wollen. Irgendwie hatte er kein gutes Gefühl bei der Sache. Er entschied sich, seinen Platz in der Schlange, die keine Schlange sondern ein heilloses Durcheinander war, zu verlassen. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Er kämpfte sich weiter und beschloss dann, statt des direkten Wegs in Arianes Richtung, den in die entgegengesetzte zu gehen. Nicht einmal vor seiner Sense hatte man Respekt. Endlich der Menschenmasse entkommen, konnte er wieder Luft schnappen und sah sich um. Er versuchte dieses Mal, um die Menschenmenge herum zu kommen und lief weiter. Dank seiner Größe entdeckte er hinter ein paar anderen Leuten Erik, Serena und die anderen. Er winkte ihnen. Die anderen drängten zu ihm auf den freien Gang. „Das werden ja immer mehr!“, schimpfte Serena. Sie musste schreien, damit man sie überhaupt verstand. „Habt ihr Ariane gesehen?“, fragte Vitali. „Sie sollte doch bei dir sein.“, antwortete Sheriff Justin. „Ich wollte Getränke holen. Eben ist sie aus der Aula gerannt. Keine Ahnung wohin.“ Die Banshee schrie: „Gehen wir erst mal aus diesem schrecklichen Gedränge raus!“ Sie liefen von der Aula weg, bis sie den Eingangsbereich erreichten und bogen dort nach rechts, wo es ruhiger war. „Was ist passiert?“, wollte Vivien wissen. „Keine Ahnung.“, gestand Vitali. Serena hatte derweil ihr Handy gezückt und Arianes Nummer ausgewählt, konnte sie aber nicht erreichen. „Vielleicht hört sie es nicht.“, meinte Justin. „Sie ist vielleicht auf die Toilette.“, erwiderte Serena und lief auch schon in die entsprechende Richtung. Die anderen folgten ihr. Allerdings war die Schlange vor der Toilette bereits so lang, dass sie Ariane sofort hätten entdecken müssen. Daraufhin probierten sie ihr Glück bei den Toiletten auf den anderen Stockwerken. Auch dort fanden sie sie nicht. Erneut versuchte Serena sie telefonisch zu erreichen. Dieses Mal nahm jemand ab. „Wo bist du?“ Eine weinerliche Stimme antwortete ihr. „Ist alles gut, ich komme später zu euch.“ „Nichts ist gut! Wo bist du!“, rief Serena erregt. Die Stimme am anderen Ende stockte. „Ariane, wenn du mir nicht sofort sagst, wo du bist, dann lass ich dein Handy orten!“ Kurzes Schweigen von der anderen Seite. „Im Aufenthaltsraum. Erster Stock.“ „Ich bin sofort da!“ Serena legte auf. Die anderen sahen sie fragend an. „Was ist?“, erkundigte sich Vitali eilig. „Keine Ahnung. Sie hört sich nicht gut an.“ „Dann gehen wir.“, sagte Erik. „Sie hat geweint.“, informierte Serena, als wäre das ein Grund gegen Eriks Anwesenheit. „Es reicht schon, wenn einer sie so sieht.“ Justin erinnerte sich, dass Erik genau das gleiche Argument gebracht hatte, als es um Serena gegangen war. So als wäre es eine große Schande, wenn jemand anderes die eigene Schwäche sehen konnte. „Es wird besser sein, wenn die Mädchen zu ihr gehen.“, stimmte er Serena zu. Eriks Blick war undeutbar. „Wo ist sie?“ „Oben im Aufenthaltsraum.“, sagte Serena. Im gleichen Moment setzte Erik sich in Bewegung, um hinauf in den ersten Stock zu gelangen. Serena hielt ihn auf. „Das kannst du nicht machen!“ Erik warf ihr einen strafenden Blick zu. „Erik.“, tadelte Justin. „Ihr könnt entweder eine Riesenszene vor dem Aufenthaltsraum veranstalten, sodass Ariane gar niemanden zu sich lässt, oder ihr lasst mich gehen.“ „Sie will dich nicht bei sich haben!“, schimpfte Serena. Vivien lächelte Erik freundlich an. „Wenn es Probleme gibt, kannst du uns holen.“ „Spinnst du?!“, kreischte die Banshee. „Danke für dein Vertrauen.“, zischte Erik sarkastisch zu Serena. Beschämt zog Serena den Kopf ein. Sie wusste, dass sie keinerlei Recht noch Grund hatte, an Eriks Feingefühl zu zweifeln. Aber es ging um Ariane! „Ariane ist nicht Serena.“, wandte Justin ein. „Das weiß ich.“, entgegnete Erik und lief die Treppe hinauf. Als er außer Hörweite war, wandte sich Serena an Vivien. „Bist du irre? Ariane wird durchdrehen!“ „Dann solltest du ihr Bescheid sagen.“, antwortete Vivien unbekümmert. „Das verzeiht sie mir nie.“, murmelte Serena. Vivien grinste über beide Gesichtshälften „Wart’s ab.“ Serena verabscheute Viviens dämlichen Optimismus. Derweil nahm Vivien ihr Handy und rief Ariane an. „Erik kommt zu dir.“ Kapitel 83: Tanz mit dem Phantom -------------------------------- Tanz mit dem Phantom „Wenn du die Wahl hast, ob du steh‘n bleibst oder tanzt, dann hoff‘ ich, dass du tanzt.“ (aus dem Lied Wenn du die Wahl hast von Roger Cicero)   „Was?“ Ariane fühlte sich taub. Die Tränen hatten sie völlig erschöpft und ein dumpfes Gefühl in ihrem Schädel hinterlassen. Sie war froh gewesen, dass es im Aufenthaltsraum ein Waschbecken und Papiertücher gab, mit denen sie sich die Nase geputzt hatte. Langsam war ihr alles egal. „Schick ihn einfach weg!“, rief Serenas Stimme von der anderen Seite des Telefons. Ariane fragte nicht nach der Logik dieses Unsinns. Sie fand nicht die Kraft für eine Entgegnung. Schließlich legte sie auf. Für einen Moment saß sie bewegungslos da. Sie wollte überhaupt nicht, dass irgendwer zu ihr kam. Gut, dass sie den Türriegel des Raums zugeschoben hatte. Diese Riegel waren für den Fall eines Amoklaufs an allen Türen des Schulgebäudes angebracht worden, sodass die Schüler auch ohne den Schlüssel abschließen konnten. Im nächsten Moment hörte sie den Versuch, die Tür zu öffnen, der von wenig Erfolg gekrönt war. „Ich bin kein Amokläufer.“, sagte Eriks Stimme. Er hatte sofort verstanden, was seinen Versuch behindert hatte. Ariane schwieg. Auch von der anderen Seite kam kein Geräusch. Sie wartete. Noch immer drang kein Laut durch die Tür. Dass Erik so schnell aufgegeben haben sollte, glaubte sie nicht. Sie wartete. Draußen war es still. Vorsichtig erhob Ariane sich vom Sofa und näherte sich der Tür, darauf bedacht, mit ihrem Kleid keine unnötigen Geräusche zu erzeugen. Die Strumpfhose, die sie trug, hatte sicher schon mehrere Laufmaschen, vielleicht sogar Löcher, aber dafür machte sie im Gegensatz zu den Absatzschuhen keinen Lärm. Sie wusste nicht einmal, wieso sie sich überhaupt bewegte. Sie wollte nicht mehr denken. Ariane lauschte. Nichts. Sie nahm das Ohr von der Tür und wartete weitere Momente. Es änderte sich nichts an der Stille jenseits der Tür. Sie kniete sich hin und schaute durch das Schlüsselloch. Fast hätte sie erwartet, Eriks Auge ihr entgegenstarren zu sehen. Dem war aber nicht so. Niemand war zu erkennen. Sie hielt es immer noch nicht für möglich, dass er so einfach gegangen sein sollte. Andererseits hatte Serena gesagt, sie solle ihn einfach wegschicken. Sie wollte Serena nicht anrufen, um zu erfahren wie sie das gemeint hatte, sonst hätte Erik – so er noch draußen stand – es gehört. Also wartete sie. Schließlich wurde ihr das Warten zu blöd. Sie lauschte nochmals, kontrollierte noch einmal das Schlüsselloch und griff dann nach dem Türriegel – Sie hielt inne. Ihr kam eine bessere Idee. Sie ging zurück zum Sofa, auf dem sie ihre Handtasche, das Handy und ihre Schuhe hatte liegen lassen. Anschließend lief sie zurück zur Tür. Sie wählte Eriks Nummer und horchte, ob sie sein Handy klingeln hören konnte. Wieder nichts. Sie beendete den Anruf. Eigentlich gab es keinen Grund nun nachzusehen, ob er wirklich nicht da war. Es war hirnrissig und unnötig. Aber für einen Moment fühlte Ariane eine regelrechte Freude bei ihrer Detektivarbeit aufkommen. Endlich etwas, das sie ablenkte. Nun wollte sie prüfen, ob sie richtig gelegen hatte. Sachte schob sie den Riegel zurück und öffnete einen Spalt breit. Schlagartig schoss eine Hand vor und packte die Tür. Reflexartig wollte Ariane die Tür wieder zu ziehen, aber die andere Kraft war zu stark. Erik rückte in ihr Blickfeld. Er hatte sich neben der Tür versteckt gehabt und machte nun ein Schließen der Tür unmöglich. „Du willst doch wohl nicht meine Hand einklemmen.“, meinte er lässig. „Dann lass los!“ „Hatten wir das nicht schon einmal?“ Ariane unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass diese Tür nach außen geöffnet wurde, während ihre Haustür, bei der der letzte Streit zwischen ihnen stattgefunden hatte, sich nach innen öffnen ließ, sodass sie dieses Mal ziehen statt drücken musste. „Ich will nicht, dass du reinkommst.“, sagte Ariane, ohne ihn anzusehen. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, dann bemerkte sie eine Bewegung und sah, dass er die Hand weggezogen hatte. Für einen Moment starrte sie ihn an. Er schien nicht länger vor zu haben, sie am Schließen der Tür zu hindern. In der nächsten Sekunde, ließ seine zweite Hand den Türgriff los, so dass Ariane automatisch die Tür zu zog, da sie mit dem plötzlichen Ablassen der gegnerischen Kraft nicht gerechnet hatte. Einen Augenblick lang stand sie da, den Türgriff umfasst. Einem Teil ihres Verstandes war klar, dass es nur konsequent war, nun den Riegel vorzuschieben. Aber sie hörte nicht auf diesen Teil. Es kam ihr lächerlich vor. Sie ließ von der Tür ab und ging hinüber zum Sofa, wo sie sich in das Polster fallen ließ, ohne weiter darüber nachzudenken. Vielleicht wollte sie wissen, was jetzt passieren würde, wollte abgelenkt sein. Nein. Sie wollte einfach nicht denken.   Erik hatte den Laut, den der Riegel hätte erzeugen müssen, nicht gehört. Er wartete einen weiteren Moment ab und fragte sich, ob es richtig war, zu ihr zu gehen. Aber sie hatte nicht verzweifelt gewirkt. Sie hatte sogar die Kraft besessen, ihm Paroli zu bieten, ohne in Tränen auszubrechen. Ariane war nicht wie Serena. Solch ein Spiel hätte er mit Serena nicht veranstaltet. Aber Serena hätte sich gegen seine Anwesenheit auch nicht so gesträubt. Zögerlich umfasste er den Türgriff. Er hatte bei dem kurzen Blick auf Ariane ihre verweinten Augen gesehen. Ihre Wimperntusche und ihr Augen-Make-up waren verlaufen. Ihr Haar war von etwas verklebt. Er ging davon aus, dass es sich um Bowle handelte, da diese augenscheinlich auch ihr Kleid ruiniert hatte. Er musste herausfinden, was geschehen war, ohne sie zu fragen. Er drückte den Türgriff nach unten und zog die Tür auf. Ariane saß auf dem Sofa auf der rechten Seite des Raums. Gegenüber stand eine weitere, farblich nicht passende Couch. Zwischen den beiden Möbelstücken befand sich ein niedriger Tisch. Das hintere Ende des Raums wurde von mehreren Tischen und Stühle eingenommen, an denen man seine Schulaufgaben erledigen konnte. Rechts neben der Tür war ein Waschbecken mit Spiegel angebracht, links fanden sich mehrere Kleiderhaken. Erik schloss die Tür hinter sich mit einem dumpfen Laut und schob den Riegel wieder vor. Er wollte nicht, dass die anderen doch noch auf die Idee kamen, sich einzumischen. Ariane sah noch immer nicht in seine Richtung und schien auch das Schließen des Riegels nicht als Anlass zu einem Kommentar zu nehmen. Erik ging langsam zu ihr, seine Lederschuhe klackten auf dem Holzboden. Etwas abseits von ihr ließ er sich auf die Tischplatte sinken. Kurz warf er einen Blick auf sie, dann wandte er sich ab. Für einen Moment saßen sie schweigend da. Nur das leise Ticken einer Uhr im hinteren Teil des Raums war zu hören. „Willst du nicht fragen?“ Er glaubte, einen bitteren Unterton aus ihrer Stimme heraushören zu können. So als erwarte sie, seinen Spott zu ernten. Dass sie das annahm, bestürzte ihn. Er antwortete nicht. Ariane schnaubte zynisch. „Sehe ich so erbärmlich aus, dass du dich nicht traust?“ Mit einem Mal sprang Erik auf und schlug mit der Hand gegen die Wand hinter ihr. Nun stand er direkt über sie gebeugt und sah aufgebracht zu ihr herab. „Als wäre dein Aussehen wichtig!“, donnerte er. Sie sah verwirrt zu ihm auf. Erik nahm die Hand von der Wand und trat einen Schritt zurück, ohne sie anzusehen. Er holte Atem und sprach mit sachlicher Stimme: „Warum habe ich noch nie gesehen, dass etwas an dir nicht perfekt gestylt war? Warum gibt es keinen einzigen Moment, in dem du nicht so aussiehst, als könntest du direkt zu einem Fotoshooting gehen?“ Ariane starrte ihn an, als habe er ihr eine Ohrfeige verpasst. Ihre Haltung war jäh aufrecht, als sei ihre Würde das Letzte, das ihr geblieben war. Sie erinnerte ihn an eine Königin vor ihrer Hinrichtung. Und offenbar wartete sie nur auf seinen Richterspruch. Erik atmete aus und setzte sich wieder. „Warum hast du dich hier eingesperrt? Er sah sie an. „Weil du zur Abwechslung mal nicht perfekt aussiehst?“ Abrupt fuhr Ariane auf und Erik konnte gerade noch ausweichen, ehe sie ihm eine Ohrfeige verpassen konnte. „Du weißt nichts! Gar nichts über mich!“ Er konnte plötzliche Tränen in ihrem stolzen Gesicht auffunkeln sehen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch, sodass sie schließlich den Blick abwandte und sich zu beruhigen suchte. Sie blinzelte und eine Träne löste sich aus ihren Augen, woraufhin sie ihr Kinn reckte und nach oben sah, wie um weitere Tränen davon abzuhalten, ihrem Inneren zu entkommen. Erik sah sie geschockt an. Stockend brachte sie Worte hervor. „Weißt du, die Leute haben mir immer wieder gesagt, wie ich bin.“ Sie musste schlucken, um weiterzusprechen. Sie befeuchtete ihre Lippen und schnappte nach Luft, die sie vorsichtig wieder ausatmete. „Ariane, du bist hübsch, Ariane, du bist schlau, du bist eine Prinzessin, du hast ein gutes Herz. Ich habe ihnen geglaubt.“ Wieder sah er ihre Augen neue Tränen bilden. „Dann wurde ich älter und die Leute sagten. Ariane, du bist hübsch, Ariane, du bist eingebildet, Ariane, du bist nur auf dein Äußeres aus und nichts weiter.“ Sie gab sich nicht länger die Mühe, die Tränen zu verstecken. „Du bist oberflächlich. Und ich“ Sie schnappte nach Luft „habe ihnen geglaubt.“ Sie schniefte und atmete nun durch den Mund. Tränen rannen ihre Wangen entlang. Für einen Moment biss sie sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Sie sog Luft in ihren Mund und erzeugte dabei ein kaum hörbares Geräusch. „Du fragst mich, warum ich immer perfekt gestylt bin? Warum wohl?“ Sie sah ihn nun erstmals wieder an. „Das einzige,“ Sie musste erneut Atem holen, ihre Augen wurden von neuen Tränen überschwemmt. „das ich habe, ist doch mein Aussehen.“ Wieder liefen ihre Augen über, dieses Mal gefolgt von ihrer Nase. Schnell wischte Ariane es weg und griff nach dem Bündel Papiertücher, das sie wohl schon zuvor für solche Fälle bereitgelegt hatte. Sie schnäuzte sich. „Noch nie hat irgendwer etwas anderes gesehen als mein Aussehen.“, schluchzte sie und kniff die Augen zusammen. Erik erhob sich. Er berührte ihre Schulter. „Wie kannst du so was sagen?“ Ariane weinte. „Ich sehe dich nicht so, Vivien und die anderen sehen dich nicht so.“ Sie schluchzte und nahm die Hände vors Gesicht. „Ich habe nie etwas gemacht, dass die Leute mich arrogant finden könnten. Aber sie tun es trotzdem. Alle denken, ich sei so selbstverliebt.“ Ihre weinerlichen Atemgeräusche konnte sie nicht unterdrücken. „Ich habe doch nie etwas gemacht.“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Erik dann mit einem Mal stumm an. Erik wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, erst als ein bitteres Lächeln auf ihren Lippen erschien, begriff er ihre Gedanken. Er hatte sie am Anfang genauso behandelt – wie jemand, der an ihr nur das schöne Gesicht sah und sie für oberflächlich hielt. Die Erkenntnis traf ihn. Ihre Stimme war jäh ruhig. „Wenn ich mein Aussehen nicht mehr habe, dann habe ich gar nichts mehr.“ Erik fühlte die Worte wie einen Schlag in den Magen. Er erinnerte sich an das Gefühl, das er gehabt hatte, als er sein altes Selbst im Spiegel gesehen hatte. Er nahm die Hand von Arianes Schulter. „Willst du dich selbstbemitleiden?“ Ariane reagierte nicht. „Glaubst du, was diese Leute sagen?“ Wieder keine Reaktion. „Indem du das denkst, tust du was diese Leute wollen! Du bist nicht mehr du selbst, sondern was sie in dir sehen.“ Erik versuchte einen Blick auf ihr gesenktes Gesicht zu werfen. „Du bist nicht das, was andere in dir sehen, sondern das, was du selbst siehst.“ Wieder lachte Ariane bitter und hob ihren Blick. „Wie kann es sein, dass so viele Menschen falsch liegen und ich richtig?“ „Weil diese Menschen dich nicht kennen. Ich kenne dich.“ Er sah sie entschieden an. „Du bist stolz und willensstark, wirklich stur und reagierst oft empört. Aber du bist nicht arrogant.“ Er schnaubte spöttisch: „Wenn du noch bescheidener wärst, hättest du Minderwertigkeitskomplexe.“ Mit seiner behandschuhten Rechten berührte er ihre Wange und strich über den Bereich unterhalb ihrer Augen, wie um Tränen hinfort zu wischen. Die verschmierte Wimperntusche verfärbte seine weißen Handschuhe. Er senkte seine Lautstärke. „Und offenbar hast du die.“ Ariane packte seine Rechte und schob sie grob von ihrem Gesicht weg, vergaß dann jedoch sie wieder los zu lassen. Er drückte ihre Hand. „Sagst du das auch nicht nur, um mich zu trösten?“ „Doch natürlich.“, gab er locker zurück. Ariane warf ihm einen empörten Blick zu. Sein Ausdruck wurde wieder sanft. „Wir sind alle ein bisschen eingebildet. Vielleicht nur, um nicht zu zeigen, wo wir verletzlich sind.“ Er lächelte, dann wechselte sein Gesichtsausdruck erneut und er schmunzelte amüsiert. „Wir sind uns ähnlicher als du glaubst.“ Ariane brauchte einen Moment, um zu begreifen, worauf er hinaus wollte. Erwartungsvoll sah er sie an, als warte er auf ihren Einsatz. Schließlich erinnerte sie sich, dass sie ihm etwas Ähnliches damals auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH gesagt hatte, als sie sich das erste Mal normal unterhalten hatten. Was hatte er darauf entgegnet? „Das heißt wohl, dass ich dir jetzt vertrauen soll.“, rezitierte sie schließlich. „Das erwarte ich.“ Ariane stockte. Sie war sich sicher, dass sie damals gesagt hatte, dass sie das nicht erwartete. Erik lächelte weiterhin sanft und hielt noch immer ihre Hand. Ariane wurde mit einem Mal bewusst, dass sie allein in diesem Raum waren. Sie wusste nicht, wieso ihr das gerade jetzt kam, und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Es war ein komisches Gefühl. Gerade so, als wäre es verfänglich, auf sein Lächeln ihrerseits mit einem Lächeln zu reagieren. Ihr war seltsam zumute und sie getraute sich nicht, seinen Blick zu erwidern oder irgendetwas zu tun. Sie schrumpfte in sich zusammen. „Was ist?“ Noch immer klang seine Stimme so zärtlich, dass sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Hätte er sie nicht wieder ärgern können? Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Ihr Herz pochte und pumpte zu viel Blut in ihren Kopf. Er beugte sich zu ihr. „Alles okay?“ Ariane nickte eilig und wollte, dass er sich wieder entfernte. Sie hatte doch gar keinen Alkohol getrunken, dennoch hatte sie den Eindruck, dass ihr etwas zu Kopf stieg. „Ariane…“ Ihr ganzer Körper war angespannt bei dem Hauch seiner Stimme. „… die anderen warten sicher.“ Eilig hob sie den Kopf. „Ja.“ Hastig lief sie an Erik vorbei, sodass er ihre Hand loslassen musste. Sie eilte auf die Tür zu. Eriks Stimme folgte ihr nach. „Willst du dein Handy und deine Schuhe hier lassen oder soll das eine Aschenputtel-Aktion werden?“ Ariane stoppte, stapfte zurück, packte die Pumps ihrer Mutter, das Handy, ihre Handtasche und die benutzten Papiertücher. „Soweit ich weiß, braucht man dazu einen Prinzen.“, gab sie zurück. Erik lachte. Empört drehte sich Ariane um, warf die Papiertücher in den Papierkorb und lief zur Tür. Sie wollte sie gerade entriegeln, als Erik von hinten eine Hand auf die Tür vor ihr legte. „Das Phantom bittet um einen Tanz.“, flüsterte er neben ihrem Ohr. Verständnislos drehte sie sich zu ihm und fragte ihn mit einer Bewegung ihrer Schultern und Arme, ob er hier drinnen tanzen wolle. „Nicht hier drinnen.“, sagte Erik und schob den Riegel zurück. „Da kann dich ja gar niemand sehen.“ Sein Grinsen war jetzt wieder so diabolisch wie sie es kannte.   Als die anderen Ariane zu Gesicht bekamen, reagierten sie weit geschockter als Erik es getan hatte. Dies war wenig verwunderlich, hatte sich doch die schwarze Wimperntusche wie Pech um ihre Augen herum verteilt und ihr Kleid einen riesigen roten Fleck. Auch was von ihrer Frisur übrig geblieben war, war alles andere als ansehnlich. Daraufhin bestürmten die anderen sie mit Fragen und erkundigten sich nach ihrem Befinden. Während Ariane ihnen daraufhin erklärte, was vorgefallen war, war Erik froh, dass sie ihm das nicht zuvor schon erzählt hatte. Er hätte seine Wut gewiss nicht zurückhalten können. Sicher hätte er ihr Vorwürfe gemacht, dass sie sich das hatte gefallen lassen. Kurz hielt er inne. Er war genau wie sein Vater… Vivien war optimistisch wie eh und je. „Passt doch viel besser zu Halloween.“ „Wir sollten von hier verschwinden.“, sagte Serena und riss Erik damit aus seinen Gedanken. „Ich rufe meine Mutter an.“ „Und diesen Schnepfen den Triumph gönnen? Ganz sicher nicht!“, widersprach Erik. Aufgebracht funkelte die Banshee ihn an. „Schau dir Ariane mal an, glaubst du, sie will so noch mal da reingehen?!“ „Ja! Um zu beweisen, dass es ihr egal ist, was andere von ihr denken!“ „Keinem Menschen auf der Welt ist das egal!“, rief Serena. Erik sah Serena verwundert an. Es war das erste Mal, dass er sie etwas so Ehrliches vor den anderen aussprechen hörte. „Es ist mir nicht egal.“, stimmte Ariane ihr zu. „Aber …“ Erik sah, wie sie mit sich rang. Am liebsten hätte er sie mit sich auf die Tanzfläche gezerrt, aber im gleichen Moment wurde ihm bewusst, dass er damit wieder in die Fußstapfen seines Vaters getreten wäre. „Wenn du willst, gehen wir.“ Es gelang ihm nicht, seine Stimme so klingen zu lassen, als meine er es ernst. Er wusste, dass er Ariane damit unter Druck setzte, so als verbiete er ihr, seine Erwartungen zu enttäuschen. Ariane warf ihm einen zweiflerischen Blick zu. „Glaubst du, ich warte auf deine Erlaubnis?“ „Du hast gerade so geschaut!“, rief Erik und kam sich im gleichen Moment vor, als würde Vitalis Verhalten auf ihn abfärben. Seit wann benahm er sich trotzig? Er gab Ariane die Schuld daran. Mit ihrem unvorhersehbaren Verhalten brachte sie einen völlig aus dem Konzept. „Vivien hat Recht. Das Kostüm passt so viel besser zu Halloween und wir wollen das Geld doch nicht umsonst ausgegeben haben.“ Ariane lächelte die anderen an. „Ich will nur noch die Schuhe in die Garderobe bringen. Sie ständig herum zu schleppen, ist nicht so toll.“ Erik begleitete sie zur Garderobe und reichte ihr beim Herauskommen den Arm. „Ich hoffe, du hast den Tanz nicht vergessen.“ „Nein.“, sagte Ariane mit hoch erhobenem Haupt. Er wusste beim besten Willen nicht, wie sie einmal so eingeschüchtert und im nächsten Moment so beeindruckend stark sein konnte. Sie lächelte ihn keck an.   Während die sechs sich wieder auf den Weg zur Aula machten, zeterte Serena, was sie den Mädchen antun würde, die Arianes Kostüm ruiniert hatten. „Du machst ja doch nichts.“, meinte Vitali gelangweilt. „Meinst du?“, sagte Serena mit einem bedrohlichen Blick. Vitali drehte sich eilig zu Vivien und Justin. „Hat Ewigkeit nicht irgendwann mal gesagt, dass wir unsere Kräfte nur für den Kampf einsetzen dürfen?“ Vivien und Justin schüttelten die Köpfe. „Mist.“ Er drehte sich wieder zu Serena. „Ich halte es für keine gute Idee, irgendwelche Leute zu paralysieren.“ Ein gespenstisches Grinsen breitete sich auf Serenas Zügen aus. Offensichtlich war sie selbst gar nicht auf die Idee gekommen. „Als dein Partner bin ich dagegen!“, protestierte Vitali. Serena lächelte gruselig. „Du könntest uns unsichtbar machen!“ Nun schien Vitali nachdenklich zu werden. „Das wäre gar keine schlechte Idee.“ Auch er begann, unheimlich zu grinsen. „Hört auf mit dem Unsinn.“, schimpfte Ariane. „Das mit dem Rollenspiel finde ich langsam bedenklich.“, meinte Erik. „Das sind die Kostüme, dann bilden sie sich noch mehr ein.“, entgegnete Ariane und deutete Erik an, dass die beiden durchgeknallt waren. Serena warf Ariane einen entschiedenen Blick zu. „Wir sind der Tod und die Todesfee, wir lassen uns von einer …“ Serena schaute zu den anderen „Wie soll ich sie jetzt bezeichnen?“ Vivien schlug vor: „Die dreizehnte Fee aus Dornröschen!“ „Ist ein bisschen lang.“, fand Vitali. „Vielleicht böse Fee.“, war Justins Idee. „Wieso bin ich jetzt böse?“, beschwerte sich Ariane. „Nur weil man nicht perfekt aussieht, wird man gleich zum Bösewicht erklärt? Außerdem versuche ich euch davon abzuhalten, etwas Gemeines zu tun!“ Vivien rief: „Dann bist du das Gewissen!“ „Blutiges Gewissen.“, kommentierte Erik amüsiert. Ariane verzog den Mund. „Ich bin immer noch die gute Fee. Eine nicht ganz so konventionelle gute Fee.“ Wie um diesen Entschluss zu bekräftigen, zog sie ihren Zauberstab aus dem Band, das die Taille ihres Kleides definierte und in das sie den Stab gesteckt hatte. „Die Leiche einer guten Fee!“, war daraufhin Viviens Vorschlag. „Dann bin ich halt der Geist einer ermordeten guten Fee.“, lenkte Ariane widerwillig ein, damit die anderen endlich Ruhe gaben. „Also ich fand das mit dem Gewissen ganz interessant.“, meinte daraufhin Erik. Ariane gab ein genervtes Geräusch von sich, woraufhin er lachte. „Ich vergesse das gleich mit dem Tanz.“, drohte sie. „Glaubst du, ich habe es so nötig?“, fragte Erik. „Ja.“, gab sie trocken von sich. Er grinste. „Man kann ja auch nicht jeden Tag mit dem blutigen Gewissen einer ermordeten guten Fee tanzen.“ Ariane warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Als sie endlich in der Aula ankamen und sich auf Eriks Drängen hin etwas weiter in die Mitte der Tanzfläche vorgekämpft hatten, endete die Musik. Der DJ machte eine Durchsage, dass das nächste Lied allen Pärchen gewidmet sei. Ariane konnte nicht fassen, wie viel Pech sie an einem Tag haben konnte. „Perfekt.“, sagte hingegen das Phantom an ihrer Seite. Zumindest glaubte sie das von seinen Lippen ablesen zu können, hier drinnen war es zu laut, als dass man einander ohne Weiteres verstanden hätte. Erik verbeugte sich vor ihr und reichte ihr die Hand. Eine unmissverständliche Aufforderung. „Hast du nicht gehört, das ist für Pärchen!“, rief Ariane, um dem zu entgehen. Erik setzte ein verständnisloses Gesicht auf und deutete mit einer Geste an, dass er sie nicht hören konnte. Ariane war sicher, dass er sie sehr wohl verstanden hatte. Um sie herum stand eine Vielzahl an Leuten. Die Tanzfläche war voll und man hatte nicht viel Platz, um sich zu bewegen. Sie sah zu den anderen. Vivien hatte die Gelegenheit ergriffen, um Justin um diesen Tanz zu bitten. Dieser lehnte aber verlegen ab, woraufhin Vivien ihren Schmollmund einsetzte, bis Justin sich endlich überreden ließ. Serena und Vitali indes waren offenbar noch immer mit Racheplänen beschäftigt. Anders konnte sich Ariane nicht erklären, dass die beiden sich so angeregt miteinander unterhielten, indem sie sich abwechselnd in die Ohren schrien und unheilvoll lachten. Erik wartete noch immer darauf, dass sie mit ihm tanzte, und es gab offenbar nichts, was sie als Ausrede hätte benutzen können. Ihr Blick schweifte nochmals über die Menschenmenge. Ihr fiel jetzt erst auf, dass viele bei diesem Lied nicht tanzten und stattdessen diejenigen beobachteten, die es taten. Na großartig. Sie konnte von Weitem ihr bekannte Gesichter erkennen und glaubte, auch Ruths Kostüm weiter hinten ausmachen zu können. Daraufhin zog sie den Kopf ein. Sie wollte nicht gesehen werden. Erik, der es offensichtlich leid war, auf ihre Reaktion zu warten, trat einen Schritt auf sie zu, ergriff ihre Handgelenke und legte ihre Arme um seinen Nacken. „So tanzt man nicht!“, rief Ariane ihm ins Ohr. Er beugte sich im Gegenzug ebenfalls zu ihrer Ohrmuschel „Pärchen schon.“ „Wir sind kein Pärchen!“ Sie hörte ein kehliges Lachen an ihrem Ohr. Was sollte das bitteschön bedeuten? Plötzlich wurde ihr heiß. Dummer Erik. Er schlang seine Arme um ihre Taille, legte seine Hände auf ihren Rücken und schien nicht vorzuhaben, seinen Kopf wieder von ihrem zu entfernen. Ungeschickter als für sie üblich folgte Ariane seinen Schritten. Es war komisch, Erik so nahe zu sein. Zumindest war es die Seite, mit der Maske, die er ihrem Gesicht zugewandt hatte. Aber das änderte nichts daran, dass der Geruch seines After Shaves und das Gefühl, seinen Körper zu berühren, wenn auch nur flüchtig, sie verwirrten. Als Erik plötzlich sein Gesicht noch weiter zu ihrem Kopf hin drehte und sie seinen Atem an ihrem Ohr spürte, blieb sie abrupt stehen. „Dein Haar“, hauchte Erik, „riecht nach Bowle.“ „Weil Bowle darin klebt!“, kreischte Ariane und amüsierte Erik damit einmal mehr. Fast hätte sie ihm vorgeworfen, unromantisch zu sein, als ihr auffiel, wie unpassend dieser Begriff war. Geradezu abartig! Sie schämte sich, dieses Wort überhaupt im Sinn gehabt zu haben. Sie drehte ihr Gesicht weiter von Erik weg und begann wieder zu tanzen, dieses Mal ohne sich unnötige Gedanken zu machen. Eriks Worte gingen ihr durch den Kopf. Sie hätte nie geglaubt, dass gerade er ihr in einer solchen Situation helfen könnte. Aber er hatte es getan. Wenn Serena und Vivien zu ihr gekommen wären, hätte sie den Ball sofort dankbar verlassen. Sie hätte sich nie im Leben getraut, noch einmal die Aula zu betreten. Noch immer wusste sie nicht, woher sie die Kraft nahm. Der Gesang des Liedes, das gespielt wurde, drang in ihr Bewusstsein.   You raise me up so I can stand on mountains. Weil du mich aufrichtest, kann ich auf Bergen stehen. You raise me up to walk on stormy seas. Weil du mich aufrichtest, kann ich über stürmische Meere gehen. I am strong when I am on your shoulders. Ich bin stark, bin ich auf deinen Schultern. You raise me up to more than I can be. Weil du mich aufrichtest, bin ich mehr als ich es alleine sein kann.   Ariane seufzte und rief in Eriks Ohr ein „Danke“, zu dem sie sich von dem Liedtext genötigt gefühlt hatte. „Dass ich mit dir tanze?“ „Nein.“ Erik wartete einen Moment. „Du magst es nicht, wenn man dir Komplimente zu deinem Aussehen macht.“ Ariane wusste nicht, worauf er hinaus wollte und ging ein Stück nach hinten, um sein Gesicht zu sehen. Erik schien zu zögern, Er schüttelte kurz den Kopf, dann nahm er wieder seine Tanzposition ein. Offenbar hatte er nichts weiter zu sagen. Erst nach weiteren Klängen des Liedes, bei denen sie aufgrund der Enge immer nur kleine Schritte gemacht hatten und wohl eher aussahen wie Blätter, die vom Wind hin und her bewegt wurden, kam sein Mund ihrem Ohr so nahe, dass er dieses Mal nicht schreien musste. „Es ist nicht dein Aussehen, das dich schön macht.“ Ariane erfasste die Worte nicht sofort. Aber augenblicklich fühlte sie sich wieder verlegen. Dieses Mal wehrte sie sich nicht, als Erik seinen Kopf gegen den ihren lehnte, stattdessen versuchte sie, das ungewohnte Gefühl in ihren Wangen zu ignorieren. „Ich sehe dich.“, flüsterte Erik in ihr Haar, doch Ariane hörte die Worte sicher nicht, dafür war es zu laut. Es war auch nicht weiter wichtig. Erik genoss den Moment. Kapitel 84: Freigelassen ------------------------ Freigelassen  „Kein Ereignis ist so schrecklich wie die Angst davor.“ (Andreas Tenzer, Aphoristiker)   Ewigkeit hatte die ganze Woche damit zugebracht, herauszufinden, was Allpträume waren. Aber sie war zu keinem Ergebnis gekommen. Die Beschützer hatten ihr alle die gleiche Antwort gegeben und sich nicht weiter dafür interessiert. Dennoch konnte sich Ewigkeit damit nicht zufrieden geben. Jeden Morgen erwachte sie mit diesem Drang, als hätte sie die ganze Nacht lang einen stummen Kampf ausgetragen, an den sie sich nicht erinnerte. Und heute waren die Beschützer einfach auf diese Halloweenparty gegangen. Sie seufzte und wandte sich an Kai und Ellen, Vereinens jüngere Geschwister, die im Kinderzimmer saßen und ein Brettspiel spielten. „Wisst ihr, was Allpträume sind?“ Die beiden sahen sie überrascht an. Kai antwortete, als wüsste er genau Bescheid. „Das ist, wenn du schlecht schläfst und dann Monster in deinen Träumen vorkommen.“ „Monster!“, rief Ewigkeit aufgeregt und schwirrte auf und ab. „Wie Schatthen?“ „Ja, genau.“, bestätigte Kai bestimmt. Ewigkeit begann zu strahlen. „Schatthen!“ Dann zog sie ein ernstes Gesicht. „Wir müssen sie aufhalten!“ Ellen lachte. Kai sah sie ernst an. „Du kannst Albträume doch nicht aufhalten.“ „Wieso nicht?“ Nun war Kai sichtlich um eine Antwort verlegen. „Keine Ahnung.“ Unzufrieden drehte Ewigkeit wirre Pirouetten in der Luft und landete dann auf dem Spielbrett. „Was sind das für Monster?“ „Ganz verschieden!“, meinte Ellen. „Ja, das ist bei jedem anders.“, sagte Kai. Ewigkeit lief wie ein General mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf dem Spielbrett hin und her. „Sie können sich in alles verwandeln.“, murmelte sie vor sich hin. Sie blieb stehen und wandte sich wieder Kai und Ellen zu. „Und wo sind sie?“ Ellen brachte freudig ein: „Sie kommen wenn man schläft!“ „Das ist nur in deinem Kopf.“, versuchte Kai zu erklären. Ewigkeit schaute geschockt. „Sie gehen nachts in den Kopf! Und dann?“ Ellen antwortete: „Wenn man wieder aufwacht, sind sie weg!“ Wieder versank Ewigkeit in Gedanken, dann wirkte sie mit einem Mal entschlossen. Sie schwebte wieder in die Luft und stellte keine weiteren Fragen.   Seit Montagnacht schwirrte der Allptraum in dem gleichen kleinen Versuchsraum herum. Grauen-Eminenz hatte die angrenzenden Räumlichkeiten seither nicht mehr betreten. Einzig über ein Blickfenster behielt er die Kreatur im Auge. Dem Lichtlosen schien der Aufenthalt in Grauen-Eminenz‘ Schatthenreich nicht zu stören. Nein, er genoss ihn regelrecht! Oft witterte er etwas, als biete die Umgebung allein ihm genug Angst– als könne er sie aus den Wänden heraus saugen. Ekel kam in Grauen-Eminenz hoch, so oft er den Allptraum betrachtete. Der widerwärtige Gedanke, die Kreatur fresse sich immer tiefer in sein Inneres, ließ ihm keine Ruhe. Nach dem Vorfall hatte er im Intranet des Pandämoniums nach weiteren Informationen über die Allpträume gesucht, allerdings nichts gefunden. Man hätte meinen sollen, dass eine Organisation, die ein solch geschicktes Gefängnis für diese Kreaturen anfertigen konnte, etwas mehr über sie wissen müsste! Allerdings war er mittlerweile ziemlich sicher, dass das Pandämonium diese Allpträume entweder von einer anderen Organisation gekauft oder – wahrscheinlicher – gestohlen hatte. Daraufhin hatte er sich doch noch die Liste der weiterführenden Literatur über Allpträume angesehen. Zum Glück waren die Titel bei der Online-Bibliothek des Pandämoniums einzusehen. Er hatte sich nun ewig durch staubtrockene, theoretische Texte gequält, die wenig aufschlussreich gewesen waren, da sie alles in Abrede stellten, bis er sich schließlich genauer über die umstrittene Traumwelt-Theorie informiert hatte. Einfach nur weil diese in den ganzen Texten immer wieder als unsinnig betitelt worden war. Die Traumwelt-Theorie besagte, dass in die objektive Realität unzählige individuelle Wirklichkeiten eingelassen waren. An einer Stelle waren diese auch Seelenwelten genannt worden. Diese individuellen Wirklichkeiten waren an einzelne Lebewesen gebunden, wobei es offenbar Diskussionen darüber gab, was im Sinne der Theorie als Lebewesen galt. In diesem Kontext wurde die reale Welt als Hintergrundfolie verstanden, vor der unzählige individuelle Welten immer wieder neu entstanden und vergingen. Die Traumwelt stellte dabei eine seelenwelt-interne Dimension dar, die sich immer dann entfalten konnte, wenn bestimmte Gehirnwellen erreicht wurden, die typisch für den Schlafzustand waren. Von allen Seiten wurde diese Theorie als Unsinn und nicht durch Forschungsergebnisse belegt kritisiert. Ob die ganzen Aussagen aber nun hochwissenschaftlich waren oder nicht, war Grauen-Eminenz gerade herzlich egal. Er musste schließlich mit etwas arbeiten. Doch schlussendlich brachte ihm alle Theorie nichts. Er brauchte eigene Ergebnisse. Aber dazu musste er den Allptraum aus seinem Schatthenreich in die normale Welt entlassen. Nur so konnte er Erkenntnisse über die Kreatur und ihre Fähigkeiten gewinnen. Zu diesem Zweck hatte er in dem Nebenzimmer des Versuchsraums, in dem sich der Allptraum befand, ein Portal erschaffen, das in die normale Welt führte. Den Schatthen, der zuvor den Raum mit dem Allptraum geteilt hatte, hatte er bereits in eine andere Räumlichkeit umquartiert. Noch eine unberechenbare Bestie mehr war das letzte, das diese Gleichung gebrauchen konnte.   Freitagmittag: An der Stelle jenseits des Portals – einem alten, verlassenen Hinterhof – hatte Grauen-Eminenz mehrere Blickfenster errichtet. Die eine Hälfte diente der Bildaufzeichnung, die andere dem Aufzeichnen der Energierate. Doch dieses Mal wollte er sich nicht allein auf seine Blickfenster verlassen. Er musste mit eigenen Augen sehen, was die Kreatur tun würde, sobald sie in die normale Welt kam. Daher stand er nun selbst in eben jenem Hinterhof. Es war Tag, für ihn eine ungewöhnliche Zeit zu arbeiten, aber das menschliche Sehvermögen war nun einmal nachts eingeschränkter als tagsüber. Er beherrschte zwar das Sehen in der Dunkelheit, aber er würde seine volle Konzentration schon brauchen, um sich notfalls gegen den Allptraum wehren zu können. Auch wenn die Theorie besagte, dass der Lichtlose ihm nur gefährlich werden konnte, wenn er schlief oder sich in einer Traumwelt-ähnlichen Umgebung befand, wollte er auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Nicht nach dem letzten Vorfall. Um sich den Blicken des Allptraums zu entziehen, hatte er einen Spiegelungstrick angewandt, der den Anschein annähernder Unsichtbarkeit verlieh. Auch wenn er bezweifelte, dass dies die Kreatur täuschen konnte. Selbst der Einwegspiegel des Versuchsraums hatte seine Anwesenheit nicht vor dem Allptraum verbergen können. Diese Kreatur achtete auf andere Dinge als das Sehen. Grauen-Eminenz machte sich bereit. Ein Gedanke von ihm genügte, um die Luke zu dem Raum mit dem Portal zu öffnen. Dazu musste er nicht selbst im Schatthenreich anwesend sein. Er wusste nicht, wie lange der Allptraum brauchen würde, bis er den neuen Ausgang ausprobierte. Grauen-Eminenz wartete. Er musste nicht lange warten. Keine zwei Minuten später konnte er den Allptraum sehen. Er stand im Portal und starrte heraus, wie um abzuwägen, ob es sich lohnte den jetzigen Aufenthaltsort zu verlassen. Dann schwebte er heraus. Im gleichen Moment änderte sich etwas in seiner Substanz. Grauen-Eminenz war trainiert genug, um auch Phänomene zu erkennen, die normale Menschen nicht mehr sehen konnten, sodass er die Gestalt des Allptraums weiterhin in durchscheinender Form wahrnahm, als handle es sich um einen Geist. Grauen-Eminenz streckte seinen Arm aus, um der Energie nachzufühlen. Der Messapparat an seinem Handgelenk diente allein der Aufzeichnung. Was am verlässlichsten und genausten die Feinheiten herauszufiltern vermochte, waren seine eigenen Sinne und die lieferten nun erstaunlich eindeutige Ergebnisse: Dies war keine exotherme Reaktion. Der Allptraum setzte keine Energie frei, auch zog er keine aus der Umgebung. Tatsächlich schien er auf einen anderen Kanal umzuschalten und seinen Körper der neuen Frequenz oder Welle anzupassen. Die Sichtbarkeit des Allptraums nahm immer mehr ab, als ob die Kreatur auf eine andere Energieebene überwechselte. Grauen-Eminenz konzentrierte sich auf die Frequenz. Er fühlte etwas Vertrautes. Es erinnerte ihn an die Energiezustände, die in seinem Schatthenreich herrschten. Langsam glaubte er, dass er zum Egozentriker mutierte. Erst seine Auserwählten, jetzt die Allpträume, sah er in allem nur noch sich selbst? Irgendetwas lief hier verkehrt. Dann war der Allptraum verschwunden. Er konnte seine Anwesenheit nicht länger spüren, als hätte der Lichtlose sich in ein Dickicht geflüchtet, das jenseits von Grauen-Eminenz‘ Auffassungsgabe lag. Jähe Besorgnis machte sich in ihm breit.   Freitagnacht. Grauen-Eminenz sah auf seine Bildschirme und versuchte auszumachen, wo sich der Allptraum aufhielt. Irgendwo in der Stadt musste es Anzeichen dafür geben, dass der Allptraum sein Unwesen trieb. Er hatte seine Suchmaschine auf die Werte eingestellt, die er beim Verschwinden des Allptraums gemessen hatte. Es war jetzt zwei Uhr Nacht. In den letzten Stunden war es immer wieder zu einem kurzen Aufblitzen auf den Bildschirmen gekommen. Zu kurz, um den Standort lokalisieren zu können. So als bräuchte die Kreatur nur Sekundenbruchteile um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Vielleicht war auch Grauen-Eminenz‘ Suchlogarithmus einfach nicht geeignet, dieses Phänomen zu erfassen. Er fühlte sich, als würde er versuchen, mit veralteter Technik eine völlig unbekannte Erscheinung zu erforschen. Wie sollte das gehen? Plötzlich begann einer der Bildschirme zu seiner Linken gelb zu blinken. Grauen-Eminenz registrierte mit einiger Ernüchterung, dass es sich bloß um einen Anruf handelte. Er wusste, dass es nur das Pandämonium sein konnte. Wer sonst hatte auch seine Nummer? Die Leute vom Telefonbuch hatten ihn jedenfalls nie gefragt, ob er einen Eintrag haben wollte. Er fand das ziemlich diskriminierend. Nur weil man für eine streng geheime Organisation arbeitete, von der niemand etwas wusste – außer die Spinner, die Teil der Organisation waren – hieß das doch nicht, dass man nicht wenigsten fragen konnte, ob er gerne eine Anzeige mit Schatthenmeister Grauen-Eminenz. Im Schatthenreich 666. Telefonnummer Fax E-Mail-Adresse haben wollte! Vielleicht sollte er einfach eine Facebook Seite einrichten. Der Anrufer hatte in der Zwischenzeit leider immer noch nicht aufgegeben, sodass Grauen-Eminenz schließlich reichlich unwillig den Anruf entgegennahm. Statt des zu erwartenden Kamerabildes des Sprechers zeigte der Bildschirm nur das Logo des Pandämoniums: zwei Pentagramme, die sich – eines nach oben, eines nach unten zeigend – zum zehnzackigen Stern verbanden und von einem breiten Ring umgeben waren, der mit einer Mischung aus trigonometrischen Linien und antiken Schnörkeln geziert war. Darüber stand in einer altertümlich wirkenden Schrift Pandämonium. Grauen-Eminenz war immer wieder baff, wie furchtbar einfallslos diese Organisation war. Sicher war die Schatthenmeister-Vereinigungs-Sache für das Pandämonium nur ein Hobby und in Wirklichkeit war es hauptberuflich eine Sekte, die übers Internet Esoterik-Artikel vertickte. „Wieso ist der Auftrag immer noch nicht ausgeführt?“, bellte eine tiefe Stimme. „Wir haben Ihnen vor fast einer Woche die Allpträume geliefert und noch immer keine Daten vorliegen!“ Grauen-Eminenz musste sich schwer zusammenreißen, um seinen Gesprächspartner nicht anzuschreien, dass das Pandämonium ihm ja auch nicht gerade hilfreiche Informationen geliefert hatte! Mühsam beherrscht begann er zu sprechen. „Die Sache erweist sich als komplizierter als gedacht. Die Allpträume sind unberechenbar und ich muss erst herausfinden, wie genau sie -“ Die Männerstimme von der anderen Leitung fuhr ihm ins Wort. „Die beste Gelegenheit für die Studie wäre morgen Nacht, zwischen zwei und drei Uhr, wenn die Uhrzeit umgestellt wird.“ „Das ist zu früh, ich habe noch nicht ausreichende Tests –“ „Dann kümmern Sie sich um die Tests! Bis Ende nächster Woche will ich Ergebnisse haben!“ Das Zeichen, dass das Telefonat beendet worden war, ertönte. Grauen-Eminenz gaffte auf den Bildschirm. Was für ein bekloppter Drama-King. Was wollte der Typ machen? Ihm das Gehalt kürzen? Er stöhnte, denn er wusste, dass es nicht um sein Gehalt ging. Sein Schatthenreich verstieß eigentlich gegen die Regeln. Es wäre ein Leichtes, ihm die Benutzung zu verbieten, wenn das Pandämonium einen Grund dafür fand. Und da dieser Auftrag offenbar direkt mit seinem Schatthenreich in Verbindung stand, hatte er wohl keine andere Wahl. Wut packte ihn für einen Moment. Aber er hatte keine Lust, schon wieder eine neue Einrichtung zu erschaffen, nur weil er in einem Wutanfall alles in die Luft gejagt hatte, also riss er sich zusammen und stand auf. Er verließ den Kontrollraum und beschleunigte seinen Lauf, ehe er die Tür vor sich sah, durch die er jede Nacht trat. Zögernd griff er nach der Türklinke, die nichts als Zierde war. Jede Nacht gab er dieser Tür ein anderes Aussehen, sodass nur er wusste, welche es war. Etwas hielt ihn davon ab, sie zu öffnen. Er rang nach Atem. Er durfte sich davon nicht beeinflussen lassen. Er zog die Tür auf.   Justin und Vivien waren heute ungewöhnlich früh zur Schule gelaufen. Den ganzen Weg lang war Vivien aufgedreht, hielt sich aber damit zurück, etwas zu sagen. Nur das Permanentgrinsen konnte sie nicht abstellen, seit Justin ihr eröffnet hatte, ihr etwas Wichtiges sagen zu wollen. Aus Justins unsicherem Verhalten bei dieser Ankündigung zu schließen, war es nichts, was mit ihren Beschützer-Aufgaben zusammenhing. Als sie in der Schule ankamen, fanden sie das Klassenzimmer leer vor. Perfekt. Vielleicht nicht der romantischste Ort, aber für Vivien war jeder Ort romantisch mit Justin an ihrer Seite. Sie setzten sich auf ihre Plätze. Mit kaum verhohlener Vorfreude in den Augen drehte Vivien sich zu ihm und lächelte. Verlegen wandte Justin sich ab und senkte den Blick. Sie sah, wie er seine auf dem Tisch liegenden Hände zu Fäusten formte. „Vivien…“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Da ist was, das ich dir sagen muss.“ Er schluckte. „Schon lange.“ Vor freudiger Erwartung wurde sie ganz aufgeregt. Mit flatterndem Herzen strahlte sie ihn an. Zögernd lugte Justin zu ihr, dann zog er schüchtern den Kopf ein. „Ich…“ Vivien konnte das euphorische Auf und Ab ihres Inneren spüren. Ihre Mimik war in Bereitschaft für den größten Freudenausbruch ihres Lebens! Sie hörte ihr Herz klopfen und das Glück in jeder ihrer Zellen pochen. Am liebsten hätte sie verliebt losgekichert. Verängstigt sah Justin sie an. Sein Gesicht war bleich, seine Augen weich und verletzlich. Vivien konnte nicht ausdrücken, wie sehr ihr Herz zu ihm drängte, wie sehr sie ihn berühren wollte. Ihm endlich ihr Glück in allen Facetten offenlegen! Ihr ganzes Selbst für ihn schlagen zu lassen! Was für ein unsagbarer Freudentaumel! Sie wusste nicht, ob sie den Moment lieber in die Länge gezogen oder verkürzt hätte. Sie wartete. „Du weißt, was…“, druckste Justin herum. Er schien noch einmal Mut zu holen. „Ich mag dich.“, presste er halblaut hervor. Wie von einem unsichtbaren Schmerz gepeinigt, wich er nochmals ihrem Blick aus. Er sah aus, als wäre er den Tränen nahe. Sie wusste nicht, ob sie ihm jetzt schon um den Hals fallen durfte oder ob er noch mehr sagen wollte. „Vivien, ich…“ Sie konnte es kaum noch ertragen, ihn so zu sehen. Sie wollte ihm versichern, dass sie viel mehr in ihn verliebt war als es zu fassen war! Dass ihr ganzer Kopf schwirrte, wenn sie an ihn dachte, wenn sie ihn vor sich sah, wenn sie – „Ich fühle nicht dasselbe.“ Die Worte wirkten so deplatziert, dass Vivien verwirrt war. Ehe die Aussage in ihrem Herzen ankam, sprach Justin in geduckter Haltung leise weiter. Seine Hände hielten den Tisch umfasst. „Es tut mir leid.“ Aus seiner Stimme klangen unterdrückte Tränen. Vivien konnte sich selbst von außen beobachten, wie sie vor Justin saß, der ihr Worte sagte, die ein Teil von ihr begriff und die für einen anderen Teil nicht in die Realität gehörten. Justin würde das niemals sagen. Nicht ihr Justin. Nicht der Justin, den sie kannte. Sicher würde er ihr gleich gestehen, dass er sie liebte. Sicher hatte er gemeint, dass er sie nicht als bloße Freundin ansah und ihm das leid tat. Schließlich war es Justin! Sie musste nur warten. Er sagte nichts weiter. Die Atmosphäre, die Realität wurden immer drückender. Vivien konnte sich nicht länger davor verschließen. „Was –“ Mehr brachte sie nicht heraus. „Wenn ich mich in dich verlieben könnte, dann würde ich es tun, glaub mir.“, sagte Justin in einem so herzzerreißenden Ton, dass sie wirklich fühlte wie ihr Innerstes zerriss. Wenn ich mich in dich verlieben könnte… Sie hatte nie etwas Grausameres gehörte. Sie hörte sich selbst schluchzen, ohne es beeinflusst zu haben. Getroffen drehte sich Justin zu ihr. „Vivien…“ Sie ertrug es nicht. Von selbst stand sie auf. Fühlte sich weit entfernt. Sie hörte ihren Stuhl quietschen, als sie sich erhob, sah Justin wie aus ewig weiter Entfernung sie anstarren. Sie hätte erwartet, nach einem solchen Moment würde die Welt untergehen. Aber die Welt hatte nicht vor, sich ihren Gefühlen anzupassen. Alles war so grotesk normal. Andere Schüler betraten das Klassenzimmer. Der Raum drehte sich nicht, Justins Gestalt zerfloss nicht und sie wurde nicht ohnmächtig. Es war alles so entsetzlich gleichgültig gegenüber ihrem Schmerz. Sie schluchzte abermals und wollte, dass er sie umarmte wie er es immer tat, wenn es ihr schlecht ging. Dass er sie umarmte und ihr sagte, dass das alles nicht wahr war. Bei dem Gedanken fühlte sich ihr Kopf so dumm an. Sie wich ein paar Schritte zurück und lief langsam aus dem Raum, ignorierte Justins Ruf, wollte, dass er weiter nach ihr rief, dass er niemals mehr aufhörte, nach ihr zu rufen. Auf dem Gang wurde ihr heiß und kalt, die ganze Welle an Gefühlen übermannte sie und sie brach kreischend in sich zusammen. Ob andere sie so sahen, war ihr völlig egal. Sie glaubte ersticken zu müssen an ihrem Schmerz. Etwas schüttelte sie. Ihr Schluchzen, ihr Leid, übertönte alles. Sie wollte nie wieder daraus emporsteigen. Nie wieder. „Vivien!“ „Vivien!“ Ihr eigener Klagelaut schrillte von fern zu ihr. Heftig atmend riss sie die Augen auf. Sie konnte für eine Sekunde die Dunkelheit nicht verstehen. Ellen stand vor ihr, die kleinen Hände auf Viviens Körper. Erst jetzt begriff Vivien, dass ihre kleine Schwester sie offenbar wachgerüttelt haben musste, dass es ein Traum gewesen war. Sie schloss die Augen wieder. Sie war so – Tränen bildeten sich in ihren Augen. Sie schluchzte. „Vivien, ich hab schlecht geträumt.“ Wieder hob Vivien ihren Blick und setzte sich auf. Wie automatisch machte sie in ihrem Bett Platz für Ellen und sah hinüber zu dem Bett ihres Bruders, ehe sie sich daran erinnerte, dass er heute bei einem Freund übernachtete. Ellen krabbelte neben sie und schmiegte ihren warmen kleinen Körper an den ihren. Vivien sank zurück in die Kissen. Normalerweise hätte sie Ellen eine Geschichte erzählt, um sie zu beruhigen, aber die Bilder ihres eigenen Traums umwaberten ihre Gedanken wie dichter Nebel. Es war anstrengend genug, nicht zu schluchzen. Sie schloss ihre Arme um Ellen und dachte an Justin.   Eine Präsenz war zugegen. Sie konnte nicht fühlen – nicht wie man es mit dem Körper tat – konnte nicht sehen, keine Laute vernehmen, aber sie wusste, dass etwas – jemand – anwesend war. Nahe. Sie trieb in diesem Meer der Sinn-Losigkeit dahin, ohne Atem, ohne Herzschlag. Sie war abgetrennt und doch zu Hause, aber taub. Taub, stumm, blind, lose. Sie kannte dieses Etwas, diese Person. Trotz ihres Unvermögens sich zu regen, war sie ruhig. Die andere Präsenz sprach zu ihr. Ihre Sinne waren so stark betäubt, wie in Watte eingewickelt, dass die Klänge nicht bei ihr ankamen. Es waren keine Laute, die sie erreichten, obgleich die ungehörte Stimme des Anderen ihr eine Sicherheit schenkte, etwas Vertrautes. Ein Teil von ihr musste die Stimme hören. Vielleicht nicht hören, vielleicht fühlen, vielleicht erahnen – vielleicht glauben.   Ewigkeit kam langsam wieder zu sich, entfernte sich von der Erinnerung an ihren Traum, der ihr ganzes Selbst in Ruhe wiegte, entfernte sich von dem Gefühl, von der Berührung ihrer Sinne, bis die Eindrücke zu einem undeutlichen Schemen, einer bloßen Idee verkamen. Ein seltsames Geräusch trat an ihre Stelle und lockte sie zurück in den Wachzustand. Das gepeinigte Stöhnen und Winseln war nicht länger zu überhören. Ewigkeit fuhr auf und begriff, wo sie sich befand. Nachdem Vereinen nach Hause gekommen war, war sie hinüber zu Vertrauen gegangen, um ihn auszufragen, ob er irgendwelche Anzeichen von Schatthen auf der Halloweenparty entdeckt hatte. Dem war nicht so gewesen. Auf seinem Fenstersims, wo er ihr eine Liegestätte aus Kleidung hergerichtet hatte, war sie schließlich eingeschlafen. Eilig erhob sie sich in die Luft und schwebte hinüber zu Vertrauens Bett. Der Junge drehte seinen Kopf hin und her, als müsse er im Traum gegen etwas ankämpfen. Sein Körper zuckte. Die hilflosen Laute drangen weiter aus seinem Mund. Ewigkeit wusste nicht, was sie tun sollte. Sie musste ihm helfen! Überstürzt flog sie über sein Gesicht. Sie musste das Monster irgendwie aus seinem Körper entfernen! In ihrer Not ließ sie ein grelles Licht um ihren Körper aufblitzen. Vertrauen gab einen erschrockenen Laut von sich und öffnete die Augen. Zunächst schien er nicht zu begreifen, was geschehen war. Dann sah er Ewigkeit, doch anstatt ihr Beachtung zu schenken, sprang er von seinem Bett auf. Torkelnd eilte er aus seinem Zimmer, Ewigkeit ihm hinterher. Sie folgte ihm zu dem Schlafzimmer seiner Eltern, wo er die Tür aufriss und schwer atmend hineinlugte. Er lauschte. Sein Vater drehte sich gerade auf eine andere Seite und Ewigkeit hörte Vertrauen aufatmen. Ganz langsam zog er sich aus dem Zimmer zurück und schloss die Tür so geräuschlos wie möglich. Als wäre die Quelle seiner Energie mit einem Mal versiegt, sank er in sich zusammen und kniete mit gesenktem Blick auf dem Boden. Für Sekunden verharrte er in Todesstille. Ewigkeit stand neben ihm, ohne etwas zu sagen. Als er sich schließlich wieder erhob, schlurfte er halb bewusstlos zurück in sein Zimmer und ließ sich dort zurück auf das Bett fallen. Mit dem Arm bedeckte er seine Augen. Ewigkeit landete neben seinem Kopf. Geradezu ängstlich stand sie da und wartete. Schließlich fasste sie Mut und berührte seine Wange. Im selben Moment gab er einen erstickten Laut von sich. Ewigkeit lehnte sich gegen seine Gesichtshälfte und schenkte ihm etwas von ihrer Wärme. Das war alles, was sie geben konnte.   Als Justin am nächsten Morgen das Haus verließ, hielt die Erinnerung an seinen Albtraum ihn immer noch im Bann. Seine Stimmung war gedrückt und seine Mundwinkel wollten sich nicht heben. Er sah nicht auf, ging nicht hinüber zu Viviens Haus, um zu klingeln, sondern stand nur stumm da, bis Vivien schließlich aus ihrer Haustür trat. Er bemerkte nicht, dass sie auf ungewohnte Weise das Haus verließ, zögerlich, als wage sie es nicht, einen Schritt hinaus in die Wirklichkeit zu machen. Er sah nicht, dass sie bei seinem Anblick zusammenzuckte und in der Tür stehen blieb, wie es so gar nicht ihre Art war. „Hallo.“, sagte er schließlich, nachdem er sich endlich dazu durchgerungen hatte, den Blick zu heben. Im gleichen Moment riss Viviens besorgniserregender Anblick ihn aus seiner melancholischen Stimmung. „Was ist?“ Ehe Vivien antworten konnte, tauchte Ewigkeit urplötzlich zwischen ihnen auf und begann zu kreischen. „Allpträume!!!“ Sie klatschte wie eine Fliege an Viviens Wange. „Sie greifen an!!!“ „Es sind keine Schatthen.“, sagte Justin abgestumpft. Er hatte schon den ganzen Morgen lang versucht, Ewigkeit klar zu machen, was Albträume waren, aber sie hatte nicht hören wollen. Vivien zog auf einmal ein seltsames Gesicht, das Justin nicht zu deuten wusste. Sie zögerte. „Hattest du –“ Sie unterbrach sich und zupfte Ewigkeit von ihrer Wange. „Was sind Albträume?“, fragte sie, als wäre ihr der Begriff völlig neu. „Monster!“, rief Ewigkeit. Justin seufzte. „Ich hatte heute Nacht einen Albtraum, deshalb denkt sie, dass Albträume Monster sind.“ Wieder warf ihm Vivien diesen seltsamen Blick zu. „Was hast du geträumt?“ Justin wich ihrem Blick aus. Es herrschte kurzes Schweigen. Viviens Stimme klang schwach. „Glaubst du, dass es wahr wird?“ Abrupt starrte er sie an. Woher wusste sie…? „Du hast schon einmal Dinge im Traum gesehen.“, setzte Vivien fort.  „Dass man mit deinen Kräften auch in die Zukunft sehen kann, ist nicht so abwegig.“ Er schwieg. Vivien senkte den Blick. „Ich weiß nicht, wie lange ich eure Kräfte anwenden kann.“ Justin verstand nicht und wartete darauf, dass sie weitersprach, aber sie tat es nicht. „Was meinst du?“ „Wir sollten gehen.“ Vivien wandte sich um, um zum Training zu gehen. Über den jähen Wandel war Justin überrascht. Er hatte noch nie erlebt, dass Vivien einer Frage auswich. „Aber die Allpträume!“, rief Ewigkeit. Keiner der beiden Beschützer schenkte ihr Gehör. In einer gespenstischen Langsamkeit und in profundes Schweigen gehüllt liefen sie aus der Blumenallee. Empört schrie Ewigkeit auf. „Allpträume sind Lichtlose! Geschöpfe wie die Schatthen, die in Träume eindringen können, um sich dort von der Angst der Träumenden zu ernähren! Sie können jedes Bild wachrufen, das sie wollen! Und sie wissen genau wovor man Angst hat!“ Zeitgleich drehten sich Justin und Vivien zu ihr und sahen sie sprachlos an. „Was?“, gab Justin von sich. „Allpträume sind Lichtlose. Geschöpfe wie die Schatthen, die in Träume –“, begann Ewigkeit ihre Worte zu wiederholen, wurde aber von Vivien unterbrochen. „Du denkst, dass so ein Allptraum heute Nacht bei uns war?“ „Ja!“ Justin mischte sich ein. „Woher weißt du das?“ „Die Stimme hat es mir erzählt.“, antwortete Ewigkeit. „Was für eine Stimme?“, wollte Justin wissen. „Sie hat mir gesagt, dass der Schatthenmeister die Allpträume einsetzen wird. Wir müssen uns beeilen!“ Für einen Moment wirkten Ewigkeits Worte einfach nur grotesk. Justin konnte sich nicht vorstellen, dass sein Albtraum von einer Kreatur hervorgerufen worden war, die sich des Nachts in seinem Kopf eingenistet haben sollte. Noch immer drangen die Bilder und die Machtlosigkeit auf ihn ein. Vivien wandte sich an ihn. „Ellen hatte auch einen Albtraum. Vielleicht haben wir doch nicht die Zukunft gesehen.“ Justin zog verständnislos die Augenbrauen zusammen, ehe er begriff. „Du dachtest –“ „Ich zapfe deine Kräfte ständig ab.“, erinnerte Vivien. „Ja, aber…“ Er sah sie an. „Du hattest Angst, dass es wahr wird?“ Vivien nickte und senkte den Blick. „Tut mir leid.“ Vivien reagierte nicht. Auch sein Blick glitt zu Boden. Er rang sich zu Worten durch. „Ich habe geträumt, mein Vater hätte Krebs und –“ Er konnte nicht weitersprechen. Viviens Hand legte sich auf seinen Arm. „Das passiert nicht.“ Justin nickte und lächelte sie dann traurig an. „Es passiert nicht.“, wiederholte sie, als müsse sie sich selbst davon überzeugen. Ihr Griff um seinen Arm wurde fester. Sie wirkte selbst mitgenommne. Er sah sie stumm an, versuchte daraus schlau zu werden. Vorsichtig stellte er die Frage: „Was hast du …“ Vivien ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Sie ließ ihn los. „Wir müssen den anderen Bescheid sagen.“, verkündete sie. Offenbar wollte sie nicht darüber reden. Er akzeptierte das, schließlich konnte er nicht behaupten, dass ihm das leicht gefallen war. Dennoch war es ihm ein Bedürfnis, irgendwie auszudrücken, dass er für sie da sein wollte. Mit Herzklopfen berührte er mit der Linken ihre Hand. Geradezu verängstigt sah sie ihn an. Beschämt wollte er ihr zu verstehen geben, dass er ihre Hand halten wollte. Er getraute sich nicht, sie einfach zu ergreifen. Deutlich zaghafter, als er es von ihr gewöhnt war, legte sie ihre kleine Hand in die seine. Irgendwie ließ das die Weichheit ihrer Haut noch mehr in seinen Fokus rücken. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Ewigkeits Stimme ertönte: „Wir müssen sie aufhalten!“ Justin schreckte auf und nickte Ewigkeit zu. Sicher war er wieder puterrot im Gesicht. Vivien drückte seine Hand. Bei einem weiteren Blick in ihre Richtung bemerkte er, dass sein Griff sie etwas zu beruhigen schien. Daher bemühte er sich, seine Scham unter Kontrolle zu halten, und ließ nicht los. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu ihrem Hauptquartier. Kapitel 85: Albtraumhaft - Serenas Kräfte ----------------------------------------- Albtraumhaft – Serenas Kräfte „Wenn der Zorn verebbt, flutet die Reue.“ (Gerhard Uhlenbruck, Worthülsenfrüchte)   „Und so ein Allptraum hat sich nachts an euch festgesaugt?“, hakte Change mit einem angewiderten Gesichtsausdruck nach. Die fünf hatten sich in ihrem Hauptquartier versammelt und standen in einem Kreis. „So etwa.“, stimmte Trust zu. „Klingt ziemlich… - eklig.“, meinte Change. „Was bringt es dem Schatthenmeister, diese Wesen einzusetzen?“, fragte Desire. „Mann, der ist böse. Der macht das, weil es böse ist.“, erwiderte Change, als wäre das die Antwort auf alle Fragen. Desire schaute skeptisch drein. „Schatthenmeister müssen die Aufträge ihrer Organisationen erledigen.“, klärte Ewigkeit sie auf. „Du meinst, der macht das nicht freiwillig?“, fragte Change ungläubig. Ewigkeit legte den Kopf schräg. „Er ist freiwillig ein Schatthenmeister.“ Change hatte weitere Fragen. „Und wie machen diese Allpträume das? Hängen die sich wie Zecken an einen oder kreisen die wie Geier über den Schlafenden? Also kann man die einfach abschießen?“ Ernst sah das Schmetterlingsmädchen ihn an. „Sie gehen in dich.“ „Hä?“ Change verzog das Gesicht. „Wie Würmer?“ Es schüttelte ihn vor Ekel, als er sich vorstellte, wie die Kreatur sich in seine Haut bohrte. Skeptisch beäugte er daraufhin Trust und Unite. „Und wo ist das Ding in euch gegangen?“ Trust fasste sich verlegen an den Kopf und wusste keine Antwort.  „Wie sehen diese Wesen überhaupt aus?“, fragte Desire. Ewigkeit blinzelte unschuldig. „Hast du sie nicht gesehen?“, beschwerte sich Destiny. „Sie sind unsichtbar!“ Die fünf starrten sie an. „Wie sollen wir denn dann gegen sie kämpfen?!“, schrie Change. Ewigkeit zog einen Schmollmund. „Ihr seid doch die Beschützer.“ Destiny schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Allein Unite blieb gelassen. Sie beugte sich zu dem Schmetterlingsmädchen vor. „Und wenn die Allpträume im Kopf sind, sind sie dann immer noch unsichtbar?“ Wild schüttelte Ewigkeit ihren blonden Lockenkopf. „Dann müssen wir eben einfach auch in den Kopf gehen!“, verkündete Unite. „Jetzt ist sie völlig durchgeknallt.“, wisperte Destiny. Augenblicklich drehte sich Unite zu ihr und starrte sie an. Daraufhin zuckte Destiny zusammen und stand schon kurz davor, sich zu entschuldigen – als Unite ein Strahlen aufsetzte. „Wir haben doch jemand, der sich ganz wunderbar damit auskennt, in Leute reinzugehen!“ Die anderen folgten Unites Blick. Nun waren alle Augen auf Destiny gerichtet. Gerade wollte Destiny lautstark protestieren, doch Change kam ihr zuvor. „Du meinst –“ Changes Gesicht verzog sich in Entsetzen. „Tiny?!!“ Unite kicherte. „Vergiss es!“, rief Change. „Sie hat doch keine Ahnung, wie sie ihre Kräfte einsetzt!“ Destiny warf ihm einen bösen Blick zu. Nur weil sie gerade genau dasselbe Argument hatte vorbringen wollen, hieß das noch lange nicht, dass er das so laut herausposaunen durfte! …als wisse er darüber besser Bescheid als sie. „Dann müssen wir das halt trainieren.“, erklang Unites euphorische Stimme. Destiny war sich nicht sicher, was sie schlimmer fand: Changes Überzeugung, dass sie unfähig war, oder Unites Überzeugung, dass sie das mit genug Training in den Griff bekommen konnte. „Halt mal!“ Change riss seine Arme in eine Stopp-Haltung. „Wie meinst du das?“ Unite lächelte unbekümmert. „Destiny geht in die Seelenwelt von einem von uns und versucht, sich dort zurechtzufinden.“ „Bist du irre?“, kreischte Change und nahm Destiny damit einmal mehr das Wort aus dem Mund. „Wer würde das freiwillig machen?“ Unite lächelte ihn vielsagend an. „Nie im Leben!!!“, rief er. Trust wandte sich an ihn. „Wenn Destiny in deine Seelenwelt geht, könnte sie direkt den Vergleich zu letztem Mal sehen.“ „Soll sie doch bei euch rumschnüffeln!“, gab Change unwillig zurück. Destiny schrie dazwischen. „Werde ich eigentlich auch mal gefragt!“ „Du willst ja wohl nicht in mich gehen.“, meinte Change mit entschiedenem Blick. „Natürlich nicht!“, schrie Destiny. Change verschränkte die Arme. „Gut.“ Seine scheinbare Zufriedenheit nervte Destiny ungemein. Unite blieb optimistisch. „Gut, dann geht Destiny einfach in meine Seelenwelt.“ Blitzartig fielen Changes Arme herab und Unglaube legte sich auf seine Züge. „Hast du was dagegen?“, erkundigte sich Unite grinsend. Change wandte sich ab. „Wieso sollte ich was dagegen haben?“, antwortete er mit knarziger Stimme. „Weil du so geschaut hast.“ „Ich hab gar nicht so geschaut!“ Destiny schimpfte: „Ist euch schon mal in den Sinn gekommen, dass ich in überhaupt keine Seelenwelt will?“ Changes Augenlider senkten sich zur  Hälfte. „Ja, du ziehst uns lieber in deine.“ Auf diesen Kommentar konnte Destiny nichts entgegnen. Schweren Herzens fügte sie sich.   Die Beschützer stellten sich im Trainingsraum auf. Unite hatte sich und Destiny Kissen besorgt. So saßen sie einander gegenüber. Seitlich von Destiny hatte sich Change platziert. Direkt hinter ihr stand Trust bereit, um sie telepathisch bei ihrer Reise in Unites Seelenwelt zu unterstützen. Ein paar Schritte hinter Trust wartete Desire in nötigem Sicherheitsabstand. Sie wollten nicht das Risiko eingehen, dass sie durch einen ungewollten Einsatz von Destinys Paralyse nicht mehr in der Lage sein würde, ihre Läuterung einzusetzen. Schließlich war das die einzige Möglichkeit, Destinys Kräfteeinsatz zu stoppen. Destiny und Unite sahen einander an. Sie warteten. Und warteten. „Vielleicht müsst ihr irgendetwas Spezielles machen.“, schlug Desire vor. Anstatt einen hilfreichen Vorschlag zu machen, landete Ewigkeit auf Trusts Schulter und betrachtete die sich gegenüber sitzenden Beschützerinnen mit ebensolchem Interesse. „Du musst sie anfassen!“, gab Change ungeduldig von sich und streckte den Arm nach Unite aus, um die Bewegung mit ihrem Arm auszuführen. „Halt dich da raus, du Vollidiot!“, keifte Destiny und schlug seine Hand weg. „Fass mich nicht an!“, schrie Change so heftig, dass Zorn in Destinys Gesicht trat. Trust sah streng zu Change. „Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, dann geh raus.“ „Wieso bin ich jetzt wieder der Idiot?“, beschwerte sich Change. „Weil du ein Idiot bist!“, fauchte Destiny. Desire rief aufgebracht: „Hört endlich auf zu streiten!“ Destiny stand auf und fluchte in nahezu hysterischem Ton: „Das funktioniert sowieso nicht!“ Trust sprach ruhig: „Du solltest mehr an dich glauben.“ „Sie kann eh nur jammern.“, knarzte Change geradezu beleidigt. „Change!“, tadelte Trust lautstark. Destiny biss die Zähne zusammen. Etwas pulsierte durch ihren Körper und erfasste ihr Selbst. Sie hörte die Stimmen der anderen in ihrem Kopf, wie sie sie penetrant aufforderten, ihre Kräfte einzusetzen. Ganz gleich, ob sie das wollte oder nicht! Das Pochen in ihren Ohren schwoll an, rauschte über Destinys Sinne hinweg, flutete ihr Bewusstsein, bis sie nur noch die Hitze ihres Zorns spürte, der in roten Schmerzgewittern hinter ihren Augenlidern tobte. „Vorsicht!“, ertönte noch Ewigkeits Glockenstimme. Doch das Resultat war Destiny längst einerlei. Die anderen würden bekommen, was sie wollten.   Wieder wurden die Beschützer auf nicht-physische Weise hinfort gerissen, als würde die ganze Wirklichkeit an ihnen vorbeirauschen, sich verzerren und schließlich zu etwas Neuem zusammensetzen. Als der erste Schwindel nachgelassen hatte und sie die Augen wieder öffneten, fanden sie sich auf einer weiten dunklen Fläche wieder. Die Umgebung glich einem weitläufigen Planetarium ohne Sitze, in dem die Sterne noch nicht eingeschaltet worden waren. Trotz der Dunkelheit hatten sie keinerlei Probleme, einander zu sehen, als würden sich ihre Körper und die Umgebung auf anderen Ebenen befinden. Ihr Verstand – noch von der Achterbahnfahrt ihrer Sinne verwirrt – begriff erst im nächsten Moment was geschehen war. „Was hast du jetzt wieder gemacht!“, schrie Change lautstark und sprang auf die Beine. Auch Destiny stand auf und funkelte ihn wutentbrannt an. Trust ging dazwischen und versuchte zu schlichten. „Wir wollten, dass sie ihre Kräfte einsetzt. Wir hätten damit rechnen müssen, dass sie uns alle mitreißen würde.“ Desire kam ebenfalls auf die Beine. „Er hat Recht.“ Angesichts des unverhofften und unverdienten Beistands, blieb Destiny nichts anderes übrig, als sich in ihren Zorn zu flüchten. Alles andere hätte bedeutet, von ihren Schuldgefühlen überrollt zu werden. Nein! Die anderen waren selbst schuld! Sie hatten das hier gewollt! Change wirkte eingeschnappt. „Toll, und wie kommen wir hier wieder raus?“ „Destiny schafft das schon!“, erwiderte Unite überzeugt und lächelte Destiny zuversichtlich an. Ihr Zutrauen machte es Destiny mit einem Schlag unmöglich, die Maske des Zorns aufrechzuerhalten. Jähe Reue nahm ihren Platz ein. „Sie kann die Seelenwelt kontrollieren.“, setzte Unite fort. Change nörgelte. „Das weißt du aber genau.“ Unite nickte mit vollster Überzeugung. „Destiny wird uns hier raus führen!“ Destiny schrumpfte in sich zusammen. Unite beschämte sie immer mehr. „Du hast es doch auch in deiner eigenen Seelenwelt geschafft.“, versuchte Unite sie anzufeuern. „Das zeigt doch, dass du es schon längst beherrschst!“ Destiny unterließ es, Unite darauf hinzuweisen, dass sie das damals nicht bewusst gemacht hatte. Desire sah sich derweil ein weiteres Mal um. „Ich habe mir Unites Welt irgendwie anders vorgestellt.“ Change grummelte. „Wahrscheinlich sind wir wieder in Tiny. So düster kann es ja nur in ihr aussehen.“ „Das ist nur, weil hier nichts ist!“, blaffte Destiny. „Was meinst du?“, fragte Trust. Destiny wich seinem Blick aus. „Ich weiß nicht.“, sagte sie zögerlich. „Es ist so eine Art Vorraum.“ „Woher weißt du das?“ Destiny verzog den Mund. „Sie steuert es durch ihre Vorstellung!“, erklärte Unite, als verstünde sie mehr davon als Destiny. „Das stimmt nicht.“, murmelte Destiny kleinlaut, hielt ihre eigenen Worte aber augenblicklich selbst für nicht ganz richtig. „Das heißt, wir sind tatsächlich wieder in Destiny?“, hakte Desire nach. Unite stellte klar: „Destiny kann das in jeder Seelenwelt, nicht nur in ihrer eigenen. Sie bestimmt, was sie sieht.“ Destiny widersprach. „Ich weiß ja nicht mal, wo wir sind!“ Das war die Wahrheit. „Natürlich weißt du das.“, antwortete Unite. Misstrauisch beäugte Destiny sie. „Überleg doch mal.“ Destinys Augenbrauen schoben sich noch enger zusammen, schwer damit beschäftigt, Unites Intrigenspiel zu durchschauen. „Und wo sind wir?“ Unites Augen weiteten sich. „Woher soll ich das wissen?“ „Du hast doch gerade so getan, als wüsstest du es!“, schimpfte Destiny. „Ich habe gesagt, du weißt es.“ „Woher soll ich das denn wissen?!“, fauchte Destiny. Unite lächelte. „Weil du uns hier herbringen wolltest.“ Destiny erstarrte und schämte sich. Unite wusste genau, was sie getan hatte! Reumütig ließ Destiny ihren Blick zu Boden gleiten. „Und wo sind wir?“, wollte Change entnervt erfahren. Die Scham wurde immer verheerender, denn soeben begriff sie, wo sie sie alle hingeschafft hatte… Sie wollte hier raus! Sie wollte sofort hier raus! Desire sprach sie besorgt an. „Destiny?“ „Kannst du sie nicht einfach neutralisieren?“, drängte Change. „Ich weiß nicht.“, antwortete Desire und trat dann zu Destiny. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter. Nichts tat sich. „Offenbar nicht.“ Change stöhnte. „Beruhig dich.“, sagte Trust. „Es ist schließlich nicht deine Seelenwelt.“ Destiny zuckte augenblicklich zusammen. Ihre Reaktion entging den anderen nicht. Geschockt starrten sie sie an. „Wir sind in Change?“, erklang Desires ungläubige Stimme. „Warum eigentlich immer ich?“, brüllte Change. Destiny schrumpfte in sich zusammen und hob noch immer nicht den Blick. Sie fühlte sich erbärmlich. Plötzlich schoss eine Bildfläche wie ein Hologramm aus der Schwärze hervor und baute sich als Leinwand hinter Destiny auf. Die anderen drehten sich überrascht zu dem Bild um, das augenblicklich begann, eine Art Film abzuspielen.   Ein blonder Junge von ungefähr fünf Jahren, der genauso gut ein Mädchen hätte sein können, stand mit angezogenen Schultern und zum Schluchzen geformten Mund da und starrte zu Boden.   Von dem Kinderfoto, das sie bei Vitali zu Hause gesehen hatten, konnten sie ihn identifizieren. Entsetzt sah Destiny ihr Werk.   Der kleine Junge krümmte sich noch weiter, wie um sich zu verstecken.   „Es reagiert auf deine Gefühle.“, stellte Unite fest. Völlige Hilflosigkeit war auf Destinys Gesichtszügen zu lesen. „Hör auf, so was Peinliches zu denken!“, tobte Change. Die Bildfläche löste sich auf, während eine weitere aus der Schwärze fuhr und den Platz der vorigen einnahm.   Vitali mit sieben Jahren stand mit vor der Brust verschränkten Armen da. Sein Mund war verformt, die Augenbrauen zusammengezogen. „Ich kann nichts dafür!“, rief er mit kindlich trotziger Stimme.   Die anderen stierten Destiny an, als sei sie ein seltener Fisch in einem Unterwasseraquarium. „Destiny, du musst dich konzentrieren.“, sagte Trust. „So funktioniert das nicht.“ Wieder wechselte das Bild.   Vitali mit zehn Jahren, wie er verzweifelt versuchte, seine Tränen zurückzuhalten.   „Hör auf damit!“, schrie Change. Umschwung.   Vitali nun in Tränen aufgelöst.   Change ließ einen Schrei los. „Du machst es nur noch schlimmer.“, beanstandete Desire. Destiny kreischte ihre ganze Entrüstung heraus. „Ich hasse deine Welt!“ Überreizt brüllte Change zurück. „Deine ist noch viel schlimmer!“ „Kann gar nicht sein!“, gab Destiny in einer Mischung aus Jammern und Schimpfen zurück. Augenblicklich waren vier Augenpaare auf sie gerichtet. Die Blicke sprachen Bände: Ihre Welt war schlimmer. Dieses Mal kam die Leinwand von der gegenüberliegenden Seite:   „Was sollte das?!“, schrie Vitali Justin an. Offensichtlich waren sie in der Schule, denn Justin war dabei die Schulbänke an den richtigen Platz zu rücken. Er sah fragend zu Vitali auf. „Serena gehört zu uns!“, begehrte Vitali auf.  Justin warf ihm einen strengen Blick zu. „Warum hast du Erik unterstützt? Das geht ihn gar nichts an! Und dann führt er sich auch noch auf, als wäre er Serenas persönlicher Beschützer! Der hat sie doch nicht alle! Was fällt dem ein! Als wäre er was Besseres. Und Serena, die dumme Kuh! Was soll der Scheiß! Die spinnen doch!“ Vitali wollte sich gar nicht mehr einkriegen. „Was soll das!“ Er schlug mit seiner Faust wütend auf den Tisch und zog eine grässliche Grimasse, die Augen auf den Tisch gerichtet. „Vitali.“, sprach Justin ihn an. „Vielleicht ist es besser, wenn Erik sich um sie kümmert. Er versteht Serena besser als wir.“ Vitalis Gesicht fuhr hoch, völliger Unwille sprach aus seiner Mimik, als habe sein Kumpel ihn persönlich beleidigt. „Gut, dann soll sie doch machen, was sie will!“, schrie er viel zu laut.   Change gaffte auf den beendeten Film und war offenbar nicht länger in der Lage, irgendetwas dazu zu sagen. Betroffen sprach Desire: „Da war es ja noch besser, als Destiny alleine hier drin war.“ Sobald sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, änderte sich die Umgebung. Als hätten Desires Worte, Destinys Erinnerung aufgeweckt, standen die fünf nun vor der Wand mit Postern, die Destiny bereits bei ihrem ersten Ausflug in Changes Seelenwelt gesehen hatte. Um ein Poster, das Justin, Erik und die Mädchen zeigte, waren fünf weitere aufgehängt, auf denen jeweils einer der anderen abgebildet war. Das Bild von Serena war noch immer bei der Szene gestoppt, in der sie mit einem geradezu verängstigten Blick bei Vitali eingeschlagen hatte. Das Bild ließ Destiny zusammenzucken und die Angst, dass das Video weiterlaufen könnte, bewirkte ebendies. Es folgte eine Reihe verschiedener Szenen, alle aus Vitalis Sicht:   Serenas verängstigtes Gesicht in der Geisterbahn. Blick zu zwei Händen, die sich hielten. Das Szenario änderte sich. Destiny kauerte auf dem Boden der Riesenrad-Gondel. „Du bist schuld…“, wimmerte sie weinerlich. „Was hab ich denn gemacht!“, fragte Change. „Du bist da…“ Die Szene wechselte. Plötzlich war Destinys Gesicht ganz nah, nur Zentimeter von dem Betrachter entfernt. „Tschuldige!“, stieß Change eilig aus und zog sich in einer überstürzten Bewegung zurück. Wieder eine Szene in der Gondel. Der Betrachter betrat den winzigen noch freien Platz des Bodens und beugte sich zu Destiny, plötzlich zuckte sie überraschend vor, sodass er vorwärts stürzte. „Du Idiot.“, erklang Destinys Stimme. „Hättest du mich nicht umarmt.“, gab Change zurück. „Ich war froh, dass du lebst.“ Erneuter Wechsel. „Change?“ Das Bild drehte sich von der Aussicht aus dem Fenster der Gondel zu Destinys Gesicht. Sie wirkte ruhig und entschlossen. „Schließ die Augen.“ Ihre Stimme klang sanfter als sonst, ihre Augen hielten den Blick des Betrachters.   Die anderen starrten gebannt auf die Bilder. Allein Change riss sich von dem Anblick los und packte Destiny ungehalten an den Oberarmen. „Hör auf!!!!!“ Sie sah ihn nur völlig hilflos an und steigerte damit noch sein Ohnmachtsgefühl. Er ließ von ihr ab und ging zu Boden, hielt sich den Kopf, während die Leinwand damit fortfuhr, ihn zu beschämen. „Ich will sterben.“, stieß er aus. Eine zweite Bildfläche kam dazu. Change hörte seine Kinderstimme ein verängstigtes „Tut mir leid.“ hervorbringen und er wusste, dass er das zu Vicki gesagt hatte, als er ihm als Kind versehentlich wehgetan hatte. Er konnte im Hintergrund Vickis Schluchzen hören. Derweil wandte sich Desire an Trust und Unite. „Das geht so nicht weiter.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie Destinys und Changes Beschämung kaum ertragen konnte. Die bloße Gegenwart der drei verschlimmerte alles bloß noch. „Wir gehen dort rüber!“, sagte Unite zu Destiny und Change, doch keiner der beiden reagierte. Mit sorgenvollem Gesichtsausdruck entfernte Unite sich mit Trust und Desire, in der Hoffnung, dadurch die Situation zumindest etwas zu entschärfen. Ein paar Momente nachdem die anderen den Bereich der Leinwände hinter sich gelassen hatten, blieb auch endlich das imaginäre Bild von Serena stehen. Es zeigte sie nun inmitten einer vom Mondlicht beschienen Ruine – in Changes Armen. Destiny schenkte dem längst keine Beachtung mehr. Sie sah leer auf Changes zusammengebrochene Gestalt. Ihre Hände krampften sich zusammen. „Es tut mir leid.“, hauchte sie atemlos. Doch die Umgebung wurde von ihren aufgewühlten Gefühlen nur zu weiteren Reaktionen angeregt. Changes verzweifelte Schreie nach ihr, als sie in ihrer Seelenwelt gefangen war, begannen durch den Raum zu hallen. „Tiny!!!!“ Gepeinigt biss sich Destiny auf die Unterlippe, um ihre Tränen der Hilflosigkeit zu unterdrücken. Zu einem immer kleiner werdenden Knäuel verkommen, knallte Change seinen Kopf auf den Boden. „Heut ist der schlimmste Tag meines Leben.“ Destiny riss die Hände an den Mund. Ihr Brustkorb verfiel in heftige Zuckungen. Change würde sie hassen für das, was sie hier getan hatte! Er würde sie für immer hassen! Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Dann bemerkte sie eine Regung von Change. Langsam rappelte er sich auf. Verängstigt wartete sie auf seine Reaktion, auf das, was er sagen würde, was er tun würde. Torkelnd lief er geradewegs an ihr vorbei, als wäre ihre ganze Existenz für ihn ausgelöscht. Sie hörte wie er sich weiter von ihr entfernte und sie vor dem Bild der in den Trümmern stehenden Serena zurückließ. Nicht länger konnte Destiny ihr Schluchzen zurückhalten.   Die drei anderen hatten sich bewusst so platziert, dass sie Destiny und Change nicht beobachten konnten. Außerdem hatte Unite sie in ein belangloses Gespräch verwickelt, an dem sie nur halbherzig teilnahmen, nur um nicht zu hören, was sich bei Destiny und Change abspielte. Obwohl auch das nicht recht zu funktionieren schien, zuckten sie zusammen, als Change wie ein Zombie zu ihnen gewankt kam. Er sah völlig kraftlos aus. „Kümmert euch um sie.“ Im gleichen Moment hörten sie Destiny von Weitem lautstark schluchzen, woraufhin Unite und Desire aufsprangen und in ihre Richtung eilten. Trust stand ebenfalls auf, blieb aber. Change ließ sich neben ihm auf den Boden fallen, von dem Anblick der Szene abgewandt. Kurz stand Trust einfach stumm bei ihm und sah ihn besorgt an. Einen so apathischen Gesichtsausdruck hatte er an seinem Freund noch nie gesehen. Schließlich fühlte er die Notwendigkeit, die Stille zu durchbrechen. „Wie geht es dir?“ Im Ton kraftlosen Spotts antwortete Change. „Meine Gedanken und Gefühle werden auf Kinoleinwänden präsentiert. Wie soll es mir gehen?“ Trust wusste darauf nichts zu antworten. Er wartete und suchte nach einem sinnvollen Kommentar. „Destiny macht das nicht absichtlich.“ Change schwieg, mit einem Blick, als zweifle er daran. So sachte wie möglich sagte Trust. „Sie weint, weil es ihr leid tut.“ „Sie heult ständig.“, blaffte Change. Trust kam nicht umhin, eine tiefe Verbitterung aus seinen Worten herauszuhören. Er ließ Change einen weiteren Moment Zeit, um mit der Situation klarzukommen. Change ließ den Kopf hängen. „Ich will einfach nur hier raus.“, presste er hervor und klang, als wäre er selbst den Tränen nahe. Trust blieb weiter bei ihm stehen. „Wenn Destiny sich nicht beruhigt, kommen wir hier nie mehr raus.“ Change gab ein tiefes Grollen von sich und erhob sich abrupt. Mit Stechschritten marschierte er in Destinys Richtung. Trust  musste sich beeilen, um ihm hinterher zu kommen.   Die Mädchen hatten sich um die mittlerweile am Boden kauernde Destiny aufgestellt. Ihre Schultern waren angezogen und noch immer hatte sie die Hände vor dem Gesicht, bebte vor Verzweiflung. Auch Unites Versuch, sie zu umarmen, hatte nichts gebracht. Polternd trat Change hinzu. „Krieg dich endlich wieder ein!“, donnerte er so unerwartet, dass Unite und Desire sich überrascht umdrehten. Allein Destiny reagierte nicht. Einen weiteren Moment hielt sie ihr Gesicht bedeckt. Dann erst sah sie aus ihrer gebeugten Haltung auf. Und in ihrem verweinten Blick blitzte es mörderisch. Wie plötzlich von einer unkontrollierten Kraft beseelt, sprang sie auf die Beine und stieß Change mit voller Wucht vor die Brust, dass er fast das Gleichgewicht verlor. „Spinnst du?“, rief Change, davon überrumpelt. „Du blöder Idiot!!!“, kreischte Destiny. Desire ging dazwischen und hielt die beiden mit ihren Armen auseinander. „Hört auf!“ Change schrie. Seine Stimme klang so schrill, als wäre sie kurz vorm Brechen. „Sie legt hier mein ganzes Seelenleben offen und ich soll aufhören?!“ Desire blieb vehement. „Indem sie das tut, legt sie genauso sehr ihres offen. Es sind ihre Gefühle, die gezeigt werden.“ „Aber mit meinen Erinnerungen!“ Erneut hallte eine von Vitalis Erinnerungen durch den Raum: „Ich hasse dich!“ So hatte er seine Mutter angeschrien, als er sich nicht mehr anders zu helfen gewusst hatte. „Hör auf!“, brüllte Change mit ungeahnter Heftigkeit. Destiny sah ihn an. Changes Blick sprühte vor Feindseligkeit – als habe er ein Werkzeug des Teufels vor sich und strebe dessen rigorose Zerstörung an. Ihr wurde schlecht. Sie biss die Zähne zusammen und verkrampfte ihre Muskulatur. Wie in einem Anfall puren Überlebenstriebs dachte sie nicht länger darüber nach, ob sie etwas richtig oder falsch machte. Einem Schmerzrausch gleich, abgetrennt von Logik, stiegen ihre Kräfte erneut in ihr auf. Die gesamte Umgebung wurde plötzlich in allen vier Himmelsrichtungen von unzähligen Bildern ausgefüllt, die sich rasant aufwärts bewegten, als handle es sich um die Datenverarbeitung eines Computers. Blitzschnell schossen verschiedene Bilder, dieses Mal in dreidimensionaler Hologramm-Form hervor. Vitalis schmächtige Gestalt im Vergleich zu Erik blitzte auf und verschwand. Eine alte Frau, Vitalis Großmutter, stand plötzlich neben der Gruppe und begann zu schreien. „Du missratener Bengel! Du bist doch zu allem zu dumm!“ Sie setzte ihre Schimpftirade fort, während Vitalis Mutter ebenfalls eine dreidimensionale Projektion erhielt. „Du bist so faul! Es ist echt das Letzte mit dir!“ Das Stimmengewirr wurde lauter. Vitalis Vater kam hinzu. „Du kriegst doch nie was hin!“ Immer mehr Figuren erschienen und beschimpften Change in Endlosschleife. Change stand reglos da, rang nach Atem. Sein Körper war verkrampft. Dann drehte er sich zu Destiny. Mit Tränen in den Augen, der Unterkiefer verhärtet, sah er sie an, fragte sie wortlos, ob sie jetzt zufrieden war. Destiny wurde aus ihrer Trance gerissen. Mit brutaler Härte schlug sie auf dem Boden der Tatsachen auf. Die Beleidigungen der zahllosen Personen um sie herum… sie hörte die Worte, verstand erst jetzt. Die Laute in ihren Ohren wurden jählings erstickt durch das Pochen ihres Blutes bei Changes Anblick, wie er seinem Schicksal trotzig und doch hilflos ausgeliefert war, nur noch damit beschäftigt, aufrecht stehen zu bleiben, die Augen mit Tränen gefüllt. Destiny blieb das Herz stehen. Ein Schlag ging durch die Atmosphäre.   Change riss die Augen auf, verschwendete keinen Gedanken daran, dass er wieder im Trainingsraum saß, sprang auf die Beine und stürmte hinaus. Destiny, die als einzige ebenso schnell auf die neue Umgebung reagierte, stürzte ihm nach, raus aus dem Trainingsraum.   „Change!“ In dem Gang zwischen ihren Zimmern blieb Change stehen und drehte sich abrupt zu ihr um. Er war am Heulen, seine Stimme eine Mischung aus Schluchzen und Schreien: „Was willst du noch, hä?!“ Destiny schwieg ohnmächtig. „Das muss doch ganz toll sein für dich, dass du nicht der einzige bist, der mich für einen Idioten hält!“ Sie sah ihn getroffen und entsetzt an. „Fühlst du dich jetzt besser?!“, brüllte er völlig aufgelöst. „Natürlich nicht!“, kreischte Destiny. „Du bist kein Idiot!“ Change schnaufte schwer, versuchte durch das Einsaugen der Luft, sein Inneres zu ersticken. Destiny sah ihn reuevoll an. „Ich hab dich nie für einen Idioten gehalten.“ Er senkte den Blick und konzentrierte sich darauf, sich zusammenzureißen. „Du beschützt mich immer. Du bist immer da, wenn ich dich brauche.“, sprach Destiny im Ton heftigster Emotionalität. „Du bist kein Idiot!“ Plötzlich durchschnitt sein Schluchzen die mühsame Selbstbeherrschung mit einem Schlag. Destinys Worte ließen die Tränen zuhauf in seine Augen schießen. „Es tut mir leid.“, sagte Destiny aufrichtig. Change nickte, hoffte, dass sie das von weiteren Worten abhalten würde. Mit seinen Handgelenken wischte er sich die Augen. Weiterhin kämpfte er mit sich. „Change…“ Er reagierte nicht. Sie sollte nur aufhören zu sprechen! Mit grässlich emotionaler Stimme redete sie weiter, als wolle sie jegliches Gefühl in ihm an die Oberfläche zerren. „Egal, was die Leute sagen…“ Weiter ließ er sie nicht kommen. „Ist mir egal, was andere sagen.“, presste er halb trotzig, halb schluchzend hervor. „Das sind eh Idioten.“ Er wollte überzeugt und cool klingen, aber seine Stimme machte das unmöglich. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und schloss die Augen. „Wen interessiert das schon!“ Die Körperhaltung tat ihm gut, er fühlte sich damit stärker. Und weiterhin hielt er die Augen geschlossen, als wäre er völlig gelassen. Er musste es sich nur lange genug einreden. Lange genug durchhalten. Dann würde es weggehen. Aber Destinys Worte hallten noch immer in seinem Kopf nach. Es war so gemein, dass sie gerade jetzt nett sein musste! Er wollte jetzt nicht, dass jemand nett zu ihm war, er musste hart sein – männlich! – und diese dämlichen Tränen loswerden. Er versuchte durch seinen Mund an Sauerstoff zu kommen, da seine Nase längst zu war. Plötzlich tippte etwas gegen seinen Arm. Er öffnete wieder die Augen und sah Destiny ihm verlegen eine Packung Taschentücher entgegen strecken. Er wusste nicht, woher sie die jetzt hatte. Vielleicht hatte sie sich kurz zurückverwandelt, um sie aus ihrer Jackentasche zu holen. Widerwillig griff er danach und nahm sie ihr grob aus der Hand. Er öffnete die Packung und holte ein Taschentuch hervor. Mit der Packung und dem aufgefalteten Taschentuch in Händen schnäuzte er sich mehrfach und versuchte dabei so leise wie möglich zu sein. Als er fertig war, rang er sich zu weiteren Worten durch. „Wehe du sagst was.“ Destiny schwieg. Dann drang ihre Stimme an sein Ohr, gerade laut genug, um kein Flüstern mehr zu sein. „Wir sind doch…Partner.“ Destiny wusste, sie hatte totalen Mist gebaut, und Changes Schweigen auf ihre Worte hin machte ihr überaus deutlich, dass sie sich dieses Mal nicht einfach herauswinden konnte. Dieses Mal würde er nicht einfach über ihre Grausamkeit hinwegsehen. Schweren Herzens presste sie daher weitere Worte hervor in dem Versuch, es irgendwie wiedergutzumachen, so aussichtslos das auch war. „Das waren nicht…“ Sie unterbrach sich. „Ich bin sicher, deine Eltern sind stolz auf dich.“ „Du weißt gar nichts über meine Eltern!“, stieß er gebrochen aus. Destiny schluckte die Tränen runter. Sie wusste nicht, wie sie Changes Wunden heilen sollte. Sie war nur gut darin, anderen wehzutun. Die Bilder, die sie ihm gezeigt hatte, kamen ihr in den Sinn. Das Bild, dem er immer unterliegen würde. Leise, zögerlich rang sie sich zu den Worten durch. „Für mich…“ – Es war so peinlich. – „bist du besser als Erik.“ Schweigen. Ob Change sie anstarrte, wusste sie nicht, sie wagte nicht aufzublicken. Sie versuchte schnellstens klarzustellen, wie sie das gemeint hatte. „Ich – ich mag Vitali so wie er ist.“ Oh Gott, das war das Peinlichste, das sie je zu ihm gesagt hatte! Ein Grollen ertönte. „Blöde Kuh.“ Getroffen blickte Destiny auf und sah, dass Changes Gesicht völlig verzerrt war. Die Haut um seine Augen war so purpurrot, dass es auch ohne Tränen offensichtlich war, dass er weinte. „Du bist so ne blöde Kuh!“ Es war so gemein, dass sie das jetzt sagte, ausgerechnet jetzt! Change wäre am liebsten davongelaufen. Er zog ein weiteres Taschentuch aus der Packung und schnäuzte sich, nahm sich die Zeit, um mit der Situation klarzukommen. Alsdann fuhr er Destiny an. „Sag es noch mal!“ Eingeschüchtert sah sie ihn an und schien nicht zu begreifen. „Sag es noch mal!“, forderte er wütend. Einen weiteren Moment starrte sie ihn an, dann wich sie jäh seinem Blick aus. Change wurde umso fordernder. „Ich hab gesagt –“ „Weißt du, wie peinlich das ist!“, kreischte Destiny dazwischen. „Du hast mich gerade vor allen anderen blamiert und …“ Er sprach nicht weiter. Destiny biss sich auf die Unterlippe und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Erneut dachte sie an die Bilder, die sie in Changes Seelenwelt gesehen hatte. „Du Idiot! Natürlich bist du mir wichtiger!“, schrie sie aufgebracht. „Hör auf mich zu beleidigen!“, schrie Change zurück. Destiny riss die Hände vom Gesicht. „Ich hab dich nicht beleidigt!“ „Du hast mich schon wieder Idiot genannt!“ „Weil es peinlich ist!“, verteidigte sie sich. „Ist mir doch egal, ob dir das peinlich ist!“, blaffte Change. „Soll dir auch peinlich sein! Dann weißt du mal, wie’s mir geht, du dumme Kuh!“ „Fein!“, brüllte Destiny stinkig und versetzte entschieden: „Du bist mir viel wichtiger als Erik! Zufrieden?!“ Change stockte. Offenbar wussten seine Augenbrauen nicht mehr recht, was sie tun sollten. Er hatte wohl nicht geglaubt, dass sie das wirklich wiederholen würde, und Destiny schämte sich, es getan zu haben. Sie wollte ihre Aussage zurücknehmen, schließlich war es nicht so, dass er ihr wichtiger war als Erik… Sie schrumpfte in sich zusammen: Er war ihr wichtiger – das war das Schlimmste! „Ist das wahr?“ Destiny schwieg. Changes Stimme wurde wieder laut. „Lass es doch einfach!“ „Natürlich!“, schrie sie. Einen Moment lang sahen sie einander stumm an. Schließlich brach Change den Augenkontakt ab und reichte ihr die Taschentuch-Packung. „Danke.“ Sie konnte nicht sagen, ob er die Taschentücher oder ihr Worte meinte. „Die anderen warten.“, sagte er. Destiny wagte es kaum, ihn noch mal anzusprechen. „Man sieht …“ „Was?“, schimpfte er. „… dass du geweint hast.“ Er brauste heftig auf. „Das ist doch deine Schuld!“ „Tut mir leid.“, presste sie hervor. Change stieß ein entnervtes Stöhnen aus, das Destiny die Schultern anziehen ließ. Er grummelte. „Hör auf, so zu schauen, als wärst du das Opfer.“ „Tut mir leid.“ „Hör auf das zu sagen.“ Destiny sah ihn hilflos an. Er seufzte. „Das war keine Absicht, oder?“ Ihr Gesicht verzerrte sich vor Reue. Change ließ den Kopf in den Nacken fallen und stieß die Luft aus. „Alter, wieso hasst du mich so?“ Destiny schwieg. Change sah sie an, wie sie verängstigt vor ihm stand. Er holte nochmals Atem. „Freunde?“ Ungläubig blickte sie zu ihm auf und bemerkte, dass er ihr die Faust hinhielt. Nochmals sah sie ihm betroffen in die Augen, als wolle sie ihn fragen, ob er das wirklich ernst meinte. Er reagierte nicht darauf, sondern hielt ihr nur weiter die Faust hin. Nun endlich schien sie sich ein Herz zu fassen und berührte mit ihrer Faust ganz zaghaft und flüchtig die seine, ohne ihn dabei anzusehen. „Freunde…“, flüsterte sie sacht mit schüchtern gesenktem Blick. Change konnte nicht anders als angesichts dessen zu lächeln.   Desire stieß einen Seufzer der sich langsam lösenden Anspannung aus und wandte sich an die anderen: „Scheint, als hätten sie sich wieder vertragen.“ Unite, Trust und sie standen etwas vom Ausgang des Trainingsraums entfernt, jedoch war Changes und Destinys Geschrei bis hier zu hören gewesen. Nun vernahmen sie, wie die beiden zurückkamen. Auch Trust atmete auf. „Gott sei Dank.“ Die Besorgnis war ihm noch immer anzusehen. „War doch klar.“, kommentierte Unite. Desire warf ihr einen strafenden Blick zu. „Wer hat ihnen eben noch hinterher rennen wollen?“ Unite lachte verlegen. Ewigkeit schwirrte um die drei. „Und?“, fragte sie erwartungsvoll. Dass die fünf mit einem Mal in eine Seelenwelt entschwunden waren, schien sie nicht weiter beunruhigt zu haben. „Destiny hat gelernt, ihre Kräfte zu beherrschen.“, verkündete Unite stolz. Kapitel 86: Familien-Albtraum ----------------------------- Familien-Albtraum   „Mich stört nicht dein Dasein, sondern dein Hiersein“ (Klaus Klages)   Erik stand neben seiner Mutter in der Diele des Hauses und wartete auf die Ankunft seiner Tante. Sein Smartphone zeigte kurz nach drei an. Im ersten Stock hörte man die Schritte seines Vaters, der gerade an dem Bereich vorbeiging, der über die große Treppe einzusehen war. „Rosa kommt um drei.“, sagte Eriks Mutter in die Richtung ihres Mannes. „Sie wird ohnehin zu spät kommen.“, entgegnete Herr Donner, ohne sich ihr zuzuwenden und verschwand aus dem Blickfeld. Selbst Erik konnte aus dem undurchdringlichen Gesichtsausdruck seiner Mutter nicht erschließen, ob sie sich über seinen Vater ärgerte oder über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nachdachte. Im Hause Donner wurde nicht gestritten, nicht geschrien. Es gab keine Probleme. Seine Mutter verließ ihren Platz, um in der Diele umher zu schreiten und das Interieur zu arrangieren. Obwohl sie dabei einen souveränen, strengen Eindruck auf andere machen mochte, wirkte sie auf Erik nervös. Er wandte sich der Tür zu. Der ehrwürdige Eindruck der breiten Haustür aus Ebenholz, durch die schon Generationen der Familie Donner gegangen waren, hatte ihn als kleinen Jungen in Faszination versetzt und in eine Art Schrecken. Manchmal hatte er geglaubt, die Tür würde nicht dulden, dass er durch sie hinaus oder hinein ging, als müsse sie das Verlorengehen von Einrichtungsgegenständen und das Eindringen von Fremdkörpern verhindern. Und er war beides. Ein ehrfurchteinflößendes Läuten erklang, wie das Schlagen einer Wanduhr. In erhabener Langsamkeit ging seine Mutter auf den Eingang zu. Sobald sie die Tür geöffnet hatte, riss die davor stehende Frau ihre Arme in die Höhe – in der einen Hand noch eine pinke Einkaufstüte haltend. „Hallo!“, quietschte die Besucherin in einem hohen, mädchenhaften Ton und stürzte auf seine Mutter zu, um sie überschwänglich zu umarmen und ihr Luftküsse gegen die Gesichtshälften zu drücken. Diese übermäßig unbekümmerte und an einem Mangel an Respekt leidende Wahl-Blondine in dem heiter-rosa Kleidchen – das viel zu sommerlich für die Jahreszeit aussah – ließ die Szene in diesem von Tradition durchdrungenen Haus immer wie den Drehort einer flachen Parodie erscheinen. Jäh gab Rosa ein Gequieke von sich, als würde sie ein fröhliches Schweinchen nachahmen wollen. „Wenn das nicht unser kleiner Erik ist!“, kicherte sie überfreudig. „Du bist so groß geworden! Und gutaussehend!“ Sie drehte sich zu ihrer Schwester. „Gut, dass er deine Gene hat.“ Sie klopfte seiner Mutter ungeniert auf die Schulter. Dann drehte sie sich dem Hausflur zu und sah sich seufzend um, als wäre sie nach Ewigkeiten nach Hause zurückgekehrt. „Ach ja, die verstaubte Bude. Gut, dass ich mal wieder ein bisschen Schwung hier reinbringe!“ „Thomas ist noch am Arbeiten. Er wird gleich runterkommen.“, sagte Eriks Mutter gefühlsneutral. „Ach, der alte Griesgram, dem wäre es am liebsten, wenn er mich gar nicht sehen müsste.“, lachte Rosa. Erik nahm an, dass sie damit richtig lag. „Im Esszimmer stehen Kaffee und Kuchen bereit.“, sagte Tamara Donner, als würde es sie gar nicht interessieren, was ihre Schwester von sich gab. „Aber erst mal muss ich mein Gepäck reinbringen.“, antwortete Rosa. „Erik! Du bist doch so ein großer, starker Mann, du wirst mir doch sicher helfen.“ Sie lächelte ihn gewinnend an, zumindest ging Erik davon aus, dass sie ihr Lächeln für gewinnend hielt. Er erwiderte nichts, stattdessen lief er wie ein Page vor die Tür und ergriff Rosas roten Koffer mit den weißen Punkten und den farblich passenden Trolley.   Eriks Vater saß am Kopfende, rechts von ihm seine Frau, ihm gegenüber am anderen Ende des Tisches hatte Erik den Sitzplatz eingenommen, den er seit seiner Kindheit gewöhnt war und der es seinem Vater ermöglichte, ihn einer genauen Inspektion zu unterziehen und dabei so weit wie möglich von sich fernzuhalten. Erik sah auf den Tisch und hob seinen Blick nur so weit, dass er nicht in die Bedrängnis geriet, seinen Eltern in die Augen zu blicken. Auf einer großen Kuchenplatte aus Kristallglas waren verschiedene Tortenstücke arrangiert, die mit ihren Verzierungen und ihrem süßen Geruch, gemischt mit dem Duft des frischen Kaffees, direkt aus einem Magazin für perfekte Gastgeber hätten stammen können. Vier Porzellanteller, passend zu den zierlichen Kaffetassen und der zugehörigen Kaffekanne, standen auf der Tischdecke bereit. Auf den weißen Stoffservietten ruhten die kostbaren silbernen Kuchengabeln. Ein großes Bouquet rosafarbener Rosen, von zartweißem Schleierkraut und verschiedenem Grün ergänzt, bildete das Zentrum der Tischdekoration. Der Name der kleinen weißen Blüten, die als Rosenbegleiter dienten, war Erik nur vertraut, weil er sich als Kind für Blumen interessiert hatte. Heute war ihm unklar, was ihn damals dazu bewogen hatte. Keiner sprach ein Wort. Wie üblich. Die Tür in Eriks Rücken öffnete sich mit einem leisen Geräusch und Rosas schrille Stimme zerfetzte das profunde Schweigen mit einem lauten „Oh! Das ist ja wunderschön!“ Herr Donner begrüßte seine Schwägerin in einem Ton, der keinen Hehl daraus machte, dass er aus purem Zwang heraus das Wort an sie richtete. „Hallo Rosa.“ Rosa ignorierte ihn und strahlte stattdessen ihre Schwester an. „Wo hast du die Rosen her? Die sind ja wunderhübsch!“ Gefühllos wie immer antwortete Eriks Mutter. „Ich dachte mir, dass sie dir gefallen.“ „Blumen waren schon immer das einzige, bei dem du Emotionen gezeigt hast!“, scherzte Rosa und nahm gegenüber ihrer Schwester Platz. Bei ihren Worten wurde Erik übel. „Und das einzige, bei dem du keine Emotionen gezeigt hast.“, antwortete seine Mutter. Rosa lachte hell auf. „Da hast du wohl Recht.“ Eriks Mutter erhob sich und verteilte die verschiedenen Kuchenstücke auf die emotionslose Art, die ihm vertraut war. Dennoch war es seltsam zu sehen, wie sie etwas tat, das einer Hausfrau ähnelte. Jemanden zu bedienen widersprach so ziemlich allem, wofür sie stand. Während sie seinem Vater ein Stück Torte reichte, redete Rosa weiter. „Erik wird immer mehr wie sein Vater.“ Mit desinteressierter Stimme antwortete seine Mutter: „Er ist sein Sohn.“ „Aber jetzt sieht man die Ähnlichkeit immer deutlicher.“ Erik konnte den Blick seines Vaters auf sich spüren und wusste, dass sein Vater zu einem anderen Ergebnis kam. Rosas übertrieben lebhafte Stimme sprach weiter. „Du solltest aufpassen, dass er nicht genauso verbittert wird!“ Erik biss die Zähne zusammen. „Welches Stück möchtest du?“, fragte seine Mutter ihn. Ohne Interesse an dem Sortiment an verschiedenen Torten-, Kuchen- und Biskuitstücken wählte er das erstbeste, reichte seiner Mutter den Teller und nahm ihn wieder entgegen. Momente lang widmete sich jeder seinem Teller. Nur Rosa musste direkt kommentieren, wie lecker der Kuchen war.   Dann rief sie in seine Richtung: „Du siehst aus, als würde dein Stück gar nicht schmecken!“ Erik sah sie nicht an. „Ich bin kein Fan von Süßigkeiten.“ Rosa lachte. „Man muss auch die süßen Dinge im Leben genießen können!“ Dann hörte er aus ihrer Stimme einen spielerischen Tadel. „Mit so einer Einstellung gewinnt man keine Mädchenherzen, auch wenn du noch so gut aussiehst.“ Die raue Stimme seines Vaters erklang. „Es ist mir lieber, er bringt kein Mädchen nach Hause als eines, das so denkt.“ Eriks Hand krampfte sich um die Gabel. „Es ist auch besser, wenn er dir seine Freundin nicht vorstellt, sonst rennt sie noch davon.“ Rosa lachte schallend. Erik legte die Gabel auf den Teller, hörte Rosas Lachen, sah das Stück Kuchen vor sich, die rosa Farbe der Himbeercreme zwischen dem gelblich-weißen Biskuitteig. Er schob seinen Stuhl nach hinten und erhob sich. Als hätte er ein Schauspiel unterbrochen, starrten die Anwesenden ihn geschockt an. Sie durchbohrten ihn mit Blicken, forderten etwas – etwas, das das Schauspiel wieder in Gang setzte. „Ich muss die Sprühsahne holen.“ Er ging um seinen Stuhl herum und verließ den Raum. Schnellstens entfernte er sich aus dem Bereich, von dem aus man ihn durch das verzierte Glas der Esszimmertür noch sehen konnte. Endlich in der Küche angekommen, blieb er einen Moment stehen und lehnte sich unwillkürlich gegen die Tür in seinem Rücken, als suche er Halt. Wie er das alles hasste. Aus seiner Hosentasche holte er wie in einer automatisierten Geste sein Smartphone hervor. Keine neuen Nachrichten. Natürlich. Er ließ es zurück in seine Hosentasche gleiten. Mit betont festen Schritten lief er zum Kühlschrank. Aus dem Inneren des Stahlriesen holte er die Dose Sprühsahne. Er schloss den Kühlschrank wieder, drehte sich um und zögerte. Einen Augenblick hielt er inne. Seine Linke stellte die Sprühsahne auf die Arbeitsfläche neben sich. Seine Rechte griff nochmals in seine Hosentasche, um sein Handy hervorzuholen. Wie eine Kristallkugel starrte er das erloschene Display an. Für Atemzüge schwankte er, war geneigt… – Er begann eine Nachricht zu tippen, löschte die Zeilen wieder, stand still und begann von Neuem.   Auf dem Heimweg frohlockte Vivien, als wäre sie die Moderatorin einer Dauerwerbesendung. „Das war doch ein super Training für den Kampf mit den Allpträumen!“ Vitali grummelte verärgert. „Was soll daran ein super Training gewesen sein?“ Vivien lächelte ihn an. „Weil die Allpträume genau das gleiche machen.“ Vitalis Augenbrauen zogen sich zusammen. Ewigkeit präzisierte. „Sie benutzen das, was euch am meisten wehtut.“ Entsetzt stieß Vitali aus: „Soll das heißen, ich hab dann mehrere Tinys in mir?!“ „So etwa.“, kicherte Vivien. „Ich bin kein Allptraum!“, beschwerte sich Serena. „Jupp, du bist nicht nur ein Allptraum, du bist auch noch ein Schatthenmeister“, erwiderte Vitali. Serena verzog das Gesicht. Daraufhin legte Vitali ihr locker die Hand auf die Schulter und stützte sich halb auf sie. „Hey, dafür hast du gleich nen potentiellen Arbeitgeber, wenn wir den Kampf verlieren. Du bist sicher sehr gefragt bei den Bösewichten.“ Es war nicht zu übersehen, dass Serena das nicht lustig fand. „Wieso bin ich ein Schatthenmeister?“, wollte sie stattdessen wissen. Doch keiner der anderen antwortete ihr. Vitali ließ von ihr ab und wandte sich an die anderen. „Wie soll das jetzt weitergehen?“ „Hey, wieso bin ich ein Schatthenmeister?“, rief Serena dazwischen und wurde ignoriert. Justin ergriff das Wort. „Serena hat zwar geschafft, uns wieder aus deiner Seelenwelt zu holen, aber sie braucht mehr Übung darin.“ Vitali zog die Nase kraus. „Wieso bin ich ein Schatthenmeister??!!!“ Ariane wandte sich an Ewigkeit. „Und du bist sicher, dass unsere Kräfte bei den Allpträumen wirken, wenn wir in der Seelenwelt sind?“ „Vielleicht müsst ihr die Schwingung ändern.“ Die fünf warfen sich verwirrte Blicke zu. Serena hatte mittlerweile aufgegeben, nach der Bedeutung von Vitalis Worten zu fragen. „Die Allpträume sind nicht aus Hass und Zorn gemacht.“ „Großartig.“, nörgelte Serena. „Das heißt, wir wissen nicht mal, ob unsere Kräfte irgendeine Wirkung zeigen?“ „Die Beschützer können alles!“, verkündete Ewigkeit, als würde sie das Motto einer Sportmannschaft aufsagen. Serena spottete. „Wie wär’s wenn du das den Allpträumen erzählst? Dann verschwinden sie vielleicht von sich aus wieder.“ „Das ist eine super Idee!“, rief Vivien. „Psychologische Kriegsführung!“ Ein seltsames Geräusch ertönte und Ariane griff in ihre Tasche, um ihr Handy hervorzuholen. Sie warf einen Blick auf das Display und öffnete die Nachricht. Daraufhin erschien ein Lächeln auf ihren Lippen. „Was ist?“, wollte Vitali wissen. „Erik.“, antwortete Ariane, ohne den Blick vom Bildschirm zu heben. „Was schreibt er?“, mischte sich Vivien ein. Ariane überflog nochmals seine Worte.   Verbringst du einen ebenso spannenden Nachmittag wie ich? Bei uns ist Familienversammlung, weil meine verschollene Tante bei uns eingekehrt ist. Das ist seeehr lustig. Meine Eltern schweigen, meine Tante redet und ich wünschte, ich könnte mir einfach die Kopfhörer meines iPhones in die Ohren stecken. Möchtest du dem nicht beiwohnen?   „Er muss den Nachmittag mit seiner Familie verbringen und ist gar nicht begeistert.“ Sie sah zu den anderen. „Ist es okay, wenn ich antworte?“ Die anderen schauten, als wäre das eine unnötige Frage. Ariane tippte auf dem Display herum. Besser nicht. Dein Vater würde bei meinem Anblick noch einen Herzinfarkt bekommen. :) Wenige Momente später erhielt sie eine Antwort. Wann kannst du kommen? Fast hätte sie laut losgelacht, stattdessen grinste sie breit und tippte. *lach* Das wirst du auch ohne mich überstehen. Antwort: Auf deine Verantwortung. Hast du demnächst Zeit, damit ich eine Ausrede habe, von hier abzuhauen? Ariane schrieb: Sicher. Eine weitere Antwort. Gut. Muss wieder rein. Drück mir die Daumen. Ariane tippte eine letzte Nachricht. Mach ich. :) Alles Liebe. „Schreibt ihr euch immer so viel?“, fragte Vitali verdutzt. Ariane stutzte. „Nein, eigentlich nicht. Normalerweise schreiben wir uns gar nicht. Aber du schaust nie auf dein Handy und Justin hat keines, deshalb bringt es nichts euch Nachrichten zu schicken. Bei mir weiß er, dass ich antworte.“ „Du meinst, er würde jedem schreiben, der ihm antwortet?“, fragte Vitali ungläubig. „Besser als jemandem, der nicht antwortet.“, erwiderte Ariane. „Vielleicht vermisst er euch!“, sagte Ewigkeit heiter. „Wir haben uns gestern erst gesehen.“, warf Vitali ein. Ewigkeit schaute, als verstünde sie den Einwand nicht. Vivien hatte einen Vorschlag. „Wir können ja mit Erik zusammen unseren Sieg über die Allpträume feiern!“ „Falls wir gewinnen.“, wandte Serena ein. „Fokussiertes Denken!“, verkündete Vivien. „Du musst dir vorstellen, wie die Hand durch das Brett hindurchschlägt, nicht auf das Brett.“ Vitali wandte sich an Justin. „Wovon redet sie eigentlich?“ Justin schaute unsicher. „Ich glaube Karate.“ Um den vorigen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, sagte Ariane: „Erik hat ohnehin gefragt, ob wir demnächst etwas unternehmen wollen.“ „Dann Siegesfeier mit Erik!“, rief Vivien. „Oder Beerdigungsfeier.“, grummelte Serena. Zur Strafe verwuschelte Vitali ihr das Haar, sodass sie laut aufschrie, ohne jedoch seine Hand wegzuschlagen. Ewigkeit kicherte glockenhell, als ginge sie davon aus, dass die beiden dabei Spaß hatten. Vivien ergriff Justins Hand und lächelte ihn fröhlich an. „Was ist?“ Sie lächelte bloß weiter und blieb ihm eine Antwort schuldig.   Grauen-Eminenz hatte bei der Pandämoniums-Auskunft angerufen und war ewig und drei Tage in der Warteschleife gehangen. Wenigstens hatte er nicht Konversation mit einer Computerstimme betreiben müssen, die sich über Tastendrücken mit ihm unterhalten wollte. Wenn Sie restlos entnervt sind, dann drücken Sie die Sieben. …Piep. Lieber Kunde, Sie sind restlos entnervt. Wenn der Grund für Ihre Entnervtheit die Computerstimme ist, die nichts aus der Ruhe bringen kann, dann drücken Sie die Eins. Wenn es die Hintergrundmusik ist, die Sie in den Wahnsinn treibt, drücken Sie die Zwei. Wenn es die verschwendete Lebenszeit ist, die Sie damit verbringen, irgendwelche Tasten zu drücken, drücken Sie die Drei. Wenn es eine Kombination aus den zuvor genannten Gründen ist, drücken Sie die Vier. Er hätte erwartet, dass das Pandämonium sich wenigstens eine beeindruckende Wartemelodie ausgesucht hätte, ‚Eine Nacht auf dem kahlen Berge‘ von Modest Mussorgski oder die Erkennungsmelodie vom weißen Hai oder Darth Vader. Aber nein, sie hatten die Standardmelodie eines Callcenters, ein einfaches Gedudel. Jedenfalls war er schließlich durchgestellt worden, um dann zu erfahren, dass er seine Anfrage doch bitte an den für den Auftrag zuständigen Projektleiter stellen sollte, den er dem Anschreiben entnehmen könne. Restlos entnervt war Grauen-Eminenz dieser Anweisung gefolgt und hatte demjenigen eine E-Mail geschrieben, da er genug von Telefonwarteschleifen hatte. Er hatte nachgefragt, ob dieser ihm Informationen darüber geben konnte, wie er die Allpträume wieder einfangen sollte. Tatsächlich hatte er daraufhin eine Antwort bekommen. Der Sachbearbeiter hatte ihm erklärt, dass sich die Box, in der sich die Allpträume befanden, tatsächlich als eine Art Staubsauger benutzen ließ. Darüber hinaus hatte er behauptet, die Instruktionen dazu seien der Sendung beigelegen. Aber Grauen-Eminenz hatte alles doppelt und dreifach durchgesehen und nichts gefunden! War ja klar. Wenn das Pandämonium einen Fehler machte, wurde es auf ihn geschoben. Nun war er bloß umso sicherer, dass seine Organisation selbst keine Ahnung hatte, wie man mit diesem Apparat umging. Und leider war das Ding alles andere als selbsterklärend. Als er daraufhin nochmals per Mail nachfragte, wie das Einfangen funktionieren sollte, sobald er die Allpträume freigelassen hatte und sie über die ganze Stadt verteilt waren, bekam er keine Antwort mehr. Großartig.   Die sonntägliche Ruhe im Hause Donner wurde von einer quietschigen Frauenstimme unterbrochen, die vom Ende des Ganges im ersten Stock zu Erik schrillte. „Erik, kannst du mal kommen?“ Jetzt war er nicht mal mehr auf der Strecke vom Bad zu seinem Zimmer davor sicher, von ihr behelligt zu werden. Das Gästezimmer befand sich am Ende des rechten Ganges und zählte mit seiner einem riesigen Wohnzimmer entsprechenden Größe zu den kleineren Räumen im Hause Donner. Rosa hatte sich persönlich um seine Ausgestaltung gekümmert. Entsprechend war die Einrichtung bunter und flippiger als im Rest des Hauses, wo gedeckte Farben wie Schwarz, Dunkelbraun und verschiedene Grau- und Beigetöne vorherrschten. Auf Erik wirkte das Ganze immer so, als würde er durch die Tür in ein Geschwür schauen. Etwas, das nicht Teil dieses Haus war, in dem sonst alles einer klassischen Linie folgte. Rosa stand mit ihrem Koffer in der Hand da. „Könntest du den auf den Schrank stellen?“ Erik fragte sich, wieso sie den Koffer nicht einfach neben dem Schrank stehen ließ, aber nach dem Warum zu fragen, hätte nichts weiter gebracht, als dass er sich unnötigerweise ihr Gerede hätte anhören müssen. Daher nahm er ihr stattdessen den leeren Koffer ab und hievte ihn auf den Kleiderschrank. „Danke.“ Ohne Worte wollte sich Erik wieder entfernen. Die Zimmertür hatte er bewusst gleich offen stehen lassen. Doch Rosa musste erneut das Wort an ihn richten. „Wie geht es dir?“ Am liebsten hätte er sie ganz einfach ignoriert, schließlich hatte sie ihm die gleiche Frage zum Frühstück gestellt, was nur ein paar Stunden her war. Seine Eltern waren an diesem Sonntag bei einem befreundeten Ehepaar zum Brunch eingeladen, daher hatte Rosa niemand anderen zum Nerven. „Gut.“, gab Erik also zum zweiten Mal an diesem Tag von sich und wollte das Zimmer verlassen. Erneut vereitelte Rosa sein Entkommen. „Tamara hat erzählt, dass du jetzt hier zur Schule gehst.“ Erik erzeugte ein zustimmendes Geräusch. Er war nur Schritte von der Tür entfernt, seine ganze Körperhaltung musste doch demonstrieren, dass er endlich gehen wollte. Aber anscheinend genoss Rosa es, ihn in der Falle zu sehen. Sie lachte spöttisch auf. „Hast du Angst vor mir?“ Mit ihrem Kommentar bezog sie sich offensichtlich darauf, dass er sie nicht ansah. Widerwillig drehte sich Erik zu ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. Zu der schnippischen Antwort, die ihm auf der Zunge lag, kam er nicht. „Es ist schön, dass du jetzt wieder öfter hier bist. Tamara freut sich.“ Sie lächelte. Eriks Laune sank auf den Tiefpunkt. Rosa wusste überhaupt nichts! Sie wusste nicht im Geringsten, was seine Mutter fühlte oder dachte! Seine Mutter hatte es nie interessiert, ob er im Internat war oder hier. Für sie war er ein seltsames, fremdes Wesen, mit dem sie nicht umzugehen wusste. Wie ein Unbekannter, der eines Tages vor ihrer Tür stand und ihr verkündete, er sei ihr Sohn. Sein Vater dagegen hatte nie etwas anderes in ihm gesehen: Sein Fleisch und Blut, sein Schuldner. Erik gehörte ihm und Eriks ganze Existenz war von ihm abhängig. Ganz gleich was Erik auch tat, diese Abhängigkeit hörte nicht auf. Solange er unfähig war, den Erwartungen seines Vaters zu genügen, solange war er gefangen. Dabei hatte er längst aufgegeben, in den Augen seines Vaters irgendetwas sein zu wollen. „Du hast es schwer, nicht wahr?“, sagte Rosa mit einem Lächeln, das er ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte. „Nein.“ Rosa strahlte ihn an. „Stimmt. Du bist groß und stark geworden. Jetzt ist es sicher einfacher für dich.“ Erik wurde übel, als der Gedanke in ihm hochkam, dass alles schlimmer geworden war. Rosa tätschelte ihm die Schulter, als wäre er ein Hund. „Lass dich von deinem Vater nicht unterkriegen.“ „Mein Vater ist nicht das Problem.“, erwiderte er in einem so wütenden Ton, dass Rosa ihn unverwandt ansah. „Was ist es dann?“ Erik schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Er war das Problem.  Er drehte sich um und ging.   Ob das Erwachen den Kopfschmerz einleitete oder der Kopfschmerz das Erwachen, konnte Erik nicht sagen. Mit der Hand an der Stirn, um sein Angesicht gegen die ins Zimmer dringenden Sonnenstrahlen abzuschirmen, verblieb er in seiner Lage. Das grelle Licht, das seine Umgebung eingenommen hatte, glomm orangerot hinter seinen Augenlidern. Vergeblich versuchte er dem Eindringling zu entrinnen. Einem wütenden Aufbäumen gleich setzte er sich mit einem Ruck auf und beugte sein Haupt, um der peinigenden Wahrnehmung zu entgehen. Als seine aufwühlende Gegenwehr gegen die Helligkeit schließlich nachließ, tastete er nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch. Zwölf Uhr. Er stöhnte. Unter normalen Umständen hätte er nie solange geschlafen. Eben wollte er das Mobiltelefon aus der Hand legen, als das Display erneut aufleuchtete. Mehr aus träger Routine als aus Interesse entsperrte Erik das Handy. Er versprach sich davon nichts, vermutlich nur eine Benachrichtigung über ein anstehendes Update. Zu seiner Überraschung handelte es sich um eine Nachricht. Die dösige Wolkendecke um seine Sinne herum riss schlagartig auf. Hi! Wie geht’s? Hast du auch so schlecht geschlafen? Ich hatte Albträume. Ariane Das leise Glücksgefühl, das ihr Name in ihm ausgelöst hatte, konnte der Reaktion auf ihre Worte nicht lange standhalten. Unliebsame Bildfetzen kamen als Blitzlichtgewitter aus den Tiefen seiner Erinnerung zurück an die Oberfläche geschnellt. Gewaltsam drängte er sie zurück in die Schatten und wählte Antworten. Gewillt zu schreiben, was ihm gerade durch den Kopf ging, hielt er nochmals inne und verwarf seine naiven Absichten. Still ermahnte er sich: Einblick in das zu gewähren, was hinter der Maske lag, hieß abstürzen. Soll das heißen, du hast wieder von mir geträumt?, antwortete er stattdessen. In ungeduldiger Erwartung hielt er sein Smartphone in Händen, obwohl er wusste, was Ariane schreiben würde: ‚Ganz sicher nicht!‘ Endlich spürte er den Vibrationsalarm und sah das Display aufleuchten. Ja. Und in dem Traum hast du mir dämliche Fragen gestellt, um mein Hirn explodieren zu lassen! Erik schmunzelte. Es gelang ihr doch immer wieder, ihn zu überraschen und seine Gedanken auf andere Bahnen zu lenken, fast wie ein Himmelskörper, dessen Anziehung verhinderte, dass man in der Schwärze verloren ging. Wieder tippte er. Das ist natürlich ein sehr beängstigender Traum. Aber absolut abwegig. Ich stelle niemals dämliche Fragen. Außerdem verdrehe ich dir viel lieber den Kopf als ihn explodieren zu lassen. Es dauerte etwas, bis er ihre nächste Antwort erhielt. Du willst mir also das Genick brechen. Auch nicht besser. – Während des Lesens musste er grinsen. – Zumindest bin ich froh, dass du gut schlafen konntest. Dass sie erneut auf seinen Schlaf ansprach, machte ihn stutzig. Ein zweites Mal auf so etwas Belangloses hinzuweisen, konnte nicht einfach als Flüchtigkeitsfehler gedeutet werden. Nicht bei jemandem wie Ariane. Dafür war sie zu clever – und zu sehr darauf bedacht, sich vor ihm keine Fehler zu leisten – wie er leicht amüsiert ergänzte. Wieso also? Allein schon diese Frage als Aufhänger für ihre erste Nachricht zu nehmen, schien suspekt. Das war doch kein Grund jemandem zu schreiben. Er fuhr sich über die Stirn. Er war wohl der einzige, der sich über solche Dinge Gedanken machen konnte, wenn die Person, über deren Nachricht er sich schon aus Prinzip hätte freuen sollen, eine gehaltlose Kurznachricht schrieb. Dennoch wollte er nicht glauben, dass ihre geistigen Fähigkeiten sie verlassen haben sollten, wo sie doch auf seine Antworten mit ihrer typischen Schlagfertigkeit reagiert hatte. Wie passte das zusammen? Ein Klopfen unterbrach seine Überlegungen. Erik legte das Handy beiseite, erhob sich und lief zur Tür. Das Rufen von „Herein“ oder „Ja“ mochte für andere Menschen eine gängige Methode sein, dem Klopfenden die Erlaubnis zum Eintritt zu gewähren – nicht so im Hause Donner. Dies lag nicht etwa daran, dass Erik um jeden Preis verhindern wollte, dass sein Vater einen Fuß in sein Zimmer setzte. Sein Vater klopfte nicht. Und ob Erik seine Anwesenheit duldete oder nicht, interessierte ihn herzlich wenig. Nie hätte sein Vater auch nur eine Sekunde Eriks Privatsphäre respektiert. Schlimmer. Für ihn besaß Erik keine Privatsphäre. Diese Sache, die sein Vater nur Menschen zugestand, die er als gleichwertig ansah. Von dem Klopfen wusste Erik, dass seine Mutter vor der Tür auf ihn wartete. Mittlerweile kannte er die Prozedur, die sich seit seinem Wiedereinzug vor drei Monaten herauskristallisiert hatte: Er öffnete, trat hinaus in die Diele und ließ das Zimmer hinter sich, das seine Mutter mied wie der Teufel Weihwasser. Um ihr den bloßen Anblick zu ersparen, schloss er die Zimmertür. Dieses Zimmer und alles, was sich darin befand, war geheim. Nicht aus einem ihm innewohnenden Wesenszug, sondern weil die Öffentlichkeit seine Offenbarung nicht wünschte. Und so blieb es geheim. „Rosa und ich gehen Essen.“, informierte seine Mutter trocken. Für die Dauer von Tante Rosas Besuch, hatte seine Mutter der Haushälterin Urlaub gegeben, dementsprechend gab es im Hause Donner keine warmen Mahlzeiten mehr. Vom Ende des Ganges kam Rosa mit beschwingtem Schritt angetänzelt. „Erik! Ist dir Chinesisch oder Italienisch lieber? Oder deutsche Hausmannskost? Ich kann mich nicht entscheiden.“ „Ich hab keinen Hunger.“, entgegnete Erik knapp. „Wenn du bis mittags schläfst.“, antwortete seine Mutter emotionslos. Erik schwieg. „Hast du auch schlecht geschlafen? Ich hatte schreckliche Albträume!“, stieß Rosa aus. „Tamara auch. Nicht wahr?“ Sie drehte sich zu Eriks Mutter. Diese schwieg. „Vielleicht war Vollmond! Es passieren ja die verrücktesten Dinge bei Vollmond. Ich war mal mit einem Polizisten zusammen. Der hat erzählt, dass es viel mehr Gewalttaten in Vollmondnächten gibt. Verrückt oder?“ Erik gab darauf keine Antwort. „Ich kann mir selbst was zu essen machen, wenn ich Hunger kriege.“ „Tu deiner Mutter doch den Gefallen!“, quengelte Rosa. Erik warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Es erfüllte ihn mit unbändiger Wut, dass Rosa die dumpfe, halb abgetötete Hoffnung des Kindes in ihm zurück ans Tageslicht zu zerren versuchte. Er wollte sich niemals wieder der Hoffnung hingeben, geliebt zu werden. Einem so absurden Wunsch. Die Übelkeit der vergangenen Nacht schoss wieder in ihm hoch. „Leg dich wieder hin. Du siehst krank aus.“, sagte seine Mutter und wandte sich ab. Verblüfft wirbelte Rosa herum und folgte ihr nach. „Warte!“ Erik blieb stehen. Das wiedererwachte Schwächegefühl ließ nicht von ihm ab. Reflexartig starrte er auf seine Hände. Er drehte sich zu seinem Zimmer um. Kapitel 87: In Trusts Seelenwelt -------------------------------- In Trusts Seelenwelt „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ (Albert Einstein)   Die fünf saßen auf der Couch ihres Hauptquartiers. Nachdem keine Antwort mehr von Erik gekommen war, hatten sie es sich im Inneren gemütlich gemacht und ihre Besprechung begonnen. „Das hat überhaupt nichts gebracht.“, klagte Desire unzufrieden. Die Aufgabe, herauszufinden, ob Erik heute Nacht wie sie von einem Allptraum heimgesucht worden war, war natürlich an ihr hängengeblieben. Dass der Text ihrer Nachricht sie aufgrund des fadenscheinigen Anlasses total bekloppt wirken ließ, hatte die anderen nicht interessiert. Ihr einziger Trost war, dass Erik sie – zumindest seiner Reaktion nach zu urteilen – jetzt auch nicht für gestörter hielt als schon zuvor. Dennoch war es frustrierend, dass die ganze Aktion schlussendlich vergebens gewesen war. „Du hättest ihn ja auch anrufen können.“, meinte Change. Desire bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. Vor ihnen auf dem Tisch hatte Unite derweil einen Stadtplan von Entschaithal ausgebreitet. „So etwa müsste sich der Allptraum bewegt haben.“, sagte sie und fuhr die mögliche Strecke des Allptraums mit dem Finger nach. Vom Westen war er vermutlich nach Osten gewandert. Ewigkeit folgte ihrer Hand wie eine Animation dem Mauszeiger. „Jetzt wird er entweder nach Norden oder Süden gehen.“, mutmaßte Unite. „Change oder Destiny.“, schlussfolgerte Trust. „Soll doch Ewigkeit bei uns Wache halten.“, schlug Change vor. „Sie kann euch alarmieren und dann gehen wir in die Seelenwelt und schnappen das Ding auf frischer Tat!“ „So geht das nicht.“, widersprach Trust. „Wenn der Allptraum bei dir auftaucht, dann haben wir niemanden, der uns teleportiert, wir wären also nicht schnell genug da. Und wenn er bei Serena auftaucht, kommen wir nicht in die Seelenwelt.“ Change schaute missmutig. „Mist.“ Desires Blick senkte sich kummervoll. „Was ist?“, fragte Destiny, die ihre Anwandlung nicht übersehen hatte. „Es ist nur… Ich dachte, da wir über die Allpträume Bescheid wissen, würde uns das irgendwie helfen. Ich dachte, dass man irgendwie merkt, dass es nur ein Traum ist. Aber selbst als ich aufgewacht bin, haben mich die Bilder noch verfolgt. Sie haben mich nicht losgelassen. Obwohl ich wusste, dass es der Allptraum war, konnte ich überhaupt nichts dagegen tun.“ Unite und Trust verfielen in ein wissendes Schweigen. „So schlimm kann es doch gar nicht sein.“, meinte Change beschwichtigend. Desire warf ihm einen strafenden Blick zu. „Stell dir das vor, was Destiny in deiner Seelenwelt gemacht hat, nur dass du nicht weißt, dass sie da ist.“ Changes Gesicht verzog sich. „Ich wollte euch nur aufmuntern.“ Desire schüttelte wohlwollend den Kopf. Wie konnte so etwas aufmunternd sein? „Wir müssten irgendwie mehr über die Allpträume herausfinden.“, sagte Unite und wandte sich an Ewigkeit. „Hat die Stimme nicht wieder mit dir geredet?“ Das Schmetterlingsmädchen verneinte. Trust schwieg nachdenklich. Schließlich stieß er die Luft aus und sah wieder auf. „Und was ist, wenn wir in meine Seelenwelt gehen?“ Die anderen schauten verwundert. „Vielleicht kann Destiny dort noch Spuren von dem Allptraum ausfindig machen.“, erläuterte Trust „Echt jetzt?“, fragte Change ungläubig. „Es ist der einzige Ansatzpunkt, den wir haben.“, antwortete Trust. Unite, die neben Trust saß, sah ihn beunruhigt an. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Der Albtraum war sehr schmerzhaft für Trust gewesen, das wusste sie. Es wäre an ihr gewesen, sich nun zu melden und diesen Part zu übernehmen. Aber allein bei dem Gedanken zog sich ihr Magen zusammen. Die Angst, dass der Traum doch wahr werden könnte, wenn Trust ihn erst sah, ließ sie ganz klein werden. „Bist du dir da sicher?“, fragte Desire. Trust nickte. Er wandte sich an Destiny. „Glaubst du, du schaffst das?“ Zögerlich nickte Destiny. Trust versuchte sie zu beruhigen. „Wir gehen zusammen. Gemeinsam sehen wir mehr.“ „Ich will auch mit!“, rief Ewigkeit. Trust lächelte.   Sie setzten sich in den Trainingsbereich. Für den Anlass hatte Unite den Boden kurzerhand mit Kissen ausgestattet. Noch immer mieden sie den Meditationsraum, den Ewigkeit beziehungsweise Eternity angelegt hatte. Da Ewigkeits zweite Stimme seit ihrem Angriff auf sie nicht mehr aufgetaucht war, kam es ihnen unangebracht vor, ihn zu verwenden.  Die fünf bildeten einen Kreis und hielten sich an den Händen. Ewigkeit hatte sich auf Unites Kopf gesetzt.  „Und ihr seid sicher, dass sie bei Trust landet?“, hakte Change nach. Unite kicherte. „Nicht wenn du sie wütend machst.“ Change hielt daraufhin den Mund. Nur Augenblicke später spürte er, wie Destinys Kräfte über den Kontakt mit den anderen auf ihn übergingen. Im nächsten Moment hatte sich die Umgebung verändert und sie saßen jäh in einer Zimmerflucht, von der mehrere Durchgänge abgingen. Die Wände besaßen die Farbe von Milchkaffee, die Türrahmen der Durchgänge waren cremeweiß und der Boden karamellfarben. Ein sanftes Licht drang durch die hohen Fenster und der süße Duft von Vanille und Espresso durchwirkte die Luft. „Wir sind in nem Tiramisu gelandet.“, stellte Change fest, nachdem er und die anderen wieder aufgestanden waren. „Süß und stark.“, stimmte Unite mit einem Blick auf Trust zu. Dieser zog verlegen den Kopf ein. Desire blickte sich um. „Es sieht aus wie in einem Schloss.“ Von der Decke hing ein kleiner Kronleuchter. In der Ecke stand ein verzierter, schokoladebrauner Stuhl, an einer anderen Wand eine Kommode derselben Farbe. Durch die Durchgänge konnte sie erkennen, dass in einem der angrenzenden Räume riesige Gemälde hingen. Sie wandte sich an Destiny. „Ist das einfach so da oder beeinflusst du das?“ Destiny entzog sich ihrem Blick. „Ich … Es ist irgendwie so, als würde meine Fantasie sich entsprechend dem verdichten, was ich wahrnehme, und dann Formen entstehen lassen.“ Unite schaute begeistert. „Dann ist das deine Interpretation von Trust?“ Destiny verzog das Gesicht, widersprach aber nicht. Unite klatschte überfreudig in die Hände. „Es passt perfekt!“ Sie strahlte Trust an. „Du bist einfach ein Prinz.“ Trust wurde noch röter als zuvor. „Aber wieso war in Changes Seelenwelt alles so schwarz?“, fragte Desire. „Lag das daran, dass du deine Kräfte noch nicht richtig verwenden konntest?“ „Das ist…“ Destiny biss die Zähne zusammen, dann wurde sie laut. „Bei ihm ist alles total verwirrend! In seiner Welt macht alles, was es will!“ Unite zeigte ein breites Lächeln. „Vielleicht weil du ihn nicht richtig durchschauen kannst.“ Destiny schnaubte entnervt. Change grinste. „Hehe, ich bin nicht so leicht zu durchschauen.“ Die Blicke der anderen richteten sich auf ihn. Desire schlussfolgerte: „Dann ist Destiny wohl die einzige, die das nicht kann.“ „Hey!“, schimpfte Change. Desire erklärte ihre Aussage. „Das heißt einfach nur, dass du offen und ehrlich bist.“ Destiny gab ein abschätziges Geräusch von sich, als wolle sie dies abstreiten. Change war derweil wieder auf die Umgebung fixiert. „Schauen wir, was in den anderen Räumen ist!“, rief er lebhaft. „Vielleicht gibt es ja einen Schokoladenbrunnen!“ Er lachte und wollte in Begleitung von Ewigkeit loslaufen, wurde aber von Destiny aufgehalten, die ihm den Weg versperrte. „Keiner schaut hier irgendwas an! Wir sind wegen dem Allptraum hier.“ Change schaute unzufrieden. „In meiner Seelenwelt warst du weniger feinfühlend.“ „Das war…“, sie wandte den Blick ab, „keine Absicht.“ „Doch war es.“ „Am Anfang nicht...“, sagte sie kleinlaut. „Gekauft.“, meinte Change leichthin. „Und wo ist jetzt der Allptraum?“ Trust ergriff das Wort. „Wir müssen zu dem Traum, den ich hatte. Vielleicht finden wir dort Hinweise.“ Unite drehte sich zu ihm. „Weißt du noch, wie es sich angefühlt hat? Wenn ich Destiny dein Gefühl übertrage, dann kann sie es rufen.“ Trust nickte ernst. Unite hielt ihm ihre Hand hin. Trust holte tief Luft und reichte ihr seine Linke. Destiny kam ebenfalls heran und ergriff Unites freie Hand. Als Trusts Empfindung auf Unite überging, zog sich ihre Brust zusammen, Angst und Hilflosigkeit schnürten ihr die Luft ab. Sie war froh, als sie Trusts Hand wieder loslassen konnte. Für einen Moment war das Gefühl zu viel für sie. Doch ehe sie weitere Gedanken daran verschwenden konnte, hatte die Umgebung bereits auf das Gefühl, das Destiny empfangen hatte, reagiert. Eisentüren entstanden aus dem Nichts und schlugen um sie herum zu. Der Boden verwandelte sich ebenfalls in dunkles Eisen. Wie in einem Tresor waren sie plötzlich eingesperrt. Dann legte sich ein Nebel um sie und ließ in blassen Farben eine andere Welt erscheinen. Eine Ebene erschien und Trusts Traum baute sich vor ihnen auf. Unite bemerkte, wie Trust neben ihr zusammenzuckte. Es war der richtige Traum. In dunklen Farben entstand Justins Zuhause vor ihnen. Die Atmosphäre hatte etwas Bedrückendes. Doppelgänger von seiner Mutter und seinem Bruder wurden sichtbar, unter ihnen war auch Justin. Eine weitere Figur, die einen Arzt darstellte, begann zu sprechen: „Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber es gibt keine Möglichkeit, diese Krankheit aufzuhalten. Er hat nicht mehr lange zu leben.“ Augenblicklich brach Justins Mutter weinend zusammen, Justins Bruder Gary sah aus, als würde er den Arzt packen und schütteln wollen, stattdessen trat er wütend auf ihn zu und begann ihn anzuschreien. "Man muss doch irgendwas tun können!" Während der Arzt nochmals erklärte, dass es keine Therapie für dieses Leiden gab, stand Justin sprachlos da, sah zu seiner Mutter, die gebrochen am Boden lag. Etwas änderte sich in seinem Blick und er beugte sich zu ihr, um sie zu trösten. Dabei sah er hinter der Maske der Stärke so aus, als würde er selbst gerade zerbrechen.   Justin betrat das Schlafzimmer seiner Eltern, wo sein Vater im Dämmerlicht im Bett saß, schwach und kränklich. „Was hat der Arzt gesagt?“, fragte er mit heiserer Stimme. „Alles in Ordnung.“, sagte Justin. Sein Vater zeigte ein gütiges Lächeln. „Du brauchst mich nicht belügen.“ Justin regte sich nicht. „Wie nimmt es deine Mutter auf?“ „Sie…“ Justin redete nicht weiter. „Komm mal her.“ Justin folgte dem Aufruf seines Vaters und blieb an der Seite des Bettes stehen. Die Hände seines Vaters, die mit einem Mal schwach wirkten, griffen nach ihm. „Du bist ein guter Junge. Ich weiß, dass du das alles schaffen wirst, auch wenn ich nicht mehr da bin.“ Justin schwieg. „Pass auf deine Mutter auf und auf deinen Bruder.“ Justin schluckte. Er sah nicht auf. „Versprichst du es mir?“ „Ich verspreche es.“ „Dann kann ich in Ruhe ...“ Bei den letzten Worten brach die Stimme seines Vaters und er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. „Mein Junge.“, sagte er immer wieder unter Tränen. Justin zitterte, er schnappte nach Atem, seine Wangen wurden feucht, dennoch versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. „Es tut mir leid.“, schluchzte sein Vater.   Justin stand in seinem dunkel wirkenden Zimmer, das – voller Bücher – ein großes Durcheinander war. Doch er sah nichts davon. Reglos stand er da, seine Atemgeräusche durchwirkten die Stille. Er hörte jenseits seiner Tür das Schluchzen seiner Mutter. Er durfte keinen Laut machen. Er ließ sich langsam auf den Boden sinken und krümmte sich, ohne jegliches Geräusch von sich zu geben. Allein seine Hände, die sich gequält am Boden festkrallten zeugten von seiner Seelenqual. Sein Körper erbebte in stummer Pein. Als die Szene geendet hatte, sahen die anderen geschockt zu Trust. Der Beschützer verzog keine Miene. Erst als sich Unite ebenfalls zu ihm drehte, bemerkten die anderen, dass sie ihn als einzige nicht angestarrt hatte. „Hast du den Allptraum irgendwo gesehen?“, fragte sie ihn in verstörend normaler Tonlage, als hätte sie überhaupt nicht mitbekommen, was sich gerade vor ihrer aller Augen abgespielt hatte. Trust schüttelte den Kopf. „Vielleicht müssen wir irgendwo anders suchen.“ Ihre Stimme klang übermäßig fidel. Die anderen konnten nicht fassen, wie Unite so einfach über die Szene hinweg gehen konnte. Sie selbst getrauten sich nicht, auch nur das Wort an Trust zu richten. Unite wandte sich an Destiny. „Könntest du die Szene zurückspulen? Vielleicht haben wir was übersehen.“ Destiny starrte sie entsetzt an. „Glaubst du, das ist eine gute Idee?“, fragte Desire. „Wieso nicht?“, entgegnete Unite. „Na weil…“ Desire warf Trust einen kurzen Seitenblick zu. Unite verkündete: „Wir sollten uns das Ganze genauer ansehen! Zum Beispiel der Arzt. Kennst du ihn?“ Die letzte Frage war an Trust gerichtet. Er verneinte. „Das ist schon mal verdächtig.“ Destiny hatte Einwände. „In Träumen kommen oft Sachen vor, die man vorher nicht gesehen hat.“ „Vielleicht nicht bewusst gesehen.“, entgegnete Unite. „Vielleicht sitzt der Allptraum auch irgendwo in den dunklen Ecken.“ Sie ergriff Trusts Hand und zog ihn mit sich, vorbei an der zusammengebrochenen Gestalt, die ihn selbst darstellte, in die hintere Ecke seines imaginären Zimmers. Sie kniete sich hin und sah unter seinem Bett nach, dadurch dass sie ihn weiterhin festhielt, musste Trust es ihr gleich tun. „Siehst du was?“ „Nein.“, sagte Trust. Die anderen gafften ihnen irritiert hinterher. Unite stand wieder auf und lief nun direkt auf den am Boden kauernden Justin zu. Dieses Mal ließ sie Trusts Hand los, kniete sich hin und beäugte seinen Doppelgänger. „Hier ist auch nichts.“ Sie stupste den Traum-Justin an. „Das fühlt sich voll echt an!“, rief sie. „Probier mal.“ Trust machte einen wenig geneigten Eindruck. Um Unite jedoch nicht zu enttäuschen, trat er dennoch einen Schritt vor und berührte seinen Doppelgänger. Im gleichen Moment löste sich die Gestalt in eine feine Staubwolke auf. Diese wurde augenblicklich in Trusts Körper gesogen und verschmolz mit ihm.  „Was war das?“, fragte Desire. „Das alles ist Vertrauen, deshalb verschmilzt es wieder mit ihm.“, erklärte Ewigkeit, als wäre das völlig offensichtlich. „Die Allpträume können nur benutzen, was schon da ist.“ Ernst sah Trust in ihre Richtung und senkte dann den Blick. „Dann brauchen wir keine Angst haben! Alles, was der Allptraum uns zeigen kann, gehört zu Trust.“, meinte Unite lächelnd. „Äh – Tinys Seelenwelt?!“, erinnerte Change. „Da war genug, wovor man Angst haben konnte, auch ohne Allptraum!“ Unite ging auf seinen Einwand nicht ein und wandte sich an Destiny. „Kannst du noch mal zu der Szene mit Trusts Vater spulen?“ Etwas unwillig folgte Destiny der Aufforderung, woraufhin die Umgebung in schnellem Lauf zurück zu gewünschter Szene lief und anhielt, als Trusts Vater im Bett saß und mit Justin sprach. Unite legte ihre Hand auf Trusts Rücken. „Berühr ihn.“ Trust sah sie unsicher an. Zögerlich wandte er sich wieder nach vorn und ging langsam auf die Gestalt seines Vaters zu. Jeder Schritt schien schwerer zu werden als der vorige. Noch einmal hielt er inne, ehe er die Linke schließlich ausstreckte. Als er seinen Vater mit den Fingerspitzen berührte, zeigte sich das gleiche Phänomen wie zuvor. Die Gestalt seines Vaters löste sich in Staub auf und fand ihren Weg zurück in sein Inneres. Trust stand still da und berührte unwillkürlich seine Brust. Erst im nächsten Moment bemerkte er, dass Unite neben ihn getreten war. „Siehst du, deinem Vater kann nichts passieren.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Mitte seiner Brust. „Hier drin ist er sicher.“ Sie sah ihm ermutigend in die Augen und lächelte. Trust sah sie nur stumm an, ohne wie sonst vor ihr zurückzuschrecken. Noch einen Moment ließ Unite ihre Hand auf seinem Herzen ruhen, dann zog sie sie sachte zurück und lächelte ihn nochmals aufmunternd an. „Wo ist dieser dämliche Allptraum?“, beschwerte sich Change. „Das ist nicht der Traum.“, sagte Ewigkeit. „Was soll es denn sonst sein?“, meckerte Change. „Ey Trust, du hast doch gerade gesagt, das war der Traum, richtig?“ Trust nickte. Ewigkeit schüttelte den Kopf. „Das ist kein Traum.“ „Was ist es denn dann?“, beschwerte sich Change. Destiny versuchte sich an einer Erklärung. „Wenn man aufwacht, erinnert man sich nicht mehr ganz genau an den Traum. Und wenn man dann darüber nachdenkt, schließt man die Lücken mit eigenen Gedanken. Das ist wie ein Bild nachzuzeichnen, das man nur ganz kurz gesehen hat. Das Ergebnis wird nie genau gleich sein. Das hier hat Trust bloß nachkonstruiert. Es ist, was er glaubt, geträumt zu haben.“ „Und woher weißt du das?“, fragte Change. Destiny dachte kurz über die Frage nach. „Es fühlt sich einfach richtig an.“ Change schaute skeptisch. „Das würde auch Sinn ergeben.“, meinte Desire. „Trust wusste ja nichts von dem Allptraum, daher würde man ihn in seiner eigenen Vorstellung nicht finden.“ Trust hatte den Ausführungen aufmerksam gelauscht. Seine Planung war nutzlos gewesen. Hier konnten sie nichts über den Allptraum erfahren. Es ärgerte ihn, ihrer aller Zeit verschwendet zu haben. Unite betrachtete Trust von der Seite. Er bemerkte nichts davon, zu sehr schien er in Gedanken versunken. Zum Wohle von ihnen allen hatte Trust seine schmerzhafte Erinnerung aus seinem Inneren gezerrt. Und nun sollte das umsonst gewesen sein? Sie biss die Zähne zusammen und wandte sich an die anderen. „Wir können den Allptraum doch rufen!“, sagte sie in ungewohnt verbissenem Ton. „Wie soll’n das gehen?“, fragte Change. „Destiny kann die Seelenwelt lenken.“, erinnerte Unite. „Ich lenke sie nicht, sie … reagiert nur auf mich.“, verbesserte Destiny. „Aber du kannst den Allptraum rufen, nicht?“ Es klang wie eine Herausforderung, nicht wie eine Bitte. Destinys Gesicht wurde finster. Eine unsichtbare Dunkelheit schien sich um sie herum aufzubauen. Im gleichen Moment löste sich das Trugbild von Trusts Traum auf und Schwärze breitete sich aus. Eilig nahmen Unite und Trust wieder ihren Platz in der Kette ein. Unite wollte Destinys Hand ergreifen, aber diese zog sie rasch weg, so als würde die Berührung ihre Konzentration stören. Unite konnte nicht umhin daraus ein ‚Fass mich nicht an!' abzuleiten. Vielleicht war ihre Bitte vermessen gewesen. Ihr blieb nicht die Gelegenheit, länger darüber nachzudenken. Die Veränderung der Umgebung nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Es war nicht bloß das Aussehen, des Ortes, das sich veränderte. Der Luftdruck, der Boden, die Temperatur, die kleinsten Parameter waren anders. Als würde sich ein Schleier heben und ihnen eine fürchterliche Wahrheit offenbaren. Es war zu kalt und zu heiß, die Empfindung wechselte in jeder Sekunde wie in einem Fieber, der Boden schien nicht länger Halt zu geben, das Körpergefühl war plötzlich verändert, wankend, sodass jede Kleinigkeit einen umzuwerfen drohte. Die Schwärze stieg immer weiter auf wie die Rauchsäule einer unbekannten Gottheit. Die Dunkelheit behinderte ihr Sehen, doch es fühlte sich so an, als würde sich der Raum nach oben hin ausweiten, immer gewaltiger werden bis sie mickrig und klein in einer allmächtigen Finsternis standen, der sie nichts entgegenzusetzen hatten. Doch nicht die Schwärze an sich war das Unheimliche, sondern das namenlose, gesichtslose Grauen, das sich darin verbarg, die Unsicherheit, ob sich etwas darin versteckt hielt oder ob ihre Fantasie ihnen nur Streiche spielte. Ihre Augen brannten von dem verzweifelten Versuch, etwas zu erkennen. Die Schwärze regte sich an verschiedenen Stellen, doch nicht lange genug um es festzustellen. Stets blieb es mehr eine Ahnung als dass das Auge etwas hätte erfassen können, als würde die Bewegung verschwinden, sobald man hinsah. Etwas drückte gegen ihren Brustkorb, machte ihnen das Atmen schwer, ihr Trommelfell spürte den Druck, als würden sie unter Wasser getaucht werden und immer tiefer sinken. Das Pochen ihres Blutes wurde immer ohrenbetäubender. Sie glaubten, Geräusche zu hören, doch kein Laut erklang, wenn sie sich darauf konzentrierten. In den Schatten rumorte es, als würden Millionen finsterer Kreaturen kurz davor stehen auszubrechen, als würde eine gewaltige Lawine die Beschützer im nächsten Moment mit sich reißen. Dann war der Moment gekommen, in dem die Finsternis Teil ihrer Selbst wurde. Ihr Geist färbte sich schwarz und je öfter sie versuchten, das Dunkel abzuschütteln, umso vehementer legte es sich um ihre Sinne. Ihr Körper war nur noch eine ferne Erinnerung, deren Reaktion sie spürten, deren Angstschweiß, Zittern und Keuchen sie wahrnahmen, ohne vor dem Grauen ihrer Vorstellung davonlaufen zu können. Die panischen Laute von einander blieben weit entfernt, wie eine tote Erinnerung. Das Entsetzen, von dem ihr Wesen überschwemmt wurde, war übermächtig. Plötzlich färbte sich alles in ein mörderisches Blutrot. Aus dem Nichts schoss es hervor. Ein helles Blitzlicht explodierte vor ihren Augen.   Trust schreckte aus der Trance auf. Als hätte er für einen Moment aufgehört zu leben, verspürte er den Drang, so viel Sauerstoff wie möglich in seine Lungen zu pumpen. Er war für einige Sekunden unfähig, etwas jenseits seiner Atmung und dem Erhalten seiner Existenz Aufmerksamkeit zu widmen. Die Helligkeit im Trainingsraum verscheuchte allmählich die Bilder aus seinem Geist, aber der Kampf war noch nicht vorbei. Die Finsternis wollte sich in seinen Gedanken festsetzen, türmte sich vor seinem inneren Auge auf, zwang ihn die Schreckensbilder wieder und wieder wachzurufen, wie in einem selbst gewählten Martyrium. Er musste aus diesem Teufelskreis ausbrechen! Er riss seinen Blick zu den anderen. Noch immer war er nicht im Stande, Laute jenseits eines Röchelns hervorzubringen. Er sah Destiny zu einer Kugel zusammengerollt und winselnde Atemgeräusche erzeugend, auch die anderen standen unter Schock. Trust kam strauchelnd auf die Beine und ließ sich vor Destiny zurück auf die Knie sinken. Behutsam legte er ihr seine Hände auf die Schultern. „Trust…“, erklang ein Japsen aus Unites Richtung. Von ihrer Stimme aufgeschreckt, ließ er von Destiny ab und drehte sich in ihre Richtung. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment sprang Unite an seine Brust. Verzweifelt krallte sie sich an ihn. Überrumpelt und nun endgültig von dem Nachwirken der finsteren Eindrücke befreit, fuhr er ihr mit der Linken über den Hinterkopf. Unite drückte sich an ihn, als wäre er der einzige Halt in einer Welt voller Gefahr. „Ist ja gut.“, sagte er in beruhigendem Ton und kraulte ihren Hinterkopf. Er wusste selbst nicht, woher er den Mut dazu nahm. „Alles ist gut.“ Er spürte Unite an seiner Brust nicken, ihr Griff entkrampfte sich, aber sie drückte sich umso mehr an ihn. Daraufhin drehte sich Trust endgültig von Destiny weg und widmete sich zunächst Unite. Eins nach dem anderen. Er legte seine Arme um sie und hielt sie einen Moment ganz fest. Normalerweise hätte er befürchtet, ihr durch den sanften Druck wehzutun, aber irgendwie wirkte das jetzt nicht wichtig. Weitere Augenblicke verharrte sie in der Umarmung, dann löste sie sich langsam von ihm. „Tut mir leid.“, sagte sie. „Destiny...“ Eilig wandte sie sich ihrer Freundin zu. Sie krabbelte an Trust vorbei zu ihr und zog sie auf ihren Schoß. Liebevoll fuhr sie Destiny über den Rücken und drückte sie an sich wie Trust es eben bei ihr getan hatte. Trust nahm an, dass sie dabei ihre Kräfte auf Destiny wirken ließ, um sie zu beruhigen. „Sie hat das durch ihre eigene Angst gerufen.“, teilte Unite ihm ihre viel zu späte Erkenntnis mit. „Weil ich es ihr befohlen habe.“ „Das konntest du nicht wissen.“, antwortete Trust. „Doch.“, sagte Unite. Ihr Gesicht verzog sich leidvoll. „Weil sie so ist wie ich.“ Trust sah sie an. Unite konnte die Gefühle anderer anzapfen oder ihre eigenen dem anderen übertragen. So einfach war das bei Destiny nicht. Die Seelenwelt reagierte auf ihre Gefühle, interagierte aber auf unvorhersehbare Weise mit ihr. Seine Aufmerksamkeit wurde durch Desires Näherkommen unterbrochen. Sie und Change hatten sich ebenfalls wieder aufgerafft. Doch während Change bei Destiny und Unite stehen blieb und die beiden stumm betrachtete, hatte Desire ihm offenbar etwas mitzuteilen. In ihren Händen hielt sie Ewigkeit. „Change sagt, sie hat sich vor uns geworfen.“, informierte sie ihn und hielt ihm das Schmetterlingsmädchen hin. „Sie reagiert nicht, wenn ich mit ihr spreche.“ Sorgenvoll sah Trust auf ihr kleines Helferlein, das wie ein verwirrtes Insekt auf Desires Hand im Kreis krabbelte. „Das helle Licht.“, erinnerte er sich. Er hatte es nicht sofort mit Ewigkeit in Verbindung gebracht. Einmal mehr hatte die Kleine sie aus einer misslichen Lage befreit, ohne auf ihr eigenes Wohl zu achten. Beim Klang von Trusts Stimme stoppte Ewigkeit in ihrem tranceartigen Verhalten und sah mit großen Augen auf, doch ihr Blick war leer. Nach einer Sekunde schnappte sie nach Luft, hievte sich auf und schüttelte den Kopf, dann ihren ganzen Oberkörper, als würde sie etwas abschütteln müssen. Immer heftiger erschauderte sie, gab ein Geräusch von sich wie kleine Kinder im Schlaf, wenn sie sich gegen schlechte Träume wehren wollten. Schließlich wuchs der Ton zu einem Winseln heran. Sie kniff die Augen fest zu und verzog ihr Gesicht in Widerwillen. „Ich will nicht!“, schrie sie wie ein verstörtes Kind. „Ewigkeit…“, flüsterte Desire. Wie als eine Reaktion auf den Namen kreischte die Kleine auf. „Nein!!!!“ Sie legte ihre schmächtigen Ärmchen schützend um sich. Ihre Augen waren weit aufgerissen. „Ich will nicht.“ „Was willst du nicht?“, fragte Trust, schwer darum bemüht, seine Stimme angesichts Ewigkeits Verhalten nicht panisch klingen zu lassen. Mit ihr zu sprechen erschien ihm die einzige Möglichkeit, sie aus ihrem Delirium zu holen. Ewigkeit bemerkte ihn gar nicht. Sie starrte ihren Körper an, als wäre er etwas Fremdes, etwas völlig Unbekanntes, in dem sie sich plötzlich wiederfand. Sie stürzte zur Seite gegen Desires Daumen, wo sie still verharrte. „Ewigkeit!“, rief Trust besorgt. „Sie atmet.“, beruhigte ihn Desire. „Das war wohl alles etwas zu viel für sie. – Für uns alle.“ Trust stimmte ihr zu.  „Das ist völlig irre.“, sagte Change. „Wie sollen wir gegen so was kämpfen?“ Unite starrte auf Destiny, die mit ihrem Kopf ruhig auf ihrem Schoß lag und sich weiter von ihr streicheln ließ, während sie ihr über ihre Handflächen beruhigende Gefühle übertrug. Sie ergriff das Wort. „Wir denken die ganze Zeit über die Allpträume nach und wollen mehr über sie erfahren, aber vielleicht ist das gerade falsch.“ „Wie meinst du das?“, wollte Desire wissen. Unites Blick blieb auf Destiny fixiert. „Wisst ihr noch, die Kräfte, die uns der Schatthenmeister gegeben hat? Mit Wut und Hass kann man nicht gegen Schatthen gewinnen. Daraus sind sie gemacht. Richtig? Und mit Angst kann man nicht gegen Angst gewinnen.“ Nun erst blickte sie auf. „Was haben wir jetzt herausgefunden?“ „Dass wir keine Chance haben.“, sagte Change hart. Unite sah ihn ernst an. „Genau.“ Die anderen waren entsetzt, dergleichen von Unite zu hören. „Wir können uns nicht in unsere Ängste stürzen und glauben, dass wir ihnen etwas entgegenzusetzen haben. Angst ist Angst. Man kann sie nicht einfach ausschalten.“ Fassungslos starrte Desire sie an: „Soll das heißen, wir können nichts tun?“ „Was wir gesehen haben, war nicht der Allptraum.“, erklärte Unite. „Der ist schon lange nicht mehr in Trust. Was Destiny gerufen hat, war Angst. Pure Angst.“ „Aber…“, setzte Desire an. „Angst ist die Waffe der Allpträume, sie verwenden sie gegen uns. Und jetzt haben wir selbst sie gegen uns verwendet.“, fuhr Unite fort. „Gegen unsere Ängste haben wir keine Chance, aber die Allpträume sind nicht unsere Ängste. Sie benutzen sie nur. Das heißt, wenn wir uns nicht auf unsere Ängste einlassen, können wir es schaffen.“ „Ich versteh nur Bahnhof.“, sagte Change. „Ist ja nicht so, als hätten wir diese Ängste gerufen.“ Seine Stimme wurde leiser. „Mal von Tiny abgesehen.“ „Er hat Recht.“, stimmte Desire zu. „Wenn die Allpträume erst die Ängste gerufen haben, dann kann man sich ihnen nicht entziehen.“ Es herrschte kurzes Schweigen. Destiny machte den Ansatz, sich von Unites Schoß zu erheben. Change war sofort zur Stelle und versuchte sie zu stützen. Destiny schien zu schwach, um wie sonst seine Hilfe abzulehnen. Ihren Arm um seine Schultern gelegt, half er ihr auf und hielt sie fest, um zu verhindern, dass sie wieder zusammensackte. Auch Unite erhob sich und lächelte die anderen aufmunternd an. „Morgen sieht die Welt wieder anders aus.“ Die anderen wirkten wenig überzeugt. Trusts Blick wanderte wieder zu Ewigkeit, die noch immer im Halbschlaf in Desires Händen ruhte. „Unite, könntest du –“ Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen, Unite wusste auch so, was er von ihr wollte. Sie trat zu Desire und berührte Ewigkeits schmächtigen Körper mit ihrem Zeigefinger, um ihr beruhigende Gefühle zu übertragen. Im gleichen Moment fuhr ein einengendes Gefühl in ihre Glieder und sie zuckte zurück. „Was ist?“, fragte Trust besorgt. Unite sah in seine Richtung. „Es ist nur… Ihre Angst.“ Sie brach nochmals ab. „Es ist Angst vor sich selbst.“ Die anderen sahen sie verwundert an. „Ewigkeit ist ja auch so furchteinflößend.“, höhnte Change. Noch immer stützte er Destiny, die dies schweigend zuließ. Trust reichte Unite seine Linke. „Darf ich?“ Unite nickte, ergriff mit der einen Hand die seine und berührte mit dem Zeigefinger der anderen erneut Ewigkeit, um ihr Gefühl an Trust weiterzuleiten. Trust spürte die Emotion sein Inneres in ein Chaos stürzen. Alles riss und zerrte, quetschte und zog in alle möglichen Richtungen zugleich. Ein Druck wie im Wahn versuchte verzweifelt, alles zusammenzuhalten und bugsierte den Geist dabei noch mehr in die Sackgasse. Alles in Ewigkeit schien sich gegen sich selbst zu wehren. Die Angst steigerte sich zu einer Spirale. Angst und doch der Drang nach etwas… etwas, das falsch war. Es drehte sich im Kreis immer weiter. Als wäre etwas, von dem sie nichts wissen wollte und von dem sie doch nicht ablassen konnte, etwas, das sie wissen musste und doch nicht wissen durfte, in Gefahr ihre Realität zu zerstören. Trust ließ Unite los. „Wir müssen sie da rausholen.“ Unite nahm es als Aufruf und startete einen erneuten Versuch, Ewigkeit ihre Gefühle zu übertragen. Im gleichen Moment leuchtete Ewigkeits Medaillon auf. Die anderen warteten vergeblich auf eine Reaktion ihres Helferleins. Schließlich brach Unite ab. „Es funktioniert nicht. Sie will es nicht.“ „Sie kann sich gegen deine Kraft wehren?“, fragte Change ungläubig. Unite klang weniger überrascht. „Man kann niemanden zwingen, Gefühle anzunehmen.“ „Das hab ich aber anders erlebt.“, entgegnete Change in Erinnerung an Unites Aktion, ihm Destinys Ängste zu übertragen, nachdem sie das erste Mal in seiner Seelenwelt gewesen war. „Kannst du versuchen, sie zu läutern?“, fragte Trust Desire. Desire nickte und konzentrierte sich. „Äh wie soll’n das gehen?“, wollte Change wissen. „Sie steht ja nicht unter einem Bann oder so was.“ Desire ließ sich davon nicht beirren und setzte mit dem Einsatz ihrer Läuterung fort. Plötzlich regte sich Ewigkeit. Desire warf Change einen triumphierenden Blick zu. Change verzog kurz den Mund, dann wanderte sein Blick zu Destiny, die noch immer erschöpft von ihm gehalten werden musste. „Kannst du das auch …“ Ehe er weiterreden konnte, war die Aufmerksamkeit aller wieder auf Ewigkeit gerichtet. Ewigkeit schlug die Augen auf. Sie hob ihren blonden Lockenkopf und schaute die Beschützer überrascht an. „Was macht ihr?“ „Wir haben versucht, dich aufzuwecken.“, antwortete Desire. Ewigkeit blinzelte und entschwebte Desires Händen. „Hab ich geschlafen?“ „Ist alles okay mit dir?“, erkundigte sich Trust, ohne auf ihre Frage zu antworten. Ewigkeit nickte ihm zu und schaute dabei, als sähe sie keinen Grund dafür, nicht okay zu sein. „Wir müssen die Allpträume besiegen!“, verkündete sie dann mit kindlicher Entschlossenheit. Den Beschützern dagegen war die Zuversicht vergangen. Es herrschte kurzes Schweigen. In die Stille drang plötzlich das Geräusch eines Popsongs. Desire fuhr auf, lief hinüber zu der Ecke, in der sie ihre Taschen abgelegt hatten, und holte ihr Handy hervor. Die fünf hatten gar nicht gewusst, dass sie in ihrem Hauptquartier überhaupt Handyempfang hatten! Im gleichen Moment drehte sie sich entsetzt zu den anderen. „Erik!“ Mit verzagtem Gesicht erflehte sie die Hilfe ihrer Freunde. „Was soll ich tun?“ „Man muss da so wischen.“, meinte Unite und machte mit dem Finger eine entsprechende Bewegung vor. Desires Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich meine, was soll ich ihm sagen! Was ist, wenn er gemerkt hat, dass mit der Nachricht etwas nicht stimmt? Was ist, wenn er mich danach fragt?“ Unite blieb gelassen. „Sag ihm doch einfach: Weil heute Nacht so viele Leute Albträume hatten, benutzen wir das für das Rollenspiel.“ Der Liedton brach ab. Schock. „Jetzt denkt er, ich habe absichtlich nicht abgenommen!“, rief Desire verzweifelt. „Hast du ja auch.“, kommentierte Change. Desire schaute säuerlich. Unglücklich besah sie sich dann nochmals das Handy. „Vielleicht ruft er ja noch einmal an.“ Sie wartete. Nichts. Desire tippte auf das Display und hielt es sich an die Ohrmuschel. Die anderen verfolgten ihr Handeln. „Wollte sie nicht eben noch nicht mit ihm reden?“, fragte Change skeptisch. Destiny hatte ihren Arm derweil von seinen Schultern genommen, lehnte sich aber noch immer gegen ihn. Erik schien bereits nach dem ersten Klingeln abgenommen zu haben, denn sogleich begann Desire auch schon zu reden. „Hi!“, rief sie eilig. „Sorry, ich konnte gerade nicht abnehmen.“ „Musstest du dich erst seelisch und moralisch darauf vorbereiten, meine Stimme zu hören?“, fragte er gönnerhaft. Empörung kam in Desire auf. Spöttische Belustigung trat in Eriks Stimme. „Ich bin immer bemüht, deine Träume wahr werden zu lassen.“ Desire stockte und begriff, dass er auf ihren Kommentar anspielte, er habe ihr im Traum dämliche Fragen gestellt, um ihren Kopf explodieren zu lassen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Der Spott schwand aus Eriks Stimme. „Warum konntest du nicht abnehmen?“ Desire zögerte. „Weil…“ Ehe sie sich etwas überlegen konnte, platzte Erik wieder in ihren Gedankengang. Der Hohn war in sein Sprechen zurückgekehrt. „Ich werde dich doch nicht wirklich nervös machen.“ Desire brauste auf. „Ich habe mir überlegt, ob ich mit dir reden will!!!“ Erik lachte. „Ich treffe mich gerade mit den anderen. Deshalb. Es ist unhöflich, währenddessen zu telefonieren.“ „Ihr wolltet mich also nicht dabei haben.“, sagte Erik. Es klang nicht länger nach einem Scherz. Desire verspürte die jähe Furcht, ihn dadurch verletzt zu haben. „Nein! So ist das nicht! Es ist… Wir unterhalten uns über das Rollenspiel!“ „Ich dachte, ich gehöre jetzt dazu.“ „Schon, aber… du mochtest das doch nicht.“ Sie zögerte. „Möchtest du kommen?“, fragte sie vorsichtig, ohne die geschockten Blicke von Change und Destiny zu bemerken. „Wo seid ihr?“ „Im Kurpark.“ Kurzes Schweigen von der anderen Seite. „Ist Serena das nicht zu kalt?“ Augenblicklich erkannte Desire ihren Fehler. Sie konnte ihm natürlich nicht von dem Hauptquartier erzählen. „Wir treffen uns hier bloß und gehen dann…“ Sie sah hilfesuchend zu den anderen. „Wohin gehen wir denn?“ „Training!“, schrie Ewigkeit lautstark. „Wer war das?“, fragte Erik mit einem leisen Ton von Argwohn in der Stimme. „Ein vorbeilaufendes Kind.“, rettete sich Desire Ewigkeit schaute verdutzt. Unite kam Desire zu Hilfe. Sie trat zu ihr und zog die Hand mit dem Smartphone etwas von Desires Ohr weg, sodass sie selbst hineinsprechen konnte. „Wohin willst du gern gehen?“ „Was?“, fragte Erik. „Wir überlegen noch, wo wir hin wollen.“ „Das überlegt ihr euch jetzt?“ Unite erklärte: „Wir wechseln die Treffpunkte, um Inspiration zu bekommen. Alsooo.“ Ein Grinsen breitete sich auf ihren Zügen aus. „Wo willst du dich mit uns treffen?“ Kapitel 88: Vorfurcht --------------------- Vorfurcht   „Bis zur Vollführung einer furchtbaren Tat vom ersten Antrieb ist die Zwischenzeit wie ein Phantom, ein grauenvoller Traum.“ (Shakespeare: Julius Cäsar II, 1)   Das moderne Café im ersten Stock des Kaufhauses unweit der Finster GmbH besaß eine hohe Fensterfront, durch die man von den Tischen aus einen guten Blick über Entschaithals Stadtmitte hatte. Der Aussicht schenkten die sechs jedoch wenig Beachtung. „Wovor hast du Angst?“, fragte Vivien frei heraus. Erik zog die Augenbrauen zusammen. „Wie bitte?“ „Was macht dir Angst?“ Wieder ließ sich Erik Zeit mit seiner Antwort, als warte er darauf, dass Vivien die Frage fallen ließ. Vivien schrieb indes etwas auf den Notizblock, den sie in Händen hielt. „Was hast du aufgeschrieben?“, fragte Erik argwöhnisch. Vivien strahlte. „Hat Angst, seine Schwächen zu zeigen.“ Eriks Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Es ist mir neu, dass es sinnvoll wäre, Schwäche zu zeigen.“ Vivien kicherte. Erik wandte sich daraufhin an die anderen. „Was hat das zu bedeuten?“ Justin ergriff das Wort. „Heute Nacht hatten viele Leute Albträume. Daher ist Vivien auf die Idee gekommen, das für Balance Defenders zu benutzen.“ Eriks Augen wanderten zu Ariane. „Deshalb hast du mir die Nachricht geschrieben.“ Ariane wich seinem Blick aus. Für einen Moment fühlte Erik Enttäuschung. Sie hatte sich also nur deshalb bei ihm gemeldet. „Was genau ist geplant?“ Vivien holte zu einer Erklärung aus. „Es gibt diese Monster: die Allpträume – mit Doppel-L. Und diese Monster gehen nachts in deine Traumwelt und erzeugen Albträume.“ „Du meinst also einen Alb.“, sagte Erik. Die fünf schienen mit dem Begriff nicht vertraut zu sein. „Alben sind Fabelwesen, nach denen der Albtraum benannt wurde. Monster, die sich nachts auf deine Brust setzen, sodass du Albträume bekommst.“, erläuterte Erik. Vitali widersprach. „Nee, die gehen in dich rein. In deinen Kopf.“, erklärte er, als würde er Ewigkeit zitieren. Erik hielt dieses Geschwätz offensichtlich für unsinnig. Vivien präzisierte: „Die Allpträume gehen in deine Seelenwelt und können daher jede Angst von dir zum Leben erwecken.“ „Und was wollt ihr dagegen tun?“ Justin erläuterte: „Destiny kann in Seelenwelten eindringen, so können wir gegen sie kämpfen.“ Purer Unglaube trat auf Eriks Gesicht. „Aha.“ Er wollte gar nicht wissen, wie sie das spielen wollten. „Und welche Art von Angst beherrschen die Allpträume?“ Vitali kommentierte: „Angst ist Angst.“ „Wir sind uns da nicht so sicher.“, antwortete dagegen Ariane. „Darf ich?“, fragte Erik und gab Vivien zu verstehen, dass er Stift und Block ausleihen wollte. Sie überreichte ihm beides. Daraufhin zeichnete Erik ein auf der Spitze stehendes Dreieck auf, in dessen Ecken er jeweils etwas schrieb, eine weitere Notiz machte er in der Mitte des Dreiecks. Die anderen beugten sich neugierig über den Tisch und Erik drehte den Block so, dass sie sein Geschriebenes sehen konnten. „Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben und Angst, nicht genug vom Leben zu bekommen.“, las er vor und verwies auf die drei Ecken. „Das erste ist das, was bei uns Panik und Adrenalinausschüttung hervorruft, unser natürlicher Überlebenstrieb. Das zweite hat was mit Unsicherheit zu tun. Angst, Fehler zu machen, Angst vor Enttäuschung. Auch Melancholie und Depression kommen dadurch zustande. Das dritte ist die Gier. Süchte jeglicher Art, Obsessionen, der ewige Hunger, den man nicht sättigen kann. Und der Mensch bewegt sich im ständigen Wechselbad dieser drei Ängste. Die einen haben mehr hiervon, die anderen mehr davon. Und in der Mitte steht die Angst vor Schmerzen.“ „Woher hast du dieses Modell?“, wollte Ariane beeindruckt wissen. Erik antwortete emotionslos. „Ich bin Secret.“ Ariane fühlte sich auf den Arm genommen. Allein Justin schien mehr in Eriks Bemerkung zu lesen. „Ist dir das heute Nacht eingefallen?“ Erik warf ihm einen Blick zu, als hätte Justin etwas gesagt, das er besser unterlassen hätte. Keiner der beiden sprach weiter. Vivien ignorierte das stumme Zwiegespräch der beiden und unterbrach sie. „Wahrscheinlich können die Allpträume all diese Ängste herausfiltern.“ Sie sah sich nochmals das Dreieck an. „Was denkst du ist das Gegenteil von jeder dieser Ängste?“ Erik schaute skeptisch. Justin erklärte. „Unsere Kräfte beruhen darauf, dass wir das Gegenteil der Schwingung einsetzen, aus der unsere Gegner bestehen.“ „Yin und Yang?“ „Physik.“, rief Vitali. Erik sah wieder auf den Block. „Das Gegenteil von Angst vor dem Tod? Todessehnsucht?“ Vivien lachte. „Das wäre nicht das Gegenteil von Angst vor dem Tod. Todessehnsucht ist Angst vor dem Leben.“ „Sind das nicht Gegensätze?“, wandte Erik ein. „Es ist beides Mal Angst.“, meinte Vivien lächelnd. „Die eine hält dich davon ab, dich umzubringen.“, hielt Erik entgegen. „Angst ist nicht immer schlecht.“, antwortete Vivien. „Deswegen sind wir ja die Gleichgewichtsbeschützer.“ Sie grinste. „Das heißt, ihr müsst Mut gegen die Allpträume einsetzen.“, schlussfolgerte Erik. Hatten sie vor, irgendwelche Mutproben zu machen? Vivien schüttelte den Kopf. „Mut heißt nur, trotz der Angst zu handeln, aber sie ist nicht ihr Gegenteil.“ „Was ist es dann?“ „Ich weiß noch nicht.“, gestand Vivien. „Aber es wird mir sicher bald einfallen.“ „Ihr seid also noch in der Planungsphase.“, mutmaßte Erik. „So etwa.“ „Diese Allpträume.“, setzte Erik nochmals an. „Woran erkennt ihr, wo sie sich aufhalten? Wenn sie in Seelenwelten von Menschen eindringen, woher wisst ihr, in wessen sie sich gerade befinden? Oder wollt ihr einfach in allen möglichen nach ihnen suchen?“ Die gleichen Fragen hatten sich die fünf auch schon gestellt. Und bisher hatten sie noch keine Antwort gefunden.   Serena konnte nicht schlafen. Es war schon ein Uhr, aber allein der Gedanke an Schlaf versetzte sie in Schrecken. Ihre Familie war längst ins Bett gegangen, nur sie saß noch allein in ihrem Zimmer, hatte das Licht an und wartete. Schließlich stand sie auf und trat in den Flur. Oben im zweiten Stock des Hauses – dem Büro ihrer Eltern – standen die Computer. Sie lief die Treppe hinauf, schaltete alle Lichter an und setzte sich an ihren PC, um sich mit AMVs abzulenken – aus Animeclips zu passender Musik zusammengestellte Videos. Ihr Instant Messenger Client versuchte sie über den Präsenzstatus ihrer Kontakte in Kenntnis zu setzen, sprich, wer ihrer Freunde gerade ebenfalls online war. Vivien hatte darauf bestanden, dass sie alle das gleiche Programm installierten, um so jederzeit in Kontakt treten zu können. Da Justin kein Handy besaß, war das die einzige Möglichkeit, auch ihn in einem Gruppenchat zu erreichen. Serena widmete der Anzeige keine Beachtung und klickte sie automatisch weg. Sie ging nicht davon aus, dass irgendjemand sonst um diese Uhrzeit noch wach war. Sie wählte aus ihrer Favoritenleiste die gewünschte Seite, als ein Pop-up Fenster aufklappte und ihr anzeigte, dass Vitali online war. Serena stockte. Sicher hatte Vitali bloß vergessen, den Computer runterzufahren, weshalb sein Präsenzstatus immer noch auf dem gleichen Stand war wie vor Stunden. Sie starrte auf die Anzeige seines Namens. Schließlich klickte sie ihn an und schrieb ihm eine Nachricht. Bist du online? Was für eine bescheuerte Frage… Wenn Vitali morgen wieder an den PC gehen würde, würde er die unmögliche Uhrzeit sehen, zu der sie ihm geschrieben hatte. Das war einfach nur peinlich! Sie wollte ihre Nachricht sofort wieder löschen, doch augenblicklich wurde diese nach oben geschoben. Hey! Sie sah auf das Wort und konnte kaum glauben, dass er tatsächlich geschrieben hatte. Was machst du?, schrieb Vitali, der offenbar nicht auf ihre Reaktion hatte warten wollen. Serena holte Luft und tippte eine neue Nachricht. Ich kann nicht schlafen. Kenn ich. Eine zweite Nachricht folgte sogleich. Vitali schien nach jedem Satz die Nachricht abzuschicken, selbst wenn er noch etwas zu sagen hatte. Wegen dem Allptraum? Serena zögerte, dann tippte sie. Können wir telefonieren? Sie wusste nicht, ob das nicht eine blöde Idee war. Aber etwas in ihr wünschte sich, der bedrückenden Stille zu entkommen. Jupp. Er ergänzte: Festnetz? Ich ruf dich an., schrieb Serena. Es wäre sehr ungeschickt gewesen, wenn im ganzen Haus Funke die Telefone geklingelt hätten, wie sie es immer taten, wenn jemand anrief. Akku leer. Serena begriff erst nicht, was er ihr damit sagen wollte. Dann fiel ihr ein, dass er das wohl auf sein Handy bezogen hatte. Das erklärte, warum er nicht per Handy telefonieren wollte. Muss erst runter., kam von Vitali. Okay. Serena wartete kurz. Jede Sekunde kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie hatte einen Zettel mit den Festnetznummern der anderen auf ihren Schreibtisch geklebt, und las dort Vitalis Nummer ab. Sie wählte. Es klingelte mehrfach, dann nahm Vitali endlich ab. „Mann! Hast du gedacht, ich teleportier mich runter?“, beschwerte sich Vitali. „Hättest du ja tun können!“, meckerte Serena zurück. „Ja, um deinen Anruf entgegen zu nehmen!“, spottete Vitali. „Du kannst ja auch mit jemand anderem telefonieren!“ „Was soll’n das jetzt heißen?“ „Gar nichts.“ Vitali stöhnte. „Du hast auch nie bessere Laune.“ „Nein.“ Vitali grummelte. „Großartig.“ Sie schwiegen. „Was machst du?“, fragte Vitali. Nun wieder in normaler Tonlage. „Mit dir telefonieren.“ „Ich meine, was du sonst machst.“ „Gar nichts.“ „Wie spannend.“ „Haha.“ Serena atmete aus. „Ich hab überall das Licht angemacht, aber ich hab immer noch Angst.“ „Hm.“, machte Vitali. „Ich hab auch keinen Bock, dass das Ding in meinen Kopf geht.“ Serenas Hände verkrampften sich. „Ich denke immer wieder an das, was in Trusts Seelenwelt passiert ist.“ „Das darfst du nicht.“ „Das weiß ich auch.“, brummte sie. „Aber ich kann’s nicht abstellen.“ „Hey, wenn irgendwas ist, komm ich zu dir.“, versicherte Vitali. Sie stockte. „Wie willst du das denn machen?“ „Wie war das mit dem Teleportieren?“ Sie musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er bei den Worten grinste. „Du wüsstest ja nicht mal, dass mir was passiert ist.“, widersprach sie. „Dann bleiben wir einfach am Telefon, dann hör ich, wenn was ist.“ „Ich kann trotzdem nicht schlafen.“, murrte sie. „Dann bleib halt wach.“ „Ich bin müde.“ „Dir kann man’s doch nie recht machen.“, stellte Vitali fest. „Nee.“, maunzte Serena wie ein beleidigtes Kind. „Sollen wir nen Film gucken?“ „Hä?“, machte Serena wie es sonst Vitalis Art war. „Nen Film. Du weißt schon: sich bewegende Bilder, wo die Menschen sprechen –“ „Ich weiß, was ein Film ist!“, fuhr Serena ihm ins Wort. „Aber wie bitteschön willst du einen mit mir schauen? Du kannst dich nicht einfach herteleportieren, falls dich hier jemand sieht –“ „Ganz locker. Ich meinte, dass wir beide den gleichen Film im Fernsehen schauen.“ Serena schämte sich angenommen zu haben, dass er sich zu ihr teleportieren würde. Deutlich kleinlauter meinte sie daher: „Um die Uhrzeit läuft eh nur Schrott.“ „Hm. Ich bin jetzt nicht mehr am Computer, aber ich kann auch wieder hoch gehen und wir schauen online nen Film.“ „Was für einen?“ „Keine Ahnung.“ Serena gab ein unschlüssiges Geräusch von sich. „Wir müssen auch irgendwann schlafen.“ „Willst du dich hinlegen?“ „Nur wenn du dich auch hinlegst.“ „Du siehst ja nicht mal, ob ich wirklich liege.“, meinte Vitali. „Mh.“ Vitali seufzte. „Okay, gehen wir ins Bett. Aber wir müssen leise sein, damit ich Vicki nicht wecke.“ „Ich muss dich erst aufs Schnurlose legen oder… Ich ruf dich von unten wieder an. Okay?“ „Okay.“ „Bis gleich.“ Serena legte auf. Hastig fuhr sie ihren Computer herunter, eilte nach unten und nahm in ihrem Zimmer das schnurlose Telefon aus seiner Ladestation. Sie wählte Vitalis Namen aus der Liste gespeicherter Nummern. „Hi!“, stieß sie atemlos aus. „Bist du gerannt?“, fragte Vitali verwundert und ein wenig belustigt. „Halt die Klappe.“, schimpfte Serena beschämt. Sie legte sich auf ihr Bett. Die Decklampe erhellte den Raum. „Ich bin so müde.“ Vitali gab ein bestätigendes Geräusch von sich. „Vitali?“ Sie hörte, dass er eine Tür öffnete. Offenbar hatte er ihren Anruf abwarten wollen, damit das Klingeln seinen kleinen Bruder nicht weckte. Seine Stimme war nun leiser und weicher. „Ja?“ „Erzähl was.“ „Ich dachte, du willst schlafen.“, flüsterte er. Serenas Augen fielen langsam zu. „Ja, aber wenn ich deine Stimme höre, hab ich keine Angst.“ Von der anderen Leitung kam kurzzeitig keine Antwort. „Echt?“, fragte Vitali schließlich ungläubig. „Mhm.“, machte sie schläfrig. Wieder entstand eine Pause. Doch allein Vitali am anderen Ende des Hörers zu wissen, beruhigte Serena und ließ sie die bleierne Schwere der Müdigkeit umso stärker spüren.   „Danke.“, sagte seine Stimme.   Serena bekam es kaum noch mit, ihre Sinne entschwanden immer weiter in einen Traum. „Serena?“ „Hm…“ Was Vitali anschließend sagte, hörte sie schon nicht mehr.   Auf Vitalis Schrank saß Ewigkeit und hielt Wache über den schlafenden Beschützer, der noch immer das schnurlose Telefon neben sich liegen hatte. Ewigkeit war bemüht, ihre Augen offen zu halten. Sie hatte die ersten Stunden der Nacht bei Wunsch geschlafen, ehe Veränderns Beschwörung begonnen hatte: ein Dauerfeuer an Anrufungen. Mit der Hartnäckigkeit eines Bauarbeiters hatte die Stimme in ihrem Kopf einen Krawall und nervtötenden Lärm produziert, der nicht abreißen wollte, bis es ihm schließlich gelungen war, sie aus dem Schlaf zu reißen. Nur halb bei Bewusstsein hatte sich Ewigkeit daraufhin zu dem Rufenden begeben wie ein Flaschengeist zu seinem Meister. Er hatte sie angewiesen, zu überprüfen ob bei Schicksal alles in Ordnung war. Nachdem sie die Beschützerin schlafend vorgefunden und ihm darüber Bericht erstattet hatte, hatte er sie darum gebeten, die Nacht über Wache zu halten. Selbstverständlich nahm sie diese Aufgabe äußerst ernst! Müde schwebte sie vom Schrank, landete vorsichtig neben Vitalis Kopf auf dem Kissen und ließ sich auf die weiche Oberfläche sinken. Kaum hatte sie sich eingekuschelt und die Augen geschlossen, erklang ein leises Rascheln und im nächsten Moment wurde sie nahezu von Vitalis Schädel zerquetscht. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich in Sicherheit teleportieren. Der Beschützer indes schien von seinem Attentat nichts mitbekommen zu haben. Seelenruhig schlief er weiter. Ewigkeit sah missmutig auf ihn hinab, dann seufzte sie. Sie schwebte wieder auf den Schrank und lief auf seinem Oberboden ein paar Schritte. Ihr Kopf tat schon wieder weh. Er fühlte sich so schwer an, als wäre viel zu viel darin. Sie ließ sich auf den Boden plumpsen und fasste sich an die Stirn.   Grauen-Eminenz fasste sich an die Stirn. Er hätte der Schatthenmeister-Gewerkschaft doch beitreten sollen. Gab es überhaupt ein Arbeitsgericht für Schatthenmeister? Anstatt seine Zeit mit Nebensächlichkeiten wie seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten zu verschwenden, hätte er sich über solche lebenswichtigen, bürokratischen Dinge informieren sollen! – Nicht mal sein eigener Sarkasmus konnte ihn heute aufmuntern... Das Telefonat mit einem der Zuständigen war alles andere als erfreulich verlaufen. Wie ein spitzes Tötungsinstrument bohrte sich die Erinnerung in seinen Schädel. Die bullige Stimme hatte laut gedonnert: „Was fällt Ihnen ein, Forderungen zu stellen! Wir sind hier nicht beim Wunschkonzert! Sie halten sich gefälligst an Ihren Arbeitsvertrag!“ Im Gegensatz dazu war Grauen-Eminenz ruhig geblieben. „In meinem Vertrag steht nichts davon, dass ich Aufträge übernehmen muss, über die ich nicht gründlich genug informiert bin. Um das Experiment richtig durchzuführen, brauche ich mehr Informationen.“ Sein Gesprächspartner hatte kurz geschwiegen. Grauen-Eminenz war davon ausgegangen, dass der Pandämoniums-Mitarbeiter sich in dieser Zeitspanne darüber geärgert hatte, dass es in Schatthenmeister-Arbeitsvertrag keine Klausel gab, die einen Schatthenmeister dazu zwang, einfach alles zu tun, was man ihm sagte, egal wie hirnrissig es war. „Die Informationen, die Sie brauchen, haben Sie bereits.“, hatte sein Gesprächspartner schließlich fortgesetzt. Damit hatte er Bezug auf die Info genommen, dass das Behältnis, in dem die Allpträume aufbewahrt waren, eine Einsaugfunktion hatte. „Und auf welchen Radius beschränkt sich die Einsaugfunktion? Um die Allpträume per Knopfdruck wieder einzufangen, müsste an jedem ein Sender angebracht sein oder ein Suchzauber. Ich habe einen der Allpträume gesehen und es war nichts dergleichen an ihm festzustellen.“ „Das zeigt doch nur, wie wenig Ahnung Sie von der Materie haben.“, hatte der Pandämoniums-Vertreter gespottet. „Wenn alles nicht funktionieren würde, nur weil Sie mit Ihrem Spatzenhirn es nicht durchschauen, hätten wir weit größere Probleme!“ Grauen-Eminenz hatte die Hände zu Fäusten geballt. Die Provokation durch seinen Gesprächspartner hatte eine finstere Welle in seinem Inneren aufschäumen lassen. „Sie sollten sich im Klaren darüber sein, mit wem Sie hier reden.“ Der Ton des Herrschers war in seine Stimme getreten. „Das Pandämonium hat mich mit dieser Aufgabe betraut, weil ich der einzige bin, der sich mit dem Phänomen der Nebendimensionen auskennt. Als Verantwortlicher für dieses Experiment will ich entsprechend behandelt werden.“, hatte er gefordert. „Wenn Sie jemanden hätten, der sich besser mit den Allpträumen auskennt, dann hätten Sie wohl ihn mit dieser Aufgabe betraut. Da Sie das nicht getan haben, gehe ich davon aus, dass Sie selbst nicht wissen, was genau uns bei dieser Aktion erwartet. Diese Dinger sind gefährlich und unberechenbar. Sie loszulassen ist eine Sache, aber sie auf eine mit einem Schlafzauber belegte Stadt loszulassen eine ganz andere. Dadurch werden die Dimensionen durcheinandergebracht.“ Der hirnlose Typ war ihm ins Wort gefahren. „Sind Sie so’n Star Trek Nerd? Es gibt keine verschiedenen Dimensionen!“ Hatte dieser minderbemittelte Bürohengst eigentlich auch nur die geringste Ahnung über diesen Auftrag? Grauen-Eminenz hatte nicht den Nerv gehabt, sich noch länger mit diesem verbohrten Ignoranten zu unterhalten. Deshalb hatte er zum finalen Schlag angesetzt und seiner Stimme einen gewichtigen Ton verliehen. „Wenn sich das Erledigen meines Auftrags verzögert wegen Ihrer Unfähigkeit, mir die nötige Auskunft zu geben, dann werde nicht ich es sein, der seinen Job verliert. Aufwiederhören.“ Ha! Das hatte gesessen! Den Gesprächspartner in die Enge zu treiben, war immer noch die beste Methode! Dann musste man nur noch lange genug zögern, damit sein Gegenüber doch noch einlenken konnte. „Herr Grauen-Eminenz!“ Genau so! In diesem Moment hatte Grauen-Eminenz bereits seinen Sieg vor Augen gehabt. „Schicken Sie die Box mit den Allpträumen umgehend zurück an das Pandämonium. Der Einsatz findet am 31. statt. Ob mit oder ohne Sie.“ Setzte man jemanden unter Druck, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder derjenige gab nach oder aber derjenige setzte ebenfalls zum finalen Schlag an. Man konnte nie wissen, welches von beidem. Und in einem solchen Moment Schwäche zu zeigen war tödlich. Er hätte daraufhin desinteressiert klingen müssen, hätte sich auch noch glücklich darüber geben müssen, dass er diesen Auftrag los war, aber etwas in ihm – etwas äußerst Störendes! – hatte sich so sehr geweigert, diese Waffe in die Hände eines der hirn- und gewissenlosen anderen Schatthenmeister zu geben, dass er das Risiko nicht hatte eingehen wollen. Deshalb hatte er eingelenkt. Grauen-Eminenz ärgerte sich bei der Erinnerung noch immer über sein eigenes Verhalten. Dass er vor diesem Großkotz hatte klein beigeben müssen, war das Letzte! Sein Stolz ließ ihn an dieser Beleidigung fast ersticken. Er kam sich ja schon vor wie einer mit Moral und Anstand! Jemand, der die Welt davor beschützen wollte, von einer Horde Amok laufender Allpträume heimgesucht zu werden. Das würde sich ganz sicher nicht gut in seinem Lebenslauf machen. Wie konnte er sich nur aus solch einem bescheuerten Grund auf diesen Irrsinn einlassen? Wieder blitzte das Bild des Allptraums in Gestalt dieser Person in seinem Kopf auf. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Erneut bemühte er sich, sich auf seine Aufschriebe zu konzentrieren. Mit ihnen hatte er versucht, Klarheit über das zu gewinnen, was ihm in der folgenden Nacht bevorstand. In den letzten Tagen hatte er das Wirken des freigelassenen Allptraums verfolgt. Den Aufenthaltsort des Allptraums hatte er durch die Daten seiner Schwingung lokalisiert. Als er sich daraufhin an den entsprechenden Ort begeben hatte – was sich ziemlich umständlich gestaltete – hatte er damit gerechnet, dass die Kreatur ihn erneut angreifen würde. Dem war nicht so gewesen. Außerhalb des Schatthenreichs widmete sich der Allptraum offenbar allein Schlafenden. Die Art seines Vorgehens war in der normalen Welt völlig anders als im Schatthenreich. Im Schatthenreich war der Allptraum nicht unsichtbar gewesen, er hatte einen Körper besessen und hatte seine Gestalt verändern können. In der normalen Welt schien er dagegen wie ein böser Geist, wie etwas, dessen Existenz mit dem seines Opfers verschmolz, es besetzte. Was genau der Allptraum im Kopf des Schlafenden anrichtete, konnte Grauen-Eminenz nicht mit Sicherheit sagen. Es erinnerte ihn an den Mechanismus seines Spiegelkabinetts. Was aber würde passieren, wenn der Schlafzauber eine Dimension schaffen würde, die dem Schatthenreich ähnelte? Er seufzte. Jetzt im Nachhinein klangen die beiden Gründe, aus denen das Pandämonium ihm diesen Auftrag erteilt hatte, wie leiser Hohn über seine Selbstüberschätzung. Die plötzliche Sichtbarkeit des Allptraums bei dem ersten Versuch hatte ihm schmerzlich klar gemacht, dass seine Vorgesetzten sein Schatthenreich weit besser einzuschätzen wussten als er selbst. Und das obwohl er sich so viel darauf einbildete. Sein Schatthenreich hatte die richtige Frequenz. Der zweite Grund war, dass er ganz Entschaithal eingeschläfert hatte, um seine Versuchskaninchen in sein Reich zu schaffen. Die Sache mit den Auserwählten und dass er sie einer Immunisierung unterzogen hatte, hatte er zwar vor seinen Vorgesetzten geheim gehalten, doch über den Schlafzauber hatte er natürlich Rechenschaft ablegen müssen. Er hatte damals behauptet, es handle sich um eine Übung für den Einsatz der Schatthen und genau das wurde ihm nun zum Verhängnis. Das Pandämonium verlangte von ihm, erneut die ganze Stadt einzuschläfern und dann die Allpträume an den schlafenden Bewohnern zu testen. Grauen-Eminenz stöhnte. Am liebsten hätte er alles hingeschmissen. Er legte seinen Kopf auf den Schreibtisch vor sich und vergrub ihn in seinen Armen. Schweigend lauschte er seinem Atem. Er brauchte ein Haustier! Jawohl! So ein kleines, sich über seine Anwesenheit freuendes Lebewesen, das ihn überglücklich begrüßte und zu dämlich war, um seine schlechte Laune zu bemerken. Er seufzte. Als hätte er Zeit für ein Haustier… Kapitel 89: Warnung und Secrets Rolle ------------------------------------- Warnung und Secrets Rolle „Wer weiß, welche Rolle er im Leben anderer spielt, braucht ihnen nichts mehr vorzuspielen.“ (Ernst Ferstl, österr. Schriftsteller)   Als Justin am nächsten Morgen erwachte, fand er auf dem Nachttischchen neben sich einen Briefumschlag vor, der den Abend zuvor nicht dagelegen hatte. Er sah sich suchend im Zimmer um, aber ansonsten gab es keine Besonderheiten. Seine Mutter oder sein Vater mussten wohl hereingekommen sein, als er noch fest geschlafen hatte, und ihm den Brief hingelegt haben. Das war zwar ungewöhnlich, aber die sinnvollste Erklärung, die er dafür fand. Als er sich den Umschlag näher besah, erkannte er, dass kein Adressat vorhanden war, ebenso wenig ein Absender. Vielleicht hatten seine Eltern ihm irgendetwas hineingelegt. Er holte die zusammengefalteten Blätter heraus und schlug sie auf. Der Brief war mit Computer geschrieben. Bereits nach der ersten Zeile geriet Justin ins Stocken.   „Was?“, schrie Destiny, nachdem Trust ihnen den Inhalt des Briefs vorgelesen hatte. Auch die anderen schauten verstört. Der Brief war an die Auserwählten gerichtet gewesen und hatte Informationen darüber enthalten, dass der Schatthenmeister in der Nacht vom 31. Oktober ganz Entschaithal einschläfern und einhundert Allpträume auf die Stadt loslassen würde. Das war morgen Nacht! Darüber hinaus hatte es geheißen, dass der Schlafzauber einen Ausnahmezustand bedeutete. Durch ihn legte sich eine künstliche Ebene über die Realität, die die anderen Menschen in Schlaf versetzte. Und diese Ebene würde die Allpträume sichtbar machen. „Das ist doch gut!“, rief Change, „Dann können wir sie einfach abknallen.“ Desire war weniger zuversichtlich. „So einfach wird das wohl nicht. Sie können schließlich weiterhin in die Seelenwelt der Schlafenden eindringen.“ Change sah das locker. „Es sind doch bloß hundert Allpträume. Also muss jeder von uns zwanzig abschießen und schon sind wir fertig!“ Destiny warf ihm einen fassungslosen Blick zu. Sie wandte sich an die anderen. „Woher stammt dieser Brief überhaupt? Wer sollte diese Informationen haben und vor allem: Wer würde sie uns zukommen lassen?“ Desire überlegte laut: „Vielleicht der gleiche, der mit Ewigkeit gesprochen hat.“ „Ein Spion beim Schatthenmeister!“, mutmaßte Unite begeistert. Trust blieb skeptisch. „Aber wieso hat er dieses Mal direkt uns angeschrieben, anstatt über Ewigkeit mit uns zu kommunizieren?“ Desire wandte ein: „Ewigkeit hatte doch gestern diesen Zusammenbruch, vielleicht konnte er daher nicht mit ihr reden.“ Sie richtete das Wort an ihr Helferlein, das schlaftrunken auf dem Tisch vor ihnen saß. „Wie hat die Stimme überhaupt mit dir gesprochen?“ Ewigkeit schaute kurz nachdenklich. „Ich weiß nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern und rieb sich dann die Augen, in einem vergeblichen Versuch, die Müdigkeit daraus zu vertreiben. Destiny fuhr sich über die Stirn. „Das ist totaler Irrsinn! Wir sind darauf nicht vorbereitet!“ „Wenn der Schlafzauber aktiv ist, dann werden die Leute nicht aus ihren Albträumen erwachen können.“, gab Desire zu bedenken. „Wer weiß, was dann passiert.“ Allein die Vorstellung bereitete ihr Unbehagen. „Und wenn derjenige uns nur wieder zur Baustelle locken will?“, versuchte Destiny, die Gefahr abzuwiegeln. „Es ist doch schon komisch, dass genau dort die Allpträume auftauchen sollen!“ „Wenn bei der Baustelle ein Zugang zum Schatthenreich ist, dann ist das nur logisch.“, erwiderte Desire. Widerwillig musste Destiny ihr Recht geben. „Ich weiß gar nicht, was ihr habt. So ist es doch viel besser! Wenn wir die Dinger sehen können!“, meinte Change nochmals. „Change hat Recht.“, stimmte Unite zu. „Aber hundert Allpträume auf einmal?“, wandte Desire ein. „Wir werden sie nicht alle ausschalten können. Und wie sollen wir es schaffen, so viele aus den Seelenwelten der Schlafenden zu entfernen?“ Trusts Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. „Vielleicht können wir den Schlafzauber irgendwie aufhalten.“, Unite hatte Einwände. „Der Schlafzauber macht die Allpträume sichtbar. Das ist für uns von Vorteil.“ „Meine Rede.“, pflichtete Change ihr bei. „Aber für die Schlafenden ist es gefährlich.“, beharrte Desire. Unite streckte die Hand nach dem Brief aus. „Kann ich mal?“ Trust reichte ihn ihr. Unites Augen flogen über die Zeilen, bis sie die gewünschte Stelle gefunden hatte. „Wenn der Schlafzauber eine zweite Ebene schafft und die vom Schatthenmeister stammt, ist sie dann so eine Art Teil der Seelenwelt des Schatthenmeisters?“ Die anderen sahen sie nur verwirrt an. Woher hätten sie auch eine Antwort wissen sollen? „Ich meine, glaubt ihr, man könnte mit Destinys Kräften in den Schlafzauber hineingehen?“ „Hä? Wir stehen doch sowieso da drin, wenn sich der Schlafzauber über Entschaithal legt.“, erwiderte Change. „Nicht ganz, dann stehen wir innerhalb von zwei Ebenen gleichzeitig.“, entgegnete Unite. „Aber vielleicht können wir auch in die Schlafzauber-Ebene direkt gehen.“ „Und was bringt das?“, wollte Change wissen. Unite erläuterte. „Wenn Destinys Kräfte innerhalb der Ebene des Schlafzaubers funktionieren, dann könnte sie die Ebene vielleicht paralysieren, irgendwie undurchlässig machen! Sodass die Allpträume nicht hinauskönnen und daher nicht in die Seelenwelt der Schlafenden übertreten können!“ Sie strahlte. Die anderen waren teils baff, teils skeptisch. „Wie genau soll das funktionieren?“, hakte Trust nach.  Unite führte ihre Gedanken weiter aus. „Normalerweise haben die Allpträume ja keine Körper, deshalb können sie auch in die Seelenwelt, richtig?“ Die anderen widersprachen nicht. „Durch den Schlafzauber ändert sich das, weil er wohl selbst eine Art Seelenwelt ist.“, fuhr Unite fort. „Aber irgendwie scheinen die Allpträume wohl aus der Schlafzauberebene raus zu können, um dann in die Seelenwelt der Schlafenden einzudringen.“ Sie untermalte ihre Worte mit Bewegungen ihrer Hände. „Wenn sie die Schlafzauber-Ebene aber nicht verlassen können, dann würde doch ihr Körper einfach nur gegen die Schlafenden stoßen, weil sie nicht mehr in ihre Seelenwelt überwechseln könnten, oder?“ Trust zog ein grüblerisches Gesicht und antwortete nicht. Desire schlussfolgerte: „Dann müssten wir nur noch die hundert Allpträume unschädlich machen.“ „Wartet mal!“, rief Destiny. „Auch wenn das funktionieren sollte, wie soll ich bitteschön in eine Schlafzauber-Ebene eindringen? Ich war bisher nur in Menschen und nicht in unabhängigen Zauber-Ebenen!“ „Aber das ist doch viel besser!“, meinte Unite. „Wenn der Schlafzauber unabhängig ist, dann wirst du nicht von Erinnerungen behelligt!“ Destiny wirkte wenig überzeugt. Unsicherheit umwölkte ihre Stirn. „Und wenn es nicht klappt?“ Change verkündete: „Dann schießen wir die Dinger halt ab, bevor sie in die Schlafenden gehen!“ Noch immer war Trust in Gedanken versunken. Die Idee, direkt in den Schlafzauber zu gehen, mochte gut sein, aber auch allzu riskant. Wenn sie in die Seelenwelt gingen, befanden sie sich in einer Art Trance. Das hieß, sie waren in dieser Zeit genauso wehrlos wie die Schlafenden und somit den Allpträumen ausgeliefert. Außerdem bestand die Gefahr, dass dieses Manöver erfolglos blieb. In dem Fall wären die Allpträume schon in den Seelenwelten der Schlafenden verschwunden, bevor sie etwas dagegen tun konnten. Er stieß resignierend die Luft aus und stellte mit einigem Missfallen fest: „Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns dieses Mal aufzuteilen.“ Und es blieb nur noch ein Tag Zeit… Change klopfte ihm kumpelhaft auf den Rücken. „Wird schon.“ Dann stockte er. „Äh Leute.“, setzte Change an und sah zu den anderen. „Wenn wir gegen den Schlafzauber immun sind, was ist dann mit unserem Muskelprotz?“   „Das ist euer Notfall?“ Eriks Gesichtsausdruck sprach Bände. Er und die fünf saßen im Esszimmer des Hauses Funke um den Esstisch herum. Vivien hatte ihn zu Serena nach Hause zitiert, mit dem Vermerk, dass es sehr dringend sei. „Ist euch das mit dem Angriff einfach so eingefallen?“, fragte er reichlich sarkastisch. „Wir haben einen Brief mit Informationen erhalten.“, antwortete Vivien, als hätte sie keinen Grund, an der Ernsthaftigkeit seiner Frage zu zweifeln. „Von wem?“ Vivien lächelte. „Wissen wir nicht.“ „Sehr vertrauenswürdig.“, spottete Erik. „Und wie genau wollt ihr etwas unternehmen, wenn die ganze Stadt eingeschläfert wird, also auch ihr?“ „Bei uns wirkt der Schlafzauber nicht.“, informierte Ariane ihn. „Logisch.“, sagte Erik abgestumpft. „Ihr wollt also nachts durch die Stadt laufen und so tun, als würdet ihr Allpträume jagen.“, schlussfolgerte er. „Praktisch, dass es an Halloween ist, da werdet ihr in euren Kostümen wenigstens nicht auffallen.“ Vitali wandte sich an Ariane. „Wirke ich auch so blöd, wenn ich sarkastisch bin?“ Ariane musste leise lachen. Erik schien das nicht lustig zu finden. Er zog die Augenbrauen zusammen und drehte sich zu Justin. „Was ist mit Secret? Wirkt der Schlafzauber bei ihm?“ „Er wirkt nicht bei Beschützern.“, antwortete Justin. „Aber ihr wisst nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, ob Secret ein Beschützer ist.“, wandte Erik ein. „Ihr habt ihn erst im Schatthenreich getroffen, also könnte er auch etwas anderes sein.“ „Er ist ein Beschützer!“, begehrte Ariane auf. Erik sah sie von oben herab an, dann wandte er sich an Vivien. „Wer entscheidet über unsere Rollen?“ Vivien war gut gelaunt. „Du bist Secret, also entscheidest du.“ Ariane schaute empört. „Er kann nicht einfach entscheiden, dass Secret kein Beschützer ist!“ Vivien lächelte unbekümmert. „Wer sonst?“ Ariane zog ein unwilliges Gesicht. „Ist dir Secret so wichtig?“, provozierte Erik sie. „Secret schon.“, gab Ariane mit einem entschiedenen Blick zurück. Eriks Selbstgefälligkeit konnte das nichts anhaben. „Ich bin Secret.“ Ariane starrte ihn an, als wolle sie ihm am liebsten widersprechen. Ein höhnisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Aber wenn du unbedingt willst, dass ich bei der Aktion dabei bin, anstatt dem Schlafzauber zu verfallen, werde ich mir natürlich alle Mühe geben, nicht einzuschlafen.“ Vivien mischte sich ein. „Mir ist mittlerweile auch eingefallen, was das Gegenteil von Angst ist.“, verkündete sie. Die anderen schienen dem mehr Beachtung zu schenken als Erik. Vivien sah in die Runde. „Vertrauen!“ Bei dem Wort zuckte Justin zusammen. Vivien erklärte: „Wenn man vertraut, hat man keine Angst mehr!“ Ihre Worte ließen Vitalis Augen kurz zu Serena zucken. Eriks Augenbrauen zogen sich argwöhnisch zusammen. „Wer vertraut, kann enttäuscht werden.“ Vivien grinste. „Misstrauen ist Angst, enttäuscht zu werden.“ Erik war mit dieser Aussage offenkundig unzufrieden. Dann wandte er seinen Blick Justin zu. „Dein Name ist Vertrauen.“ Justin wirkte zunächst getroffen, dann senkte er sein Haupt. „Das hat nichts damit zu tun.“ Es war ihm unangenehm, ausgerechnet von Erik auf seinen Beschützernamen angesprochen zu werden. Er kam sich dabei so verlogen vor. Am Anfang war er noch davon ausgegangen, der Grund, sich mit Erik zu treffen, sei das Problem der Immunität gegen den Schlafzauber. Doch mittlerweile hatte er seine Meinung geändert. Dieses Treffen war ihrem schlechten Gewissen geschuldet. Die Immunität Eriks war weniger ein Problem als ein Schutz, schließlich würde er den Allpträumen dadurch nicht hilflos ausgeliefert sein. Er würde immer noch aufwachen können. Ihn jedoch in dieser Unsicherheit zwischen Wahrheit und Fiktion zu belassen, erschien Justin immer grotesker. Sie entfernten sich immer weiter davon, Erik in ihr Geheimnis einweihen zu können. Nicht dass das etwas an der momentanen Bedrohung geändert hätte. Selbst wenn sie Erik jetzt alles offenbarten, würde ihn das nur in noch größere Gefahr bringen. Gesetzt den Fall, er würde ihnen überhaupt glauben. Die Entwicklung seiner Kräfte brauchte Zeit, die sie nicht hatten. Angesichts seiner widerstreitenden Empfindungen fühlte sich Justin nicht länger wie Vertrauen, sondern vielmehr wie Misstrauen, Misstrauen seinen eigenen Entscheidungen gegenüber. Er hörte Vivien weitersprechen. „Manchmal fällt es anderen leichter, die Bedeutung unserer Namen zu erkennen.“ Er horchte auf. Ihre Worte klangen, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie wandte sich leicht in seine Richtung und lächelte auf eine Weise, die es ihm unmöglich machte, nicht zu erkennen, dass sie ihn meinte. „Manchmal sind unsere Namen auch das, was wir in anderen bewirken.“ Unwillkürlich erinnerte er sich daran, wie sie sich am Tag zuvor an ihn gedrückt hatte, nachdem sie aus seiner Seelenwelt entkommen waren. Er wurde rot. Obwohl er sonst stets bemüht war, seine Gefühle kleinzuhalten, konnte er ihr Zutrauen nur als beglückend empfinden. „Was ihr in anderen bewirkt.“, wiederholte Erik und drehte sich mit unverhohlener Belustigung zu Ariane alias Desire. „Ich heiße Wunsch! Nicht Verlangen!“, schimpfte Ariane empört. Erik grinste anzüglich. „Wunsch nach was?“ Ariane warf ihm einen schmaläugigen Blick zu, der Erik dazu reizte zu lachen. Er begnügte sich jedoch damit, sich mit einem überbreiten Grinsen abzuwenden und sich die Hand vor den Mund zu halten. Serena schüttelte nur den Kopf darüber.   Um Erik nicht das Gefühl zu geben, dass sie ihn ausschlossen, hatten die fünf vereinbart, dass sich Ariane unter dem Vorwand, sie werde zu Hause erwartet, nach dem Gespräch verabschieden sollte. Irgendwie waren alle außer ihr davon überzeugt gewesen, dass dies Erik dazu veranlassen würde, ebenfalls zu gehen, selbst wenn die anderen vorgaben, noch länger bei Serena zu verweilen. Geplant war, dass, sobald Ariane Vivien auf dem Handy anklingelte, Vitali sie per Teleport bei ihr zu Hause abholen sollte. Anschließend würden die fünf sich von Serenas Zuhause aus in ihr Hauptquartier beamen, wo Ewigkeit auf ihre Rückkehr wartete – falls sie aufgrund ihres Schlafmangels nicht eingenickt war.  Dies sollte vor allem eine Übung für Change sein, dessen Teleportation im nahenden Kampf sicher mehr als einmal gebraucht werden würde. Zu Arianes Überraschung schloss sich Erik ihr tatsächlich an, als sie sich von den anderen verabschiedete. Seite an Seite machten sie sich auf den Heimweg. Den ersten Teil der Strecke war Ariane allerdings nicht nach einem Gespräch zumute. Auch wenn Erik das alles wie ein Witz erschien, war sie sich der drohenden Gefahr allzu bewusst. Auch der Gefahr, die Erik drohte. Justins Blick während des Treffens war ihr im Gedächtnis geblieben, er war sehr nachdenklich gewesen und sie glaubte fast zu wissen, wieso. Sie hatte sich schon öfter mit Justin darüber unterhalten, ob es nicht falsch war, Erik weiterhin anzulügen. Obwohl Justin stets das Wohl der Gruppe über das des einzelnen stellte, glaubte sie, einen immer größeren Zweifel an dieser Entscheidung bei ihm zu erkennen. Vivien schien die einzige zu sein, die von ihrer momentanen Taktik überzeugt war. Und Vitali und Serena taten wie üblich einfach das, was Vivien sagte. Aber hieß das nicht, dass es an der Zeit war, die Taktik zu ändern? Sie konnte es nicht ein zweites Mal zulassen, dass ihm etwas zustieß! „Darf ich dich etwas fragen?“, hob sie an, wartete aber gar nicht erst seine Antwort ab. „Fändest du es nicht besser, wenn wir Secret die Wahrheit sagen würden?“ Erik empfand es offenbar nicht einmal als nötig, ihrem Blick zu begegnen. Er lief einfach weiter. „Das wäre doch langweilig.“ Ariane war von seiner Interesselosigkeit oder Langeweile oder seinem Spott, sie konnte nicht genau ausmachen, was es sein sollte, geplättet. „Ich meine es ernst! Wenn du Secret wärst, würdest du dann nicht wollen, dass man dir die Wahrheit sagt?“ Erik blieb nun doch abrupt stehen und wandte sich ihr zu. Sein Gesichtsausdruck wurde hart. „Ob du mir die Wahrheit sagen sollst?“ Noch vor kurzem hätte dieser lauernde Blick sie aus der Fassung gebracht. Doch stattdessen hielt sie ihm stand. „Ja.“ „Warum hast du bisher nicht die Wahrheit gesagt?“, erwiderte er mit erbarmungsloser Miene. „Weil… – Wir wussten nicht, ob es sicher ist.“, gestand Ariane kleinlaut. „Hat sich daran etwas geändert?“ „Nein, aber…!“ „Bring dich nicht selbst in Gefahr.“ Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Er setzte sich wieder in Bewegung. Ariane konnte es nicht fassen. Sie eilte ihm nach und lief an seine Seite. „Secret ist keine Gefahr!“, schimpfte sie. „Das weißt du nicht.“ „Wie kannst du so was sagen?!“ „Wie kannst du deine Freunde in Gefahr bringen?“, gab Erik barsch zurück. „Du bist also dafür, dass wir Secret belügen?“ Erik blieb erneut stehen und sah sie bedeutungsvoll an. „Dafür habt ihr doch das Rollenspiel erfunden, oder?“ Seine Worte klangen tadelnd, geradezu wütend, als fände er es lästig, dass sie die ihr zugedachte Rolle immer noch nicht begriffen hatte. „Dadurch sagt ihr Secret die Wahrheit, ohne dass er es weiß.“ Mit fassungslosem Ausdruck starrte Ariane ihn an. Zum ersten Mal verstand sie, welche Bedeutung Viviens Schachzug tatsächlich besaß. Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, dass die Geschichte mit dem Rollenspiel nur ein Ablenkungsmanöver war, um die seltsamen Zufälle um Erik herum zu erklären. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass Vivien Erik damit die Möglichkeit gab, selbst auf die Wahrheit zu kommen. Mehr noch: Vivien bereitete ihn dadurch langsam auf die Wahrheit vor, indem sie ihm eine Erklärung gab, ihn aber nicht zwang, diese sofort zu akzeptieren. Im Gegensatz dazu hatte sie selbst immer nur darauf gepocht, Erik aufzuklären, ohne darüber nachzudenken, wie unmöglich ihm diese Geschichte erscheinen musste. Vivien hatte so viel mehr Rücksicht auf Eriks Gefühle genommen… Eriks Stimme brach in ihren Gedankengang ein. Seine Tonlage war tiefer als sonst. Ob dies seinen Worten mehr Genervtheit oder distanzierte Belanglosigkeit verlieh, war ihr unmöglich zu entscheiden. „Bedeutet dir Secret so viel?“ Sie wich seinem Blick aus. „Du magst das nicht verstehen, aber wenn man so etwas mit jemandem durchgemacht hat, dann hat man eine Verbindung.“, erklärte sie. Die all die Zeit in ihr schlummernden, aber nicht vergehen wollenden Schuldgefühle erhoben sich aus ihrem Inneren wie eine Meute Leviathane. „Ich hätte ihn nie dort zurücklassen dürfen…“ Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Einen Moment herrschte Schweigen. Dann ergriff Erik abermals das Wort. „Dir sollten Figuren aus einem Rollenspiel nicht wichtiger sein als die Menschen vor deiner Nase.“ Abgrundtiefe Verachtung sprach aus seiner Stimme. Ariane verspürte den Impuls ihn für diese Worte anzuschreien, doch beim Anblick seines Gesichts erstarrte sie. Der intensive, feste Blick. Die grünblauen Augen. Wie er den Mund leicht verächtlich verzog, seine Konturen, die Stimme. Alles. Der Secret, von dem sie sprach und an den sie dachte, stand in Fleisch und Blut direkt vor ihr. Fast hätte eine Welle an Emotionen sie überrollt. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr leid tat. Dass sie ihn nicht hätte zurücklassen dürfen. Sie wollte ihm alles sagen! Aber das war nicht Secret. Das Ganze war so verwirrend! Es war falsch zu denken, dass er es nicht war, und falsch zu denken, dass er es war. Wo sollte sie bloß mit ihren Schuldgefühlen hin? Sie wollte Secret vor Erik verteidigen und doch war das absurd. „Mich hast du noch nie im Stich gelassen.“ Ariane horchte auf und sah in Eriks – Secrets Züge. Der Stich des schlechten Gewissens peinigte sie. Welche abartige Ironie doch in diesen Worten lag und er wusste es nicht einmal. Ein melancholisches Mitleid mit seiner unwissenden Fehleinschätzung gemischt mit dem bitteren Geschmack ihrer anhaltenden Reue ließ ihre Züge einfallen. Ohne Vorwarnung packte Erik sie plötzlich an der linken Schulter, dass sie es selbst durch ihre Winterjacke noch spürte, und sah sie durchdringend an. Ariane wäre fast zusammengeschrocken. Wäre er jemand anderes gewesen, hätte sie ihm einen automatisierten Schlag ins Gesicht verpasst, wie sie es in Selbstverteidigung gelernt hatte. Stattdessen blieb sie regungslos stehen und fing seinen Blick auf, um zu verstehen, was hier vorging. Wortlos und unverwandt starrte er ihr direkt in die Augen, anstatt den Blickkontakt immer wieder kurz abzubrechen, wie es Anstand und Respekt geboten. Dieser intensive Augenkontakt hatte etwas Verstörendes. So lange sah man jemanden nur an, wenn man sehr wütend auf diese Person war oder ihr sehr nahe stand. „Ich bin Secret!“, sagte er nachdrücklich. „Merk dir das.“ Seine Hand ließ von ihr ab. „Und komm nicht auf die Idee, für mich zu entscheiden.“ Er nahm wieder einen größeren Abstand zu ihr ein. Wie angewurzelt stand Ariane da und musste seine Aussage erst einordnen. Sie zog die Parallele zu dem, was er zuvor bei Serena zu Hause gesagt hatte. Erik bestand darauf, selbst zu bestimmen, wer oder was er war. Er wollte sich nicht in eine Rolle drängen lassen und gesagt bekommen, wie er zu empfinden hatte. War er ihr darin nicht furchtbar ähnlich? Und ausgerechnet sie hatte immer so getan, als wisse sie besser über Secrets Gefühle Bescheid als er! ‚Hör auf, dich zu entschuldigen.‘ Genau das hatte Secret ihr im Labyrinth gesagt, als sie ihn mit einer Tirade an Entschuldigungen belästigt hatte. Sie hatte es nicht vergessen, auch nicht, als wie verletzend sie seinen Kommentar empfunden hatte. Trotzdem hatte sie nicht davon abgelassen, ihn unbedingt um Verzeihung bitten zu wollen. Nicht nur das. Sie hatte sich auch noch eingebildet, Erik, der sich nicht mehr an die Geschehnisse im Schatthenreich erinnerte, sei derjenige, der die Situation falsch einschätzte, derjenige, der Secrets Gefühle nicht richtig beurteilen konnte, als wisse sie ganz genau, was er fühlen und denken musste. Derweil hatte sich Erik zum Gehen gewandt, als sei die Diskussion für ihn beendet. „Es ist grotesk, dass wir nur befreundet sind, weil ich Secret bin.“, sagte er hart. „Das ist –“, entfuhr es ihr. Sie unterbrach sich. Sie konnte nicht behaupten, dass das überhaupt nicht stimmte. Tatsächlich hätten sie sich wohl nicht miteinander angefreundet, wäre dieser Umstand nicht gewesen. „Auch wenn du nicht Secret wärst“, begann sie, beendete den Satz aber nicht. „Was?“ Ariane schaute säuerlich. „Gar nichts.“ Sie brauchte sich nicht die Blöße geben, ihm zu sagen, dass er ihr auf seine Weise näher stand als Secret. Erik stöhnte entnervt, als führe sie sich kindisch auf. Davon abermals verärgert schimpfte sie: „Erst beschwerst du dich, dass ich dich nicht als Secret sehe, dann dass ich dich nur als Secret sehe!“ „Ich beschwere mich überhaupt nicht.“, gab er barsch zurück. „Tust du wohl!“ „Und du jammerst die ganze Zeit, wie sehr du Secret vermisst!“, fuhr er sie an. „Ich vermisse ihn nicht. Ich –“ Sie hielt inne. Wie sollte sie ihm denn bitteschön erklären, dass es für sie schwer war, einen Menschen mit zwei verschiedenen Persönlichkeiten zu kennen und nicht zu wissen, wie sie damit umgehen sollte? Sie konnte den Secret, den sie kennengelernt hatte, doch nicht einfach verdrängen. Aber Erik war für sie – Er hatte für sie eine andere Bedeutung als Secret. Secret hätte sie nur gerne noch einmal gesehen, um ihm zu sagen, dass ihr alles leid tat und dass sie ihn nicht hatte zurücklassen wollen. Das war alles. Wenn sie gewusst hätte, dass es ihm gut ging, das hätte ihr gereicht. Bei Erik war das anders. Er war jemand, den sie nicht einfach aus ihrem Leben gehen lassen wollte. Schließlich sagte sie kleinlaut: „Ich weiß manchmal nur nicht, wie ich mit dir umgehen soll.“ „Weil ich nicht wie er bin?“, fragte Erik abweisend. „Nein.“ Sie pausierte. „Doch. Ich weiß nicht. Es ist –“ Erik unterbrach sie. „Weil ich kein Beschützer bin.“ Ariane rief laut: „Du bist –“ Sie konnte den Satz nicht beenden. Er sah sie mit diesem bohrenden Blick an, der ihr zu verbieten schien, die Worte auszusprechen. Sie verstand das nicht. Er selbst hatte doch eben noch behauptet, Secret zu sein. „Gehen wir.“, befahl er und setzte sich in Bewegung. Kapitel 90: Schlafzauber ------------------------ Schlafzauber   „Wenn Schlaf und Wachen ihr Maß überschreiten, sind beide böse.“ (Hippokrates von Kós)   Eine Gruppe Kinder in Kostümen hatte sich in Begleitung von zwei Erwachsenen vor dem Haus der Familie Donner versammelt. „Süßes oder Saures!“, riefen die Kinder im Chor, als eine Frau mit blondierten Haaren, die sich Vampirzähne in den Mund gesteckt hatte, öffnete. Die Frau hielt ihnen eine Schüssel voller Süßigkeiten hin, aus der die Kinder sich bedienten. Die Erwachsenen bedankten sich und zogen mit der Horde weiter. Die Tür wurde wieder geschlossen. „Wieso verteilst du Süßigkeiten?“ Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Erik auf der großen Treppe und blickte strafend auf seine Tante herab. Die Vampirin drehte sich fröhlich zu ihm um. „Weil Halloween ist!“ Sie grinste. Eriks Ton wurde grimmig. „Wir sind hier in Deutschland. Und das ist das Haus der Familie Donner und kein Kinderspielplatz.“ Rosas Blick änderte sich. „Hat dir das dein Vater immer gesagt?“, erkundigte sie sich, als hätte sie eine psychische Wunde bei ihm entdeckt. Eriks Gesichtsausdruck verfinsterte sich zusehends. Rosa strahlte wieder. „Willst du mir nicht helfen?“, „Ich kann Kinder nicht leiden.“, erwiderte Erik und wandte sich ab. „Du wirst wirklich immer mehr wie dein Vater.“, war Rosas Kommentar. Eriks Hand krampfte sich um das Treppengeländer. Er kämpfte gegen den Impuls an, Rosa zu erwürgen. Stattdessen lief er wieder die Treppe hinauf. Er konnte nicht fassen, dass seine Eltern es zuließen, dass diese Irre hier als Vampir verkleidet Süßigkeiten an diese bettelnden Kinder verteilte! Sie musste sogar extra Süßigkeiten dafür gekauft haben! Wäre er mit so einer Schnapsidee angekommen, hätte man ihn sofort zurechtgewiesen, dass sich das nicht mit der altehrwürdigen Tradition dieses Hauses vereinbaren ließ. In seinem Zimmer angekommen, setzte er sich auf sein Bett und nahm sein Smartphone aus der Hosentasche. Er begann zu tippen. Wolltet ihr euch heute nicht wegen dem Rollenspiel treffen? Nur wenige Sekunden, nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, begann sein Smartphone auch schon zu vibrieren, doch statt des Mitteilungstons erklang der Hip Hop Song, der einen Anruf anzeigte. Dass Ariane ihn anrief, statt eine Nachricht zu schreiben, wunderte ihn einerseits und freute ihn andererseits. „Hi.“ „Der Angriff findet erst kurz vor Mitternacht statt.“, informierte ihn Ariane ohne Umschweife. „Und wann wolltest du mir Bescheid sagen?“, fragte Erik argwöhnisch. „Change und ich kommen später zu dir. Ich kann dir jetzt noch keine genaue Uhrzeit sagen. Aber du darfst nicht einschlafen.“, sagte sie mit einer Ernsthaftigkeit, die er als unangebracht empfand. „Hatte ich nicht vor.“, entgegnete er. „Klingelst du mich dann an?“ Kurzes Schweigen vom anderen Ende. „Das wird nicht nötig sein.“ „Ach ja, Vitali kann sich ja teleportieren.“, spottete er. Ihr nächster Tonfall ließ ihn stocken. Er glaubte ein trauriges Lächeln herauszuhören, wie aus melancholischem Bedauern über die Naivität seiner Äußerung. „Genau.“   Die Beschützer hatten sich in ihrem Hauptquartier versammelt. Um Viertel nach elf hatte Change sie nacheinander per Teleport abgeholt, nachdem Ewigkeit jedes Mal zuvor sichergestellt hatte, dass Change nicht Gefahr lief, versehentlich entdeckt zu werden – Unsichtbarkeit und Teleportation gleichzeitig einzusetzen war bisher noch etwas zu viel für ihn. Nun standen sie mit reichlich Nervosität in der Magengrube beisammen. Selbst Ewigkeit war ein Nervenbündel und schwirrte im ganzen Raum umher, wie um sich abzulenken. „Wäre es nicht besser, wenn ich den Schlafzauber ganz auflöse?“, fragte Destiny zaghaft. Trust schüttelte den Kopf. „Dann könnten wir die Allpträume nicht mehr sehen. Halt dich an den Plan und versuche die Allpträume in der Ebene einzusperren, damit sie nicht in die Seelenwelt der Schlafenden eindringen können.“ Destiny nickte. Ihr Gesichtsausdruck ließ einige Besorgnis erkennen. „Das schaffen wir schon!“, ermunterte Unite sie guten Mutes und schlug ihr etwas zu fest auf den Rücken. „Aua.“ Böse funkelte Destiny sie an, aber Unite lachte bloß. Theatralisch philosophierte Change „Gift gegen Gift. Allptraum gegen Allptraum.“, und untermalte seine Worte mit feierlicher Geste. „Ich werde gleich zu deinem Allptraum!“, schimpfte Destiny. Sofort ging Change hinter Desires Rücken in Deckung, was diese etwas verwundert zur Kenntnis nahm, ehe sie von Unite angesprochen wurde.  „Erik weiß Bescheid?“ Desire stockte. Ihre Stirn legte sich in Sorgenfalten. Sie gab ein zustimmendes Geräusch von sich, während ihr Blick zu Boden glitt. „Wir wissen nicht wie schnell wir bei ihm sein können. Wenn er die Allpträume sieht, wird er-“ Trust fiel ihr ins Wort. „Solange ihr die Aufmerksamkeit der Allpträume auf euch lenkt, ist er nicht in Gefahr. Wir holen ihn, sobald wir wieder zusammen sind.“ Er deutete auf seine Armbanduhr. Auch die anderen hatten ihre Beschützerkleidung für diesen Einsatz um eine Digitaluhr ergänzt, um sich so besser an den Zeitplan halten zu können. „Es ist jetzt 23.28 Uhr. Um 23.45 Uhr setzt der Schlafzauber ein.“ „Wenn der Schatthenmeister pünktlich ist.“, kommentierte Change in einer unruhigen, hektischen Art, als müsse er wie der Moderator einer Comedy-Show für billige Lacher sorgen. Wäre Trust nicht vollständig auf die Mission fokussiert gewesen, hätte er Changes Verhalten vielleicht als einen Ausdruck von Nervosität erkannt. So jedoch war die Mission sein einziger Gedanke. In entsprechend ernstem Ton sprach er zu Change und Desire. „Ihr solltet um 23.50 Uhr an der Baustelle sein. Dann sind die Leute schon eingeschlafen und sehen euch nicht. Geht auf keinen Fall ein unnötiges Risiko ein.“, mahnte er. „Versucht die Allpträume abzulenken, damit sie nicht gleich auf die Schlafenden losgehen, aber wenn ihr Schwierigkeiten habt, dann kommt hierher zurück. Sobald Destiny die Ebene des Schlafzaubers undurchlässig gemacht hat, sagt euch Ewigkeit Bescheid. Das gleiche gilt, wenn wir Probleme bekommen sollten.“ Change und Desire nickten und sahen zu Destiny und Unite. Der Plan war, dass Destiny und Unite sich gemeinsam in die Ebene des Schlafzaubers begaben. Per Telepathie sollte Trust sie dabei begleiten und gegebenenfalls ihre in Trance befindlichen Körper vor etwaigen Angriffen beschützen. Schweigen kehrte ein. Es war zu früh, um mit dem Versuch zu beginnen, in die Ebene des Schlafzaubers zu gelangen. Was jetzt noch blieb war zu warten oder den Plan zum zigsten Mal durchzugehen. Unbeholfen standen die fünf beieinander, während sich in ihren Köpfen die unschönen Bilder von ihrem Erlebnis in Trusts Seelenwelt wiederholten. „Unser Gruppenruf!“, erinnerte Unite plötzlich aufgedreht. Keiner reagierte. „Kommt schon!“ Keiner hatte Lust, sich zu streiten, weshalb sie sich Unites Forderung beugten. „Balaaaaance… Defenders!“, rief Unite. Mit ihren emporgehobenen Armen kamen die anderen sich reichlich albern vor.   „Noch mal!“, forderte Unite. „Lauter!“ Wieder wehrte sich keiner. Sie brauchten ihre Kraft schließlich noch für den Kampf. Allerdings dauerte es noch ganze vier Mal, bis der Ruf Unites Ansprüchen endlich genügte. Bei diesem letzten Mal schrien sie so laut, dass man hätte meinen können, sie würden gegen etwas protestieren. Ihre in die Höhe gestreckten Arme waren nicht länger eine peinliche Geste, sondern Zeichen eines Aufstands. Unite streckte Desire und Change ihre Hand mit erhobenem Daumen entgegen. Desire lächelte und Change erwiderte Unites Geste. Aus seiner Miene sprach Überzeugung. „Bis später.“, sagte Unite. „Bis später.“, erwiderte Desire. Change deutete nur mit einer lässigen Geste mit ausgestrecktem Daumen und Zeigefinger auf die anderen und grinste. „Passt gefälligst auf euch auf!“, schimpfte Destiny und schaute so grimmig und böse wie sie nur konnte. Doch an Changes Strahlen war abzulesen, dass er ihre Worte als Ausdruck von Sorge um ihn auffasste, weshalb sich Destiny augenblicklich abwandte. Sie, Unite und Trust machten sich in Begleitung Ewigkeits auf den Weg in den Meditationsraum. Change und Desire blieben zurück, um noch ein paar Minuten im Aufenthaltsraum zu verbringen, bevor sie sich zur Baustelle teleportieren würden.   Sie hatten den Meditationsraum ewig nicht mehr betreten, nicht mehr seit Eternitys Verschwinden. Für heute Nacht jedoch schien der Raum, der nicht aus ihrer Fantasie, sondern der Ewigkeits stammte, genau richtig. Wie etwas, das ihnen zusätzlichen Schutz bot. Als Trust die Tür öffnete, zog die mysteriöse Schönheit des Raums ihn, Destiny und Unite einmal mehr in seinen Bann. Der glatte schwarze Stein mit den weißen Verzierungen, von denen nicht klar zu sagen war, ob sie Buchstaben, Ornamente oder sonstige geheime Symbole darstellten, und die das Innere in ein traumhaftes Licht hüllten, hatte etwas Beruhigendes. Die ganze Atmosphäre dieses Raumes wirkte angenehm und entspannend. Die innere Unruhe jedoch, die durch die Aussicht auf den Angriff hervorgerufen wurde, konnte sie nicht völlig tilgen. In ihr Leuchten gehüllt, flog Ewigkeit mit ihrem üblichen Glöckchen-Klang ans andere Ende des Raums. Dort stand eine Art Doppelbett bereit und daneben ein Stuhl. Die drei folgten ihr in andächtiges Schweigen gehüllt. Sobald sie angekommen waren, setzten sich Unite und Destiny stumm auf die Liegen. Trust nahm den Platz auf dem Stuhl ein. Sie kontrollierten die Uhrzeit. Es blieben weitere fünf Minuten, ehe der Schlafzauber einsetzen würde. Destiny und Unite begaben sich in Liegeposition. Ewigkeit schwebte über ihnen. „Wir beschützen euch.“, versprach sie heiter. Unite bedankte sich, Destiny schwieg. Es war ihr anzusehen, dass ihr die Verantwortung, die sie trug, nicht behagte. Doch Unite wusste, dass ihr aufmunternde Worte nicht helfen würden. Trust war indes auf die Uhrzeit fixiert. Die Sekunden verstrichen. Unite war sich unsicher, ob sie noch etwas sagen sollte. Einerseits hatte sie das Gefühl, dass die Atmosphäre zwischen ihnen keine Worte zuließ, andererseits hasste sie es, zum Schweigen gezwungen zu sein. Sie wandte sich an Destiny. „Glaubst du, Change schafft es, ein paar Allpträume abzuschießen?“ „Nie im Leben.“ „Er sah ziemlich überzeugt aus.“ Destiny schaute betont genervt. „Das tut er immer.“ „Wäre es nicht lustig, wenn er gar nicht dazu käme, weil wir die Ebene vorher schon undurchlässig machen? Dann würde er sich sicher ärgern.“ Unite kicherte. Destiny sah sie kurz mit großen Augen an. Ehe sie etwas entgegnen konnte, ergriff Trust das Wort. „Macht euch bereit. Noch eine halbe Minute.“ Unite und Destiny schlossen die Augen und nahmen sich bei der Hand. Schließlich zählte Trust den Countdown von zehn abwärts. „…3… 2… 1…“   „Es funktioniert nicht!“, schrie Destiny aufgebracht und setzte sich wieder auf. Seit fünf Minuten versuchte sie vergeblich, die Ebene des Schlafzaubers zu finden, aber es gelang ihr einfach nicht. „Wir versuchen es einfach noch mal.“, meinte Unite ruhig. Auch sie hatte sich aufgesetzt. „Da ist nichts!“, schimpfte Destiny lautstark. „Ich kann nicht in diese Ebene gehen!“ „Destiny, das ist wichtig.“, mahnte Trust. „Beruhige dich und konzentrier dich.“ „Ihr versteht das nicht! Ich finde keine Ebene! Ich kann in jemand anderen gehen, aber nicht in irgendeine Ebene, die ich nicht mal kenne! Wir müssen den anderen Bescheid sagen!“ „Vielleicht hat der Schlafzauber einfach noch nicht eingesetzt.“, versuchte Trust sie zu beruhigen. Schweigend beobachtete Ewigkeit die Szene. Der Schlafzauber hatte eingesetzt. Das wusste sie instinktiv, auch wenn sie nicht hätte sagen können, woher dieses Wissen stammte. Sie spielte nervös mit dem Anhänger ihrer Kette und betrachtete ihn, als könne er ihr eine Lösung einflüstern. Destiny stieß die Luft aus, holte Atem und stieß ihn erneut aus, als könne sie damit die Realität dazu bringen, die Herausforderung, der sie sich stellen sollte, noch einmal zu überdenken. Leider schien die Realität ihr Stöhnen nicht zu interessieren. Stattdessen hatte Destiny plötzlich Ewigkeit vor der Nase. „Konzentrier dich auf mich!“, rief die Kleine in einem aufgeregten Ton. Hektisch ruderte sie mit den Armen, als befänden sie sich mitten in einem Ballspiel und wolle auf sich aufmerksam machen: Hier- hier - hier! Ich steh frei! Hier!!! Destiny zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. Doch ehe sie einen bissigen Kommentar abgeben konnte, hatte sich Ewigkeits Gesichtsausdruck geändert. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Medaillon umfasst, das in ihren Händen mit einem Mal zu leuchten begann. Destiny fühlte ein vertrautes Gefühl sich in ihrer Herzgegend ausbreiten. Eilig griff sie nach Unites Hand. Gerade noch rechtzeitig.   Im gleichen Moment standen Unite und Destiny auch schon inmitten eines fremden und finsteren Orts. Ein blasser Schein wie der des Vollmonds ergoss sich über die stille Umgebung. Über ihnen fand sich jedoch kein Himmel, sondern eine solide Decke aus Stein, als wären sie hier untertage in einer Art Gruft gelandet. Die Luft war abgestanden, kein Lufthauch regte sich, so wie sich hier auch sonst nichts zu regen schien. Einzig an Stellen, wo die blassen Lichtstrahlen gebündelter waren, konnte man winzige Staubpartikel schweben sehen. Alles war totenstill, in ein erhabenes Schweigen gehüllt, als wäre hier selbst die Zeit stehengeblieben. „Hier entlang.“ Der Glöckchenklang von Ewigkeits Stimme schien von der Umgebung imitiert zu werden, denn mit einem Mal ertönte ein Echo aus leisen, zarten Tönen wie von zahllosen Windspielen. Unite sah Destiny an. „Ist das die Schlafzauber-Ebene?“ Destinys angespannter Gesichtsausdruck schien das verneinen zu wollen.   „Wo sind wir hier?“, fragte sie das Schmetterlingsmädchen. „Ich weiß nicht.“, sagte Ewigkeit. „Aber ich weiß, wo wir hin müssen!“ Mit einem Mal flog sie pfeilgeschwind voraus. „Schnell!“ Die beiden Beschützerinnen rannten ihr nach. Ewigkeit machte den Eindruck, sich bestens orientieren zu können und genau zu wissen, wo sie hinsteuern musste. Unite und Destiny indes waren von der Umgebung irritiert. Bis zur Decke ragten rechts und links mehrstöckige Hausfronten auf, die statt Fenstern zahlreiche verschlossene Türen aufwiesen. Wie Gefängniszellen oder letzte Ruhestätten. Sie hatten nicht die Zeit sich darüber auszutauschen, sie mussten mit Ewigkeit Schritt halten. Destiny ging nach Kurzem die Puste aus und sie musste eine Pause einlegen. „Beeilung!“, hetzte Ewigkeit, die das Stehenbleiben der Beschützerinnen bemerkt hatte. Wieder schien die Umgebung ihre Worte durch geisterhafte Glöckchenklänge zu bekräftigen, als würden Seelen wispern. Weiter eilten sie durch die fremde Welt und hatten weder den Atem noch die Gelegenheit, Ewigkeit danach zu fragen, ob sie ihnen sicher den richtigen Weg wies und ob am Ende des Weges tatsächlich die Ebene des Schlafzaubers zu finden war. Auch dafür, über die Wahrscheinlichkeit dessen nachzudenken, blieb keine Zeit. Die Umgebung hatte sich mittlerweile zu einer Abfolge von unbewohnten Villen und rätselhaften kleinen Gässchen gewandelt. Der Geruch von abgestandenem Wasser drang von irgendwoher zu ihnen. Plötzlich ließ ein ohrenbetäubender Glockenschlag den Boden erzittern. Fast hätten Destiny und Unite das Gleichgewicht verloren. Sand rieselte auf ihre Häupter herab, als drohe die Decke einzustürzen. Ewigkeit bog in eine schmale Seitengasse ein. Ein zweiter Glockenschlag dröhnte durch die Atmosphäre. Erst jetzt begriffen Unite und Destiny, was das zu bedeuten hatte. ○ Es ist Mitternacht., informierte Trust, dem es in der Zwischenzeit gelungen war, sie per Telepathie zu orten und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. „Ist es noch weit?“, brachte Unite hervor. Das Schmetterlingsmädchen deutete auf das Ende der Gasse. „Hier!“ Vor einer Backsteinwand, die den Weg zur Sackgasse machte, befand sich ein leuchtender Durchgang in eine andere Dimension. Er besaß eine eigentümliche, ovale Form und schwebte ein paar Zentimeter über dem Boden. Tatsächlich schwebte er nicht, denn wie auf den zweiten Blick festzustellen war, wurde er von einer goldenen Kette gehalten, deren Enden irgendwo an der Decke befestigt sein mussten. Sie eilten darauf zu, während weitere Glockenschläge ertönten. Mit einem Sprung fanden sie sich in einer Ebene wieder, die aus weißen und schwach blau-grünen Nebeln zu bestehen schien. Andererseits wirkte es nicht richtig wie Nebel, sondern wie mehrere Schichten von Licht. Von dem Durchgang, durch den sie gekommen waren, war keine Spur mehr. Sie wussten nicht, ob er verschwunden oder nicht mehr von der Umgebung zu unterscheiden war. Sie hatten größere Probleme.   „Glaubst du, die anderen schaffen das?“, fragte Change. Er und Desire standen direkt vor der Baustelle, die seit der Nacht ihrer Entführung einige Veränderungen durchgemacht hatte. Damals waren er und Desire das erste Mal zusammengetroffen, weil sie beide auf dem Baugrund vor den Schatthen Schutz gesucht hatten. Mittlerweile war ein Kellergewölbe in der Tiefe entstanden. Ein Versteck suchte man hier vergeblich. Der Lichtkegel der kleinen Leuchte, die Change an seinem rechten Handgelenk in sein Outfit integriert hatte, um die Hände frei zu haben, verlor sich in der Tiefe des Gewölbes. Dabei war die Nacht nicht einmal besonders dunkel. Eine dicke Wolkenschicht reflektierte das Licht der orangefarbenen Straßenlaternen und sorgte dafür, dass sie sich noch einigermaßen gut orientieren konnten. „Hm.“, machte Desire und sah sich nach allen Seiten um. Durch die Fenster der umstehenden Häuser konnte man an einigen Stellen die Innenbeleuchtung der Räumlichkeiten erahnen. Die lebhafte Farbabfolge eines Fernsehers blitzte durch eines der Häuserfenster. Dafür dass es kurz vor Mitternacht war, schienen noch viele Leute wach zu sein. Nichts machte den Anschein, als wäre die Stadt in einen Schlaf verfallen. Zumindest hatte sich Desire einen solchen Dornröschenschlummer ganz anders vorgestellt. Aus der Ferne drangen die Geräusche der außerhalb der Stadt liegenden Bundesstraße zu ihr. Aber das alles hatte ja nichts zu bedeuten. Der Schlafzauber betraf nur Entschaithal und das Stromnetz blieb davon unberührt. Change redete weiter. „Wenn es schon geklappt hätte, hätte Ewigkeit uns informieren müssen.“ Desire sparte sich die Rückmeldung. Offensichtlich ging es Change nur darum, zu sprechen, ob sie zuhörte oder nicht. „Es ist schon 23.58 Uhr.“, stellte Change fest. „Dann mach dich bereit.“, entgegnete Desire. Change sah sich die Umgebung noch mal genau an. Auf Unites Vorschlag hin, hatte er auf dem Boden Leuchtsticker geklebt, um sich besser orientieren zu können, wenn er seinen Teleport einsetzte. Er prägte sich die Punkte erneut ein und sah sich nach weiteren Stellen um, Derweil leuchtete Desire mit der Lichtquelle an der Handinnenfläche ihres Handschuhs hinab in das Kellergewölbe. „Das Licht sieht aus wie bei Ironman.“, sagte Change amüsiert, schließlich war Desires Outfit auch noch rot und gelb. „Jetzt musst du nur noch damit schießen können.“ „Das wirst du gleich sehen.“ Desire begab sich in Kampfstellung. „Wenn sie uns sehen, werden sie als erstes auf uns losgehen. Wenn ich den Schutzschild zu früh einsetze, verlieren sie vielleicht das Interesse an uns und strömen in alle Richtungen aus.“, informierte sie. „Das heißt, wir werden so lange wie möglich ohne Schutzschild arbeiten.“ Change nickte und war einen Moment still. Dann wandte er sich erneut zu Desire. „Wie sehen die Dinger eigentlich aus?“   Eine Horde an fliegenden Kreaturen erhob sich aus den Dünsten der Umgebung. Ihr eigentlicher Körper war nicht viel größer als der einer Nebelkrähe, doch durch die Spannweite ihrer Fledermausschwingen wirkten sie schon von Weitem wie ein Kampfgeschwader. Leuchtend grün schimmerte ihre glatte Haut, die aus winzigen Schuppen bestehen mochte – aus der Ferne war das nicht zu erkennen. „Die Allpträume!“, stieß Ewigkeit aus. Unite zögerte keine Sekunde. Sie rannte los und rief Destiny nur noch ein „Ich lenke sie ab!“ über die Schulter zu. Destiny sah ihr einen Moment nach, ehe sie sich besann, was ihre eigentliche Aufgabe war.   Desire leuchtete weiterhin vergeblich das Kellergewölbe ab. Sie konnte keine Kreaturen entdecken. Change tippte sie an. „Desire…“ Er deutete auf den Bereich oberhalb der Baustelle. Desires Augen folgten der Geste. Als hätte bisher eine unsichtbare Barriere die Sicht auf das dahinter Liegende behindert, zeichneten sich die Konturen von einer Horde fliegender Schemen nun immer deutlicher ab. Der Auftrag, einhundert Wesen, die zu Fuß gingen, davon abzuhalten sich in der ganzen Stadt auszubreiten, hatte schon schwierig genug geklungen, doch wie sollten sie einhundert fliegende Geschöpfe im Schach halten? Desire bemerkte, wie sich Change in die Lüfte erheben wollte. Geistesgegenwärtig packte sie ihn am Arm. „Nein.“ Er sah sie nur fragend an. Doch anstatt ihm eine Erklärung zu liefern, eilte Desire ein paar Schritte nach hinten und begann mit beiden Armen zu wedeln wie ein Fluglotse. Dabei diente ihr die Leuchte in ihrer linken Handfläche als Lichtsignal. „Schieß sie noch nicht ab!“, rief sie. Nun war Change restlos verwirrt. „Wieso?“ „Weil sie sonst auseinandergetrieben werden.“ Change hielt das für eine bescheuerte Begründung. Jetzt wäre der beste Zeitpunkt gewesen, um die Monster abzuschießen, wenn sie noch nicht nahe genug waren, um sie ihrerseits anzugreifen. „Das ist ne blöde Idee.“, rief er. Desire versuchte es mit dem Zauberwort. „Bitte!“ Change stöhnte und lief dann neben sie. „Wehe das klappt nicht.“ „Hast du Angst?“, fragte Desire mit fester Stimme. „Nö.“, log Change. „Dann tu so, als ob.“, befahl Desire. „Sie werden davon angelockt.“ „Du könntest panisch kreischen.“, schlug Change vor. „Tu du das doch.“ „Ich bin doch kein Mädchen!“ Desire warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „War ja nur ein Vorschlag…“   Unite feuerte ihre Kräfte auf die Allpträume ab. Doch wie eine unaufhaltsame Lawine strebten diese zu einem anderen Punkt hin, ohne ihr Beachtung zu schenken. In der Befürchtung, dass die Bestien es auf Destiny abgesehen haben könnten, schoss Unite wild um sich. Jedoch konnte die Schwingung nicht länger die richtige sein, denn anstatt aufgelöst zu werden, sahen die Wesen sie nur mit mordlüsternen Blick an und stürzten sich wie Falken auf sie herab. Unite wich aus, duckte sich weg und drehte sich um die eigene Achse, um einem weiteren Angriff auszuweichen. Sie warf sich zu Boden, um der nächsten Attacke zu entgehen, rappelte sich wieder auf und schoss. Sie hatte keine Zeit, sich auf die Qualität ihrer Attacke zu konzentrieren, daher wurden die Angreifer durch ihre Welle nur minimal aufgehalten, anstatt erlöst zu werden. Wenn es so weiterging, würde sie ihnen über kurz oder lang unterliegen.   Trust saß wie auf glühenden Kohlen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Auch wenn er Unite und Destiny per Telepathie hören konnte, so wusste er doch nicht genau, was vor sich ging. Andere Geräusche als das, was die beiden mit ihm sprachen, konnte er nicht wahrnehmen. Ein Bild war ihm völlig verwehrt. Er musste sich schwer zusammenreißen, um nicht alle paar Sekunden nachzufragen, ob alles okay war. Sein wichtigstes Anliegen war, dass ihnen nichts zustieß, aber von seiner Position aus, war er völlig machtlos. Er konnte nur warten und den beiden vertrauen. ♪ Trust! Unites Kreischen ließ ihn zusammenfahren. „Was ist?“, fragte er panisch. In seinem aufgeregten Zustand fiel es ihm leichter, seine Gedanken zu übertragen, wenn er sie aussprach.  ♪ Rede mit mir!, schrie Unite. Sie klang gehetzt, als wäre sie auf der Flucht. Es folgte ein Schreckenslaut. „Unite!“ ♪ Deine Stimme, Trust! Deine Stimme! Er wusste beim besten Willen nicht, worauf sie hinauswollte, und sein Unwissen über ihre Situation machte ihn wahnsinnig. „Was ist los?“ ♪ Bitte!, hörte er Unite flehen. „Unite, ich weiß nicht was los ist. Was geht bei euch vor? Bitte, ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann. Sag mir, wie ich dir helfen soll.“ Für Momente kam keine Antwort. „Unite!“, rief er viel zu laut. ♪ Sprich weiter!, forderte Unite. „Was soll ich denn sagen? Ich weiß wirklich nicht… Ich-“ Sie hatte gewollt, dass er spricht. Egal was. Er besann sich darauf, ihrem Wunsch nachzukommen. „Hörst du mich? Ich bin hier. Ihr seid nicht allein. Wenn etwas ist, sagt es. Ich lasse nicht zu, dass euch etwas passiert. Hört ihr? Ich werde nicht zulassen, dass euch etwas zustößt!“ Seine eigenen Worte kamen ihm lächerlich vor. Was hätte er denn tun sollen, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfuhr? Von hier aus konnte er überhaupt nichts ausrichten. Er versuchte seiner Stimme wieder Festigkeit zu verleihen. „Habt keine Angst. Ich bin die ganze Zeit hier und passe auf. Wenn ihr in Schwierigkeiten steckt, rufe ich Desire und Change.“ # Ich kann mich nicht konzentrieren!, schrie Destiny aufgebracht. Trust war verwirrt. Sollte er nun sprechen oder still sein? Er durfte Destiny nicht von der Ausübung ihrer Kräfte ablenken, daher versuchte er, seine nächste Nachricht dieses Mal nur Unite zukommen zu lassen. Seine Stimme war sanft. „Unite, ist alles okay? Willst du immer noch, dass ich rede? Ich verstehe nicht, was los ist. Kann ich irgendwas tun?“ Schweigen. „Unite, ich mache mir Sorgen. Sprich mit mir.“ Er hörte schnelles Atmen. „Bist du nicht bei Destiny? Unite, was geht da vor sich?“ Seine Stimme wurde laut. „Ich brauche dich!“ Er wusste nicht, wieso er diesen bescheuerten Satz ausgesprochen hatte. So was Dummes. Wollte sie, dass er sie da rausholte? Nein. Unite würde die Mission nicht abbrechen bis Destiny die Ebene unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Und wenn sie ihr Leben dafür riskieren musste. So war sie. Das wusste er. „Du schaffst das! Ich glaube an dich. Du bist stark, viel stärker als du glaubst.“ Was redete er da eigentlich? Unite war die letzte, der man so etwas sagen musste. Sie hatte genug Selbstvertrauen. ♪ Vereinte Kräfte!, hörte er Unite ihren Attackennamen rufen. Er wusste, dass sie längst dazu fähig war, ihre Fähigkeiten auch ohne Worte zu benutzen. Die Beschwörung bestätigte bloß, was für ihn bereits eine unausgesprochene Wahrheit war: Unite kämpfte gegen die Allpträume.   Während die Allpträume immer klarer sichtbar wurden, verstärkte sich die leichte Orangefärbung der Wolkendecke noch und mutierte zu einem bedrohlichen Glühen. Aber vielleicht kam es Change und Desire auch nur so vor, weil sie dem Himmel zuvor keine Beachtung geschenkt hatten. Plötzlich jagten ein paar der dunklen Flecke aus dem Knäuel zielstrebig in Richtung Park. Change fluchte und wollte losrennen. Mit dem ausgestreckten, linken Arm hielt ihn Desire, die seine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, zurück. „Die wollen zu den anderen!“, schrie Change. „Gut. Dann lassen sie die Schlafenden in Ruhe.“, antwortete Desire kalt, ohne den Blick von den Allpträumen zu wenden. „Und ich brauche dich hier!“ Change sah Desires Profil, ihr Blick war starr nach vorne gerichtet. Er unterband den Impuls, Trust und den anderen zu Hilfe zu eilen, und drehte sich zurück zu den Allpträumen. Eben hatte ihr Flug noch so langsam gewirkt. Doch offensichtlich hatte das nur daran gelegen, dass sie das Portal noch nicht passiert hatten, denn nun schossen sie wie Kanonenkugeln auf sie zu. Automatisch packte Change Desire und riss sie mit sich in die Knie, als die Allpträume sich bereits auf sie stürzten. Scharfe Krallen zerrten an ihren Haaren und rissen an ihrer Kleidung, dass Change aufschrie. Augenblicklich teleportierte er. Doch der Fluchtplan scheiterte. Da die Bestien an ihm und Desire hingen, war es unmöglich, ohne sie zu teleportieren. Und so drangen sie noch immer unbarmherzig auf ihn und Desire ein. Genug war genug! Er wollte gerade seine Kräfte einsetzen, als Desires Körperoberfläche ein Schutzschild entsprang und die Angreifer von ihnen weg schleuderte. Kaum konnten Desire und er wieder Luft schnappen, kamen sie zurück auf die Beine. Die fliegenden Bestien waren jenseits des Schilds um sie herum versammelt wie eine lebendige grellgrüne Kulisse. Als wären sie in einem riesigen Ameisenhaufen gelandet. Die Allpträume drangen auf den Schutzschild ein, doch ohne Erfolg. Change setzte seine Kräfte ein und löste eine Handvoll Allpträume auf. Zum Glück schienen die anderen das Verschwinden ihrer Artgenossen nicht als weiter tragisch zu bewerten, stattdessen rückten sie einfach nach. „Wenn du sie angreifst, schwärmen sie vielleicht aus.“, bemängelte Desire. „Sie werden auch nicht ewig darauf warten, dass wir hier rauskommen.“, gab Change zurück. „Ich weiß.“, presste Desire hervor. „Kannst du den Schild nicht umstülpen?“ „Was?“ „Sperr die Allpträume da drin ein!“ Desire starrte ihn an. Er wartete auf eine Antwort. Sie gab ihm keine. Stattdessen ergriff sie seine Hand. „Wenn ich ‚Jetzt‘ sage, teleportierst du uns an eine andere Stelle.“ Change wusste nicht, ob sie schlicht und einfach über seinen Vorschlag hinweggegangen war oder ob sie ihm nicht zugehört hatte. Desire ließ ihm auch nicht die Zeit darüber nachzudenken. „Jetzt!“ Jäh standen sie wenige Meter von dem Knäuel aus Allpträumen entfernt. Im gleichen Moment streckte Desire beide Arme nach vorn, als wolle sie etwas Großes beschwören. Dann sah Change wie sich in rasantem Tempo eine riesige orangefarbene Kuppel über der Horde Allpträume bildete - gerade noch rechtzeitig, um sie davon abzuhalten, erneut auf sie zu zu jagen. Ein dumpfes Geräusch erklang, als die Meute Allpträume gegen die Barriere knallte. Schnell sah sich Change um, für den Fall, dass ein paar der Kreaturen dem Gefängnis entgangen waren. Er hörte Desire eine Art Seufzer ausstoßen, der genauso gut ein Schmerzenslaut hätte sein können. Sie hatte den Kopf gesenkt. „Was ist?“, erkundigte er sich hastig. „Ich habe das nur ein einziges Mal geübt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es im Kampf nützlich wäre.“ „Echt?“, fragte Change unbedarft. Da er Desire für sehr intelligent hielt, überraschte ihn diese Aussage sichtlich. „Das war eine geniale Idee.“ Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Change nickte bloß kurz und schaute etwas unbeholfen in der Gegend herum. Schließlich war es jetzt nicht an der Zeit, in Freudentaumel zu verfallen. Anschließend wandte er sich wieder Desire zu. „Kannst du das wiederholen, wenn Tiny dabei ist?“ Desire nickte lachend. „Ha! Dann bleibt ihr das dämliche Gelaber im Hals stecken!“, jubilierte Change grinsend. So ein bisschen Freudentaumel war ja wohl doch erlaubt. Plötzlich erklang ein seltsames Geräusch aus dem Inneren des Schildes. Ein irres Kichern, hoch und schrill. „Sind die verrückt geworden?“, kommentierte Change. Etwas rumorte im Inneren, als würden sich die Gefangenen ausweiten. Mit einem Mal ging ein Schlag durch den Schild. Desire schrie auf. Erneut hämmerte es mit Gewalt gegen die Begrenzung. Desire spürte den Druck körperlich. Es war eine Kraft, gegen die sie sich kaum wehren konnte. Change spurtete nach vorne und setzte seine Kräfte frei. Desires Schutzschilde waren für die Beschützerkräfte bisher immer durchlässig gewesen und er hoffte, dass dies auch diesmal der Fall war. Er schoss ein Dauerfeuer auf die orangefarbene Kuppel ab und versuchte eine so große Fläche wie möglich abzudecken. Schließlich hielt er inne und schnappte nach Luft. Er drehte sich zu Desire in der Hoffnung, dass er ihr dadurch geholfen hatte. Die Beschützerin war in die Knie gegangen. Ihr Gesichtsausdruck sprach von ihrer Pein. Change verstand das nicht. Er wandte sich wieder dem Schutzschild zu und sah, dass etwas Gewaltiges gegen die Barriere ankämpfte. Desire schrie. Er rannte zu ihr. „Desire, lös den Schild auf!“ Sie kauerte auf dem Boden, ihre Muskulatur zitterte. Sie gab ihm keine Antwort. „Hörst du!“ Mit größter Mühe schüttelte sie den Kopf. Sie wollte durchhalten. Noch ein bisschen. Nur bis Destiny es geschafft hatte, die Ebene undurchlässig zu machen. Change fluchte und stand mit zusammengebissenen Zähnen neben ihr. Er ballte seine Hände zu Fäusten. „Dann mach wenigstens den Schild durchsichtig, damit ich was erkenne.“ Desire antwortete nicht, doch das Orange des Schildes löste sich tatsächlich auf. Im gleichen Moment weiteten sich Changes Augen vor Entsetzen. Kapitel 91: Die Nacht der Allpträume ------------------------------------ Die Nacht der Allpträume   „Vom Schlaf zum Tode ist ein kleiner Weg.“ (Ludovico Ariosto)   „Unite…? Unite! Unite!!!“ Trust erhielt keine Antwort mehr von ihr. Er musste sich beruhigen. Während dem Kampf konnte sie schließlich schlecht mit ihm kommunizieren. Und er durfte Destiny nicht in ihrer Konzentration stören, um zu erfahren, was vor sich ging, sonst verlängerte er den Aufenthalt in der Schlafzauberebene nur unnötig. Er musste warten. Plötzlich hörte er in seinem Kopf etwas gehässig lachen. Automatisch wandte er sich nach links zu der Wand neben sich. Das Hauptquartier hatte keine Fenster, wodurch er nicht wusste, was draußen vor sich ging, zumal es sich bei ihrem Hauptquartier eher um eine Vorstellung als um ein echtes Gebäude handelte. Er drehte sich wieder den beiden Mädchen zu, die in einem Knäuel aufeinanderlagen, da Ewigkeits Aktion sie jählings in Trance versetzt hatte. Dann geschah alles Schlag auf Schlag. Wie Kanonenkugeln drang etwas durch die Wand zu Trusts Linken, als wäre sie nur eine Flüssigkeit und kein festes Material. Die Dimensionen schienen sich zu krümmen und kurz aufzulösen, sodass Trust schwindlig wurde. Sein Gleichgewichtssinn wurde völlig ausgeschaltet. Ihm wurde schlecht, vor seinen Augen drehte sich alles. Er war kurz wie taub. Verzerrtes Gekichere um ihn herum. Er versuchte sich zusammenzureißen. Aber sein Sichtfeld drehte sich. Nur halb erkannte er grüne geflügelte Kreaturen, wusste aber nicht, ob es sich nur um Halluzinationen handelte. Dann sah er, wie sich seine grünen Wahnvorstellungen auf Destinys und Unites Körper setzten – ein grässliches Grinsen im Gesicht. Er schwankte, fiel von seinem Stuhl und löste im Fall noch seine Attacke aus. Die Allpträume wurden davon aufgeschreckt und ließen von ihren Opfern ab. Trust lag am Boden und war zunächst unfähig wieder auf die Beine zu kommen. Das einzige, was er tun konnte, war eine Welle an Energie auszusenden, von der er hoffte, dass sie den Bereich um Destiny und Unite schützen würde. Wieder erklangen die schrillen Stimmen. Trust kämpfte gegen den Schwindel an. Dann fiel ihm im letzten Moment sein Wappen ein. Er formte in Gedanken das Wort Vertrauenswappen und stellte sich vor, wie es über Destiny und Unite Wache halten sollte. Ob es gelang oder nicht, nahm er nicht wahr. Kurz war alles schwarz vor seinen Augen.   Wie ein Schutzgeist umrundete Ewigkeit Destiny, um sie rechtzeitig vor Gefahren zu warnen. Mit geschlossenen Augen versuchte Destiny, sich auf die Ebene einzustimmen. Zunächst fiel ihr das schwer, weil sie sich Sorgen um Unite machte, dann wurde ihr Gedankengang durch Trusts Worte immer wieder unterbrochen. Schließlich herrschte Stille, als Ewigkeits Stimme ihre Konzentration ein weiteres Mal zerriss. „Schicksal! Vereinen!“ Destiny riss die Augen auf. Unite lag in einigen Metern Entfernung am Boden, ein ganzer Schwarm Allpträume umschwirrte sie und hatte sich wie ein Rudel hungriger Aasgeier um sie versammelt, als würden sie sich an einem Kadaver laben wollen. Ewigkeit hatte sich bereits zum Ort des Geschehens teleportiert, ehe Destiny den Schock verarbeitet hatte. Sie stieß ein grelles Licht aus, das zumindest die Aufmerksamkeit von ein paar der Allpträume auf sich zog. Schnurstracks flog sie in eine andere Richtung, um die Kreaturen hinter sich her zu locken. Doch nur vier davon folgten ihr. Auch Destiny verlor keine Zeit. Sie rannte los. Als sie nahe genug heran war, machte eine entschiedene Geste mit ihren Armen und Händen, mit der sie die Allpträume paralysierte. Kurz spürte sie den drängenden Impuls, diese Biester für das büßen zu lassen, was sie Unite angetan hatten. Wut pulsierte in ihren Adern und ließ eine dunkle Macht wieder in ihr wach werden. Ihr Blick fiel auf Unite und sie besann sich eines Besseren. Mit ausgestreckten Armen befehligte sie ihren Schicksalsschlag und ließ die Allpträume jeweils in einen pinkroten Feuerball aufgehen. Sie rannte an den sich auflösenden Allpträumen vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken und ging neben Unite in die Knie. Eilig hievte sie ihre Freundin auf ihren Schoß. „Unite, Unite!“ Sie versuchte, sie wachzurütteln. Hilfesuchend rief sie nach Trust, aber er meldete sich nicht und Ewigkeit war ebenfalls verschwunden. Destiny konnte einen Moment lang keinen klaren Gedanken fassen. Die Situation war zu viel für sie. Dann biss sie die Zähne zusammen. Unite hatte ihr Leben riskiert, damit sie diese dämliche Ebene unter Kontrolle brachte und das würde sie verdammt noch mal auch tun!   Es war, als würde man direkt in den Schlund der Hölle schauen. Wo zuvor die Allpträume gewesen waren, tobte nun eine Brut von Ungeheuern. Change wandte sich automatisch ab. Zu scheußlich war der Anblick. Er fürchtete vor Panik den Verstand zu verlieren, wenn er die Ungetüme noch länger in Augenschein nahm. Jede Angst seiner Kindheit schien in diesen Bestien seine Personifikation gefunden zu haben. Sein Atem wurde hektisch. Desire konnte den Schutzschild auf keinen Fall länger aufrechterhalten und dann würden die Höllenkreaturen auf sie losgehen. Er warf sich zu Desire auf den Boden und packte sie an den Schultern. Vom Schmerz war sie kaum noch ansprechbar. „Wir müssen hier weg!“ In diesem Moment barst der Schutzschild.   Ewigkeit war nicht schnell genug und sie konnte sich nicht teleportieren, weil sie dadurch die Allpträume vielleicht von ihrem Verfolgungskurs abgebracht hätte. Sie musste schneller sein! Doch schon stürzte sich eine der Kreaturen von oben auf sie und zerfetzte mit seinen Krallen ihren rechten Flügel. Ewigkeit schrie und wurde von dem Allptraum zu Boden gerissen. Die Schwere der Kreatur lastete auf ihrem schmächtigen Körper und Todesangst jagte durch jede ihrer Zellen. Das Flattern der anderen Allpträume dröhnte in ihren Ohren und sie war unfähig, sich zu teleportieren, ihr ganzer Körper war wie gelähmt. Feucht-kalter Atem wurde ihr in den Nacken geschnaubt, als der Allptraum an ihr schnüffelte. Auch ihr Schluchzen half nichts. Ihr Kopf wurde von dem schrillen Schrei des Allptraums nahezu gespalten. Im gleichen Moment stieß sich der Allptraum von ihr ab. Ewigkeit rollte sich auf ihren schmerzenden Rücken und sah, wie die Bestie sich nach oben schwang, wo die anderen drei Allpträume einen unheilvollen Reigen zu tanzen begonnen hatten. „Dämon!“, krächzte der Allptraum, der sie eben noch zu Boden gedrückt hatte. Seine Artgenossen stimmten ein. „Dämon!“ Sie kreisten in hypnotisierender Weise über ihr und Ewigkeit konnte trotz der Gefahr nicht anders als ihrem Treiben gebannt zuzuschauen, wie sie immer wieder ihr ‚Dämon!‘ auf sie herab schrien. Anstatt sich auf sie zu stürzen, stoben die Kreaturen augenblicklich auseinander, als hätten sie sich einer Wesenheit gegenüber gesehen, deren Nähe sie fliehen mussten. Ewigkeit blieb für Sekunden geschockt liegen. Dann ertönten in ihrem Kopf gequälte Schmerzenslaute.   Trust wusste nicht, wie lange er weggetreten war. Sicher nicht mehr als ein, zwei Sekunden, denn er hatte noch das beruhigende Licht seines Wappens empfunden, ehe sein Kopf und sein Magen endlich aufhörten sich zu drehen. Er nahm sich nicht die Zeit, über seine Benommenheit zu sinnieren. Übereilt hievte er sich auf. Die Allpträume waren vielleicht immer noch da. Er sah fünf geflügelte Kreaturen, die wild um die Barriere des Wappens umherschwirrten, um endlich an ihre Beute zu kommen. Trust konnte nicht ahnen, dass es sich um die gleichen Allpträume handelte, die in der Schlafzauber-Ebene von Unite behelligt worden waren. Die Kreaturen hatten die Witterung des Störenfrieds aufgenommen, um sich entsprechend zu revanchieren. Doch das runde Objekt über den beiden bewusstlosen Mädchen machte einen Zugriff unmöglich. Einer der Allpträume hatte dies am eigenen Leib erfahren und hatte sich aufgelöst. Trust war wieder auf den Beinen und rief sein Vertrauensband. Die Allpträume gaben ein ohrenbetäubendes Gekreische von sich – eine Mischung aus Katzen- und Babyschrei und etwas Drittem, Koboldhaftem – und stoben auseinander. Sie waren blitzschnell, sodass Trust ihren Bewegungen kaum folgen konnte. Schlagartig fuhr ihm etwas mit brutaler Heftigkeit ins Genick. Der Schmerz fuhr durch seinen Kopf und den Schulterbereich. Er schrie und fand sich erneut auf dem Boden wieder. Der körperliche Schock verhinderte, dass er sofort seine Kräfte rief und als er endlich dazu in der Lage war, ließ das Ungetüm prompt von ihm ab. Dennoch schoss Trust um sich. Als er wieder aufsah, sah er neben sich Unite stehen. „Vorsicht!“, schrie er. Schnellstens packte er sie am Arm und zog sie zu sich auf den Boden, um sie vor den Allpträumen zu schützen. Mit seiner anderen Hand feuerte er nochmals seine Attacke ab. „Alles okay?“, rief er dann, ohne die Allpträume aus den Augen zu lassen. „Was ist mit Destiny?“ Ein Schluchzen kam von Unite. Trust war hin und her gerissen zwischen dem Impuls, sie in seine Arme zu nehmen, und der Notwendigkeit, seine Aufmerksamkeit bei den Allpträumen zu belassen. Er versuchte sich von allen Vieren in eine hockende Position zu begeben und dabei weiterhin seine Attacke auszuführen. Blindlings schloss er seinen linken Arm um Unite und zog sie an seine Brust, während er weiterhin damit beschäftigt war, die Allpträume in Schach zu halten. Er hörte sie seinen Namen schluchzen und drückte sie fester an sich. Er hatte keine Ahnung, was vorgefallen war und wieso Destiny nicht erwachte. Solche Gedanken durfte er auch nicht zulassen, nicht jetzt. Nicht in diesem Moment. Aber sobald er dem Gedanken auch nur den geringsten Platz eingeräumt hatte, breitete er sich in seinem Hirn aus. Er musste Desire und Change verständigen. Aber Ewigkeit, deren Aufgabe das gewesen wäre, war nicht hier. Vielleicht war sie bei Destiny geblieben. Dann würde er eben seine Telepathie einsetzen müssen. Trust versuchte sich zu konzentrieren, aber er konnte nicht gleichzeitig auf die Allpträume schießen und sich auf die Gedanken der anderen einstellen. Plötzlich empfing er etwas und wusste, dass es von Unite kam. Das kreischende Lachen eines Allptraums tönte in ihren Gedanken. Entsetzt wollte er sie von sich stoßen, aber es war zu spät. Sie schlug ihm mit der Faust in die Magengruppe, sodass er sich fast übergeben hätte. Im gleichen Moment war sie von ihm gewichen, packte sein Haar und drückte seinen Schädel zu Boden. Dann hielt sie mit ihrem Fuß seinen Kopf am Boden fixiert. Unites Stimme triefte vor Abscheu. „Du bist so erbärmlich.“ Sie trat ihm gegen den Schädel. Der Schmerz jagte ihm Tränen in die Augen. Er konnte das qualvolle Winseln, das sein Körper produzierte, nicht zurückhalten. Mit einem kräftigen Kick beförderte sie ihn auf den Rücken. Ein weiterer Tritt traf ihn an der Seite. Er versuchte ihrem Zugriff zu entkommen und rollte sich mit letzter Kraft weiter weg, lag nun auf den Bauch. Ihre Finger hakten sich im gleichen Moment in seine Haare und rissen seinen Kopf brutal nach oben. Sie kniete neben ihn. Ihre Stimme klang freundlich und liebenswert, wie er es von Unite gewöhnt war. „Oh Trust.“ Sie kicherte. „Kein Mädchen der Welt könnte dich jemals mögen.“ Die Worte kamen gedämpft bei Trust an. Die Wahrnehmung seiner Augen und Ohren litt noch unter den Nachwirkungen des Tritts und er drohte in eine Ohnmacht abzudriften. Seine Logik kam ihm langsam aber sicher abhanden, während die falsche Unite weiter auf ihn einredete. Sie flüsterte ihm subtile Beleidigungen ins Ohr, die an ihm hätten vorbeiziehen müssen, doch stattdessen brachten sie etwas in seinem Inneren zum Beben, das er gerne abgeschaltet hätte. Etwas, das er sonst unter Kontrolle hatte. Die kleine, ängstliche Stimme in ihm. Tränen lösten sich aus seinen Augen, ohne dass er es noch bemerkt hätte. Sie ließ seine Haare wieder los, woraufhin sein Kopf wieder auf dem Boden aufschlug, und rollte ihn dann grob auf den Rücken. Trust war halb ohnmächtig. Er nahm noch wahr, wie sich mehrere Gewichte auf seinen Körper niederließen. Unites Gesicht trat in sein Blickfeld und beugte sich über ihn. Dann spürte er, wie ihre weichen Lippen auf die seinen gepresst wurden. – Unites Lippen. In der gleichen Sekunde wollte er sterben, um dieser Grausamkeit zu entgehen. Je zärtlicher ihr Mund wurde, desto mehr schrie Trust innerlich auf. Sein Körper zuckte vor innerem Schluchzen. Schlagartig explodierte ein grelles Licht vor seinen Augen.   Die falsche Beschützerin ließ von Vertrauen ab und funkelte sie bösartig an. Ewigkeit, die von Vertrauens inneren Verzweiflungsschreien alarmiert worden war, hatte sich bereits an eine andere Stelle teleportiert, um auf einen Angriff der Feindin vorbereitet zu sein und die Lage besser zu überblicken. Auf Vertrauens Brust und seinen Beinen hockten vier Allpträume mit gespreizten Flügeln und sahen aus, als würden sie Fetzen aus einem Kadaver reißen. Doch es war nicht Fleisch, sondern das Leid ihres Opfers, an dem sie sich weideten. Vertrauens Widerstand war gebrochen. Nur ein leidvolles Zittern ging durch seine Glieder. Pfeilgeschwind flog Ewigkeit an der falschen Beschützerin vorbei, durch die Reihen der Allpträume und strahlte dabei blendendes Licht aus, um die Kreaturen aufzuschrecken. Die Ungeheuer schnellten auseinander wie aufgescheuchte Krähen. Wieder schoss Ewigkeit an ihnen vorbei und trieb sie auseinander. Zum Glück änderte ihr zerfetzter Flügel nichts an ihrer Flugfähigkeit. Doch die falsche Beschützerin scherte sich einen Dreck um ihr Ablenkungsmanöver. Sie beugte sich erneut zu Vertrauen. Sofort teleportierte sich Ewigkeit und tauchte erneut direkt über dem Gesicht von Vertrauen auf, um die Angreiferin von Übergriffen abzuhalten. Gelangweilt packte die Betrügerin sie mit der Hand und drückte fest zu. Ewigkeit kreischte auf, war aber im nächsten Moment schon dem Griff entwichen und blendete ihre Gegnerin. Hektisch schlug diese um sich, als wäre Ewigkeit ein Fliegenschwarm. Ewigkeit teleportierte sich und wartete bis das Armgewedel aufgehört hatte, um die Blendattacke zu wiederholen. Daraufhin war die Fälschung endgültig entnervt. Sie schrie mit Vereinens Stimme und stand auf. Wie eine Irre versuchte sie Ewigkeit zu erhaschen, aber es gelang ihr nicht. Etwas fuhr durch den Körper der falschen Beschützerin und ihr Körper löste sich in schwarzes Licht auf, um sogleich den Allptraum in seiner normalen Gestalt zu enthüllen. Dieser stürzte sich auf Ewigkeit. Seine Krallen stießen in ihren Leib, ehe sie sich teleportieren konnte. Dann erst entschwand sie seinem Griff. Der wildgewordene Allptraum riss seinen Kopf herum, sah sie hinter sich über den bewusstlosen Mädchen schweben und jagte auf sie zu. – Direkt in das Schutzfeld von Vertrauens Wappen. Von der reinigenden Kraft des Wappens erfasst, blieb von dem Allptraum nicht als ein funkelnder Schmetterling, der glitzernde Flügelschläge vollführend in einem goldenen Funkenregen verschwand. Die anderen Allpträume hatten sich derweil wieder auf Vertrauen niedergelassen. Ewigkeit wollte zu ihm. Aber ihre Kräfte verließen sie. Sie stürzte auf die weiche Oberfläche der Liege, auf der Vereinen und Schicksal lagen. Ihr Bauch tat weh. Als sie ihre Hand betrachtete, die sie instinktiv auf die schmerzende Stelle gelegt hatte, erkannte sie Blut und spürte ihr Bewusstsein schwinden. Sie riss sich zusammen. Flach und hektisch atmend starrte sie zu Vertrauen. Sie musste ihm helfen! Plötzlich wurde sie einer Energie gewahr, die von seinem Körper ausging. Die auf ihm ruhenden Allpträume schienen von ihrem halbohnmächtigen Opfer keine Gegenwehr mehr zu erwarten und bemerkten die Veränderung zu spät. Im nächsten Augenblick wurden sie von den Kräften des Beschützers erfasst und lösten sich auf. Vertrauen versuchte sich aufzubäumen, aber jede Regung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Er drehte sich auf den Bauch, um sich auf alle Viere zu stemmen, und brach in sich zusammen.   Destiny spürte die Ebene wie etwas Fassbares. Endlich hatte sie es gefunden! Sie streckte ihre Gedanken danach aus und ließ dann mit ihrem ganzen Körper ihre Paralyse-Kräfte wirken. Vor ihrem geistigen Auge erstarrte die Ebene zu einem undurchlässigen, verhärteten Gebilde. Sie wollte Unite die freudige Botschaft mitteilen, aber diese regte sich immer noch nicht. Destiny schlang ihre Arme noch fester um sie und zog sie zurück in die Wirklichkeit. Destiny fand zurück in ihren Körper. Unite war zuvor bei der plötzlichen Trance auf sie gestürzt, wodurch sie sich erst von ihrem Oberkörper befreien musste. Sofort ging Destiny dazu über, Unites Namen zu rufen und sie wachzurütteln. Sie reagierte nicht. „Schicksal.“ Destiny schreckte auf und sah Ewigkeit neben Unite kauern. Ihr Leuchten war halb erloschen und etwas Rotes schimmerte an ihrer Seite. Im gleichen Atemzug entdeckte Destiny auch den leblosen Körper am Boden neben ihnen. „Trust!“, kreischte sie. Sie musste sich beruhigen. Doch sobald sie das dachte, wurde sie panisch. Dann hörte sie etwas von der Raummitte. Sie streckte ihren Arm aus, um auf den drohenden Angriff vorbereitet zu sein. Etwas tauchte auf.   Grauen-Eminenz hatte alles vorbereitet, um das Treiben der Allpträume persönlich in Augenschein zu nehmen. Seine Tasche mit dem Allptraum-Einfang-Dingens stand bereit. Er ließ seinen Blick noch einmal über die Bildschirme schweifen, als plötzlich einer davon rot zu blinken begann. Jählings verspürte Grauen-Eminenz einen dolchartigen Stich, als hätte er plötzliche Magenkrämpfe. Er versuchte sich einzureden, dass es sich dabei um einen seltsamen Zufall und nicht um ein schlechtes Omen handelte. Doch als er den blinkenden Bildschirm näher betrachtete, fiel ihm das immer schwerer. Das Programm, das den Zustand des Schlafzaubers überwachen sollte, meldete eine unvorhergesehene Veränderung. Das Zahlenchaos der Anzeige deutete auf einen Fehler des Systems hin. Die Laufzeit des Schlafzaubers, die er auf anderthalb Stunden angesetzt hatte – die Mindestdauer, die eine solche Untersuchung laut Pandämoniums Vorschriften umfassen musste – zeigte auf einmal statt den zuvor eingegebenen Minutenanzahl 999999 an. Grauen-Eminenz biss die Zähne zusammen. Etwas musste geschehen sein, etwas, das mit den Allpträumen zusammenhing. Der Schlafzauber war außer Kontrolle geraten! Seine Magenbeschwerden wurden von dieser Erkenntnis nicht gerade besser. Verdammt, er hatte jetzt beim besten Willen keine Zeit für seltsamen Stresssymptome! Er konzentrierte sich auf seine Atmung und sendete beruhigende Strömungen durch seine Fingerspitzen an die entsprechende Stelle. Das war einer der Vorteile, wenn man Selbstheilungskräfte beherrschte. Nie mehr Schmerzmittel! Innerhalb von Sekunden fühlte sich sein Körper wieder normal an, auch wenn sein Geist weiterhin am Rotieren war. Jetzt galt es, sich um die richtigen Probleme zu kümmern. Er griff nach seiner Tasche und machte sich auf den Weg.   „Nicht!“, schrie Change gerade noch rechtzeitig, als er Destiny auf dem Bett vor sich sitzen sah, den Arm zu einer Paralyse-Attacke erhoben Desire, die er stützen musste, gab einen Schreckenslaut von sich. Dann erkannte auch er das Schlachtfeld vor sich. „Desire!“, schrie Destiny und deutete auf Unite. Desire humpelte zu ihr. „Die Allpträume haben sie attackiert.“, klagte Destiny mit verzerrter Miene. Desire wusste auch so, was von ihr erwartet wurde. Sie setzte ihre Läuterungskräfte ein. Derweil war Change an die Seite seines am Boden liegenden Freundes. gestürzt Er versuchte Trust aufzurichten. Aber das war gar keine gute Idee. Vor Trust drehte sich alles. Er wusste nicht, wie er es überhaupt auf alle Viere schaffte, aber als es soweit war, übergab er sich, und sobald der erste Brechreiz abgeklungen war und er sich auf das Gefühl auf seinen Lippen besann, übergab er sich ein zweites Mal. Der Würgreflex war direkt an seine Emotionen gekoppelt, denn sobald er an das dachte, was geschehen war, wollte er sich nur noch seines Mageninhalts entledigen. Nach dem ersten Würgen wurde ihm die Unterstützung durch Change kurzzeitig entzogen, wodurch er fast umgefallen wäre. Der Halt von Change kam jedoch rechtzeitig zurück. Change verzog das Gesicht. Der Gestank des Erbrochenen gemischt mit den Würggeräuschen ließ ihm schlecht werden, dennoch riss er sich zusammen, um Trust nicht in sein verdautes Abendessen stürzen zu lassen. Endlich fand der Anfall sein Ende. Trust setzte sich zurück auf seine Unterschenkel. Das Bett war jedoch nicht nahe genug als dass er seinen Kopf hätte dagegen lehnen können. Und aufrecht halten konnte er sich genauso wenig. Daher musste sich Change schließlich als Stütze anbieten. Er ging neben Trust auf die Knie, schwer darauf bedacht, nicht in das Erbrochene zu sitzen, und ließ Trust seinen Kopf auf seine Schulter legen, die Stirn gegen seinen Hals gelehnt. Er drehte seinen Kopf etwas zur Seite und versuchte seinen Atem so flach wie möglich zu halten, um den Gallegeruch aus Trusts Mund ertragen zu können. Mit der Linken strich er über Trusts Kopf, wie er es früher bei Vicki gemacht hatte, um seinen kleinen Bruder zu beruhigen. Zum Glück konnte Erik das nicht – Change riss seinen Kopf zu den Mädchen herum. „Hey!“ Destiny sah zu ihm herüber. Sie hielt Ewigkeit in Händen. Desire war mit der Ausübung ihrer Kräfte beschäftigt. Doch Unite zeigte keine Reaktion. „Was ist mit Unite?“, fragte er. Bei dem Klang des Namens regte sich Trust und wollte sich offenbar aufrichten. Change hielt ihn davon ab. „Du kannst eh nichts machen!“, schimpfte er ihn. Desire ergriff das Wort. „Sie atmet regelmäßig. Sie müsste gleich aufwachen.“, Sie klang nicht überzeugt. Change hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. „Kümmert euch um Trust. Ich muss Erik holen.“ Destiny nahm das als Aufruf. Sie bettete Ewigkeit an eine sichere Stelle und trat an die andere Seite von Trust. Dort ging sie in die Knie und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper, um ihn halten zu können. Im gleichen Moment war Change auch schon verschwunden. „Es geht schon.“, versicherte Trust und klang dabei, als wäre er kurz vorm Sterben. „Lass mich zu Unite.“ Destiny drehte sich zu Desire und wollte sie fragen, ob sie ihr helfen könnte, Trust aufs Bett zu hieven. Aber Desire war noch damit beschäftigt, Unite aus ihrer Trance zu befreien. Schließlich versuchte Destiny Trusts Körper wie einen Sack Mehl näher zu dem Bett hin zu schleppen. Nur mit größter Mühe gelang es ihr. Jedoch nicht, ohne dass seine Beine über das eigene Erbrochene schleiften. Trust selbst schien das nicht zu interessieren. Heftig atmend griff er nach dem Bett, um sich dagegen zu lehnen. Destiny hielt seinen Rücken. „Geht’s?“ Trust nickte schwach. „Kümmert euch um Unite.“ Destiny stand wieder auf und drehte sich zurück zu der Ohnmächtigen.   Change tauchte in Eriks Zimmer auf und sah sich hastig um. Er fand Erik auf seinem Bett liegend, als sei er im Sitzen zur Seite gekippt. Sein Smartphone lag unter seiner Hand. Sofort ging Change zu ihm und versuchte ihn wachzurütteln. „Hey!“, schrie er ihn an. Ein zweites Mal. Lauter. Wie fest konnte der denn schlafen?! „Hallo!!!“, brüllte Change und schüttelte Erik wild. Das war nicht normal. Nochmals sah Change sich um. Er hatte vergessen zu fragen, ob es Tiny gelungen war, die Ebene undurchlässig zu machen. Vielleicht war ja ein Allptraum in Erik gefahren. Aber das hätte nicht erklärt, warum er nicht aufwachte! Oder das war gar nicht Erik, sondern nur eine Wahnvorstellung der Allpträume. Andererseits fand er das nun wirklich nicht furchteinflößend. Ein schlafender Erik! Wow. Change stöhnte und schaute auf Erik herab. Sollte er ihn mitnehmen? Desire würde ihm sicher den Kopf abreißen, wenn er ihn hier ließ. Aber noch einen Besinnungslosen mehr in ihrer Runde zu haben, erschien Change wenig zielführend. Dann fiel ihm ein, dass die Allpträume seine Präsenz eventuell spüren konnten und er sie dadurch vielleicht erst hierher lockte. Das war nicht gut. Er ballte die Hände zu Fäusten.   Die Schwärze verschlang ihre letzten Hoffnungen. Ihre verzweifelten Rufe nach Trust und den anderen waren vergeblich gewesen. Die Verbindung zu ihrem Körper – zum Leben – war abgerissen und ihre Seele war für immer hier gefangen. Allein. Noch immer schluchzte sie, obwohl es nichts brachte. Plötzlich änderte sich etwas. Aber was brachte das? Die anderen hielten sie für tot. Wahrscheinlich war sie das auch. Ihr eigenes gequältes Jaulen umhüllte sie. Plötzlich spürte sie, wie sie erstickte. War das eine Wahnvostellung oder die Erinnerung an ihr Ableben? Sie wurde gerüttelt. Aber sie bekam keine Luft! Sie atmete nicht. Sie atmete nicht! Sie wurde auf die Unterlage gedrückt. „Sie hyperventiliert!“ Die Stimme ging an ihr vorbei. Sie bekam keine – Plötzlich legte sich etwas über ihre Mundöffnung und atmete heiße Luft in sie. Die Berührung war so fremdartig, so real, dass es sie aus der Hypnose riss. Unite spürte wie der Mund von ihr abließ. Sie riss die Augen auf und erkannte Destiny über ihr. Diese fing ihren Blick auf und fiel ihr schluchzend um den Hals. Was Unites Augen ihr übermittelten, war ihr völlig fremd. Als würde sie sich an einem Ort wiederfinden, an dem sie noch nie gewesen war. Destiny ließ wieder von ihr ab. „Alles okay?“ Unite antwortete nicht. Sie starrte an die Decke. Trust hatte indes versucht, sich aufzurichten und war kläglich gescheitert. „Es geht ihr gut.“, versicherte ihm Desire, um ihn von noch so einer Aktion abzuhalten. Wie falsch sie damit lag. Unite ging es nicht gut. Gar nicht gut. „Was ist passiert?“, fragte Destiny aufgelöst. Unite blinzelte entseelt. Mit dieser Reaktion offensichtlich unzufrieden, griff Destiny um ihren Oberkörper und hievte sie in eine Sitzposition. Sie lehnte sie gegen etwas hinter ihr, wohl die Wand. Nun konnte Unite erkennen, wer um sie herum saß. Desire hatte Ewigkeit in Händen. Neben dem Bett kauerte Trust in Erbrochenem. Der Gestank stieg Unite in die Nase. Ihre Augen wanderten ziellos hin und her, wollten nichts sehen. Doch sie fürchtete sich vor der Schwärzte hinter ihren Augenlidern. „Werd jetzt nicht wieder ohnmächtig!“, schrie Destiny. Derweil sagte Desire: „Ich glaube, Ewigkeit erholt sich.“ Gerade wollte Destiny sie anschreien, dass Ewigkeit verblutete, als sie erkannte, dass der Blutfleck an ihrer Seite verschwunden war. Auch ihr rechter Flügel war mit einem Mal wieder heil. Das war unmöglich. „Hast du sie geheilt?“, fragte Destiny Desire. „Ich habe nichts gemacht.“ „Sie hatte eine riesige Wunde! Jetzt ist sie unverletzt!“, widersprach Destiny. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Trust. „Mach das gleiche bei ihm!“ Desire war genervt von Destinys Befehlston. Als wäre Destiny die einzige, die mit den Nerven am Ende war! Mit bösem Gesichtsausdruck bettete sie Ewigkeit auf die Matratze und besah sich die Platzwunde an Trusts Stirn. Er musste eine Gehirnerschütterung davongetragen haben. Desires Mund wurde trocken, als sie über die Möglichkeit nachdachte, dass er eine Hirnblutung haben könnte. Trust gehörte in ärztliche Behandlung! Vielleicht konnte Change ihn in ein Krankenhaus außerhalb Entschaithals bringen, wo kein Schlafzauber wirkte. Vielleicht sollten sie sich alle in Sicherheit begeben! Was auch immer der Schatthenmeister vorhatte, bisher hatte es keine Anzeichen dafür gegeben, dass er wahllos Menschen abschlachtete. Eventuell hatte er ganz andere Pläne, während sie ihr Leben wegen all dem aufs Spiel setzten. Was dachte sie da eigentlich?! Sie hatte gesehen, in was sich die Allpträume verwandelt hatten, und Changes Kräfte hatten nicht den geringsten Effekt gehabt. Diese Scheusale besaßen einen Körper, mit dem sie Schaden anrichten konnten! Sie wünschte sich zwar, dass das alles so schnell wie möglich aufhörte, aber eine Flucht würde die Allpträume nicht aufhalten. Anstatt sich weiter darüber Gedanken zu machen, wandte sie sich Trust zu. Obwohl sie wenig zuversichtlich war, dass sie Heilungskräfte besaß, berührte sie ihn an der Stirn, um mit ihren Kräften vielleicht ein wenig seinen Schwindel lindern zu können. Sie ließ die kühle, besänftigende Energie auf ihn übergehen, schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Schmerzen aus seinem Körper wichen. Während sie die Energie fließen ließ, hatte sie das Gefühl, selbst an der reinigenden Wirkung teilzuhaben. Sie genoss die Ruhe, die sich in ihrem Körper ausbreitete. Es tat gut. Schmerz und Verzweiflung wichen aus ihren Gedanken und machten Platz für eine tief empfundene Sicherheit. Sie holte tief Luft und atmete wieder aus. Zuversichtlich öffnete sie die Augen. Fassungslos blinzelte sie, um sicherzugehen, dass sie nicht fantasierte. Die Platzwunde war zwar noch da, aber das Blut war geronnen und als Trust die Augen aufschlug, sah er sie mit einem wachen Blick an. Zuvor war er kreidebleich gewesen und hatte den Eindruck gemacht, als würde er sich halb im Delirium befinden. Trust sagte nichts, aber aus seinem Gesicht sprach Überraschung. Er stand auf, blieb kurz stehen, wie um zu testen, ob die Schwäche nicht gleich wiederkam, und stürmte dann an Unites Seite. Dabei hätte er in seinem Übereifer fast Ewigkeit zerquetscht, hätte Desire sie nicht geistesgegenwärtig noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Destiny überließ Unite Trusts Obhut, blieb auf der anderen Seite von ihr sitzen und hielt ihre Hand. Ein angewiderter Aufschrei ertönte. „Wäääh!“. Change war zurückgekommen und im Erbrochenen gelandet. Er fluchte lauthals und versuchte in einer ziemlich lächerlich wirkenden Bewegung der Beine die stinkende Brühe, die an seinen Schuhen klebte, am Boden abzuputzen. „Wo ist Erik?“, stieß Desire aus. „Der schläft.“, antwortete Change kurz. Desires Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wieso hast du ihn dann nicht aufgeweckt?“ „Weil er nicht aufgewacht ist.“ Noch immer starrte Desire ihn ungläubig an. „Soll ich dich mitnehmen, damit du es selbst siehst?!“ „Das versteh ich nicht.“, flüsterte Desire verwirrt. „Wir haben größere Probleme.“, schimpfte Destiny. Die Blicke der anderen richteten sich auf Unite. Diese war noch immer geistesabwesend und starrte vor sich hin. Nichts schien sie wirklich zu erreichen. Trust hatte sie mittlerweile gegen seine Brust gebettet und seine Arme um sie gelegt. Doch von Unite kam keine Reaktion. Trust legte ihr seine Rechte auf die Stirn und konzentrierte sich auf ihre Gedanken. Stille. „Was ist?“, erkundigte sich Desire, die die Besorgnis auf seiner Stirn nicht übersehen hatte. Trust gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie einen Moment ruhig sein sollte. „Was ist passiert?“, fragte er Unite sachte und legte ihr erneut die Hand auf die Stirn. Weiterhin empfing er nur Rauschen, doch das Rauschen kam in hektischen Wellen, als hätte er mit seiner Frage einen Sturm in Gang gesetzt. Gleichzeitig gingen Zuckungen durch ihren Körper. Davon aufgeschreckt, wollten die anderen ihr zu Hilfe eilen. „Lasst sie.“, rief Trust. „Wartet.“ Als hätte sie einen Anfall zitterte Unite. „Seid ihr sicher, dass sie nicht besessen ist?“, fragte Change. Trust ignorierte ihn. Er nahm die Hand von Unites Stirn und ergriff ihre Rechte. „Ich kann es löschen.“, sagte er beruhigend zu ihr. „Zeig mir nur, wo es ist.“ Unite gab winselnde Atemgeräusche von sich, die sich steigerten. Dann drehte sie ihren Kopf ihm zu und schien ihn erstmals wieder richtig zu sehen. Im gleichen Moment schluchzte sie auf, drehte ihren Oberkörper ihm zu und klammerte sich an ihn. Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Schulter und weinte unkontrolliert. Ihr Schluchzen klang hysterisch. Es wuchs zu einem Schreien heran, das in den Ohren schmerzte. Aber Trust drückte sie nur fester an sich. Sogleich waren auch die anderen herangekommen und legten Unite ihre Hände auf. Als Unite sich aber nach einer Weile immer noch nicht beruhigt hatte, sahen sich Change und Desire genötigt, das Schweigen schließlich zu brechen. „Ist die Ebene –“, begann Desire. Destiny, die Unite liebevoll über den Rücken strich, nickte bloß und war weiterhin auf ihre aufgelöste Freundin fixiert. Unite so aufgelöst zu sehen, schmerzte sie offenkundig. „Die Allpträume haben sich verwandelt.“, berichtete Change und musste dazu die Stimme erheben, damit man ihn über Unites Gekreische verstehen konnte. Zumindest nahm die Lautstärke ihres Jammerns langsam ab. Trust sah ihn ernst an, während er Unite weiterhin festhielt. Er senkte den Blick und antwortete nicht. Unterdessen kam Ewigkeit, die immer noch in Desires Hand ruhte, wieder zu sich. Sie setzte sich auf und schüttelte sich wie ein Hundewelpe. Benommen sah sie sich um. Kaum hatte sie Unite entdeckt, stand sie auf und schwebte zu ihr. „Was ist?“ Ihre unbedarfte Taktlosigkeit machte die anderen einmal mehr sprachlos. Unverhofft schien dies Unite jedoch abzulenken. Sie schniefte und sah in Ewigkeits Richtung. Galant wie er war, streckte Change ihr daraufhin den Bettbezug hin, der wie eine Art Decke am Fußende lag. Desire warf ihm nur einen verständnislosen Blick zu. „Zum Naseputzen.“, rechtfertigte sich Change, als wäre es völlig normal, in Bettbezüge zu schnäuzen. Desires Gesichtsausdruck wurde daraufhin noch fassungsloser. „Trust hat auf den Boden gekotzt, warum soll Unite nicht ins Betttuch rotzen?“, gab er auf ihren wortlosen Kommentar zurück. Unite stieß daraufhin einen erstickten Laut aus, der nur mit viel Fantasie nach einem Lachen klang. Es war schwer zu sagen, ob sie schluchzte oder lachte. Schließlich nahm sie Changes Angebot an und schnäuzte mehrfach in das Bettzeug. Daraufhin gab Change mit vor Stolz angeschwollener Brust ein siegreiches „Ha!“ von sich. Unite schniefte und sah in die Runde. „Wir müssen die Allpträume aufhalten.“, verkündete Ewigkeit. Mit diesem Satz machte sie die ganze Stimmung mit einem Schlag kaputt. Trust spürte, wie sich Unite bei den Worten automatisch verkrampfte. „Du musst nicht mitgehen.“, versuchte er sie zu beruhigen und erreichte damit das Gegenteil. Entsetzt starrte Unite ihn an, schüttelte mehrfach den Kopf und drückte sich in die Umarmung von ihm und Destiny. „Was hast du denn gesehen?“, fragte Change, als habe er sich an Ewigkeits unüberlegter Fragerei ein Beispiel genommen. „Lasst mich nicht alleine…“, wimmerte Unite. „Hey, wir lassen dich nie alleine.“, sagte Change überzeugt. „Außer wenn wir aufs Klo müssen oder so.“ Desire fasste sich an die Stirn und fragte sich, wo das Niveau von Changes Kommentaren abgeblieben war. Unites Stimme war nur noch ein unsicheres Flüstern. „Aber wenn ich tot bin...“ Die anderen schwiegen für einen Moment, während Ewigkeit auf Unites Kopf landete. „Ist Totsein schlimm?“ Unite hatte den Blick gesenkt. Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen. „Alles –“ Sie stockte. „ist leer.“ Ihre Augen drifteten erneut in eine unbekannte Weite. Trust wollte ihr etwas Tröstendes sagen, doch ihre Worte klangen so trostlos, dass er fühlte wie sein eigenes Inneres in eine unbekannte Leere stürzte. Change erhob die Stimme. „Das wäre genau das Richtige für meine Mutter. Die beschwert sich immer, dass bei uns alles so voll ist!“ „Bist du so blöd oder tust du nur so?“, kreischte Destiny. „Sie hat doch gesagt, dass es da so leer ist!“, verteidigte sich Change verständnislos. „Aber das meinte sie doch nicht so, du Depp!“ „Wie denn dann?!“ „Dass alles sinnlos und leer ist und man ganz allein ist!“ „Als du verreckt bist, warst du auch nicht allein!“, widersprach Change. „Ich bin nicht verreckt!“, protestierte Destiny. „Klar bist du.“, entgegnete Change überzeugt. „Damals im Schatthenreich.“ „Bin ich nicht! Sonst wär ich jetzt tot!“, krakeelte Destiny. Change blödelte: „Und ich dachte die ganze Zeit, du bist’n Zombie.“ „Ich bring dich um!“, kreischte Destiny. „Sag ich doch – Zombie!“ Unite brach derweil erneut in Tränen aus und verdeckte mit ihren Händen ihre Augen. Dies zog Destinys Aufmerksamkeit wieder auf sich. Schließlich mischte sich ein seltsames Lachen in Unites Schluchzen. „Hey.“, sagte Change sachte an Unite gewandt. „Du weißt doch: Wir sind die allerbesten besten Freunde und das heißt, dass uns gar nichts mehr passieren kann.“, zitierte er was sie damals im Schatthenreich verkündet hatte. Unite schluchzte lautstark auf und nickte heftig. An ihren Seiten spürte sie die wärmende Körpernähe zu Trust und Destiny. Jeweils eine Hand streckte sie nach Change und Desire aus, die diese sofort ergriffen. Ja, die anderen würden sie nicht alleine lassen. Niemals. Sie tat ein paar langsame Atemzüge und besann sich auf das, was sie fast vergessen hatte: Die Allpträume waren nicht mächtiger als sie. Nicht mächtiger als ihr Vertrauen. Sie würde ihnen beweisen, dass man sie nicht so einfach brechen konnte! Kapitel 92: Trugbilder ---------------------- Trugbilder   „Keine Emotion beraubt den Geist so vollständig von seinen Möglichkeiten zu handeln und zu denken wie die Angst.“ (Edmund Bruke)   In der Hoffnung, dass die kühle Luft ihnen etwas Erleichterung verschaffen würde, traten die Beschützer aus ihrem Hauptquartier hinaus ins Freie,. „Wie bitteschön sollen wir gegen sie kämpfen, wenn unsere Kräfte nichts gegen sie nützen?“, drängte Destiny aufgebracht zu wissen. Trusts Miene war ernst. „Wir müssen sie irgendwie dazu bringen, ihre normale Form anzunehmen. Nur dann können wir sie auflösen.“ Er wandte sich an Ewigkeit. „Wie hast du es geschafft, dass sich der Allptraum zurückverwandelt hat?“ „Ich hab ihn gestört.“ Change ergriff das Wort. „Von uns fühlen die sich sicher nicht gestört!“ Sofort unterbreitete er einen Gegenvorschlag. „Ich könnte mich in ein Waffengeschäft beamen und wir knallen die Dinger ab!“ Desire sah ihn fassungslos an. „Ich glaube kaum, dass das hilft.“, entgegnete Trust. Change blinzelte einen Moment arglos. „Sprengstoff?“ „Wir können nicht die Stadt in die Luft jagen.“, versuchte Trust ihn von solchen Ideen abzubringen. Change blieb beharrlich. „Du hast die Dinger nicht gesehen! Da müssen wir schwere Geschütze auffahren!“ Destiny wandte sich an ihn. „Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Keiner von uns kann mit einer Waffe umgehen! Geschweige denn mit Sprengstoff.“ „Besser als unbewaffnet da rein zu gehen!“, rief Change. Desire beendete das Thema. „Egal, was wir tun, sobald wir Angst haben, dass Waffen ihnen nichts anhaben können, wird genau das eintreten. Die Allpträume werden das in die Tat umsetzen, wovor wir uns am meisten fürchten.“ Ihre Behauptung ließ die Angelegenheit noch aussichtsloser wirken. Unite schien sich davon jedoch nicht unterkriegen lassen zu wollen. „Das heißt…“, begann sie: „Wenn wir keine Angst vor dem haben, was sie uns zeigen, haben sie keinen Grund, die jeweilige Form beizubehalten!“ Change versetzte mit Nachdruck: „Wenn du die Dinger gesehen hättest, wüsstest du, dass es unmöglich ist, vor denen keine Angst zu haben! Und die sind echt! Das ist nicht nur ne Halluzination!“ Unites Stimme verlor ihre Kraft. „Hypnotisiert werden, ist nicht besser…“ Sie senkte betreten den Blick. Es war ihr anzusehen, wie sehr die Illusion der Allpträume ihr nachging. Auf ihre Reaktion hin, gab selbst Change Ruhe. Glücklicherweise fasste sich Trust ein Herz und nahm sie bei der Hand, was Unite sofort beruhigte. Desire drängte zur Eile. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir sind die einzigen, die noch wach sind und denen die Allpträume Angst einjagen können.“ Trust nickte. „Wenn sie das begreifen, werden sie hierher kommen. Vielleicht sind sie schon auf dem Weg.“ Destiny bemühte sich, ihre wahren Gefühle herunterzuspielen. „Warum müssen sich die Helden eigentlich immer für die Allgemeinheit opfern?!“, beschwerte sie sich. Empört sah Desire sie an. „Du meinst, wir sollen einfach unsere Familien hinausteleportieren und die Allpträume hier ein Blutbad anrichten lassen?!“ Da Destinys Kommentar eigentlich nur Selbstzweck gewesen war, hatte sie über eine solche Möglichkeit überhaupt nicht nachgedacht, hielt sie aber für äußerst sinnvoll! Sie behielt jedoch für sich, was sie wirklich dachte: Wenn es ihrer Familie gut ging, dann waren ihr die anderen Leute egal! Solche Dinge konnte man Desire nicht sagen. Dafür hatte dieser Gutmensch kein Verständnis. Hätte Destiny hinterfragt, wie Desire überhaupt auf die Fluchtidee gekommen war, wäre sie der Wahrheit einen erheblichen Schritt näher gekommen – Desires heftige Ablehnung galt nicht Destiny sondern ihrer eigenen Menschlichkeit. Indes hakte Change nach. „Wo würdest du unsere Leute denn unterbringen wollen? Ich kann sie ja schlecht auf irgendein Feld legen.“ „Könnt ihr aufhören, euch über so etwas Gedanken zu machen!“, schimpfte Desire. „Wir können niemanden hier dieser Gefahr aussetzen!“ Destiny warf ihr einen finsteren Blick zu. Desires selbstloser Heldenmut machte sie ihr wenig sympathisch. Bestimmt verkündete Desire: „Wenn ihr nicht mitkommen wollt, dann kann euch niemand zwingen. Aber ich werde nicht zulassen, dass die Allpträume hier ihr Unwesen treiben!“ Prompt warf Change ein: „Hey, ohne Tiny geht gar nichts!“ Auf diese Worte hin sah Destiny ihn sprachlos an und fühlte sich plötzlich zugehörig. Was auch geschah, Change war ihr Partner und er würde sie nie im Stich lassen. „Sie ist die einzige, die die Dinger paralysieren kann!“, redete Change weiter und machte damit seinen unwissentlichen Erfolg bei Destiny augenblicklich wieder zunichte. Als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, wirkte er reichlich befremdet. „Was ist?“ „Nichts.“, gab Destiny mit miesepetriger Miene von sich. Mit fester Stimme verkündete Trust: „Wir bleiben zusammen! Wir sind ein Team.“ Seine Worte verliehen ihm etwas Heroisches, das durch Ewigkeits Leuchten noch unterstrichen wurde. Wie um ihre Unterstützung anzuzeigen, war sie neben seinen Kopf geschwebt und beschien sein Antlitz. Ein heiterer Glöckchenklang ging von ihr aus. Doch schon im nächsten Moment änderte sich Trusts Miene. Unite hatte die Gelegenheit ergriffen, sich an seinen Arm zu schmiegen, was Trust wie üblich die Röte ins Gesicht trieb. Es war nicht weiter verwunderlich, dass sie Trusts Nähe noch dringlicher als sonst suchte, Erleichtert stellte Destiny fest, dass er nicht versuchte, sich Unites Griff zu entziehen, wie er es schon viel zu oft getan hatte. Ein liebevolles und doch traurig wirkendes Lächeln umspielte seine Lippen. Destiny verschränkte die Arme vor der Brust. „Willst du jetzt etwa, dass wir alle die Hände aufeinanderlegen oder so was?“ Trust wirkte von der Frage verwirrt. Unite dagegen strahlte augenblicklich über das ganze Gesicht. Es war offensichtlich, dass sie die Absicht hinter Destinys Aussage direkt durchschaut hatte. Sofort streckte sie eine Hand vor sich. Die anderen gesellten ihre Hände hinzu. Einen Moment standen sie so da, verdeutlichten damit ihre Einheit und wappneten sich für das Kommende.   Da die Gefahr, bei einer Teleportation inmitten einer Horde verwandelter Allpträume zu landen, zu groß war, und Ewigkeit vorzuschicken, ihnen ebenfalls zu riskant erschien, hatten sie sich entschieden, sich zu Fuß in die Stadt zu begeben. Desire ging in der Mitte der Gruppe und hüllte sie in ihren Schutzschild. Aus praktischen Gründen hatte sie seine Oberfläche durchsichtig gemacht, damit sie und die andern keinem Hinterhalt zum Opfer fielen – oder gegen einen Baum liefen. „Sie können sich in jeden von uns verwandeln.“, informierte Trust. „Wir müssen zusammenbleiben. Solange wir den Schutzschild nicht verlassen, kann nichts passieren. Notfalls teleportiert uns Change aus der Schusslinie.“ Den weiteren Weg schwiegen sie, um verräterische Geräusche besser wahrnehmen zu können. Damit das leise Glöckchenläuten, das Ewigkeits Flug begleitete, die Beschützer nicht ablenkte, stand Ewigkeit auf Trusts rechter Schulter wie ein Kapitän an Deck seines Schiffes. Die Anspannung der fünf ließ alles um sie herum viel eindrücklicher wirken als je zuvor: die Laute ihrer Schritte auf dem grobkörnigen Sandboden, ihre Atmung, das Wispern des Windes in den Bäumen und Sträuchern… Immer wieder glaubten sie ein verdächtiges Rascheln in den Hecken neben sich zu bemerken, aber wenn sie die Gegend ableuchteten, war nichts zu erkennen als bizarre Schattengebilde. Destiny lief links außen. Wegen ihrer Paralyse-Fähigkeit war entschieden worden, dass sie besser nicht in der Mitte ging. Doch die Unsichtbarkeit des Schildes gab ihr das ungute Gefühl, nicht geschützt zu sein. Das Schweigen der anderen verschlimmerte das Unsicherheitsgefühl nur zusätzlich. Sie hielt die Stille nicht länger aus. „In was haben die Allpträume sich bisher verwandelt?“ „Frag lieber nicht.“, sagte Change neben ihr. „Ich hätte gern gewusst, worauf ich mich einlasse!“, schimpfte sie. Change sah sie künstlich überrascht an und antworte leichthin, als würde er eine amüsante Anekdote zum Besten geben. „Auf den sicheren Tod.“ Er grinste. Destiny fand das nicht witzig. Plötzliches Wolfsheulen erfüllte die Nacht. Destiny fuhr zusammen und stoppte in der Bewegung. Unverzüglich schob Change sie mit einer Hand auf ihrem Rücken weiter und verhinderte damit, dass ihr abruptes Stehenbleiben in Kombination mit Desires Voranschreiten einen Austritt aus dem Schutzbereich des Schildes nach sich zog. Das war der größte Nachteil des unsichtbaren Schilds: Man konnte nicht genau erkennen, wo er endete. Desire erhob die Stimme. „Wir sollten schneller gehen.“ Noch bevor die Zustimmung der anderen erfolgt war, beschleunigte sie. Die anderen zogen mit. Vor ihnen lag das Ende des Kurparks. Das Wolfsheulen wurde lauter. Hier im Park konnten die Wölfe aus den Hecken gesprungen kommen und die freie Fläche optimal nutzen, um den Attacken der Beschützer zu entgehen. Nur noch ein paar Meter! Der Eingangsbereich war eine Engstelle. Das konnte ein Vorteil oder ein Nachteil sein. Ein Vorteil, weil die Angreifer dann nicht aus allen vier Himmelsrichtungen auf sie eindringen konnten. Ein Nachteil, weil auch sie selbst dadurch weniger Bewegungsfreiheit hatten. Aber was half ihnen Bewegungsfreiheit, wenn die Bestien sie einkeilten? Die fünf rannten los. Wieder hörten sie die Wölfe. Plötzliche Nebelschwaden zogen sich um sie herum zusammen, raubten ihnen jeglich Sicht auf den Weg. „Stopp!“, schrie Destiny. Sie wussten ja gar nicht mehr, wo sie hinliefen! Außerdem befürchtete sie, nicht mehr lange mit den anderen Schritt halten zu können und dadurch den Radius des Schutzschilds zu verlassen. Statt langsamer zu machen, schleifte Change sie einfach am Arm weiter. „Ich kann nichts sehen!“, rief Destiny. Die anderen hielten endlich an. Um sie herum war nur noch grau. „Und jetzt?“, fragte Change und ließ Destiny wieder los. „Teleportier uns in die Stadt.“, entschied Trust. Unite widersprach. „Die Allpträume werden sowieso zu uns kommen, egal wo wir sind. Hier im Park ist wenigstens niemand, den sie in Mitleidenschaft ziehen könnten.“ Keiner von ihnen hatte das bisher bedacht. Sie schwiegen und warteten – darauf gefasst, von den Allpträumen in Wolfsgestalt attackiert zu werden. Doch das Heulen war verstummt. Die Feinde zeigten sich nicht. „Verdammt! Wo bleiben die?!“, schimpfte Change. „Bist du so scharf darauf, gekillt zu werden?“, stieß Destiny aus. Change verzog das Gesicht missmutig. „Darauf warten ist auch nicht besser.“ Ernst sprach Trust seinen Gedanken aus. „Vielleicht wollen sie uns hinhalten, bis die anderen Allpträume da sind.“ Desires Stimme überschlug sich fast. „Wenn uns alle auf einmal angreifen, haben wir keine Chance! Der Schild hält das nicht aus!“ Change trat vor die anderen. „Dann müssen wir die ersten dazu bringen, uns anzugreifen, bevor die Verstärkung kommt!“ Trust löste sich ebenfalls aus der Kette und sah Change streng an. „Keiner verlässt den Schild.“ „Hast du nicht gehört, was Desire gesagt hat?“, rief Change. „Wenn sie erst mal zusammengetrommelt sind, geht gar nichts mehr. Wir müssen jetzt handeln!“ Trust widersprach. „Wenn du rausgehst, können wir nicht wissen, ob derjenige, der wiederkommt, nur ein Doppelgänger ist oder wirklich du.“ Destiny starrte die beiden an. Ein schrecklicher Gedanke formte sich in ihrem Kopf, den sie sich nicht sofort getraute auszusprechen. „Wenn die Allpträume alle Eigenschaften von dem haben, in das sie sich verwandeln, können sie dann nicht in unserer Gestalt den Schutzschild durchschreiten?“ Bevor die anderen die Tragweite dieser Aussage noch erfassen konnten, riss etwas anderes ihre Aufmerksamkeit gewaltsam an sich. Ein Werwolf brach durch den Nebel und knallte gegen den Schutzschild. Sie schrien entsetzt auf. Weitere der Kreaturen stürmten von einer anderen Seite auf den Schild ein, während sich der Nebel langsam lichtete, um den Blick auf ein ganzes Rudel Werwölfe zu gewähren. Drohend hatten die Bestien die Ohren angelegt und fletschten die Zähne. Sie waren blutbesudelt. Ihr dunkelgraues Fell war an manchen Stellen aufgerissen, Haut- und Fellfetzen hingen von ihnen weg und entblößten das nackte Fleisch darunter. Die rechte Gesichtshälfte eines der Wölfe war zerfetzt. Sein Schädelknochen blitzte unter den Sehnen hervor. Die fünf drängten sich enger aneinander. Die Fänge weit aufgerissen, stürzten die Bestien sich auf den Schild. Unite schoss auf die Kreaturen, aber es zeigte keine Wirkung. „Ich kann das nicht lange halten!“, schrie Desire angesichts der Attacken auf ihren Schild. „Destiny, deine Paralyse!“, forderte Trust. Destiny löste sich aus ihrer Schockstarre und setzte ihre Kräfte ein. Der erste Wolf ging wie zu einer ausgestopften Version verkommen zu Boden. Der zweite folgte. Sie wollte gerade weitere treffen, als sich diese plötzlich zurückzogen und stattdessen wieder im Nebel verschwanden. Change und Desire versuchten mit ihren Lichtern die Nebelschwaden zu durchdringen. Schlagartig wurde alles in absolute Finsternis getaucht. Sobald das Licht ihrer Leuchten auf die dunkle Wand traf, wurde es verschluckt. Eine Sicht war unmöglich. Direkt an der Stelle, wo Destiny stand, schoss die Bestie mit dem zerfetzten Gesicht auf den Schild und stieß dabei ein grausiges Geräusch aus. Vor Schreck trat Destiny zurück und landete auf ihrem Hintern. Ein seltsam kaltes Gefühl schlich sich in ihren Ellenbogen. Panisch zog sie ihren Arm zurück. „Tiny!“, schrie Change. Durch Ewigkeits Leuchten und die Lichter von Desire und Change konnte sie die anderen trotz der Finsternis noch erkennen. „Alles okay?“, erkundigte sich Trust. Destiny nickte und kam sich wie ein ungeschickter Tölpel vor. Change griff nach ihrer Linken und wollte ihr aufhelfen. Plötzlich spürte sie Fell auf ihrer Haut und riss sich von Change los. Ihr Beschützerpartner sah sie verständnislos an. „Da war…“ Sie starrte auf seine Hände. „Was?“ „Deine Hand.“ Change verzog fragend das Gesicht. Destiny ließ ihn nicht aus den Augen und stand langsam auf. Dann schweifte ihr Blick zu den anderen, die ebenso verwundert auf sie schauten. „Ist alles in Ordnung?“, hakte Trust nochmals nach. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte hinter seinem Gesicht ein Totenschädel auf. Destiny kreischte und wollte zurückweichen. Unite kam an ihre Seite gestürmt. „Egal, was du siehst, es ist nicht echt!“, schrie sie und packte Destiny an den Armen. Destiny sah Spinnen von Unites Armen auf die ihren krabbeln. Kreischend entzog sie sich Unites Griff und versuchte mit panischen Bewegungen die Spinnen von sich abzuschütteln. Sie gab weinerliche Geräusche von sich und zwang sich, die Bilder irgendwie auszuschalten. Hilflos hielt sie sich den Kopf, kniff die Augen zu. „Tiny!“ Changes Stimme änderte sich, wurde zu dem tiefen, unheimlichen Ton eines Dämons. Etwas packte sie. Sie riss die Augen auf. Ein schwarzer Teufel mit rotglühenden Augen! Mit einem Aufschrei setzte sie unwillkürlich ihre Paralyse ein.   Unite warf sich gerade noch rechtzeitig schützend vor Desire, um Destinys Attacke abzuhalten. Augenblicklich fiel sie der Paralyse zum Opfer, die Changes Versuch, Destiny zur Besinnung zu bekommen, ausgelöst hatte. Geistesgegenwärtig riss Trust Desire hinter ihren beiden erstarrten Freunden in Deckung. „Destiny!“, schrie Trust. Als Antwort bekam er nur Schluchzen. Unter dem Einfluss der Allpträume war Destiny unberechenbar. Es war nicht abzuschätzen, wann die nächste Attacke folgen würde. Und wenn Desire paralysiert wurde, waren sie geliefert. Trust biss die Zähne zusammen. Er hatte keine andere Wahl. „Verkleiner den Schutzschild.“, befahl er Desire. Die Beschützerin starrte ihn entsetzt an. „Tu es!“, brüllte er. Desires Gesicht verzerrte sich. Er konnte ihrem Ausdruck entnehmen, dass sie eher sterben würde, als diesen Schritt zu tun. Die einzige Möglichkeit, die ihm daher blieb, war Destiny um jeden Preis von ihr fernzuhalten. Trust gab sich nicht die Zeit, länger darüber nachzudenken. Er sprang auf die Beine, rannte in geduckter Haltung an den Paralysierten vorbei auf Destiny zu, beschleunigte nochmals und – Mit voller Wucht riss er sie mit sich aus dem Schutzschild. Im gleichen Moment verlor er die Kontrolle über seinen Körper.   Desire sah wie Trust und Destiny in der Finsternis verschwanden. Für einen Moment war die Situation zu viel für sie. Sie wollte ihnen hinterherlaufen, um sie wieder in den Schutzschild zu bringen, aber Change und Unite konnten dem Schild nicht folgen! Und wenn sie den Schild vergrößerte und Destiny sie dann doch paralysierte, hatte Trust umsonst sein Leben riskiert. Bei dem Gedanken, was die Allpträume bereits mit ihnen gemacht haben könnten, wurde Desire panisch. Hektisch legte sie Change und Unite gleichzeitig die Hände auf.   Trust konnte sich nicht rühren. Er war mit offenen Augen auf dem Boden aufgeschlagen. Etwas hatte Destinys Körper unter ihm weggezerrt. Er konnte Destinys Schreie hören. Dann das Knurren der Wölfe. Dann wie Fleisch zerrissen wurde, untermalt von Destinys Kreischen. Etwas Feuchtes spritzte an seine Wange. Destiny schrie nicht mehr.   Destiny wurde über den Boden geschleift und kreischte. Sie setzte ihre Kräfte ein und wurde losgelassen. In völliger Dunkelheit stolperte sie halb auf allen Vieren vorwärts. Etwas verfing sich in ihren Haaren. Es zerrte wild an ihr. Flügelschläge über ihrem Kopf. Blind schlug sie um sich. Schlagartig nahm sie Licht hinter ihren Augenlidern wahr, im gleichen Moment hörte das Ziehen an ihren Haaren auf. Als sie die Augen öffnete, sah sie Glitzer um sich herum und erkannte Change vor sich. Er kam auf sie zu gerannt. Destiny war so froh, dass sie fast losgeheult und sich in seine Arme geworfen hätte. In dem Moment traf sie Changes Ohrfeige. „Bist du total irre!!!“, brüllte er aus Leibeskräften. Er musste nach Atem ringen. Er klang völlig außer sich, als würde er sich kaum noch beherrschen können. „Du hast Trust paralysiert! Du hast …“ Er begann zu schluchzen. Dann schrie er so schrill, dass seine Stimme brach. „Weißt du, was du getan hast?!“ Mit einem irren Blick packte er sie an der Schulter und teleportierte. Wo sie ankamen, schleuderte er sie zu Boden. Destiny hob den Blick und schaltete den Verstand aus. Vor ihr lag – Trust. Seine Überreste.   Mit einem Mal war alles ganz belanglos. Alles. Sie war ruhig. Völlig ruhig. Das war Trust. Und er war tot. Sie wurde an den Schultern gepackt. Change, der plötzlich neben ihr kniete, drehte sie zu sich. Er hatte die Zähne gefletscht, als würde er mit sich ringen – mit dem Widerstreit in sich. Destiny wandte den Blick ab. Sie fühlte – nichts. Dann hörte sie Unites Kreischen. Sie drehte sich in die Richtung von Trusts Leichnam und sah Desire und Unite. Unite fiel auf die Knie und kreischte Trusts Namen, während Desire reglos stehenblieb. Je lauter Unite schrie, desto mehr wollte Destiny sterben. Sie wollte einfach nur sterben. Jetzt und hier. Sterben. Mit einem Mal drehte sich Unite zu ihr um. Ihr Blick war – Destiny kannte keine Worte dafür. Völlig gebrochen kam sie auf Destiny zu. Dann verzerrte sich ihr Gesicht. „Ich bring dich um!!!“, kreischte sie irre und stürzte sich auf Destiny. Der feste Druck von Unites Händen auf ihre Kehle machte alles schrecklich real und verscheuchte jeden Gedanken ans Sterben. Hilflos versuchte Destiny sich zur Wehr zu setzen. Unite hörte nicht auf sie zu drosseln. In Todespanik zerkratzte Destiny ihr das Gesicht, versuchte alles, um sich zu befreien, dem Überlebenstrieb Tribut zu zollen. Aber der Druck auf ihren Hals wurde immer fester. Die Kräfte verließen sie.   Ewigkeit war die ganze Zeit bei Schicksal geblieben, doch die Beschützerin hatte sie nicht wahrgenommen. Weder als sie ihr verzweifelt gefolgt war, noch als sie versucht hatte, die Allpträume abzulenken, die an Schicksals Haaren gezerrt hatten. Selbst als der falsche Verändern aufgetaucht war, schien sie für die Beschützerin nicht sichtbar zu sein. Nun versuchte sie vergeblich, Schicksals Misshandlungen zu stoppen, aber sie hatte einfach keine Kraft dazu! In ihrer Verzweiflung stach sie der falschen Vereinen schließlich ins Auge, doch auch das half nichts. Dann riss plötzlich jemand den Kopf der Betrügerin nach hinten. Vereinen – die richtige Vereinen! – riss so heftig an dem Haar ihrer Doppelgängerin, dass diese aufschrie und endlich von Schicksal abließ. Mit voller Wucht trat sie ihr dann in den Rücken und sprang zurück an die Seite von Verändern, der direkt Schicksal gepackt hatte. „Ist das die Richtige?“, fragte er Ewigkeit. Sie nickte. Im gleichen Moment teleportierte er auch schon, ehe die anderen Fälschungen auf ihn und Vereinen losgehen konnten.   Direkt nachdem Desire Change und Unite von ihrer Paralyse befreit hatte, hatte Unite Desires Hand gepackt und ihre Kräfte übernommen, ihr befohlen zu warten und war, in ihren eigenen Schutzschild gehüllt, mit Change zu Trust teleportiert. Dort hatte Unite die Allpträume, die sich in ihrer normalen Gestalt an Trusts Leid geweidet hatten, aufgelöst. Change hatte nach Trust gegriffen und sie zurückteleportiert. So hatten sie Trust zu Desire gebracht, die auch ihn von dem Bann befreit hatte. Ohne Verzögerung waren Unite und Change dann nochmals verschwunden. Trust fuhr auf in eine sitzende Position. „Wo sind die anderen?!“, schrie er panisch. Aufgrund seiner vorigen Bewegungsunfähigkeit, hatte er kaum etwas mitbekommen. „Ganz ruhig. Sie holen Destiny.“, sagte Desire, klang aber selbst alles andere als gelassen. Trust starrte sie mit aufgerissenen Augen an. In diesem Moment erschien eine gelb leuchtende Kuppel direkt neben ihnen. „Das sind sie.“, informierte Desire. Abrupt sprang Trust auf und jagte in den Bereich des anderen Schilds. Vor ihm knieten Change und Unite, über ihnen schwebte Ewigkeit und in ihrer Mitte lag Destiny und hustete heftig. Ohne Umschweife stürzte Trust auf sie zu, warf sich zu ihr auf den Boden und schlang seine Arme um sie.   Destiny war bisher mit Luftholen und Husten beschäftigt gewesen, weshalb sie noch nicht begriffen hatte, was geschehen war, als jemand sie plötzlich heftig an sich drückte. Sie konnte nicht sagen, wodurch, aber als sie denjenigen von sich schob, war sein Anblick nur Bestätigung der Identität, die sie erkannt hatte, sobald er sie in seine Arme geschlossen hatte. Die Tränen schossen ihr zuhauf in die Augen. Auch Trusts Wangen schimmerten feucht. Jäh erklangen Rufe von außerhalb des Schutzschilds. „Tiny!“ „Destiny!“ Es waren die Stimmen von Change und den anderen. Destiny riss die Hände von dem Trust vor sich, drehte ihren Kopf hektisch, um die beiden Gestalten neben sich in Augenschein zu nehmen und erkannte Unite und Change. Die Version von Trust vor ihr zog augenblicklich eine so ernste Miene, dass sie glaubte, er würde ihr jetzt sein wahres Gesicht zeigen und versuchen sie zu töten, wie die Unite zuvor. „Du darfst dich nicht darauf einlassen!“, forderte er streng. Völlig orientierungslos erwartete Destiny, dass er ihr als nächstes Schmerzen zufügte. Aber das tat er nicht. Dann kam Ewigkeit in ihr Blickfeld geschwebt. „Du musst dir vorstellen, dass die falschen Beschützer verschwinden!“ Wollte diese Ewigkeit sie dadurch ablenken? Sie in Sicherheit wiegen, um sie dann anzugreifen? Destiny war verwirrt und wusste, dass es nichts gab, womit die anderen ihr hätten beweisen können, dass sie die Echten waren. Alles, was sie über die anderen wusste, wussten auch die Allpträume. Angesichts dieser ausweglosen Situation folgte sie der Anweisung Ewigkeits. Ob es sich dabei um einen Trick handelte oder nicht. Sie hatte keine Alternative. Sie schloss die Augen und malte sich vor ihrem Inneren aus, wie alle falschen Beschützer dahinschmolzen und nur ihre wahren Freunde übrig blieben. Die Menschen, denen sie vertraute und die sie so sehr liebte…   Desire wartete außerhalb von Unites Schutzschild. Das war eine Schutzmaßnahme für den Fall, dass Destinys Kräfte erneut verrücktspielten. Jenseits ihres eigenen Schildes, dessen Wände weiterhin durchsichtig waren, wurde es erstaunlich hell. Die tiefe Dunkelheit, die zuvor geherrscht hatte, verschwand. Dann erschienen Unite, Trust und Change. Wären die drei nicht in Begleitung einer Doppelgängerin von ihr gewesen, hätte Desire nicht sagen können, dass es sich um Fälschungen handelte. Sie hätte ohne zu zögern geglaubt, dass die anderen plötzlich außerhalb des Schildes standen. Sie sah in die entgegengesetzte Richtung, auch dort stand ein weiteres Team aus Doppelgängern bereit. Beide riefen sie nach Destiny. Das war zu grotesk! Wie sollte man in so einem Fall überhaupt noch wissen, wem man trauen konnte? Unverhofft fand eine Veränderung statt. Ein warmes Licht nahm die Doppelgänger ein, als würde ihre Oberfläche anfangen zu glühen, immer heißer. Ihre Gestalt schmolz dahin und offenbarte schließlich die wahre Form der Allpträume. Desire hatte keine Ahnung, wie das zuging. Fürs erste war das auch unwichtig. Sie setzte ihre Attacke ein und löste die Allpträume auf.   Die Rufe hatten aufgehört. Destiny öffnete die Augen. Mit einiger Erleichterung stellte Trust fest, dass sie nun ruhiger wirkte. Auch Unite, die sich ebenfalls zu Destiny gekniet hatte, schien dies wahrzunehmen. Doch für Freude blieb keine Zeit. Ohne Vorwarnung brach etwas durch die Wand des Schutzschilds hinter ihm, sodass Trust abrupt herumwirbelte. Desire. „Was habt ihr gemacht?!“, schrie Desire aufgeregt. Als bemerke sie, dass sie etwas zu heftig geklungen hatte, fügte sie an: „Ich meine, habt ihr irgendetwas gemacht?“ Er und die anderen sahen sie fragend an. Desire erklärte sich. „Eben waren lauter Doppelgänger von uns da draußen, aber auf einmal haben sie sich aufgelöst!“ „Wie aufgelöst?“, wollte Change wissen. „Sie haben wieder ihre normale Form angenommen, sodass ich sie erlösen konnte!“, antwortete Desire. Skepsis machte sich in Trust breit. Es ergab keinen Sinn, dass die Allpträume ohne ersichtlichen Grund ihre Ursprungsform wieder angenommen hatten. Oder lag es daran, dass sich Destiny nicht länger vor ihnen gefürchtet hatte? Plötzlich spürte er einen festen Griff um sein Handgelenk und drehte sich alarmiert und auf das Schlimmste gefasst zurück zu Destiny. Sie schien in eine Art Starre verfallen zu sein, als wäre sie kurz davor, eine Vision zu haben. Eine Sekunde später wirbelte sie zu Unite herum. „Du musst allen meine Kräfte übertragen!“ Kapitel 93: Nichtangriffspakt ----------------------------- Nichtangriffspakt „Besser ein offener Feind als ein verstellter Freund.“ (Jean Giraudoux)   Das riesige Ungetüm, das wie eine Mischung aus Wurm und Alien aussah, bäumte sich über die Dächer der umstehenden Häuser hinaus auf und jagte mit aufgerissenem Maul auf ihn herab. Grauen-Eminenz entging der Attacke mit einem Sprung und feuerte schwarze Energie auf die Kreatur ab. Das Wesen ließ sich davon nicht beirren und schnappte in einer raschen Bewegung nach ihm. Grauen-Eminenz schoss ihm ins Maul und flüchtete im letzten Moment in die Höhe. Fliegen hatte er zwar nie erlernt, aber das hieß nicht, dass er der Schwerkraft nicht den ein oder anderen Streich spielen konnte. Zwei Meter hoch zu springen, war für ihn eine Kleinigkeit. Und den Fall konnte er durch geschickten Einsatz seiner Kräfte so weit verlangsamen, dass er Zeit hatte, das Monster von oben zu beschießen. Kurz überlegte er, auf dem Ungetüm zu landen, aber irgendwie fand er das Ding eklig. Wieder auf dem Boden, wirbelte er herum und machte eine entschiedene Geste, bei der er die Handrücken seiner ausgestreckten Arme aneinander legte und dann mit einer ruckartigen Bewegung, bei der die Hände verkrampften, auseinander riss. Die Bestie jaulte auf, als ihr die Haut abgerissen wurde und diese gegen die Hauswände rechts und links klatschte. Scheiße. Das würde er später wieder sauber machen müssen… Zumindest schien das Ungetüm genug zu haben. Gerade wollte Grauen-Eminenz sich ihm nähern, als von hinten etwas auf ihn niederfahren wollte. Sofort schoss er und erwischte einen überdimensionalen Greifvogel, der schrill aufschrie. Die beiden Allpträume verwandelten sich zeitgleich zurück. Sofort streckte Grauen-Eminenz eine Hand nach jedem aus und ließ ein Magnetfeld erscheinen, das die beiden in ihrer Position fixierte. Dieser Zustand hielt aber nur so lange an, wie er die beiden bestrahlt hielt. Jetzt brauchte er erst einmal dieses Einfang-Dingens. Er hatte es irgendwo hinter sich in einem Hauseingang in Sicherheit gebracht, ehe er den Kampf begonnen hatte. Leider konnte er sich nicht umdrehen, um danach zu sehen, da er nicht versehentlich einem der Allpträume die Flucht ermöglichen wollte. Daher versuchte er durch telekinetische Gedanken die Box dazu zu bringen, zu ihm zu kommen. Leider hatte er wohl etwas zu fest daran gedacht, denn prompt schlug ihm das Gerät wie ein Geschoss in den Rücken, sodass er fast zu Boden gegangen wäre. Aua. Er würde sich irgendwann noch selbst K.O. schlagen! Etwas vorsichtiger und mit Schmerzen im Rücken bugsierte er die Box um sich herum in die richtige Position. Warum hatte das Ding eigentlich keine Fernbedienung? Andererseits hatte er eh keine Hand frei. Er versuchte den Knopf per Gedanken-Telekinese herunterzudrücken. Das Gerät bekam eine Delle. Aaah! Das durfte doch nicht wahr sein! Was war denn das für ein Billigprodukt! Wo war die gute alte deutsche Wertarbeit! Plötzlich sah er zu den Allpträumen auf, die von seinen beiden Strahlen gehalten wurden. Er führte seine Arme zueinander, sodass seine Gefangenen der Bewegung folgten und nun auf einem Haufen waren. Dann lief er die Schritte zu dem Apparat, während die Allpträume durch seine Vorwärtsbewegung gegen die Häuserwand vor ihm geklatscht wurden. Er trat auf den Auslöser der Apparatur, machte ein paar Schritte rückwärts und zog die beiden Allpträume wie Marionetten näher zu sich, bis sie in den Radius der Einsaugfunktion gerieten. Da dieser dämliche Radius jedoch gerade mal fünf Zentimeter maß und kein schickes Licht oder sonst was anzeigte, wo genau man den Allptraum hinpacken musste, war das alles andere als einfach! Es blieb ihm nichts anderes übrig als wie ein Idiot die Allpträume über der Apparatur hin und her zu schwenken, in der Hoffnung, irgendwann den richtigen Punkt zu erwischen. Endlich wurde der erste eingesaugt. Ha! Nun wusste er, wo die Stelle war! Oder auch nicht. Wechselte der Sensor etwa seine Position? Das war ja wohl … Wieder musste er seinen Arm bekloppt hin und her schwenken wie eine verrücktspielende Computermaus. Als es endlich funktioniert hatte, schlug Grauen-Eminenz sich gegen die Stirn. Das Schlimmste war nicht der Kampf gegen die verwandelten Allpträume sondern dieser Mist-Apparat! Wenn er jetzt noch um die neunzig davon einfangen musste, würde er wahnsinnig werden! Und dabei hatte er die Hälfte von den bereits gestrichenen Zehn noch nicht mal eingesaugt, sondern versehentlich abgemurkst. Wer konnte auch ahnen, dass die in ihrer Normalform so empfindlich waren…? Er hob die Allptraum-Fang-Station vom Boden auf, lief hinüber zu seiner Tasche und verstaute das unpraktische Ding. Aus der Reißverschlusstasche an seiner Cargohose zog er dann etwas, das aussah wie ein Smartphone. Es handelte sich um ein Ortungsgerät, das die Signale des Suchzaubers anzeigte, den er den Allpträumen verpasst hatte. Er war zum Glück noch auf die Idee gekommen, einen Suchzauber direkt vor die Öffnung des Behältnisses zu legen. Beim Verlassen ihres Gefängnisses waren die Lichtlosen automatisch damit in Kontakt gekommen. Dadurch konnte er sie nun lokalisieren. Mit einer Fingerbewegung verkleinerte er die Ansicht und sah nun ganz Entschaithal auf dem Display. Rot blinkende Punkte zeigten den Aufenthaltsort der Allpträume an. Verwundert erkannte er, dass die Allpträume sich auf einen Punkt zubewegten, als würden sie sich dort zu etwas Großem versammeln. Er steckte das Ortungsgerät weg, schulterte seine Tasche und machte sich auf den Weg.   Ewigkeit drückte sich an Trusts Wange. Aus Mangel an Alternativen, und weil es sich bei ihrer jetzigen Strategie um die letzte Hoffnung handelte, hatten sie sich direkt in die Stadtmitte, zurück zu der Baustelle, teleportiert und waren in einer Meute Zombies gelandet. „Und jetzt?“, wollte Change wissen. Unite hatte ihnen allen Destinys Kräfte übertragen, wie Destiny es vorgeschlagen hatte. Durch das Erlebnis mit den Doppelgängern war Destiny zu dem Schluss gekommen, dass der Schlafzauber ganz Entschaithal Eigenschaften einer Seelenwelt verliehen hatte. Deshalb hatten die Allpträume so viel Einfluss auf die Umgebung und konnten jede physische Form annehmen. Und deshalb hatte Destinys Vorstellung die Doppelgänger verschwinden lassen. Seelenwelten kontrollieren konnte auch sie! Nun hieß es, die Allpträume mit ihren eigenen Waffen zu schlagen! „Stell dir halt irgendwas vor!“, schimpfte Destiny. Sogleich setzte Musik ein und eine drehende Discokugel hinter den Zombies warf Lichtreflexionen auf die Umgebung. Der Song ‚Nightfever‘ wurde angespielt. Die Zombies begannen schwerfällig zu tanzen und sich schleppend zu der Musik zu wiegen. Einem davon fiel dabei der Kopf ab. Desire schrie in ungewohnt hoher Tonlage: „Ich weiß nicht, was jetzt besser sein soll!“ Sie hegte eine tiefe Abneigung gegen Untote. Plötzlich ertönte hinter den Zombies die Herzkönigin aus Alice im Wunderland: „Ab mit dem Kopf!“ Augenblicklich kullerten die Köpfe zahlloser Zombies über den Boden. Desire kreischte auf. „Wenn Desire immer noch Angst vor ihnen hat, dann bringt das nichts.“, gab Trust zu bedenken. „Also ich fand’s lustig.“, meinte Change und klopfte Unite, die die Herzkönigin heraufbeschworen hatte, anerkennend auf die Schulter. „Ich dachte, Zombies kann man nur so töten.“, antwortete Unite entschuldigend. „Sie laufen aber immer noch!“, rief Desire. „Was sollen wir denn machen, damit du keine Angst mehr vor ihnen hast?“, fragte Destiny. „Macht sie weg!“, gab Desire von sich und hielt die Augen geschlossen. Sehr hilfreich… Destiny stöhnte und konzentrierte sich. „Besser?“ Nur zögerlich öffnete Desire wieder ihre Augen und sah sich statt den Zombies einer Gruppe männlicher Models gegenüber, die gerade für ein Foto-Shooting posierten. Daraufhin ihrer Energiequelle beraubt, änderten die Allpträume ihre Form und stießen dabei einen erbosten Schrei aus. Im gleichen Moment schoss Trust auf sie. Ehe er alle erwischt hatte, hatten manche von ihnen allerdings bereits eine neue Gestalt angenommen. Vor ihnen standen nun ein Clown in bunter Tracht mit zum wahnsinnigen Grinsen weit aufgerissenem Maul, das spitze Reißzähne entblößte, und ein Mann, dessen Gesicht von Brandnarben entstellt war. Er war in einen rot-dunkelgrün-gestreiften Pulli gekleidet und hatte einen Hut auf. An seiner rechten Hand trug er einen Handschuh, an den dünne Klingen wie Skalpelle angebracht waren. Desire erkannte in ihn als die Horrorfilmfigur Freddy Krüger. Entsetzt drückten sich Destiny und Change weiter in die Mitte der Kugel. „Und davor habt ihr Angst?“, fragte Desire ungläubig, nachdem die beiden sich so über ihr Problem mit Zombies lustig gemacht hatten. Allein Freddy Krügers Pullover zog die Figur doch ins Lächerliche. Und was sollte der Clown bitteschön machen? Schlechte Witze erzählen? „Der schlitzt einen auf!“, rechtfertigte sich Change. „Der frisst Kinder!“, erklärte Destiny mit Bezug auf den Clown aus Stephen Kings Es. Wow, dann konnte der Messer-Mann ja Changes Hausaufgaben zerschreddern, dachte Desire gelangweilt. „Dann stell dir vor, die Klingen würden rosten.“, sagte Desire zu Change und sah Destiny an. „Und du, denk dir einfach das Make-up weg!“ Change und Destiny mussten nichts mehr tun. Sobald Desire die Worte ausgesprochen hatte, wurden diese von der Umgebung in die Tat umgesetzt. Die Messer von Freddy Krüger gaben ein seltsames Geräusch von sich, ihre Farbe und ihre Konsistenz änderten sich, sie setzten Rost an und zerfielen schließlich ganz. Sehr zum Unbehagen ihres Trägers. „Hähä! Immer Edelstahl-Klingen verwenden, sag ich nur!“, lachte Change triumphierend. Derweil war der Clown Pennywise, nun ohne Make-up und Perücke, zu einem Mann mittleren Alters mit verschlafenen Augen in einem bunten Anzug verkommen. Daraufhin verwandelten sich beide Allpträume zurück und wurden prompt von Trusts und Unites Kräften aufgelöst. „Das fängt an, Spaß zu machen!“, fand Change. „Wir brauchen bloß noch die richtige Stimmung.“ Er konzentrierte sich. Der drohend orangeleuchtende Wolkenhimmel änderte sein Aussehen. Plötzlich war er klar und blau, eine künstliche Sonne schien freundlich herab, als würde es sich um einen warmen Sommertag handeln. Gleichzeitig fing der von lebhaftem Gitarrenklang dominierte Song ‚All the small things‘ von blink-182 an zu spielen. „Schon viel besser.“, meinte Change und begann dabei mit seinem Kopf zur Musik zu wippen. Destinys Gesichtsausdruck war eingefroren. „Was?“, fragte er, als würde er eine Rüge von ihr erwarten. Destiny wandte sich ab. Sie würde den Teufel tun und ihm sagen, dass er offensichtlich weit besser mit ihren Kräften umzugehen wusste als sie selbst. Die nächsten verwandelten Allpträume bogen um eine Ecke und flogen pfeilgeschwind auf den Platz vor der Baustelle zu, wo die Beschützer standen. Doch aufgrund der Musik und des strahlenden Sonnenscheins wirkte ihre grausige Gestalt völlig deplatziert, besonders da Change angefangen hatte den Refrain des laufenden Liedes mitzusingen: “Nana nana nana-nana na na.” Die anderen ließen sich langsam aber sicher von seiner guten Laune anstecken, der helle Sonnenschein und die Musik taten ihr Übriges. Und so gelang es ihnen immer mehr der Allpträume durch verschiedenste Techniken zur Rückverwandlung in ihre ursprüngliche Form zu zwingen, um sie anschließend aufzulösen. Changes Einfälle dazu waren nicht unbedingt die Originellsten. Dafür hatte er jedoch unzählige davon. Ob er einem Angreifer die Hosen herunterließ, um eine Unterhose mit roten Herzchen zu entblößen, die Feinde auf Bananenschalen ausrutschen oder ein Klavier auf sie fallen ließ, eine Kindheit voller Cartoons hatte ihn mit massig Ideen ausgestattet. Schließlich ebbte die Flut an Allpträumen langsam ab. Unglücklicherweise hatte keiner der Beschützer mitgezählt, wie viele der Kreaturen sie bereits unschädlich gemacht hatten und konnten daher nicht sagen, wie viele noch umherschwirrten. Wenn die Bestien ihnen nun aus dem Weg gingen oder sich sogar versteckten, hatten sie ein Problem. Die Sorge war unbegründet, denn schon trat eine weitere dubiose Gestalt aus einer Straße auf den Platz vor der Baustelle. Es handelte sich um einen Mann in dunkelgrauer Kleidung. Mit der Cargohose, der Kampfweste über dem T-Shirt und den Handschuhen zu festem Schuhwerk sah er aus wie einem Mission Impossible Film entsprungen. Seine Haut und seine Lippen wirkten hellgrau, sein Schädel war kahl. Seine Augen hatten die Farbe des stürmischen Himmels über der aufgepeitschten See. Mit festen Schritten und finsterer Miene kam er auf sie zu. Change zögerte keine Sekunde und benutzte Destinys Kräfte, um den Gegner lächerlich zu machen. Nichts tat sich. Verwundert schüttelte Change seine Hand als wäre sie eine defekte Fernbedienung. „Es funktioniert nicht.“, sagte er zu den anderen. „Ich wollte ihm ein rosa Tutu verpassen!“ Der Mann war derweil vor ihnen stehengeblieben. Seine Miene hatte sich bei Changes Worten missmutig verzogen, als wäre er über die Idee, in ein rosa Tutu gesteckt zu werden, gar nicht begeistert. Anschließend wurden seine Züge wieder ruhiger. „Grün steht mir besser.“, entgegnete er beiläufig. Die Beschützer starrten ihn kurz an. Change wandte sich an die anderen. „Weiß jemand, wen der darstellt?“ Die anderen hatten auch keine Ahnung. Die graue Gestalt erhob die Stimme. „Wir haben ein Problem.“ „Eigentlich finde ich ihn eher amüsant als gruselig.“, meinte Change, ohne auf die Worte des Mannes einzugehen. Destiny blieb skeptisch. „Das tun sie, um uns in Sicherheit zu wiegen.“, entgegnete sie und versuchte sich selbst daran, den Gegner zu verwandeln. Wieder keine Reaktion. „Ich habe keine Ahnung, was ihr versucht, aber es funktioniert nicht bei mir.“, sagte der Fremde kurz. Augenblicklich wichen die fünf ängstlich zurück. Ihre Befürchtung, die Allpträume könnten gegen ihre Kräfte immun werden, war Wirklichkeit geworden! „Der Schlafzauber wird sich nicht auflösen.“, sagte der Fremde. „Was auch immer die Allpträume getan haben, wir müssen es rückgängig machen.“ Trust wandte das Wort an den grauen Mann. „Wer sind Sie?“ In einer Seelenruhe, die verstörend wirkte, nahm der Fremde die Tasche, die er geschultert hatte, ab und stellte sie auf den Boden neben sich. „Wer seid ihr?“ Desire reckte das Kinn. „Wenn Sie nicht wüssten, wer wir sind, würden Sie uns wohl kaum um unsere Hilfe bitten.“ Destiny schimpfte: „Hört auf mit ihm zu reden, als wäre er echt! Das ist nur wieder ein Trick der Allpträume!“ „Ich bin kein Lichtloser.“ Die fünf horchten auf. Den Begriff Lichtloser hatten sie bisher nur von Ewigkeit gehört. Schließlich wagte Desire ihre Gedanken auszusprechen. „Haben Sie uns den Brief geschickt?“ „Ja.“ Destiny schimpfte. „Wenn du fragst, ob er den Brief geschickt hat, sagt er natürlich Ja!“ „Wenn er ein Allptraum ist, weiß er so oder so was wir wissen.“, gab Desire zurück. Unite richtete das Wort an die dubiose Gestalt. „Wenn Sie kein Allptraum sind, warum schlafen Sie dann nicht?“ „Weil ich den Schlafzauber gemacht habe.“   Der Gesichtsausdruck seiner Auserwählten ließ ihn die Formulierung seiner Aussage kritisch hinterfragen. Okay, er hätte vielleicht sagen sollen: ‚Weil ich gezwungen wurde, den Schlafzauber zu machen.‘ Dann hätte er so tun können, als wäre er das arme Opfer. Ja, das wäre angebracht gewesen. Andererseits hasste er es zu schauspielern! Das war so anstrengend. Wieder andererseits konnte er den fünfen ansehen, dass sie nun Eins und Eins zusammenzählen konnten. „Der Schatthenmeister.“, sagte das blonde Prinzesschen tonlos. Daraufhin wandte sich das Großmaul, das ihm ein Tutu hatte verpassen wollen, begeistert an seine Kumpanen, als hätte er des Rätsels Lösung gefunden. „Eh, ist ja klar! Vor dem haben wir doch die ganze Zeit Angst!“ Die anderen schienen ihm genauso wenig folgen zu können wie er. „Ist ja logisch, dass der Allptraum sich in den verwandelt.“, versuchte das Großmaul ihnen auf die Sprünge zu helfen. „Das würde erklären, warum unsere Kräfte nicht bei ihm wirken.“, stimmte der ruhige Junge zu. „Aber was machen wir jetzt?“, wollte Prinzessin Goldlöckchen wissen. „Also mir ist der Typ egal. Wir könnten ihn einfach ignorieren.“, schlug das Großmaul vor. „Was soll er auch tun? Uns zu Tode quatschen?“ Prinzesschen warf ein: „Aber wieso sollte der Schatthenmeister wollen, dass wir ihm helfen, die Allpträume auszuschalten? Das ergibt doch keinen Sinn.“ Die dunkelhaarige Miss Misstrauisch meldete sich zu Wort. „Vor allem: Wieso ist der so blöd uns zu sagen, dass er der Schatthenmeister ist?“ Autsch. „Sonst wüssten wir ja nicht, dass es der Schatthenmeister ist.“, entgegnete Großmaul. „Oder habt ihr euch den Typ so vorgestellt? Sieht doch schon etwas lächerlich aus.“ Das orangehaarige Fräulein Überfröhlich beäugte ihn, als wäre er ein Tier im Zoo. „Meint ihr, der echte Schatthenmeister sieht so aus? Die Allpträume haben ihn sicher gesehen.“ Miss Misstrauisch meckerte: „Was bringt es uns zu wissen, wie der aussieht?“ „Vielleicht weiß er ja, was der Schatthenmeister weiß.“, meinte Fräulein Überfröhlich und wandte sich wieder an ihn: „Warum hast du uns entführt?“ Miss Misstrauisch rief: „Der erzählt dir doch eh bloß was Gruseliges, damit wir Angst bekommen!“ Es reichte!!! Grauen-Eminenz lenkte die Welle Zorn von seinem Magen in seine Arme und schoss. Seine Kräfte trafen die Häuserwand rechts von ihm und ließen ein Fenster der Finster GmbH zu seiner Linken zersplittern. Endlich gaben die Quasselstrippen Ruhe. Verängstigt starrten sie ihn an. Gerade wollte er anfangen, mit ihnen zu reden, als ein Allptraum herbeigeflogen kam, offenbar von der plötzlichen Angst der fünf angelockt. Reflexartig schoss Grauen-Eminenz ihn ab und pulverisierte ihn. Verdammt! Schon wieder einer. Er stöhnte. Er musste unbedingt aufhören, diese Dinger kaputt zu machen. Schließlich widmete er sich wieder den fünfen, die ihn noch immer stumm anstarrten. Aus seiner Hosentasche zog er das Ortungsgerät und hielt ihnen den Bildschirm hin. „Die Punkte, die ihr hier seht, stehen für die Allpträume.“, erklärte er. „Der Schlafzauber sollte nur anderthalb Stunden anhalten. Aber jetzt lässt er sich nicht mehr steuern.“ „Was wollen Sie von uns?“, forderte der vernünftige der beiden Jungen zu erfahren. „Ihr wollt genauso wenig wie ich, dass der Schlafzauber anhält.“ Die fünf widersprachen nicht. „Die Allpträume müssen eine Störung bewirkt haben. Wenn wir sie einfangen, lässt die Wirkung vielleicht nach.“ „Und wenn nicht?“, fragte Herr Vernünftig. Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Eine Katastrophe nach der anderen! Offenbar interpretierte Herr Vernünftig sein Schweigen als Antwort, denn er sprach einfach weiter. „Wir wollen eine Sicherheit, dass Sie uns nicht in den Rücken fallen.“ Miss Misstrauisch begehrte auf: „Das meinst du doch nicht ernst! Wir werden ganz sicher nicht mit ihm zusammenarbeiten!“ Herr Vernünftig ging nicht auf ihren Einwand ein. „Was sind eure Forderungen?“, fragte Grauen-Eminenz. „Das könnt ihr nicht machen!“, kreischte Miss Misstrauisch dazwischen. „Ich mache da nicht mit!“ „Destiny!“, tadelte Herr Vernünftig. „Nein! Ich mache immer, was ihr sagt, aber das nicht! Ich werde nicht mit dem Schatthenmeister zusammenarbeiten! Vergesst es!“ Herr Vernünftig ergriff das Handgelenk von Miss Misstrauisch und sah sie durchdringend an. Durch ihre Blicke schienen die beiden ein stummes Gefecht auszutragen.   ○ Destiny, er weiß nicht, weshalb der Schlafzauber sich nicht kontrollieren lässt. Destiny antwortete nicht, sondern sah Trust nur weiter störrisch an. ○ Wir können erst sicher sein, dass alle Allpträume verschwunden sind, wenn wir sein Ortungsgerät benutzen. ♯ Das ist Selbstmord!, begehrte Destiny auf. Unite schaltete sich in die telepathische Unterhaltung ein. ♪ Wenn wir sein Ortungsgerät benutzen, können wir die Allpträume aufspüren! ○ Das habe ich auch gerade gesagt., informierte Trust. ♪ Wir können das zu unserem Vorteil nutzen!, freute sich Unites Stimme. ♯ Seid ihr völlig irre?! Trusts Gedankenstimme klang ernst. ○ Glaubst du, er lässt uns einfach gehen, wenn wir Nein sagen? Jetzt bietet er uns noch einen Deal an. Wenn wir uns weigern, wird er uns mit etwas erpressen. Destiny schwieg. Desire und Change, die begriffen hatten, dass die anderen sich offenbar per Telepathie unterhielten, klinkten sich ein. * Was habt ihr vor?, erkundigte sich Desire. ! Ey, meint ihr, das ist sicher, so zu reden? Kann der uns nicht trotzdem belauschen? ○ Change hat Recht, sagte Trust gedanklich. ♪ Gut., meinte Unite und verließ augenblicklich die Runde. Ehe die anderen noch darauf gefasst waren, richtete Unite das Wort an den Schatthenmeister. „Wir sind einverstanden.“, verkündete sie und ignorierte Destinys ungläubigen Blick. „Unter zwei Bedingungen!“ Der Schatthenmeister wog offenbar ab, ob er sich darauf einlassen sollte. „Welche Bedingungen?“ „Erstens: Sie werden uns ein paar Fragen beantworten, bevor wir Ihnen helfen.“ „Nicht dass wir dafür Zeit hätten.“, spottete er. „Zweitens –“ Der Schatthenmeister unterbrach sie gelangweilt: „Lasst mich raten: Ich soll euch ab jetzt in Ruhe lassen.“ Unite schwieg. Und der Schatthenmeister hob die Augenbrauen, als könne er so viel Naivität nicht fassen. „Das kann ja wohl nicht –“ Dieses Mal unterbrach Unite ihn. „Wir wollen, dass Sie Erik in Ruhe lassen.“ Er stockte. Dann verzog sich sein Gesicht missmutig. Unite brachte das nicht aus der Ruhe. „Sie haben uns um Hilfe gebeten.“ „Ich mache euch ein Angebot: Ich beantworte eure Fragen, von jedem von euch eine, und ich verspreche, euren Familien nichts anzutun.“ Desire wurde laut. „Das ist kein Angebot, das ist eine Drohung!“ Der Schatthenmeister antwortete darauf nicht. Unite schlug vor: „Sie geben uns das Ortungsgerät und wir kümmern uns darum.“ „Falsch, das Ortungsgerät bleibt bei mir und ich lasse euch nicht aus den Augen.“ „Er will uns nur hinterrücks angreifen.“, mutmaßte Destiny. „Mein Angebot beinhaltet natürlich einen Waffenstillstand solange wir zusammenarbeiten. Heute Nacht droht euch von mir keine Gefahr. Darauf habt ihr mein Wort.“ „Das Wort von jemandem, der ständig versucht uns umzubringen!“, fauchte Destiny. „Wenn ich versucht hätte, euch umzubringen, wärt ihr tot.“, korrigierte der Schatthenmeister. Die Beschützer schwiegen einen Moment. „Woher soll ich umgekehrt wissen, dass ihr nicht mich angreift? Ihr hättet genug Grund dazu.“ „Da hat er allerdings Recht.“, stimmte Change zu. „Halt die Klappe!“, schimpfte Destiny und deutete dann mit dem Finger auf ihren Feind. „Wir sind die Guten!“ „Man deutet nicht mit dem Finger auf andere.“, kommentierte der Schatthenmeister. „Ich deute so viel auf dich wie ich will!“, tobte sie. „Auf Sie.“, verbesserte sie dann zur distanzierteren Anredeform. Der Schatthenmeister lächelte spöttisch. „Die Guten.“, schnaubte er. „Für mich seid ihr nicht die Guten.“ Das Lächeln wich von seinen Zügen. „Ihr habt meine Schatthen kaputt gemacht.“ „Hättest du sie nicht auf uns gehetzt!“, kreischte Destiny. „Sie.“, verbesserte sie. Unite kam wieder auf die Abmachung zu sprechen. „Keiner von uns wird den anderen heute Nacht angreifen. Wir kümmern uns um die Allpträume und du lässt unsere Familien in Frieden und beantwortest uns sechs Fragen.“ „Ich sagte, eine Frage für jeden.“ „Eine Frage für jeden Beschützer, auch wenn er nicht anwesend ist.“, beanspruchte Unite. Die Augenbrauen des Schatthenmeisters zogen sich zusammen. Er schwieg. Unite wich nicht von ihrem Vorschlag ab. Etwas stand auf seinem Gesicht gezeichnet, als wolle er ihren Worten widersprechen oder einem Teil davon. Dann änderte sich seine Mimik. „Einverstanden.“ Unite trat nach vorne, um den Schutzschild zu verlassen, wurde aber von Trust aufgehalten, der sie verstört ansah. „Eine Abmachung besiegelt man mit einem Handschlag.“, erklärte sie. Trust ließ sie nicht los. „Vertrauen!“ Trust zuckte zusammen, als sie ihn bei seinem eigentlichen Beschützernamen nannte. Widerwillig ließ er von ihr ab. Mit Todesblick wandte er sich dem Schatthenmeister zu: „Eine falsche Bewegung und wir schießen.“ „Woher soll ich wissen, dass ihr das nicht sowieso tut, sobald ich meinen Schutzschild herunterlasse?“ Unite lachte. „Dabei könnte doch das Ortungsgerät kaputtgehen!“ Irgendwie war Grauen-Eminenz dieses Mädchen unheimlich. Die Rothaarige trat aus dem Schutzschild. Drohend erhoben ihre Freunde gleichzeitig ihre Arme gegen ihn. Grauen-Eminenz beobachtete die Meute bis das Mädchen direkt vor ihm stand. Noch einmal zögerte er, dann ließ er seinen Schutzschild sinken, sah nochmals zu den anderen und schlug schließlich bei Fräulein Überfröhlich ein. Sie lächelte. „Willkommen im Team.“ „Ich bin nicht in eurem Team.“, beanstandete Grauen-Eminenz. „Heute Nacht schon.“ Er korrigierte. „Ihr arbeitet für mich.“ „Wir arbeiten zusammen.“, verbesserte sie. „Meinetwegen. Aber geh zurück in den Schutzschild. Bevor dein Kollege da hinten nen Anfall kriegt.“ Trusts finster entschlossener Gesichtsausdruck war wirklich verstörend. Unite folgte der Aufforderung. Sobald sie sich wieder im Schutz des Schilds befand, ergriff Trust das Wort. „Nun zu den Fragen.“ „Hat das nicht bis später Zeit?“, nörgelte Grauen-Eminenz. Trusts Blick nach zu urteilen, hatte es keine Zeit. „Gut, aber keine langen Diskussionen vorher. Fragt.“ „Warum haben Sie uns den Brief geschickt?“, fragte Trust. Grauen-Eminenz zögerte und wägte seine Worte ab. „Weil ihr gegen den Schlafzauber immun seid.“ „Das ist ja wohl keine Antwort!“, beanstandete Destiny. „Ist die immer so?“, fragte Grauen-Eminenz. „Sonst ist sie schlimmer.“, antwortete Change. Destiny schlug ihm gegen den Oberarm. „Au.“ „Hör auf mit dem Bösen zu reden!“, keifte Destiny. „Mit dir rede ich ja auch.“ „Raaah!“ Trust unterbrach die beiden in strengem Tonfall. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“ Destiny und Change schwiegen. Unite wandte sich an den Schatthenmeister. „Du musst die Fragen schon richtig beantworten, um die Abmachung zu erfüllen.“ Grauen-Eminenz sah sie feindselig an. „Ich habe geantwortet.“ Destiny brachte ihre Gedanken vor: „Sicher hat er das alles geplant. Auch dass wir jetzt mit ihm zusammenarbeiten.“ Grauen-Eminenz verdrehte die Augen. Dieses Mädchen war noch misstrauischer als er. Andererseits – das wäre wirklich ein guter Plan gewesen... „Dann wäre es doch wohl sinnvoller gewesen, wenn ich mich als irgendein plötzlich auftauchender Verbündeter ausgegeben hätte, der euch den Brief geschickt hat.“, erwiderte er. Auf diese Weise konnte er seine wenig durchdachte Handhabung der Situation zumindest noch als Ehrlichkeitsfaktor nutzen. Hatte doch auch was. Desire wandte sich an die anderen. „Vielleicht hat er den Brief gar nicht geschrieben und behauptet es jetzt nur.“ „Hä? Und was soll ihm das bringen?“, wandte Change ein. „Vielleicht sucht er denjenigen, der uns informiert hat.“, überlegte Desire. Grauen-Eminenz stöhnte. „Könnt ihr mir einfach die nächste Frage stellen? Sonst stehen wir noch morgen früh hier rum!“ „Du hast die erste noch nicht richtig beantwortet.“, beharrte Unite. „Ich hatte einfach Bock dazu, ihn euch zu schicken! Okay?!“, rief Grauen-Eminenz. „Das klingt unglaubwürdig.“, meinte Desire zu den anderen Beschützern. „Du könntest auch einfach zugeben, dass du ihn nicht geschickt hast.“, gab Unite zu bedenken. Grauen-Eminenz war am Durchdrehen. „Nicht alles, was ich tue, ist sonderlich sinnvoll!“, schrie er. Die Jugendlichen starrten ihn belämmert an. „Was für eine blöde Ausrede.“, kommentierte Destiny. „Allerdings.“, stimmte Desire zu. Das war ja wohl…! Eher hätte er sich die Zunge abgebissen als sich selbst einzugestehen, warum er den Brief wirklich an diese Gören geschickt hatte, Plötzlich konnte er sehen, wie sich alle Beschützer zu Trust drehten, ohne dass dieser etwas gesagt hatte. Anschließend verzogen sie ihre Gesichter, als wäre ein ziemlich dämlicher Kommentar gefallen. Grauen-Eminenz verstand das nicht. Er konnte nicht wissen, dass Ewigkeit, die auf Trusts Schulter stand, gesagt hatte: „Vielleicht wollte er euch warnen.“ Unite war kurz in Gedanken versunken, dann richtete sie endlich die nächste Frage an ihn. „Wozu hast du uns entführt?“ „Forschungszwecke.“ „Ein-Wort-Antworten gelten nicht.“, beanstandete Unite. „Natürlich gelten die.“, konterte Grauen-Eminenz. Unite zuckte mit den Schultern. „Na gut.“ „Wieso ist das gut?“, beschwerte sich Destiny bei Unite. „Ist das die nächste Frage?“, wollte Grauen-Eminenz wissen. Destiny funkelte ihn wütend an. „Was hast du mit Erik gemacht?“, fragte Desire. Grauen-Eminenz stöhnte genervt. „Soll ich euch vielleicht den Forschungsbericht schicken, damit ihr genau darüber Bescheid wisst?“ „Wenn das ginge.“, entgegnete Unite. „Versteht sie, was Sarkasmus ist?“, wollte Grauen-Eminenz von den anderen erfahren. „Sie weichen jeder unserer Fragen aus.“, kritisierte Trust. „Ich konnte ja nicht wissen, was für explizite Fragen ihr stellen würdet.“ Die Beschützer warteten immer noch auf seine Antwort. Grauen-Eminenz stöhnte. „Ich habe ins Schatthenreich gebracht, wollte herausfinden, was er für Kräfte hat. Achja, habe ihm Informationen über das Schatthenreich eingeflößt. Das übliche eben.“ „Wozu?“, stieß Desire aus. „Forschungs-“ Unite fiel ihm ins Wort. „Das war keine Frage.“ Sie gab Destiny das Zeichen als nächstes zu sprechen. „Wie entfernt man Eriks Wunde?“ Grauen-Eminenz‘ Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen. „Welche Wunde?“ „Du weißt – Sie wissen genau welche Wunde!“, schimpfte Destiny. „Erklär es mir.“ Desire sprach an ihrer statt. „Im Schatthenreich hatte er eine Wunde am linken Oberarm, mit schwarzen Adern. Er spürt sie immer noch.“ „Tatsächlich?“ „Spiel nicht den Unwissenden!“, schrie Destiny und war erneut in die Du-Form verfallen. „Wie entfernt man sie?“ „Es hätte gar keine Wunde entstehen sollen.“, antwortete Grauen-Eminenz.“ „Beantworte die Frage!“, forderte Destiny. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Diese Stelle am Arm war die Eintrittspforte für die Substanz, die den Zugang zu seinem Geist ermöglichen sollte. Etwas in ihm hat sich offenbar dagegen gewehrt und das Gift zurückgedrängt. Wahrscheinlich ist er deshalb zu früh aufgewacht.“ Er hielt kurz inne, als realisiere er etwas. „In dem Moment, als ihr euch verwandelt habt.“ „Wie kann man sie entfernen!“, wiederholte Destiny ihre Frage. Grauen-Eminenz stöhnte. „Diese Wunde ist durch ihn entstanden, nicht durch mich.“ „Willst du uns verarschen?“, rief Change dazwischen. „Die Substanz zerfällt nach einem bestimmten Zeitraum automatisch und wird vom Körper abgebaut. Das sollte längst geschehen sein. Wenn ihr sagt, dass er das immer noch spürt, ist das alles andere als normal. Vielleicht eine Art allergische Überreaktion oder eine Narbe. Um darüber genauere Aussagen zu machen, müsste ich weitere Tests durchführen.“ „Lassen Sie ihn in Ruhe!“, schrie Desire. „Also soll diese Wunde einfach unbehandelt bleiben?“, höhnte Grauen-Eminenz. Desire schwieg kurz. Ihre Augen sprühten Feindseligkeit aus. „Lassen Sie Ihre schmutzigen Finger von ihm.“ „Ich habe es euch schon mal gesagt: Wenn ich euch töten wollte, könnten wir jetzt nicht miteinander reden.“ Destinys Blick war fest. „Oder sie sagen das nur, um uns Angst einzujagen, und in Wirklichkeit sind wir viel stärker als sie zugeben!“ Sofort waren die Blicke der anderen auf Destiny gerichtet. Unite strahlte, überglücklich darüber, dass Destiny endlich ihren Optimismus teilte, und klopfte ihr anerkennend auf den Rücken. Destiny verzog angesichts dessen peinlich berührt den Mund. Grauen-Eminenz indes ging über Destinys Worte einfach hinweg. „Nächste Frage.“ Unite wies Change dazu an, seine Frage zu äußern. Change nickte überzeugt. „Aus welchem Grund bist du Schatthenmeister geworden?“ Destiny kreischte los. „Bist du total bescheuert?! Das ist kein Karriere-Interview!“ Die anderen indes sahen Grauen-Eminenz an, der mit einem Mal ein seltsames Gesicht zog. Seine Kiefer verkrampften sich. „Ich hatte meine Gründe.“ „Ja, aber war das Macht oder viel Geld oder Frauen? Oder alles zusammen?“, hakte Change nach, als würde er ein Rockidol befragen. Grauen-Eminenz starrte ihn sprachlos an. Für was für eine Art Billig-Bösewicht hielt er ihn denn?! „Vielleicht hatte er eine schwere Kindheit.“, mutmaßte Unite vergnügt. „Vielleicht will er sich einfach an der ganzen Welt rächen.“, schlug Destiny vor. Desire wirkte feindselig. „Vielleicht hat er auch gar keinen Grund.“ „Was ist ein Grund?“, warf Ewigkeit dazwischen. Change versuchte zu erklären. „Warum du was machst. Zum Beispiel: Du isst, weil du Hunger hast.“, „Vielleicht wollte er ja gar nicht essen.“, antwortete Ewigkeit. Change verzog das Gesicht, genau wie Grauen-Eminenz, der aufgrund des für ihn völlig unsinnigen Geredes über Essen und Hunger völlig verwirrt war. Ewigkeit konnte er weder sehen, noch hören. Trust sprach mit fester Stimme, als würde er eine Tatsache aussprechen. „Es ist der gleiche Grund, aus dem Sie uns entführt haben.“ Plötzlich verhärteten sich Grauen-Eminenz‘ Züge, Wut zeichnete sich auf seinen Gesicht ab, als würde er Trust für diese Aussage zermalmen wollen. Unite unterbrach den Moment. „Wenn dir unsere Fragen nicht gefallen, musst du uns eben was anderes erzählen.“ Grauen-Eminenz starrte sie an, aber das Mädchen schien es wirklich ernst zu meinen. „Er kann uns doch nicht einfach irgendwas erzählen!“, beschwerte sich Destiny. „Nein, es muss schon wahr sein und es muss etwas Persönliches sein oder sonstwie Wichtiges.“ Grauen-Eminenz brauchte nicht lange überlegen. „In Ordnung. Ich erkläre euch was es mit den Allpträumen auf sich hat, wenn euch das interessiert. Aber das tue ich, während wir uns um sie kümmern. Wir haben schließlich nicht die ganze Nacht Zeit!“ „Eins noch!“, unterbrach Unite. Missmutig wartete Grauen-Eminenz. „Wie heißt du eigentlich?“ Kapitel 94: Allptraum-Jäger --------------------------- Allptraum-Jäger   Der größte Albtraum ist der, aus dem man nicht erwacht, weil er die Realität ist.     Unter normalen Umständen hätte er einen Beitrag zum Kampf gegen die Allpträumen geleistet, doch fürs erste begnügte sich Grauen-Eminenz damit, das Treiben seiner Auserwählten zu beobachten. Schließlich bot sich ihm nicht tagtäglich ein solcher Anblick. Schon gar nicht aus nächster Nähe. Er begriff nicht, wie sie die Verwandlung der Allpträume beeinflussten. Noch weniger war er im Stande nachzuvollziehen, wie sie irgendwelche Gegenstände aus dem Nichts erscheinen lassen oder die Umgebung verändern konnten. Um ehrlich zu sein, jagte ihm das Angst ein. Gleichzeitig spürte er eine Art Begeisterung in sich aufsteigen, als hätte er gerade ein neues Hobby für sich entdeckt. Vielleicht war es aber auch Stolz. Die Allpträume schienen jedoch dazuzulernen, denn nun hielt sich ein verwandelter Teil von ihnen oft im Hintergrund, um sich vor seine Artgenossen zu stellen, sobald die fünf diese in ihre normale Form zurückgezwungen hatten. Dadurch verschafften sie ihren zurückverwandelten Artgenossen die Zeit eine neue Metamorphose zu vollziehen. Grauen-Eminenz stellte für sich die These auf, dass die Allpträume eine Art Gruppengedächtnis besaßen, in dem die Erfahrungen der bereits aufgelösten Allpträume gespeichert und so für alle Allpträume zugänglich waren. Aufgrund dessen gestaltete sich der Kampf nun schwieriger als zuvor. Durch die Paralyse-Fähigkeit von Miss Misstrauisch gelang es den fünfen schließlich, die Abwehrtechnik der Feinde zu durchbrechen. Die Allpträume nahmen wieder ihre normale Gestalt an. Nun war es an Grauen-Eminenz einzugreifen. Gerade wollte er die Kreaturen durch einen Haltestrahl festsetzen, als sie von einer Energiewelle aufgelöst wurden. „Hey!“, beschwerte er sich lautstark. Die Beschützer– Fräulein Überfröhlich hatte ihn darüber aufgeklärt, dass sie sich so nannten – starrten ihn an. „Ihr sollt die nicht kaputt machen!“ Er nahm die Tasche von der Schulter und hielt sie den fünfen demonstrativ hin. „Ich muss die Dinger einfangen! Was glaubt ihr denn, wozu ich euch brauche?! Sie abschießen kann ich auch allein!“ Trust warf ihm einen abweisenden Blick zu. „Sie haben uns um Hilfe gebeten, weil der Schlafzauber außer Kontrolle ist. Wir werden nicht dazu beitragen, dass diese Kreaturen noch einmal eingesetzt werden.“ Grauen-Eminenz schaute finster. In seinem Auftrag hatte es nur geheißen, dass er die Allpträume einsetzen sollte. Von Einsammeln war nicht explizit die Rede gewesen. Tatsächlich hatte sich das Pandämonium nicht wirklich darum geschert, was nach dem Einsatz mit den Allpträumen passierte. Und wenn er es genau bedachte, dann hielt er es genauso wenig für eine gute Idee, dem Pandämonium diese Lichtlosen wieder zu überlassen. Auch wenn er selbst die eingefangenen Allpträume verwahrte, bestand immer noch die Gefahr, dass sie ihrem Gefängnis irgendwie entkamen und erneut ihr Unwesen trieben. Kommentarlos lief Grauen-Eminenz zu der Häuserwand zu seiner Rechten und legte die Tasche dort ab. Die Blicke der Beschützer folgten ihm, doch er wollte ihnen nicht den Gefallen tun, sein Verhalten zu erklären. Ganz sicher nicht! Nicht, dass sie sich noch einbildeten, dass er das ihretwegen tat. Erneut nahm er das Ortungsgerät zur Hand und drehte sich zu den Beschützern um. „Eine ganze Gruppe von Allpträumen befindet sich südlich von hier, in der Nähe des Messplatzes.“ Die Beschützer nahmen die Information stumm zur Kenntnis und griffen dann nach den Händen von einander. „Los geht’s!“, rief Unite. Im gleichen Moment waren sie verschwunden. Grauen-Eminenz stockte. Er stellte sich vor, dass ein pfeifender Wind einen Steppenläufer an ihm vorbei rollen ließ wie in einem Western… Das durfte doch nicht wahr sein! Die hatten ihn einfach hier stehen lassen!!! Gingen die etwa davon aus, dass jeder teleportieren konnte?! Grmpf. Sie würden ja wohl merken, dass er nicht da war. Schließlich war seine Ortsangabe nicht exakt genug gewesen, als dass sie die Allpträume so gefunden hätten. Sie würden also gleich wieder auftauchen. Er wartete. Und während des Wartens konnte er sich einiger unangenehmer Überlegungen nicht erwehren. Wenn sie teleportieren konnten, dann war es für sie ein Leichtes, ihn aus dem Hinterhalt anzugreifen. Nachdem er gesehen hatte, zu was sie fähig waren, gefiel ihm der Gedanke ganz und gar nicht. Der einzige Grund, aus dem sie mit ihm zusammenarbeiteten, war das Ortungsgerät. Wenn sie es an sich bringen konnten, war er in Gefahr. Er hatte sich ihnen gegenüber zu viele Blößen gegeben! Dabei war er es gewöhnt, immer nur Stärke zu demonstrieren! Im Pandämonium gab es keine Verbündeten, sondern nur Konkurrenten. Schwäche zu zeigen, war tödlich. Vor allem im Umgang mit den Schatthen. Wieso hatte er sich nun dazu hinreißen lassen, sich anders zu verhalten? Lag es daran, dass er sie für Kinder hielt? Sicher nicht. Kinder konnte er ja nicht mal leiden. Die Sache war, dass es sich bei ihnen um seine Experimente handelte. Seine. Wie ein Spielzeug, das man gegenüber jedem anderen verteidigen wollte. Er fasste sich an die Stirn. Wenn er sie als getrennte Menschen und nicht seinen Besitz hätte ansehen können, wäre es ihm leichter gefallen, vor ihnen den Schatthenmeister zu geben, der er für den Rest der Welt war. Doch so wirkte es für ihn, als würde er sich plötzlich Figuren aus einer Geschichte gegenüber sehen, die er selbst in Gang gesetzt hatte – Personen, die er bisher nur aus der Ferne hatte beobachten können. Er musste sich zusammenreißen! Diese Experimente waren seine Feinde, das durfte er nie vergessen! Plötzlich spürte er etwas. Er wandte den Blick automatisch nach rechts und sah dort einen Mann im Anzug stehen.   „Wo bleibt der?“, fragte Change. „Vielleicht hat er sich an eine andere Stelle teleportiert als wir.“, überlegte Desire. „Dann soll er sich halt zu uns teleportieren.“, nörgelte Change. „Das ist doch nicht so schwer.“ „Vielleicht kann er das nicht.“, gab Trust zu bedenken. Destiny fauchte: „Er kann eine ganze Stadt unter seine Kontrolle bringen und soll nicht teleportieren können?“ Ihre Augen verengten sich. „Wer weiß, was dieser Mistkerl gerade wieder plant. Vielleicht will er uns aus dem Hinterhalt angreifen.“ Trust schaute nachdenklich. „Er wollte doch unsere Hilfe.“, wandte Unite ein. „Was bringt es ihm da, uns jetzt anzugreifen, statt erst nachdem wir alles erledigt haben und K.O. sind?“ „Vielleicht wollte er nur sehen, wie wir gegen die Allpträume kämpfen.“, hielt Destiny entgegen. „Wenn er wirklich nicht teleportieren kann, dann haben wir ihn wenigstens los.“ „Er hat das Ortungsgerät.“, erinnerte Trust. Destiny stöhnte. „Sobald wir die Allpträume erledigt haben, wird er uns angreifen.“ „Bis dahin ist noch etwas Zeit.“, entgegnete Trust. „Und was willst du dann machen?“, rief Destiny. „Du bringst uns alle in Gefahr!“ Trust sah sie nur stumm an und Destiny bereute ihre harschen Worte augenblicklich. Trust war der letzte Mensch, dem man ernsthaft vorwerfen konnte, andere in Gefahr zu bringen. Sie schämte sich und zog reuevoll den Kopf ein. Unite nahm Trusts Hand. „Wenn er wollte, könnte er uns jederzeit angreifen. Er weiß schließlich, wer wir sind und wo wir wohnen. Es jetzt zu tun, wenn wir alle zusammen sind, wäre für ihn von Nachteil.“ Destiny verzog den Mund. „Es ist trotzdem falsch, mit den Bösen zu arbeiten.“ Unite grinste breit. „Deshalb arbeitet er ja jetzt mit den Guten.“ „Ich meinte uns!“, blaffte Destiny. „Du willst Bösewichte diskriminieren?“, fragte Unite unschuldig, während Ewigkeit zu ihr geschwebt kam. „Ja!“, bellte Destiny. „Ich dachte, so was tun nur die Bösen.“, meinte Unite. Ewigkeit hatte auf ihrem Kopf Platz genommen. „Und die Guten, wenn sie überleben wollen!“, rief Destiny. „Und wo ist dann der Unterschied?“, fragte Unite. Ewigkeit auf ihrem Kopf schaute neugierig. „Hör auf, solche dämlich philosophischen Fragen zu stellen!“, schimpfte Destiny. „Aber aus seiner Sicht sind wir doch die Feinde.“, meinte Unite unbekümmert. Ewigkeit schien über diese Aussage nachzudenken. Destiny brauste auf. „Wir haben ihn nicht entführt und sein Leben ruiniert!!!“ Plötzlich schaute Unite verletzt, als habe sie sich Destinys Lautstärke zu Herzen genommen. „Was ist?“, fragte Destiny verunsichert, da sie die seltsame Reaktion nicht einordnen konnte. Viviens große Kulleraugen schauten sie an. „Findest du, dass dein Leben ruiniert ist?“ „Ja!“, rief Destiny überzeugt. Unite wirkte gekränkt. „Du willst also nicht, dass wir ein Team sind?“ Destiny stockte. „Das hat gar nichts damit zu tun!“ „Entschuldigt,“, unterbrach Desire die beiden, „aber denkt ihr nicht, dass der Schatthenmeister sich wundert, wenn wir nicht zurückkommen?“ Trust stimmte ihr zu. Destiny schaute unzufrieden. „Soll doch Ewigkeit auf ihn aufpassen.“, schlug Change vor. „Wenn er irgendein krummes Ding versucht, kann sie uns warnen. Nicht wahr?“ Sein letzter Satz war direkt an Ewigkeit gerichtet. Sogleich stand Ewigkeit stramm wie ein Zinnsoldat, nickte und war auch schon verschwunden. Desire blinzelte. „Sie hat das wohl als sofort verstanden.“   Der Gesichtsausdruck des Mannes wirkte kalt und königlich. Er sagte nichts. Als bedürfte es keiner Worte. Endlich riss sich Grauen-Eminenz aus seiner Erstarrung und schoss. Doch bevor die Attacke den Mann erreicht hatte, verschwand er. Eine samtweiche, dunkle Stimme erklang: „Wieso tust du das noch?“ Grauen-Eminenz wirbelte herum, aber wieder entschwand der Gegner. Die sanfte Stimme ertönte erneut, als wolle sie ihn an einen Ort führen, der ihm panische Angst einjagte und der ihn doch magisch anzog. „Du willst doch gar nicht mehr.“ Wieder riss Grauen-Eminenz seinen Arm herum und feuerte. Der Gegner war schon nicht mehr dort. Seiner geistigen Ruhe beraubt, atmete Grauen-Eminenz hektisch. Augenblicklich begriff er, warum es zuvor so einfach gewesen war, gegen die bereits verwandelten Allpträume zu kämpfen – es waren nicht seine Ängste gewesen! Als sein Gegner dieses Mal direkt vor ihm auftauchte, hielt er inne. Die grünen Augen des Mannes tauchten in die seinen und ein bestürzendes Gefühl stieg in Grauen-Eminenz auf. Aus dem Gesichtsausdruck seines Gegenübers sprach eine ruhige Gewissheit, dass sein Anblick allein Grauen-Eminenz verstörte. Wieso fühlte sich sein Körper mit einem Mal so taub an? Als wäre er nur noch ein Schatten seiner selbst! Das Bild des Mannes verschwamm vor seinen Augen. Dann kam die Stimme von hinten, direkt an seinem Ohr, leise und einschläfernd. Eine Hand trat von hinten in sein Blickfeld, bewegte sich zu seiner Brust hin, auf die Höhe seines Herzens. „Es ist ganz einfach…“ Als wäre jeglicher Wille aus Grauen-Eminenz‘ Körper gewichen, konnte er sich nicht regen. Dann packte die Hand zu. „Nein!“ In schierer Seelenpein griff Grauen-Eminenz mit beiden Händen nach der des Angreifers und krümmte sich, in einem verzweifelten Versuch zu schützen, was die Hand des Angreifers umfasst hielt. Die Hand riss weiter daran. Grauen-Eminenz verfiel in Panik. Todesangst kreischte durch sein Fleisch. Klong! Der Mann ging hinter ihm zu Boden. Grauen-Eminenz konnte nur noch einen atemlosen Blick auf den von einem riesigen Amboss niedergeschlagenen Gegner werfen, ehe der Allptraum wieder seine normale Gestalt annahm. Weiterhin in gekrümmter Haltung stand Grauen-Eminenz da, während die Beschützer den Allptraum mit ihren Kräften auflösten. Hilflos schnappte er nach Atem, hielt sich noch immer die Brust über seinem Herzen und war erst anschließend wieder fähig, in die Richtung der Beschützer zu sehen. „Du hast nen Cartoon-Schaden.“, hörte er die zynische Dunkelhaarige sagen. „Toll, ne!“, meinte der unreife Junge grinsend, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht. „Alles okay?“, rief der Erwachsenste von ihnen. Nochmals holte Grauen-Eminenz Luft und baute sich wieder zu voller Größe auf. Er sprach nicht sofort, aus Sorge, dass seine Stimme ihn im Stich lassen würde. Seine Emotionen waren noch zu sehr in Aufruhr.   Der Schatthenmeister sah mitgenommen aus. Doch was viel wichtiger war: Während des Angriffs musste er das Ortungsgerät fallen gelassen haben, denn nun lag es vor ihm auf dem Boden, ohne dass er ihm Beachtung schenkte. Das war die Gelegenheit, es ihm zu entwenden! Dennoch zögerten sie. Der leere Blick des Schatthenmeisters jagte ihnen Angst ein und brachte sie zu der Überzeugung, er würde sie töten, sobald sie dergleichen auch nur versuchten. „Ewigkeit.“, flüsterte Unite. Das geflügelte Mädchen war mit der Observierung des Schatthenmeisters beschäftigt und umschwebte ihn, als warte es auf eine verdächtige Regung. Auf Unites Ruf hin, hob es den Kopf und stand im nächsten Moment vor ihr in der Luft. „Was ist passiert?“ Mit einem seltsamen Blick sah Ewigkeit zurück auf Grauen-Eminenz. „Er ist traurig.“, stellte sie fest. Die Beschützer schwiegen. Auf sie wirkte der Zustand des Schatthenmeisters weniger mitleiderregend als vielmehr verstörend. „Soll ich nicht –“, flüsterte Change. Trust ließ ihn nicht aussprechen, sondern gab ihm mit einer Handbewegung und einem Kopfschütteln zu verstehen, dass er jegliche Aktionen unterlassen sollte. „Aber jetzt –“ Nun warf ihm Trust einen entschiedenen Blick zu. Zur gleichen Zeit hatte sich der Schatthenmeister offenbar aus seiner Erstarrung befreit. Er bückte sich, um das Ortungsgerät wieder an sich zu nehmen. „Mist.“, kam es leise von Change. Der finstere Blick Grauen-Eminenz‘ ruhte auf dem Display. „Sie bewegen sich auf uns zu.“ „Die Angst lockt sie an.“, klärte Trust ihn auf. Einen weiteren Moment war Grauen-Eminenz‘ Blick auf das Display fixiert. Etwas zuckte in seinem Gesicht. Seine Züge wurden noch härter als zuvor. Dann wurde seine Haltung lässig, fast wie die eines Jugendlichen. „Hier.“, sagte er beiläufig, und warf ihnen mit einer lockeren Handbewegung das Ortungsgerät zu. Das Gerät flog ohne Weiteres durch den Schutzschild und Unite fing es auf. War das ein Trick? Grauen-Eminenz schenkte ihnen keine weitere Beachtung. Sie sahen, wie er violette Energieschwaden um sich sammelte und dabei aussah, als befände er sich auf einem persönlichen Rachefeldzug. Unites Blick fiel auf das Ortungsgerät. „Sie kommen von allen Seiten.“ „Macht euch bereit.“, befahl Trust. Die violetten Schatten um Grauen-Eminenz waren derweil zu einem lebendigen Wirbel geworden, als habe er umherirrende Seelen um sich heraufbeschworen. Und für einen Moment waren sie fast froh, dass nicht er ihr Gegner war. Atemlose Sekunden warteten sie auf die Ankunft der verwandelten Allpträume. Wie aus dem Nichts schossen jäh fliegende Ungeheuer auf sie herab. Obwohl sie darauf hätten vorbereitet sein können, zuckten sie zusammen und wollten gerade ihre Kräfte einsetzen, als Grauen-Eminenz bereits seine Fähigkeiten unter Beweis stellte. Die Umgebung jenseits ihres Schutzschilds erinnerte mit einem Mal einem gigantischen Insektenvernichter, der violettes Licht aufblitzen ließ, wenn eine Kreatur wie eine Motte in ihn flog. Ewigkeit hatte Glück, dass sie sich noch bei den Beschützern in ihrem Schutzschild aufhielt. Ängstlich flüchtete sie auf Trusts Schulter. Verkokelt stürzten die Ungeheuer zu Boden und wurden wieder zu Allpträumen. Grauen-Eminenz gab den Beschützern nicht die Zeit, die Lichtlosen zu erlösen. Erbarmungslos wandte er seine Kräfte auf die Allpträume an, sodass diese schrill und unerträglich leidvoll kreischten. Sein Gesichtsausdruck war furchteinflößend, bereit zu töten. Zitternd klammerte sich Ewigkeit an Trusts Gesichtshälfte, zwar schien sie den Schmerz nicht zu spüren wie damals bei den Schatthen, dennoch konnte sie diese Gräueltat offenbar nicht ertragen. Trust hob daraufhin die Linke und erlöste mit seinen Kräften die Kreaturen von der Folter. Geradezu mörderisch funkelten die Augen des Schatthenmeisters kurz in seine Richtung, wandten sich dann jedoch wieder den herannahenden Schreckgestalten zu. Es waren viele. Zu viele. Selbst für Grauen-Eminenz. Was den Schatthenmeister jedoch nicht davon abhielt, seine Kräfte auf erschreckende Weise auf die Gegner anzuwenden. „Los!“, befahl Trust. Der Anblick des blindwütig kämpfenden Schatthenmeisters hatte sie alle erstarren und die ausgelassene Stimmung von zuvor verschwinden lassen. Dieser Mann war kein Allptraum und würde nicht verschwinden, wenn sie ihre Kräfte auf ihn anwendeten. Es fiel den fünfen schwer, wieder in den Kampf zu finden. Es war, als würde die Energie, die der Schatthenmeister nutzte, etwas so Bedrückendes ausstrahlen, dass ihre Fantasie gelähmt wurde – diese violette Macht, die sie selbst damals angewendet hatten, in dem Glauben, es handle sich um ihre Kräfte. Die manifestierte Zerstörungswut des Schatthenmeisters war so übermächtig, dass sie sich nicht in der Lage sahen, in diese Schlacht einzugreifen. Das einzige, was sie tun konnten, war, zu versuchen die Allpträume zu erlösen, wenn diese ihre ursprüngliche Gestalt wieder annahmen. Doch auch das fiel ihnen immer schwerer und die Anzahl der Gegner stieg weiter an. An der Stelle, an der sie standen, waren die einzelnen roten Punkte auf dem Display des Ortungsgeräts zu einem riesigen Fleck verschmolzen, gleich einer Blutlache. Von allen Seiten auf einmal drangen die Allpträume auf sie ein. Es waren zu viele, als dass sie überhaupt alle hätten erkennen können, und sie fragten sich, ob sich Allpträume vervielfachen konnten. Die Veränderungen, die sie zuvor vorgenommen hatten, gingen verloren. Die Umgebung wurde wieder in ein kaltes Licht getaucht. Überall tobte schlagartig Kriegslärm. Dann schlug etwas mit voller Wucht von oben auf den Schutzschild ein. Der Boden erzitterte, fegte sie von den Füßen und die Schutzhülle explodierte. Kreischend brach Desire in sich zusammen und das Etwas sauste auf die fünf nieder. Unverhofft stand Grauen-Eminenz über ihnen und wehrte den Gegner mit seinen Kräften ab. Die violette Energie, die seine Oberarme umzuckte, formte einen Schirm, ähnlich einem Wappenschild. Seine Muskulatur zitterte vor Anstrengung. Destiny stützte Desire, die nicht in der Lage schien, direkt weiterzukämpfen. Derweil erkannten die anderen, was sie da attackiert hatte. Ein Albtraumwesen mit glühenden roten Augen, dessen Formen wie ein großes Gekritzel aussahen, drohte Grauen-Eminenz und sie zu zermalmen. Change fiel nichts Besseres ein, als einen riesigen Radiergummi zu fantasieren, der den Fleck von einem Monster wegradierte. Unite griff derweil nach Desires Hand und baute mit ihren Kräften einen behelfsmäßigen neuen Schutzschild, der auch Grauen-Eminenz mit einschloss. „Hört auf, euch auf euren Schutzschild zu verlassen!“, brüllte Grauen-Eminenz harsch. „Das ist eure Schwäche!“ Er wies auf Desire, die halb bewusstlos in Destinys Armen lag. „Solange es mit euch verbunden ist, bringt euch ein Schutzschild nichts!“ Schon war er wieder darauf konzentriert die Angreifer abzuwehren. „Kümmert euch um sie.“, befahl Trust. „Und lös den Schild auf.“ Unite folgte der Anweisung und ging dann neben Desire in die Knie. Sie legte ihr die Hände auf und versuchte Desires Heilungskräfte abzuzapfen. Allerdings war das nicht so einfach. Sie hatte diese Kraft noch nie mit Desire geteilt, wusste also nicht, wonach sie suchen sollte. „Hilf den anderen.“, sagte sie zu Destiny, die Desire stützte. „Das kann länger dauern.“ Destiny biss die Zähne zusammen und bettete Desire auf den Boden. Während sie sich daraufhin den Verteidigungsversuchen der Jungs anschloss, schwebte Ewigkeit heran, landete auf Desires Brustkorb und ging dort auf die Knie. Ein Leuchten hüllte sie ein und Unite konnte beobachten, wie sie konzentriert die Augen schloss. Unite wusste nicht, ob die nächste Reaktion von Ewigkeit ausgelöst wurde oder ob das Schmetterlingsmädchen nur die Regenerationskräfte in Desire geweckt hatte, doch anschließend ging ein Schimmern über Desires Körper hinweg. Im gleichen Moment raubte das Geräusch einer gewaltigen Detonation ihnen allen für einen kurzen Augenblick das Hörvermögen. Gleichzeitig explodierte ein grell rotes Licht, das die Atmosphäre in Blut tränkte. Das erste, was Desire sah, war dieses Rot. Sie hievte sich auf und atmete hektisch, denn sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Plötzlich rannten Menschen durch die Straße. Ihre Gesichter waren in purem Horror verzerrt, ihre Haut verbrannt. Sie schrien und brachen teilweise kreischend zusammen – die Hände über den Köpfen zusammengeschlagen. Von diesem Anblick völlig verstört, wussten die Beschützer nicht, wie sie reagieren sollten.   Grauen-Eminenz zögerte nicht. Ohne Mitleid schoss er die Menschen ab und verschlimmerte dadurch noch den grauenvollen Anblick. Seine Opfer krümmten sich und schrien, während sich ihre Körper langsam auflösten. „Verflucht! Das sind Allpträume!“, donnerte Grauen-Eminenz, aber die Beschützer waren völlig verstört. Aus ihren Blicken sprach pures Entsetzen. Das war genau das, was die Allpträume wollten! Grauen-Eminenz hatte keine Zeit für so einen Mist! Warum mussten diese fünf aufgrund des Anblicks von ein paar Leuten, die ihre Gedärme auskotzten, auch gleich durchdrehen? Er dachte, die heutige Jugend wäre an solche Bilder längst gewöhnt! Wenn die fünf sich nicht zusammenrissen, würden sie den Allpträumen zum Opfer fallen. Es waren mittlerweile zu viele, als dass er allein sie alle abwehren konnte. Dann hörte er unter den Stimmen der Sterbende eine ihm wohlbekannte. Sein Magen verkrampfte sich und er hielt sich selbst davon ab, dem Geräusch mit seinen Blicken zu folgen. „Tut was!“, schrie er die fünf an, doch keiner von ihnen reagierte. Ewigkeit war die einzige, die seinen Kommentar zur Kenntnis nahm. Eilig schwirrte sie vor den Gesichtern der Beschützer herum, aber die drängten sich nur in Panik aneinander wie verängstigte Tiere. Rein physisch schienen sie schon nicht mehr in der Lage, ihre Kräfte einzusetzen. Hektisch suchte Ewigkeit nach einer Lösung. Sie blickte zum Schatthenmeister und flitzte zu ihm. Dieser jedoch nahm sie gar nicht erst wahr. Zu sehr war er damit beschäftigt, die fliegenden Bestien in Schach zu halten, die unerbittlich auf ihn eindrangen. Und so blieben ihre verzweifelten Schreie ungehört. Ewigkeit hob den Blick zu den Flugmonstern. Entschlossen teleportierte sie sich zu ihnen und versuchte sie abzulenken, indem sie helles Licht aufblitzen ließ. Geschickt wich sie ihnen aus und musste dabei auch noch aufpassen, nicht von den Angriffen des Schatthenmeisters getroffen zu werden. Schließlich ging sie dazu über, die Kreaturen direkt an ihren Augen zu blenden und ihnen damit die Orientierung zu nehmen. Dies stoppte ihre Attacken zumindest kurzzeitig.   Grauen-Eminenz wusste nicht, wie es zuging, aber seine fliegenden Gegner schienen sich auf einmal selbst K.O. zu schlagen. Als wären sie betrunken, trudelten sie durch die Lüfte oder stürzten sich an falscher Stelle auf ihre vermeintliche Beute. Er musste den Moment nutzen. Er konzentrierte sich und baute Stück für Stück eine Barriere aus schwarzen Waben um sich und die Beschützer auf. Dieser Prozess dauerte einige Sekunden, die er zuvor nicht gehabt hatte. Als die letzte Wabe sich an die nötige Stelle gesetzt hatte, ließ er seinen Körper ein Licht ausstrahlen, das die entstandene Höhle halbwegs erleuchtete, und wandte sich an die fünf, die noch immer völlig weggetreten waren. Wutentbrannt fegte er sie mit einer einzigen telekinetischen Handbewegung von den Füßen. „Wenn ihr nicht sofort eure Kräfte einsetzt, bring ich euch um!“, schrie er im Ton des Herrschers, den er sonst bei den Schatthen einsetzte. Dass derlei Drohungen den Angstzustand der fünf noch verschlimmerten, kam ihm zu spät. Er drehte sich von ihnen weg und ließ einen tiefen Zornesschrei ertönen, mit dem er in Wirklichkeit nur seine Aggression abzubauen suchte. Wenn er seine Kräfte so exzessiv einsetzte, schoss so viel Wut und Hass durch seinen Körper, dass es immer eine Herausforderung darstellte, davon wieder runterzukommen. Am Anfang seiner Schatthenmeister-Karriere hatte er häufig mit diesem Problem zu kämpfen gehabt. Daher war er mittlerweile darin geübt, sich einigermaßen schnell wieder unter Kontrolle zu bringen – von den Momenten, in denen er unwillkürlich seine Zimmereinrichtung in die Luft sprengte mal abgesehen. Schließlich wandte er sich wieder etwas weniger mörderisch den Beschützern zu. „Tut das, was ihr auf Burg Rabenfels gemacht habt! Ihr könnt die Allpträume wieder in ihre normale Form zwingen und eine Welle freisetzen, mit der ihr sie alle auf einmal auslöscht!“ Die Gesichter der fünf machten ihm nicht viel Hoffnung. Dabei hatte er die Barriere extra so gestaltet, dass sie auch den Lärm von draußen nicht herein ließ. Dennoch schienen die Bilder sie immer noch zu verfolgen. Er brüllte: „Das ist nicht echt! Das sind keine echten Menschen!“ Aber es gab Menschen, die so starben oder gestorben waren. Verdammt! Auf diese Weise hatten die Allpträume sich in ihre Gehirne gefressen und nutzten die hirnrissige Anteilnahme dieser Kinder aus! Grauen-Eminenz hätte schreien können! Die Barriere war nicht wie ein Schutzschild mit ihm verbunden, aber sie war auch nicht so stabil wie ein wirklich guter Schild und die Allpträume konnten sie in Kürze zerstört haben. Trust war der erste der fünf, der endlich aufstand. Doch er wirkte nicht, als könnte er es mit den Allpträumen aufnehmen, allein sein Wille schien ihn aufrecht zu halten. Ewigkeit, die sich – sobald die Barriere fertiggestellt gewesen war – zu den Beschützern teleportiert hatte, wandte sich an die fünf. „Wollt ihr den Leuten nicht helfen?“ Verständnislose Blicke. „Ihr könnt doch alles schön machen!“ Destiny stand auf und nickte. Sie griff nach Trusts Hand.   Auch die anderen rafften sich auf. Sie stellten sich in einen Kreis und nahmen einander bei den Händen. „Sagt, wann ihr soweit seid, damit ich die Barriere auflösen kann.“, sagte Grauen-Eminenz. Barrieren ließen keine Angriffe von innen nach außen, das funktionierte nur bei sehr speziellen Schutzschilden. Doch die fünf schienen ihm keine Aufmerksamkeit mehr zu widmen.   Sie schlossen ihre Augen und konzentrierten sich auf die Verbindung ihrer Hände. Auch wenn die Schreie und die Bilder von zuvor noch wie Phantome in ihrer Erinnerung nachhallten, durchschnitt Ewigkeits ermutigender Glöckchenklang die Schreckbildnisse wie die Morgensonne den Nebel,. „Wir schaffen das.“, sagte Destiny mit ungewohnt hoher Stimme. Dass ausgerechnet sie das aussprach, brachte die anderen dazu, nochmals ihre Augen zu öffnen und sie anzusehen. „Wir schaffen das!“, stimmte Unite zu und strahlte sie an. Die anderen lächelten zurück. Sie konzentrierten sich auf ihren Atem und das Gefühl der Verbundenheit und des Vertrauens, das sie für einander hegten. Beherzt hielten sie einander fest, ließen die Energie durch ihre Adern fließen, zueinander hin, verbanden sich miteinander, als würden sie einander im Herzen spüren können. Vielleicht lag es an Unites Kräften, ihre Gefühle vereinten sich. Ewigkeits liebliche Stimme erklang. „Etwas Schönes!“   Grauen-Eminenz sah zu, wie die Gestalt der fünf zu strahlen begann. Und fragte sich, ob sie überhaupt wussten, wann sie mit diesem Aufladen fertig waren. Sie schienen jedenfalls nicht mehr daran zu denken, dass sie ihn darüber informieren sollten! Also hielt er sich bereit, die Barriere zerbröckeln zu lassen. Dennoch war er nicht schnell genug. Sein Zutun war auch gar nicht nötig. Die jäh hervorbrechenden Kräfte der Beschützer lösten die Barriere mit Leichtigkeit auf. Ein helles Leuchten flutete die gesamte Umgebung, ohne dass es geblendet hätte. Die Kraft bedurfte nicht des Doppelschrittes, die Allpträume zunächst in ihre normale Form zurückzuzwingen und dann aufzulösen. Beides geschah gleichzeitig. Grauen-Eminenz konnte nicht begreifen, wie dieses Leuchten gleichzeitig einen solch immensen Effekt auf die Lichtlosen haben konnte, während er selbst davon eingehüllt keinerlei Schaden nahm! Von einer solchen Kraft hatte er noch nicht einmal in Legenden gehört. Einige Sekunden hielt das Leuchten an. Schließlich klang es ab.   Von dem wohligen Gefühl der Geborgenheit, das ihr ganzes Inneres ausgefüllt hatte, noch eingenommen, öffneten die Beschützer wieder die Augen. Der Schleier des Zweifels zog erneut in ihnen auf. Hatte es funktioniert? Grauen-Eminenz trat zu ihnen und hob das Ortungsgerät auf, das sie am Boden liegen gelassen hatten. Er atmete erleichtert aus und ließ sich auf den Boden sinken, als brauche er selbst eine Pause. Dann hielt er ihnen das Display hin, sodass auch sie das Ergebnis erkennen konnten. Alle roten Punkte waren verschwunden. „Gott sei Dank.“, hauchte Desire. Noch einen Moment sahen sie einander ungläubig an. Change und Unite waren die ersten, deren Gesichter sich zu einem breiten Grinsen formten. Im gleichen Atemzug ließen sie ein Freudengeschrei los, als hätten sie die Fußballweltmeisterschaft gewonnen. Sie umarmten einander überschwänglich und machten nicht davor Halt, auch den anderen um den Hals zu fallen. Selbst Destiny ließ sich von Change umarmen. Es dauerte ohnehin nur kurz, schon riss er seine Arme in die Höhe und grölte laut. Destiny war so erleichtert, dass sie darüber grinsen musste und Desire neben ihr in eine weitere Umarmung zog, die deutlich länger anhielt. Trust war zu erschöpft, um sich zu schämen, und legte kurzerhand den Arm um Unite, die sich gegen ihn gelehnt hatte. Offenbar hatte auch sie nicht mehr die Kraft, Changes Freudentaumel zu unterstützen. Das tat an ihrer Stelle Ewigkeit, die in der Luft Pirouetten um Change herum drehte und glockenhell lachte. Grauen-Eminenz indes war einfach nur K.O. Vor allem, wenn er daran dachte, dass er jetzt noch alle Schäden in der Stadt reparieren musste. Vielleicht konnte er das Ganze ja auch irgendwelchen Extremisten in die Schuhe schieben oder Terroristen. Seufz. Kapitel 95: Mission erfüllt --------------------------- Mission erfüllt „Erfolg = eine Teamsache“ (Otto Happel)   Als die Tatsache, dass der Schatthenmeister sich noch immer in unmittelbarer Nähe befand, zurück in ihr Bewusstsein drang, klang der Freudentaumel der fünf abrupt ab und machte einer vorsichtigen Wachsamkeit Platz. Trust wandte sich in gemessenem Ton an den grauen Herrn, der noch immer auf dem Boden saß und ziemlich abgekämpft aussah. „Ist der Schlafzauber jetzt wieder unter Kontrolle?“ Grauen-Eminenz schien nicht begeistert davon, dass man ihn aus seiner Pause riss, nahm aber umgehend das Ortungsgerät zur Hand und stellte die Anzeige um. Ruckartig sprang er auf die Beine. Entsetzen zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Die fünf blieben ruhig und beobachteten, wie Grauen-Eminenz am Verzweifeln war. „Wollt ihr ihm nicht helfen?“, erkundigte sich Ewigkeit. Sie antworteten nicht, sondern verfolgten nur mit abgespannten Gesichtern Grauen-Eminenz‘Aufregung. Schließlich war er für diese ganze Misere verantwortlich gewesen. Dass er ein wenig länger als sie Angst und Schrecken ertragen musste, war nur gerecht. „Was ist?“, rief Unite so bestürzt, dass die anderen sich kurz fragten, ob der Grund für Grauen-Eminenz‘ Schrecken doch nicht der war, dass der Schlafzauber aufgrund von Destinys Paralyse noch immer außer Kontrolle war. Dann fiel ihnen wieder Unites schauspielerisches Talent ein. Grauen-Eminenz brachte noch immer kein Wort hervor. Schließlich stammelte er mehr als er sprach. „Das ist unmöglich...“ „Was ist unmöglich?“, verlangte Unite dringlich zu wissen. „Es hat sich nichts verändert.“ Der Schatthenmeister begann wie ein Tiger im Käfig hin und her zu gehen. „Das kann nicht sein!“ Unite packte ihn am Arm, als wäre nichts dabei. „Reiß dich zusammen! Was ist los?“ Die anderen hielten sich mit Absicht im Hintergrund, um das Schauspiel nicht zu verderben. Grauen-Eminenz wurde laut. „Nichts! Nichts hat es geholfen! Der Schlafzauber ist immer noch auf Endlosschleife!“ Er stieß einen derben Fluch aus, schrie und stand dann still wie ein gebrochener Mann. „Vielleicht haben die Allpträume irgendetwas am Schlafzauber verändert.“, mutmaßte Unite scheinheilig. Grauen-Eminenz antwortete nicht. Er wirkte in Gedanken versunken. Unite ließ ihre Stimme noch unschuldiger klingen. „Vielleicht können wir helfen.“ „Was zum Teufel wollt ihr denn machen?!“, brüllte der Schatthenmeister aufgebracht. Es war seltsam ihren Feind so sorgenvoll zu sehen. Fast hätte er ihnen leid getan. Fast. Nein, eigentlich hätten sie ihn gerne noch ein wenig länger leiden lassen für alles, was er ihnen angetan hatte. „Was ist denn der Schlafzauber genau?“, fragte Unite zurück, als wäre sie völlig unwissend. „Was soll die Frage!“, schnauzte Grauen-Eminenz sie an. Unite blieb ruhig. „Wenn die Allpträume den Schlafzauber manipuliert haben, dann müssen wir einfach die Wirkung aufheben!“ Grauen-Eminenz brüllte: „Das geht nicht!“ „Warum nicht?“, fragte Unite, als gäbe es keinen Anlass an der Machbarkeit zu zweifeln. Der Schatthenmeister schien darauf keine Antwort zu haben. Er wirkte äußerst angespannt. Unite sprach weiter. „Du hast gesagt, du hast den Schlafzauber gemacht, richtig? Also weißt du mehr über ihn als jeder andere.“ Grauen-Eminenz‘ Blick nach zu urteilen, war er davon wenig überzeugt. „Ist der Schlafzauber von dir unabhängig oder ist er mit dir verbunden?“, hakte Unite weiter nach. „Was hat das hiermit zu tun?“, schimpfte Grauen-Eminenz. „Desire kann Effekte rückgängig machen.“, informierte Unite ihn. „Was auch immer die Allpträume bewirkt haben, sie kann es bestimmt auflösen! Und wenn der Schlafzauber von dir ausgeht, könnte sie ihre Fähigkeit einfach auf dich anwenden und –“ Augenblicklich war der Schatthenmeister einen Schritt zurückgewichen, als hätte sie ihm vorgeschlagen, ihn zu erschießen, um den Schlafzauber zu beenden. Unite begegnete seinem Misstrauen mit unschuldiger Miene und hob fragend die Augenbrauen. Grauen-Eminenz‘ Züge verhärteten sich noch mehr. Unite rief ein erkennendes „Ah!“ aus und strahlte ihn an. „Keine Angst, Desire kann Fähigkeiten nicht löschen.“ „Ich lasse niemanden seine Kräfte auf mich anwenden.“, knurrte Grauen-Eminenz. „Dann musst du uns eben direkt zum Schlafzauber bringen, damit sie sie dort anwenden kann.“, meinte Unite locker, als wäre es für den Schatthenmeister sicher ein Leichtes, dies zu tun. Grauen-Eminenz stockte. Dann gab er ein frustriertes Grollen von sich. Schließlich hielt er Unite seine Linke hin. „Wenn ich merke, dass sie etwas anderes tut, als den Schlafzauber zu läutern, töte ich sie!“ Unite lächelte. „Ich dachte, du wolltest uns nicht töten.“ Er ging auf den Einwand nicht ein. Unite trat zur Seite und machte den Weg frei für Desire. Deutlich gehemmter trat Desire heran. Der tödliche Gesichtsausdruck des Schatthenmeisters ließ sie sich unbehaglich fühlen. Sie zögerte. „Wenn ich Ihnen helfe, halten Sie sich weiterhin an den Waffenstillstand.“ „Ich habe schon gesagt, dass ich euch heute Nach nichts tun werde.“, grummelte Grauen-Eminenz. Desire senkte wieder den Blick, um ihn gleich wieder zu heben. „Sie werden Erik in Ruhe lassen.“ Grauen-Eminenz stöhnte entnervt. „Wenn ich ihn in Ruhe lasse, schadet das mehr als es nützt. Diese Wunde ist ein Problem, um das ich mich kümmern muss.“ Desire zog ihre Hand zurück und sah den Schatthenmeister feindselig an. „Destiny hat Recht, es ist falsch, den Bösen zu helfen!“, stieß sie aus. „Wenn wir es nicht tun, endet der Schlafzauber nicht.“, erinnerte Trust sie eindringlich. „Wir können nicht zulassen, dass er Erik schon wieder etwas antut!“, begehrte Desire auf. Grauen-Eminenz verdrehte die Augen. „Und du denkst, ein normaler Arzt kann ihm helfen.“ „Sie sind schuld, dass es ihm so geht!“, schrie Desire erregt. „Deshalb bin ich auch der einzige, der ihm helfen kann.“ Desire biss sich auf die Unterlippe und drehte sich zu den anderen. „Ich kann das nicht.“ „Desire.“, tadelte Trust, doch sie begegnete seinem strengen Blick mit Widerwillen. Change wandte sich an die anderen. „Äh, heißt das jetzt: Es ist besser, wenn Erik für immer schläft, als dass der Schatthenmeister was macht, was er nicht soll?“ Desire ballte die Hände zu Fäusten und rang sichtlich mit sich. Schließlich wirbelte sie wieder zu Grauen-Eminenz herum. „Ich schwöre, ich werde nicht zulassen, dass sie ihm noch mehr antun!“ Grauen-Eminenz schaute desinteressiert. Desire funkelte ihn wütend an und schlug mit ihrer Rechten auf seinen ausgestreckten Arm, um Körperkontakt herzustellen und ihre Kräfte anzuwenden. Leider war das aufgrund ihrer Gefühlslage unmöglich. Sie war so aufgebracht, dass sie den Schatthenmeister am liebsten angeschrien hätte. Sie wollte diesem Mann nicht helfen, sie wollte ihn unschädlich machen! Das frustrierte sie so sehr, dass sie vor lauter ohnmächtiger Wut fast geheult hätte. Sie war völlig verkrampft.   Destiny glaubte zu verstehen, was in Desire vor sich ging. Hilfesuchend wandte sie sich an Unite und versuchte, ihr durch einen Blick zu verdeutlichen, dass Desire ihre Hilfe brauchte. Unite zögerte nicht. Sie löste sich aus der Reihe der Beschützer und trat zurück zu Desire und Grauen-Eminenz. Ewigkeit folgte ihr unaufgefordert. Den misstrauischen Blick des Schatthenmeisters ignorierend, sprach sie Desire an. „Ich kann deine Kräfte an ihn weiterleiten.“ Desire wirkte verwirrt. „Dann musst du ihn nicht anfassen.“, erklärte Unite und beugte sich verschwörerisch zu ihr. „Das Grau sieht schon unappetitlich aus.“ „Ja, wie Gammelfleisch!“, kam es von Change, woraufhin Grauen-Eminenz ihm einen tödlichen Blick zuwarf. Wie um Schutz zu suchen, trat Change daraufhin näher zu Destiny, die dies etwas irritiert zur Kenntnis nahm. Dann dämmerte ihr, dass ihre Paralyse wohl noch die beste Waffe gegen den Schatthenmeister war, auch wenn sie befürchtete, ein solcher Versuch würde darin enden, dass stattdessen Change bewegungsunfähig war. Desire zog ihre Hand von dem Schatthenmeister zurück und trat von ihm weg. Der Körperkontakt zu diesem widerwärtigen Mann war ihr wirklich unerträglich gewesen. Grauen-Eminenz seinerseits beobachtete das Treiben argwöhnisch, sagte aber nichts, als habe er begriffen, dass es der Beschützerin nicht gelingen würde, ihre Fähigkeit einzusetzen, ohne dass sie Unterstützung bekam. Nun beäugte er Unite äußerst kritisch, als wittere er eine Finte. Unite trat zu ihm und ergriff lächelnd seine Hand. „Ich bin offen gegenüber anderen Hautfarben.“ Desire warf ihr einen empörten Blick zu, schließlich lag es nicht an der Hautfarbe dieses Mannes, dass sie ihn verabscheute! Ewigkeit landete auf ihrer Schulter und lächelte sie aufmunternd an, als wolle sie sie dadurch beschwichtigen oder sie trösten. Desire seufzte. Unite streckte ihr die noch freie Hand hin. Desire folgte der unausgesprochenen Aufforderung. Die warme, weiche Hand Unites zu spüren, beruhigte sie unerwarteter Weise tatsächlich. Vielleicht weil es ihr schon so vertraut war. Desire schloss die Augen und bemühte sich, bei der Ausatmung ihre Anspannung gehen zu lassen. Unterstützt wurde sie dabei von der leichtherzigen Güte von Ewigkeits Glöckchenklang, der so leise war, dass Desire ihn weniger mit ihrem Gehör als mit ihrer Seele wahrzunehmen glaubte.   Grauen-Eminenz hätte sich vor Schreck fast losgerissen, als er spürte, wie ein besänftigendes Gefühl von dem rothaarigen Terrorzwerg auf ihn überging. Etwas, das sich so vertraut anfühlte, wie etwas schmerzlich Entbehrtes – Geborgenheit. Für einen Moment hatte er den Impuls, sich mit allem, was er hatte, dagegen zu wehren! Gegen dieses Gefühl, das er sich nicht erlauben durfte! Niemals mehr. Stumm ertrug er diesen Übergriff, der sein Inneres so viel mehr aufwühlte, als es jeder Schmerz getan hätte. Das war grausamer als jede brutale Folterung es gewesen wäre! Er bemühte sich verzweifelt, sein Inneres vor dem Gefühl zu verschließen. Doch das hatte nur zur Folge, dass alles in ihm in Aufruhr geriet, und sich etwas aus seinen Tiefen erhob, das er nicht mehr haben wollte. Hoffnung oder Sehnsucht. Eine dieser grässlichen Geißeln der Menschheit! Endlich riss die Empfindung ab. Er stieß erleichtert die Luft aus und bemühte sich, nicht zu zeigen, wie es um seinen Gemütszustand bestellt war. Eilig brachte er seine Aufmerksamkeit unter seine Kontrolle und überprüfte die Schlafzauber-Anzeige. Doch zu sehr waren seine Sinne noch in Mitleidenschaft gezogen, als dass er über den Umstand, dass die Störung nun wirklich beseitigt war, hätte erleichtert sein können. Als er wieder aufsah, hatten sich die beiden Beschützerinnen bereits wieder zu ihren Kollegen verzogen und einen Schutzschild beschworen. Fräulein Überfröhlich lächelte ihn von jenseits der Schutzhülle an. „Danke für die gute Zusammenarbeit!“ Er erwiderte das Lächeln nicht. Dass sie sich sofort in ihren Schutzschild geflüchtet hatten, war für ihn nicht gerade eine freundschaftliche Geste. „Geht nach Hause.“, sagte er abweisend. Sie rührten sich nicht. Er biss die Zähne zusammen. „Wenn ihr glaubt, ihr könnt mich besiegen, nur weil ich ein bisschen mit den Allpträumen gekämpft habe, irrt ihr euch!“ Fräulein Überfröhlich, der kleine Terrorzwerg, lächelte lieblich. „Wir warten darauf, dass du dich auch bedankst.“ Grauen-Eminenz glaubte sich verhört zu haben. Das … das konnte doch wohl nicht! Grr… „Danke.“, zischte er halblaut. „Was?“ „Danke!“ „Gern geschehen.“, kicherte sie. „Dann bis nächstes Mal, Grauen-Eminenz.“ Er schwieg. Wieder rührten sich die fünf nicht. „Wollt ihr nicht endlich verschwinden?“ „Geh du doch zuerst!“, gab das Großmaul zurück. „Ich kann nicht teleportieren!“, schimpfte Grauen-Eminenz. „Dann lern’s halt!“   Change wandte sich im Flüsterton an die anderen. „Ich find’s unheimlich, den Typ hier alleine zu lassen.“ Trust stimmte ihm stumm zu. Gleichzeitig war es nicht viel besser, noch länger in der Nähe des Schatthenmeisters zu bleiben. Unite fasste ihn am Handgelenk. Er begriff, dass sie per Telepathie mit ihm kommunizieren wollte. ♪ Ewigkeit wird auf ihn aufpassen. ○ Hältst du das für eine gute Idee? Er könnte sie als Geisel nehmen. ♪ Er sieht sie nicht. Und hören kann er sie auch nicht. Trust zögerte. ○ In Ordnung. „Meinetwegen könnt ihr da stehen bleiben. Aber der Schlafzauber hält nicht mehr lange an, ihr solltet in diesen komischen Klamotten nicht gesehen werden.“, sagte Grauen-Eminenz und wandte sich zum Gehen, nicht ohne seinerseits einen Schutzschild hochzuziehen. Unbemerkt folgte ihm Ewigkeit. „Der muss grad reden.“, wisperte Change verärgert. „Was macht sie?“, zischte Destiny mit Bezug auf Ewigkeit. Keiner antwortete ihr. Stattdessen übermittelte Trust Change: ○ Ins Hauptquartier.   „Das kann keine gute Idee sein!“, schimpfte Destiny. Wie ein Tiger im Käfig – oder eine besorgte Mutter – lief sie im Hauptquartier auf und ab. Unite hatte sich mit den anderen auf die Couch gesetzt. „Wenn Grauen-Eminenz irgendwas vorhat, informiert sie uns.“ Change lag mehr in den Kissen als er saß. „Können wir dann endlich ins Bett?“ Der Kampf mit den Allpträumen hatte mehrere Stunden gedauert. Mittlerweile war es fünf Uhr morgens und die Stadt würde in absehbarer Zeit aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. Destiny machte eine ausladende Geste zur Tür des Hauptquartiers. „Dieser Irre ist da draußen und du denkst ans Schlafen?“ „Dafür haben wir doch Ewigkeit.“, brabbelte Change und konnte die Augen kaum noch aufhalten. Mit Sorgenfalten auf der Stirn fuhr Destiny darin fort, auf und ab zu gehen. „Wir haben gewonnen!“, erinnerte Unite. „Das war unser erster richtig großer Kampf und wir haben gewonnen!“ „Wir haben überlebt.“, sagte Trust. Unite sah ihn daraufhin schmollend an, was Trust, der die Aussage weniger ernüchternd als vielmehr zustimmend gemeint hatte, verwirrte. Desire war derweil mit Gedanken anderer Art beschäftigt. Vornübergebeut, mit den Unterarmen auf ihre Oberschenkel gestützt, saß sie da. „Wie sollen wir ihn besiegen?“, sprach sie schließlich ihren Gedanken laut aus. Die anderen – mit Ausnahme von Change – wandten ihre Blicke Desire zu. Keiner sagte etwas. „Wir können teleportieren.“, brummte Change mit geschlossenen Augen. „Wir müssen ihn davon abhalten, Erik etwas anzutun!“, begehrte Desire auf. Change stöhnte und verharrte in seiner Position. Desire musste ja auch immer – Im nächsten Moment fuhr er auf. „Shit.“ Er verwandelte sich einen kurzen Moment lang zurück, um etwas aus seiner Jackentasche zu holen und nahm dann wieder seine Beschützergestalt an. Es handelte sich um ein Smartphone. Die anderen waren verwundert. „Das hab ich bei Erik mitgehen lassen.“ Destiny verzog ungläubig das Gesicht. „Du hast Eriks Handy geklaut?“ „Ich dachte, es wäre eine gute Idee.“, erwiderte Change. Destinys Augenlider senkten sich abfällig. „Inwiefern?“ „Wenn ich sein Handy habe, muss er uns doch glauben, oder nicht?“ Desire horchte auf. „Erik wäre nur verstört, wenn du plötzlich sein Handy hast.“, entgegnete derweil Trust. Desire brauste auf. „Wollt ihr etwa immer noch so tun, als wäre das alles nur eine Geschichte?“ „Willst du lieber, dass wir uns jetzt zu ihm teleportieren, und ihm alles sagen?“, hielt Trust entgegen. Desire reckte ihr Kinn. „Ja.“ Sie und Trust sahen einander stumm an. Schließlich senkte er den Blick und atmete aus. „Der Schlafzauber hat bei ihm gewirkt.“ „Was willst du damit sagen?“, forderte Desire zu wissen. „Nichts.“ Desire klang erregt. „Nur weil er eingeschlafen ist, heißt das nicht –“ „Dass er kein Beschützer ist…“, beendete Destiny den Satz tonlos und starrte abwesend zu Boden. Desire akzeptierte das nicht. „Wieso sollte der Schatthenmeister ihn sonst entführt haben? Und wieso steht sein Name in der Prophezeiung!“ Sorge zeichnete sich auf Trusts Gesicht ab. „Ist das denn wichtig?“, klinkte Unite sich ein. „Ob Erik ein Beschützer ist oder nicht: Er gehört zu uns!“ Change unterbrach gelangweilt: „Und was soll ich jetzt mit dem Handy machen?“ „Gib mal.“, sagte Unite neben ihm. Change überreichte ihr das Smartphone. Unite schaltete das Display ein, überlegte kurz und fuhr mit ihrem Finger eine Figur nach. Der Zugriff wurde ihr verwehrt. Sie schloss die Augen und überlegte nochmals. „Alter, wenn das Ding gesperrt wird.“, meinte Change. Unite versuchte es mit einer anderen Figur. Das Handy wurde entsperrt. Change starrte fassungslos auf den sichtbar gewordenen Home Bildschirm. „Wie?“ Unite grinste. „Ich dachte, es könnte mal nützlich sein, deshalb hab ich darauf geachtet, wenn Erik sein Handy entsperrt hat.“ Change sah sie an. „Du bist gruselig.“ Unite kicherte und widmete sich dann wieder dem Display. „Was hast du vor?“, wollte Desire wissen. Unite grinste sie spitzbübisch an. „Ich lese deinen Chat mit Erik.“ „Was?!“ Desire versuchte über Trust hinweg Unite das Handy zu entreißen. Unite jedoch entzog sich ihrer Reichweite, indem sie sich weiter zu Change neigte, wobei sie schadenfroh lachte. Trust indes wusste nicht, wie er mit der Situation und der ihn offenbar nur noch als menschliches Hindernis ansehenden Desire umgehen sollte. „Ihr seid solche Kinder!“, schimpfte Destiny mit vor der Brust verschränkten Armen. Unite lachte einfach weiter, woraufhin Desire aufstand, um ihr das Handy wegzunehmen. Kaum stand sie vor Unite, hielt diese ihr das Display hin. Die Liste der Kontakte war aufgerufen. Dies irritierte Desire. „Wenn wir herausfinden wollen, wer der Schatthenmeister ist, hilft es uns vielleicht weiter, wenn wir nachsehen, welche Nummern Erik gespeichert hat.“, erklärte Unite und sah sich erneut die Liste an. Desire ging einen Schritt zur Seite, beugte sich vor und beobachtete Unite dabei. „Wir sollten die Nummern aufschreiben.“, meinte sie. „Hm.“, antwortete Unite bloß. „Er hat kaum eigene Nummern. Die meisten sind solche, die von Anfang an gespeichert sind. Der Notruf und so was. Ansonsten… Die Nummern von ihm zu Hause, die Handynummern und Büronummern seiner Eltern, unsere Nummern.“ Sie legte eine kurze Pause ein. „Mehr ist da nicht. Ah, hier ist noch ein Name. Wahrscheinlich ein Freund. Aber sonst…“ Unite schloss die Nummernliste und rief seinen Nachrichtendienst auf. „Hey.“, sagte Desire. Unite ignorierte sie. „Da sind nur Nachrichten von dir und mir.“ Desire zog ein reumütiges Gesicht. „Es ist nicht richtig, solche persönlichen Sachen durchzusehen.“ „Wir machen es ja nicht zum Spaß.“, entgegnete Unite, sah dabei aber aus, als hätte sie eine Menge Spaß. „Also, wenn ich ihm das Teil wieder bringen soll, sollte ich das tun, bevor er aufwacht.“, gab Change zu bedenken. Unite frohlockte: „Wir könnten sein Zimmer inspizieren!“ „Unite!“, tadelte Desire. Trust hatte sich derweil in Schweigen gehüllt. Nun sah er auf. Nochmals versuchte er sich über die Situation und deren Konsequenzen klar zu werden. „Vielleicht ist es das Beste, Erik heute Nacht die Wahrheit zu sagen.“ Desire war sprachlos. Ungläubig fragte Destiny: „Ernsthaft?“ „Die Folgen sind nicht schlimmer, als wenn wir noch länger mit diesem Versteckspiel weitermachen.“, entgegnete Trust. „Können wir das auch machen, nachdem wir geschlafen haben?“, meinte Change. Desires Blick gab ihm die Antwort. „Okay, okay.“, lenkte er ein. Aus einer unerwarteten Ecke kam Widerspruch. „Ich bin dagegen.“ Jäh war alle Aufmerksamkeit auf Unite gerichtet. Die Beschützerin hielt Eriks Handy umfasst und sah die anderen nicht an. „Wenn wir es ihm jetzt sagen, dann wird er sich noch ausgeschlossener fühlen.“ „Wovon –“ Desire wurde von Unite unterbrochen. „Erik hat nicht die Kräfte, die wir haben.“ Sie erinnerte sich daran, wie sie versucht hatte, mit ihren Fähigkeiten Eriks Gefühle anzuzapfen. Die Barriere, die sie davon abgehalten hatte, kam ihr in den Sinn. „Wenn wir ihm sagen, wer wir sind, dann wird er sich nicht mit uns verbunden fühlen, sondern nur noch mehr getrennt.“ Desire wollte widersprechen, kam aber nicht dazu. Unite wandte sich an Destiny. „Wie würdest du dich fühlen, wenn du die einzige von uns wärst, die keine Kräfte hat?“ Destiny sagte nichts, aber ihr Gesicht war auf einmal seltsam leer. „Das ist keine Begründung!“, rief Desire. „Ich werde das Erik nicht antun!“, sagte Unite so bestimmt, wie keiner von ihnen es je bei ihr gehört hatte. Ihre Finger umkrampften Eriks Smartphone. Mit einem Mal sah sie aus, als würde sie Leid empfinden. Desire wollte so viel sagen, wollte protestieren, aber Unites Gesichtsausdruck hinderte sie daran. Sie wollte Unite genauso wenig wehtun wie Erik. „Und was soll ich jetzt mit dem Handy machen?“, fragte Change. „Erik wird sich wundern, dass wir uns nicht gemeldet haben.“, meinte Trust. Unite tippte auf Eriks Smartphone herum und streckte anschließend Desire ihre Hand entgegen. „Dein Handy.“ Desire wusste nicht, was sie vorhatte, verwandelte sich einen Moment lang zurück, um ihr Handy hervorzuholen, und überreichte es Unite. „Was hast du vor?“ „Erik anrufen.“ „Er wird sich trotzdem fragen, warum wir uns nicht um Mitternacht gemeldet haben, wie es abgemacht war.“ „Nicht, wenn du dich um Mitternacht gemeldet hast. Und dann alle paar Minuten.“ Desire begriff nicht und beobachtete, wie Unite mit ihrem Handy das von Erik anklingelte. Anschließend machte sie eine Pause, um dann erneut anzurufen. Als nächstes wechselte sie bei Eriks Handy auf die Einstellungen und Desire beobachtete, wie sie die Uhrzeit umstellte. Das musste sie schon zuvor getan haben, denn das Display zeigte Mitternacht an. Unite wiederholte den Vorgang mehrmals, sodass es aussah, als hätte Desire mehrfach versucht, Erik kurz nach zwölf zu erreichen. Schließlich vergrößerte sie die Anrufintervalle, indem sie die Uhrzeit auf kurz nach Viertel, kurz vor Halb, und schließlich ein Uhr änderte. Mittlerweile standen beziehungsweise saßen alle anderen um Unite herum und beobachteten ihr Treiben von hinten, vorne und von der Seite. „Erik wird doch merken, dass seine Uhr nicht stimmt.“, gab Desire zu bedenken. Unite wechselte in den Einstellungen wieder auf automatische Uhrzeit und zeigte Desire, dass die Anrufzeiten dennoch weiterhin den gefälschten Zeiten entsprachen. „Mit Nachrichten funktioniert das leider nicht. Da wird die richtige Uhrzeit angezeigt.“, informierte sie und überreichte Change das Handy. „Mit Dank zurück.“ „Das heißt, ich soll’s ihm jetzt wiederbringen.“, schätzte Change. Unite nickte. „Sonst noch was?“, erkundigte sich Change. „Das reicht. Danke.“ „Ich soll wohl keinen Zettel hinterlassen: Ich war hier.“ Unite kicherte. Change stand auf. „Er sollte nicht allein gehen!“, wandte Destiny ein. „Wenn der Schatthenmeister dort wartet!“ Unite rief Ewigkeits Namen. Nur Momente später erschien die Kleine vor ihnen. „Wo ist der Schatthenmeister gerade?“ Ewigkeit lächelte freudig. „Er räumt die Stadt auf.“ Destiny und Change starrten sie ungläubig an. Sicher legte der Schatthenmeister in Wirklichkeit irgendwelche Fallen aus, Tretminen oder dergleichen. Unite schien an der Richtigkeit von Ewigkeits Behauptung nicht zu zweifeln. „Danke. Kannst du ihn noch ein bisschen beobachten?“ Ewigkeit nickte und verschwand. Unite drehte sich zu Change und Destiny. „Der Weg ist frei. Wenn du ihn begleiten willst.“ Der letzte Satz war offensichtlich als Aufforderung an Destiny gedacht. Grummelig und mit missmutiger Miene reichte Destiny Change ihre Hand, als wäre ihn zu begleiten ihr absolut lästig. „Ich kann auch alleine gehen.“, blaffte Change, der von ihrer Zurschaustellung absoluter Entnervtheit selbst genervt war. Trust stand auf. „Ich gehe mit.“ Destiny, davon ziemlich überrascht, trat zur Seite und machte Trust Platz. „Wir sind gleich wieder da.“, sagte Trust und verschwand mit Change.   Sie landeten vor Eriks Zimmer. Trust sah Change fragend an. „Nicht, dass er schon aufgewacht ist.“, erklärte Change im Flüsterton und beugte sich vor, um durchs Schlüsselloch zu schmulen. Er richtete sich wieder auf und zuckte mit den Schultern. „Ich kann nichts erkennen.“, raunte er. Trust trat daraufhin vor und lauschte an der Tür. Er hörte nichts. Mit Blicken tauschte er sich mit Change aus. Change setzte daraufhin seine Unsichtbarkeit ein. Trust trat zur Seite und beobachtete, wie die Türklinke wie von Geisterhand heruntergedrückt wurde und die Tür sich leicht öffnete. Das Licht der Zimmerbeleuchtung fiel in den dunklen Gang. Trust ging in Deckung, für den Fall, dass Erik tatsächlich schon erwacht war. Er musste nicht lange warten, dann schloss sich die Tür wieder, woraufhin er erneut in Dunkelheit getaucht wurde, dennoch erkannte er, dass Change nun wieder neben ihm sichtbar wurde. Dieser ergriff Trusts Hand und sie teleportierten zurück ins Hauptquartier.   Als sie bei den Mädchen ankamen, sahen sie, dass Ewigkeit wieder bei ihnen war. Unite brachte sie auf den neuesten Stand. „Grauen-Eminenz ist auf dem Bauplatz verschwunden.“ „Er wird wieder ins Schatthenreich gegangen sein.“, schlussfolgerte Trust. „Bitte sagt, dass das heißt, dass wir jetzt ins Bett können.“, jammerte Change. Trust nickte bestätigend. Ohne weitere Worte bildeten die fünf daraufhin eine Kette und teleportierten.   Kapitel 96: [Geheime Bedrohung] Siegesfeier ------------------------------------------- Siegesfeier „Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht.“ (Arthur Schopenhauer)   Eriks Bewusstsein erhob sich langsam aus dem Schlaf. Gleich dem Licht der Morgendämmerung durchbrach sein Verstand die Ruhe und fand zurück in den Wachzustand. Im gleichen Moment spürte er, dass er ziemlich unbequem lag.   Er gab halb-artikulierte Laute von sich, öffnete die Augen und orientierte sich. Das Licht in seinem Zimmer brannte noch. Er richtete sich auf, hielt sich den Kopf und wunderte sich, was geschehen war. Dann fiel sein Blick auf die Uhrzeitanzeige seiner Stereoanlage. 5:23 Noch einen Moment starrte er auf die Zahlen und suchte dann nach seinem Handy, das er neben sich liegend entdeckte. 12 entgangene Anrufe Er konnte seinen Augen nicht trauen. Mit wenigen Fingerbewegungen kontrollierte er den Anrufer und die Anrufzeit. Ariane hatte von Mitternacht bis nach ein Uhr ein Dutzend Mal versucht ihn zu erreichen. Wie konnte er das nicht gehört haben? Nochmals starrte er auf die momentane Uhrzeit. Jetzt konnte er sie natürlich nicht zurückrufen. Er begriff nicht, wie das hatte geschehen können. Aber was half das? Er würde sich vor Ariane und den anderen erklären müssen.   Um acht Uhr, nachdem er unruhig geschlafen hatte, rief Erik Ariane schließlich zurück. Sie nahm nicht ab. Noch zwei weitere Male versuchte er vergeblich sein Glück und kam schließlich zu dem Schluss, dass sie ihn wohl absichtlich ignorierte. Um zehn Uhr wählte er schließlich Vitalis Nummer. Auf dem Handy nahm er nicht ab, also versuchte Erik es auf dem Festnetz. Eine resolute kräftige Frauenstimme antwortete ihm, die er als die von Vitalis Mutter erkannte. „Einen Moment.“, sagte sie, nachdem er gebeten hatte, Vitali sprechen zu dürfen. Er hörte Schritte und ging davon aus, dass Vitalis Mutter die Treppe hinaufging. Das sachte Quietschen einer Tür war zu vernehmen, dann lautes Schreien. „Liegst du immer noch im Bett!“ Dann wurde Vitalis Mutter wieder leiser. „Erik für dich.“ Als nächstes kamen Erik seltsame Laute entgegen, die nicht klar als die eines Menschen zu identifizieren waren. „Huh…“ „Vitali?“ Bei den nächsten Worten hätte Erik nicht einmal sagen können, ob es sich bei seinem Gesprächspartner wirklich um Vitali handelte, so übermüdet und lallend klang die Stimme. „Lass mich schlafen.“, brabbelte es von der anderen Seite. Es klang, als hätte man dem Sprecher ein lokales Betäubungsmittel in den Mund gespritzt. Ein erschöpftes Stöhnen folgte. „Soll ich vielleicht später noch mal anrufen?“ Ein entfernt als Zustimmung interpretierbares Jammern war die Antwort. „Vitali?“ Keine Reaktion. Erik beendete das Gespräch. Es hätte allzu verzweifelt gewirkt, wenn er jetzt versucht hätte, Justin, Vivien oder Serena anzurufen. Daher musste er sich wohl gedulden, so schwer es ihm fiel.   Als Vitali Stunden später endlich zurückrief, begann er ohne Begrüßung sogleich zu reden, was Erik im ersten Moment irritierte. „Meine Mutter hat mich fast gekillt, weil ich nicht richtig aufgelegt habe!“, sagte Vitali und meinte damit wohl, dass er nach Eriks Anruf nicht den Knopf gedrückt hatte, mit dem man das Telefonat am Schnurlostelefon beendete. Vermutlich hatten dadurch keine Anrufe mehr im Hause Luft ankommen können. „Als würden uns irgendwelche wichtigen Leute anrufen!“ Erik wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte und entschied sich für ein einfaches „Hm.“ Dann begann er: „Wegen gestern“ „Ha?“ Dafür dass er so viel Zeit gehabt hatte, sich über das Gespräch Gedanken zu machen, kam Erik sich reichlich unvorbereitet vor, wie er selbst feststellte. „Ich – hab das Handy irgendwie nicht gehört.“ „Du hast gepennt.“, entgegnete Vitali knapp. Erik konnte nicht widersprechen, sah aber von einer Zustimmung ab. „Waren die anderen wütend?“ „Nö.“, antwortete Vitali, als wäre es völlig abwegig wegen so etwas wütend zu sein. „Ah.“, sagte Erik, um möglichst unbeteiligt zu klingen. Eine kurze Pause entstand. Vitali darauf anzusprechen, dass Ariane seine Anrufe nicht entgegennehmen wollte, hielt Erik für keine gute Idee. Das hätte ja so geklungen, als würde ihm das etwas ausmachen. „Wie… war es denn so … gestern?“ Erik kam sich albern vor. Normalerweise sprach er nicht so zögerlich. „Stressig.“ Vitali atmete geräuschvoll aus. „Sei froh, dass du nicht dabei warst.“ Endlich fand Erik in seine übliche Rolle zurück und die Festigkeit kam wieder in seine Stimme. „Wieso?“ „Alter, das war echt anstrengend! Mit diesen ganzen Viechern! Und dann war da noch der Schatthenmeister! Und Tiny hat natürlich wieder uns halber gekillt statt den Gegnern! Zwischendurch war’s zwar auch ganz lustig. Aber echt: Es war besser, dass du nicht dabei warst.“ Erik schwieg kurz. Vitali nahm das wohl als Anlass, doch noch etwas mehr ins Detail zu gehen, oder besser gesagt, etwas mehr zu prahlen. „Ey, du hättest sehen sollen, wie ich die Dinger platt gemacht habe! Die haben gar nicht so schnell gucken können!“ Erik glaubte aus Vitalis Stimme sein typisches schalkhaftes Grinsen heraushören zu können. „Es wär vielleicht doch gut gewesen, wenn du da gewesen wärst.“ Vitali lachte kurz dreckig. Dann schien seine Aufmerksamkeit sich schon wieder auf etwas anderes zu konzentrieren. „Tinys Kräfte waren echt praktisch! Aber wenn du Trust in seiner eigenen Kotze liegen gesehen hättest, da wär‘s dir echt vergangen.“ Erik war verwirrt. „Habt ihr was getrunken?“ „Hä?“ „Na weil –“ Erik unterbrach sich. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass Justin sich so stark betrank, dass er sich anschließend übergeben musste. Oder dass er überhaupt jemals mit irgendetwas über die Strenge schlug. Irgendwie hatte er Justin als Hüter der Vernunft und des Anstands abgespeichert.. „Wieso hat er sich übergeben?“ „Die Allpträume haben ihn angegriffen. Als Desire und ich dazu kamen, war schon alles vorbei.“ „Und wie habt ihr es dann geschafft?“ Erik versuchte einfach mal mitzuspielen, denn offenbar würde Vitali ihm ohnehin nicht auf nachvollziehbare, rationale Weise erklären, was sie in der Nacht getrieben hatten. Wenn er es recht bedachte, hatten die fünf sich vermutlich nur am Telefon gemeinsam darüber ausgetauscht, was in ihrer Vorstellung passierte, denn Serena hätte sich sicher nicht heimlich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen. Dazu war sie zu ängstlich und zu brav. „Der Schatthenmeister hat uns geholfen.“, sagte Vitali amüsiert. „Der hat gar nichts gecheckt! Tiny hatte den Schlafzauber auf Pause geschaltet und der hat gedacht, dass es die Allpträume waren! Und hat deshalb mit uns zusammengearbeitet! Haha!“ Ein stolzes Grinsen war aus seiner Stimme herauszuhören, das mit einem Mal verschwand und einem gelangweilten Ton Platz machte. „Und der hat uns dann irgendwelches Zeug über die Allpträume erzählt. Blabla. Und zum Schluss haben wir dann so ne Welle ausgelöst, die alle Allpträume platt gemacht hat.“ Die Begeisterung war in seine Stimme zurückgekehrt. Erik begriff überhaupt nichts, aber, was dieses Rollenspiel anging, war er das schon gewöhnt. „Kann ich wohl froh sein, dass ich nicht dabei war.“ „Du wärst eh nur im Weg rumgestanden.“ „Danke.“, brummte Erik. „Du hast nicht mal Kräfte!“, erinnerte Vitali. „Ich dachte, Secret hatte Kräfte.“ „Jupp. Aber du bist voll die Niete.“ Erik zog ein missmutiges Gesicht und verlieh seiner Stimme einen drohenden Klang. „Dann wäre es wohl für alle besser, wenn Secret sich nicht mehr an Erik erinnern würde, anstatt umgekehrt.“ „Hä?“ Er wiederholte die Aussage nicht. „Habt ihr noch nicht geplant, wie Erik sein Gedächtnis wiederkriegen kann?“ Auf der anderen Seite herrschte kurze Stille. „Es klingt echt krank, wenn du von dir in der dritten Person sprichst.“ Erik konnte nicht fassen, dass er sich das von jemandem sagen lassen musste, der sich einbildete, ein Superheld zu sein! „Also habt ihr euch was überlegt?“ „Keine Ahnung. Vivien vielleicht. Kannst sie ja morgen fragen.“ „Wieso morgen?“ „Na die Siegesfeier! Hast du doch mit Ariane ausgemacht.“ Erik erinnerte sich nicht, dergleichen mit Ariane ausgemacht zu haben. „Wann und wo soll das sein?“   Es war zehn vor zwölf. Um Punkt zwölf wollten sie sich treffen. Erik stand vor dem weißgestrichenen Gebäude, das ringsumher zahlreiche Parkplätze bot und eingerahmt war von Grün. Ein Teich war um den vorderen  Teil des Restaurants herum angelegt, über den eine kurze leicht bogenförmige Brücke zum Wintergarten führte. Dessen gläserne Wände gewährten einen Blick in das Innere, das mit hübscher Tischdeko und mit edlem Stoff bespannten und schwungvoll geschnitzten Stühlen aus cremeweißgestrichenem Holz aufwartete. Erik lief zum vermeintlichen Haupteingang und betrat das Restaurant. Sobald er eingetreten war, kam ein junger Mann auf ihn zu, begrüßte ihn freundlich und nahm ihm seine Lederjacke ab. Während der Mann sie auf einen der Bügel der Garderobe links hängte, erkannte Erik geradeaus eine große Theke, vor der Serenas Eltern standen und sich mit einem italienisch anmutenden Herrn im Anzug an der Theke angeregt unterhielten. Ein paar Schritte dahinter stand Serena in ihrer üblich eingeschüchterten Haltung, als wäre es ihr unangenehm unter Menschen zu sein, als habe sie Angst, sich zu blamieren. Der Mann, der mittlerweile die Jacke aufgehängt hatte, fragte Erik, ob er zu den Gästen der Familie Funke gehöre. Erik bejahte und der Herr ließ ihn passieren. Da Serenas Eltern sich unterhielten, sah er davon ab, sie auf seine Ankunft aufmerksam zu machen und ging stattdessen direkt auf Serena zu. Er grüßte sie mit einem kurzen Lächeln, um ihr etwas mehr Sicherheit zu geben, doch das scheue Schmunzeln wagte sich nur für eine Sekunde auf Serenas Lippen, um sich sofort wieder in die Sicherheit ihres Inneren zu verflüchtigen. „Ich bin wohl der erste.“ Serena nickte bloß. Erik kam nicht umhin festzustellen, dass sie noch gehemmter war als sonst. Anstatt sie darauf anzusprechen, versuchte er sie auf andere Gedanken zu bringen. „Welches ist unser Tisch?“ „Wir sitzen im Wintergarten.“ „Wollen wir?“ Serena sah zu ihren Eltern, die sich immer noch unterhielten. Zögerlich nickte sie. Sie führte ihn zu dem Durchgang, der vom allgemeinen Restaurant-Teil in den Wintergarten führte. Die Spätherbstsonne flutete von oben durch die gläserne Decke und die Wände, die von weißen Streben gehalten wurden. Hier saß sonst keiner. „Schön hier.“ Serenas Stimme klang gepresst und sie hielt den Blick gesenkt. „Meine Eltern laden uns ein. Ihr braucht also nichts bezahlen.“ „Das ist sehr freundlich.“, sagte Erik kurz, ohne dem weitere Beachtung zu schenken. Darüber offensichtlich verwundert, sah Serena auf. „Was ist?“, fragte Erik. Wieder druckste Serena merklich herum. „Als meine Mutter gehört hat, dass wir eine Feier machen wollen, hat sie nichts mehr davon abbringen können, alles zu arrangieren, egal was ich gesagt habe.“ „Das ist doch nett.“ „Die anderen könnten sich gar nicht leisten, hier zu essen.“, gab Serena zu bedenken. „Das ist doch kein teures Restaurant.“, meinte Erik verständnislos. Serena starrte ihn an. Offensichtlich registrierte sie jetzt erst, mit wem sie sprach und dass es für ihn kein teures Restaurant darstellte. Erik erinnerte sich daran, aus welchen Familien die anderen stammten: Serenas Eltern führten ihr eigenes Steuerbüro, Vitalis Vater dagegen war Lagerarbeiter und seine Mutter Hausfrau. Justins Eltern besaßen einen kleinen Lebensmittelladen, Arianes Vater war Informatiker und ihre Mutter Friseuse, während Viviens Mutter als Kindergärtnerin arbeitete und ihr Vater – um ehrlich zu sein, hatte er nicht viel über Viviens Vater gehört, nur dass er aufgrund von Projektarbeiten wochenlang nicht zu Hause war, wahrscheinlich war er Architekt oder so etwas. Sogleich begann er seine vorlauten Worte zu bereuen. Als Kind war es für ihn ganz normal gewesen, viel zu haben, mehr zu haben als andere. Er hatte es nicht als Privileg angesehen oder gedacht, er sei deshalb etwas Besonderes. Es war einfach ein Fakt gewesen, wie dass er schwarze Haare hatte und andere braune, blonde oder rote. Daher hatte er nie einen Hehl daraus gemacht, was er alles besaß. Erst als er begriffen hatte, dass dies für andere ein Grund war, ihn zu hassen – als würde er ihnen dadurch etwas wegnehmen – hatte er eingesehen, dass dieses Anderssein für den Rest der Leute nicht so selbstverständlich war. Seither verging kein Tag, an dem er sich seiner Rolle nicht bewusst gewesen wäre, der Rolle, die er tagtäglich spielte. Nur manchmal ließ er sich noch zu solch unüberlegten Äußerungen wie eben hinreißen. Serena lächelte sacht und sah dann in eine andere Richtung. Die Situation war Erik unangenehm. Er hasste es, wenn er etwas sagte, das ungewollte Wirkung hatte. Offensichtlich war es Serena unangenehm, die anderen in ein besseres Restaurant einzuladen. „Befürchtest du, die anderen könnten dich blamieren?“ Serena schaute nur genervt und machte ihm dadurch deutlich, dass er die falsche Frage gestellt hatte. „Du willst nicht ausgenutzt werden?“ Serena schwieg kurz. „Nein. Das ist es nicht.“ Kurz dachte sie wohl über ihre eigenen Worte nach. Er sah, dass ihr Gesichtsausdruck etwas weicher wurde. „Es ist mir einfach unangenehm.“ Erik gab ein zur Kenntnis nehmendes Geräusch von sich. Kurz sagte keiner etwas, weshalb er sich gezwungen sah, das Gespräch fortzusetzen. „Warum?“ Serena schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Es wirkt irgendwie so …“, sie seufzte, „…als müssten sie dann dankbar sein.“ „Hm.“ Erik konnte nicht ganz folgen. „Es ist nicht mein Geld.“, präzisierte Serena. „Deine Mutter ist eine erwachsene Frau, sie muss wissen, für was sie ihr Geld ausgibt.“, versuchte Erik sie zu beruhigen. „Ich weiß, aber –“ Sie unterbrach sich und schien mit sich zu hadern. Sie sprach nicht weiter. „Aber?“ Serena sah zurück in den Hauptteil des Restaurants, wo ihre Eltern noch standen. „Nichts.“ Erik schloss darauf, dass sie nicht darüber reden wollte und schwieg. Leise und bekümmert flüsterte Serena: „Es ist, als würde sie einfach über mich entscheiden.“ Hastig widersprach sich Serena. „Nein, das stimmt nicht. Tut mir leid, ich rede Unsinn!“ Erik betrachtete sie kurz eingängig, wie sie so beschämt da stand, als könne sie nur alles falsch machen. „Ist das das, was du denkst? Oder das, was du glaubst, dass andere denken?“ Serena sah ihn mit großen Augen an, dann glitt ihr Blick von seinem Gesicht zu Boden. Kurz hatte er den Eindruck, sie würde vor seinen Augen verschwinden, so klein machte sie sich. „Ich bin nicht besonders selbstständig.“ „Hat dir das jemand gesagt oder bist du selbst darauf gekommen?“, hakte er nochmals nach. Auf einmal zogen sich Serenas Augenbrauen zusammen und Erik begriff, dass sie seine Frage wohl als Beleidigung aufgefasst hatte, weshalb er sich bemühte, das Missverständnis aufzuklären. „Lass dir nie von anderen sagen, wie du dein Leben zu leben hast.“ Immer noch sah Serena genervt aus. Dann fiel ihm ein, dass sie den Spruch wohl auf ihre Mutter bezogen hatte. „Ich meine, du sollst dir nicht von anderen einreden lassen, du seist unselbstständig, nur weil deine Mutter sich um dich kümmert. Ich wäre froh, –“ Abrupt brach er ab und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Es gab NICHTS, das er vermisste! „Serena!“, rief es hinter ihnen und Vivien kam in Begleitung von Justin, Vitali und Ariane zu ihnen gelaufen. Prompt warf sich Vivien in Serenas Arme, als habe sie schon von Weitem die gedrückte Stimmung erkannt. Dies überforderte Serena im ersten Moment sichtlich. Doch wie Erik schmunzelnd feststellte, hatte Vivien damit genau das erreicht, was sie wollte, denn die körperliche Nähe schien Serena augenblicklich eine gewisse Sicherheit zu geben. „Hallo.“, sagte Ariane mit einem herzlichen Lächeln und Erik verwarf den unsinnigen Gedanken, dass sie wütend auf ihn sein könnte. Sie hatte ihm zwar am Tag zuvor noch geschrieben, dass sie seine Anrufe versehentlich verpasst hatte, und er hatte einen Scherz daraus gemacht, dass sie nun quitt waren, aber da er sich mit keinem Wort bei ihr entschuldigt hatte, war er davon ausgegangen, dass sie ihm das übel nahm. Stattdessen schien sie bester Laune zu sein. Vitali ließ den Blick anerkennend über den Wintergarten schweifen. „Schicker Schuppen.“ Justin stand fest und aufrecht wie immer, doch Erik glaubte, an seinem Blick zu erkennen, dass er sich etwas unbehaglich fühlte. Dies veranlasste Erik dazu, unausgesprochene Justins Sorge direkt aus der Welt zu schaffen. „Serenas Eltern laden uns ein. Wir müssen nichts zahlen.“ Vitali lachte dreckig und rief laut: „Dann bestelle ich das Teuerste auf der Karte!“ „Von wegen!“, schrie Serena. „Bin ich eingeladen oder nicht?“ Erik beruhigte Serena. „Wenn er sieht, was das teuerste Gericht ist, wird er es eh nicht essen wollen.“ „Was soll’n das heißen?“, beschwerte sich Vitali. „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.“, sagte Erik. „Ich bin kein Bauer!“, schimpfte Vitali. „Ist das wirklich okay?“, fragte Justin unsicher. „Das ist doch viel zu teuer.“ Vitali legte ihm den Arm um die Schulter und lächelte breit. „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!“ Serena grollte. „Ich werde meinen Eltern sagen, dass du selbst zahlen sollst.“ „Hey, das ist unfair!“, rief Vitali. „Ariane, los! Kümmere dich um Gleichberechtigung!“ Er streckte den Arm in Richtung Serena, als wolle er ein Pokémon in den Kampf gegen sie schicken. Ariane warf ihm einen irritierten Blick zu. Serena zischte. „Wenn du hier noch lauter rumschreist, schmeißen die dich eh raus.“ Vitali schaute unzufrieden und gab Ruhe.   Eine Weile waren sie damit beschäftigt, ein Gericht auszuwählen. Vitali ließ sich derweil ausgiebig über die Preise aus und entschied sich tatsächlich dafür, vor dem Hauptgang eine Vorspeise zu wählen, nur weil sie sogar teurer als ein Nudelgericht war. Erst als Erik ihn darüber aufklärte, dass Carpaccio rohes Rindfleisch war – was Vitali ihm zunächst nicht glauben wollte und extra den Kellner danach fragte – änderte er seine Meinung und wählte ein Steak, da es zu seinem Leidwesen keine Pizza gab. Warum es in einem italienischen Restaurant keine Pizza gab, konnte er allerdings nicht verstehen! Er hatte geglaubt, man dürfe sich erst italienisches Restaurant nennen, wenn man Pizza verkaufte! So war das eindeutig Betrug. Während sie auf ihr Essen warteten und sich mit dem bereitgestellten Bruschetta – geröstetes Brot mit Tomatenstücken und Basilikum – begnügten, klärten die fünf Erik über die Ereignisse der vorletzten Nacht auf. Er lauschte ihnen aufmerksam bis zum Schluss. „Was ist mit Secret?“, hakte er schließlich nach. „Er ist nicht immun gegen den Schlafzauber.“ Justin sah ihn ernst an und sagte nichts. „Wir wissen nicht, was –“ Ariane unterbrach sich. Vivien rief in die Runde: „Wir haben mehr über die Wunde herausgefunden.“ Es klang, als wäre das ein großer Erfolg gewesen. „Der Schatthenmeister sagt, dass du durch die Wunde die Informationen über das Schatthenreich implantiert gekriegt hast, aber eigentlich sollte das längst verheilt sein, er weiß also auch  nicht so reicht, woher das kommt. Es könnte so eine Art Narbe ist. Aber um mehr zu erfahren, müsste er Versuche mit dir machen.“ Mit diesen Worten schob sie sich den Rest eines Bruschettas in den Mund. Ariane warf ihr von der Seite einen bösen Blick zu, auf den Vivien mit einem unschuldigen Augenblinzeln reagierte. „Der Feind wird also Experimente mit mir machen.“, wiederholte Erik. „Wir werden das nicht zulassen!“, widersprach Ariane erregt. „Wie wollt ihr das verhindern?“, fragte Erik gelangweilt. Vitali meldete sich zu Wort. „Ach, Desire hat ihn so angeranzt, dass er dir ja nichts tun darf, dass er es vielleicht bleiben lässt.“ Ariane schaute grimmig, offenbar damit unzufrieden, dass er so ausposaunte, wie heftig sie Erik beschützen wollte. Vitali störte das wenig. Erik schenkte der Aussage ohnehin keine weitere Beachtung. „Soweit ich verstanden habe, könnte der Schatthenmeister jederzeit bei mir auftauchen, wenn er nicht die ganze Zeit mit mir in Kontakt steht und alles mitbekommt, was ich mit euch rede. Es ist nicht gerade clever, mich in eure Geheimnisse einzuweihen.“ Ariane schwieg entsetzt. Vivien antwortete lächelnd. „Deswegen sagen wir dir ja auch nicht die Wahrheit.“ Spöttisch hob Erik eine Augenbraue. „Wenn der Schatthenmeister mithört, weiß er, dass es sich nicht nur um ein Rollenspiel handelt.“ Vivien machte eine Geste, als würde sie ihn bitten, einen Moment zu warten. Sie kramte aus ihrer Handtasche einen Stift und einen Zettel. Auf diesen schrieb sie etwas, faltete ihn zu und schob ihn dann über den Tisch zu Erik. Reichlich skeptisch nahm er den Zettel entgegen und öffnete ihn. Haben wir dir jemals im Detail gesagt, was wir planen? Mit zusammengeschobenen Augenbrauen sah Erik auf und durchbohrte Vivien mit Blicken. Neugierig wollte Vitali wissen: „Was steht da drauf?“ Erik antwortete ihm nicht, sondern fixierte weiter Vivien. „Dir ist schon klar, dass er vielleicht auch alles sehen kann, was ich sehe.“ „Cool!“, rief diese. „Das wird ja immer interessanter! Was denkst du, was der Schatthenmeister mit dir vorhat?“ Erik zögerte kurz. Wenn sie plötzlich wieder so tat, als wäre es nur ein Rollenspiel und sie würden das alles erfinden, verwirrte ihn das, obwohl es doch das Natürlichere war. „Er will an euch heran, richtig? Also wird er dafür sorgen, dass ihr mir vertraut und wird mich dann gegen euch einsetzen.“ Vitali klopfte ihm zu fest auf den Rücken. „Du hast eh keine Kräfte, was willst du uns schon machen?“ Erik sah ihn schmaläugig an. „Wenn ich Secret bin, habe ich Kräfte.“ Ariane beanstandete: „Secret würde nicht gegen uns kämpfen!“ Erik brachte sie mit einem harten Blick zum Verstummen. „Du weißt nicht, was Secret tun würde.“ Ariane schien von seinen Worten verunsichert worden zu sein. Sie entzog ihre Augen den seinen. „Ich weiß, dass du nicht gegen uns kämpfen würdest.“ Ihre Worte reizten ihn zu einem provokativen Lächeln. Sogleich mischte sich Vivien ein: „Hast du vor, der Bösewicht zu werden?“ Sie wirkte weniger besorgt als vielmehr begeistert. „Vivien!“, tadelte Ariane aufgebracht. „Wäre doch interessant.“, entgegnete Vivien verständnislos. Erik fixierte Ariane, die ihm schräg gegenüber saß, und lächelte süffisant. „Hast du nicht gesagt, du würdest dich eher in deinen schlimmsten Erzfeind verlieben als in mich?“ Arianes Augenlider senkten sich zur Hälfte. „Nicht wenn mein Erzfeind du bist.“ „Dann muss ich wohl jemand anderes werden.“, erwiderte er mit einer nonchalanten Aufwärtsbewegung seiner Augenbrauen. Sie funkelte ihn erbost an. Davon noch angestachelt sprach Erik ungerührt weiter. „Vielleicht ein Gleichgewichtsbedroher.“ „‘n was?“, fragte Vitali. „Was macht der?“, wollte Vivien begierig wissen. Erik zuckte gelassen mit den Schultern. „Mir wird was einfallen.“ Vivien grinste ihn an und setzte das Gespräch schleunigst fort, bevor Ariane noch ausrasten konnte. „Wir haben uns überlegt, dass Ewigkeit auf dich aufpassen könnte.“ Skeptisch zog Erik eine Augenbraue in die Höhe. „Das unsichtbare Mädchen, das grade mal so groß ist wie meine Hand?“ „Und sie hat durchsichtige, glitzernde Schmetterlingsflügel!“, ergänzte Vivien grinsend. „Klar.“ Vivien fuhr fort: „Sie soll die nächsten Tage in deiner Nähe bleiben, damit dir nichts passiert. Wenn irgendwas ist, sagt sie uns Bescheid und wir kommen zu dir.“ Erik sparte sich einen Kommentar. „Und? Ist sie schon hier?“ Ziemlich lustlos sah er sich um. Vivien lächelte. „Wenn du sie kennenlernen willst.“ Serena zischte ihr zu. „Vivien, wehe!“ „Aber es wäre eine gute Gelegenheit.“, antwortete Vivien freudig. „Nicht hier.“, beharrte Serena. „Er sieht sie doch nicht.“, verteidigte Vivien ihre Idee. „Außerdem hab ich ihr versprochen, dass sie mitfeiern darf, schließlich hat sie sich das verdient! Sie hat uns gerettet!“ Serena stöhnte und Erik musste sich einmal mehr davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Vivien rief Ewigkeit herbei. Die Kleine ließ sich nicht lange bitten, sondern erschien prompt über der Mitte des Tisches und strahlte. Als sie jedoch Erik bemerkte, erschrak sie und teleportierte sich eilig hinter Viviens Kopf, um sich in ihren orangeroten Haaren zu verstecken. Vivien kicherte. „Du brauchst nicht schüchtern sein.“ Zaghaft kam Ewigkeit wieder hervor. „Das ist Erik.“, stellte Vivien vor. „Erik, das ist Ewigkeit.“ Ewigkeit machte einen kleinen Knicks, wie Viviens kleine Schwester es ihr beigebracht hatte. Erik, der nichts davon sah, zog ein ziemlich genervtes Gesicht. Hilfesuchend blickte Ewigkeit daraufhin zu Vivien. „Er beißt nicht.“, ermunterte Vivien sie. Ewigkeit deutete mit ausgestrecktem Arm auf Erik und sprach mit quengelnder Stimme. „Aber er schaut böse.“ „Der schaut immer so.“, meinte Vitali, woraufhin Ewigkeit ihn mit großen ängstlichen Augen anstarrte. Vitali lachte. Erik stöhnte und fragte gelangweilt: „Was sagt sie?“ Die anderen waren sich unsicher, was sie ihm darauf antworten sollten, allein Vitali machte sich darüber keine Gedanken. „Sie findet, du hast ne fiese Fresse.“ Erik schenkte ihm ein Lächeln, das aussah, als würde er ihm gleich den Schädel auf die Tischplatte knallen. „Das hat sie gesagt!“, verteidigte sich Vitali. „Das hat sie nicht gesagt.“, beanstandete Ariane. Entnervt fragte Erik: „Und was hat sie deiner Meinung nach gesagt?“ Ariane stockte und sagte dann schüchtern. „Du schaust böse.“ Erik begriff nicht und war irritiert, dass Ariane etwas so Verletzliches laut aussprach. „Ich bin nicht –“, setzte er an, um Ariane zu beruhigen, doch Vitali redete dazwischen. „Das ist doch fast dasselbe!“ „Ist es nicht!“ Erst jetzt verstand Erik, dass Ariane nur zitiert hatte, was die vermeintliche Ewigkeit gesagt haben sollte, und kam sich reichlich dämlich vor, dass er etwas anderes angenommen hatte.   „Wie es aussieht, erkennt eure Ewigkeit einen Bösewicht, wenn er vor ihr steht.“, antwortete er, nur weil er wusste, dass es Ariane ärgerte, wenn er die Rolle von Secret zu einem Bösewicht änderte. „Du sitzt doch!“, fiel Vitali ein. Erik verdrehte die Augen. Vitali fuhr fort. „Außerdem hatte sie vor dem Schatthenmeister viel weniger Angst als vor dir.“ „Dann will mich der Schatthenmeister vielleicht, weil ich zu den Bösen gehöre.“, meinte Erik. „Wenn einer zu den Bösen gehört, dann Tiny!“, sagte Vitali und zeigte genauso unverhohlen auf Serena wie Ewigkeit es zuvor bei Erik getan hatte. „Im Vergleich zu ihr bist du ein zahmes Lämmchen!“ „Halt die Klappe!“, schimpfte Serena. Mit selbstgerechter Miene machte Vitali eine unterstreichende Geste. „Siehst du, wir sind das Waisenhaus für Bösewichte.“ Auf seinen Kommentar hin, begann Ewigkeit zu strahlen, als wäre sie von einer Werbung begeistert. Justin schließlich brachte das Gespräch wieder in geordnete Bahnen. „Ewigkeit soll die nächsten Nächte in deiner Nähe bleiben.“ „Muss ich sie dann füttern?“, spottete Erik. „Sie braucht nichts zu essen.“, klärte Vivien ihn auf. Erik schaute skeptisch. „Wieso erzählt ihr mir das überhaupt und lasst das Ding nicht einfach ohne Info bei mir rumfliegen?“ Vivien kicherte. „Wir dachten, es wäre höflicher.“ „Aha.“ „Welches Ding?“, fragte Ewigkeit derweil an Ariane gewandt. „Nur weil du sie nicht sehen kannst, brauchst du sie nicht gleich beleidigen..“, stellte Vitali klar. „Wir beleidigen dich ja auch nicht, nur weil du ne gespaltene Persönlichkeit mit Gedächtnisproblemen bist.“ „Danke.“, brummte Erik zynisch. Vitali lehnte sich lässig gegen seinen Stuhl. „Du weißt doch, wie Mädchen sind. Die heulen doch immer gleich, wenn man was Falsches sagt.“ Serena und Ariane beschossen ihn mit einer Salve bitterböser Blicke. „Ist doch so.“, verteidigte sich Vitali. Ariane konterte. „Seit wir uns kennen, hast du genauso oft geweint wie ich.“ Es war Vitali deutlich anzusehen, dass er diesen Kommentar am liebsten aus der Luft gefischt und in die Mülltonne getreten hätte, bevor der Schall bei Eriks Ohren ankam. Dafür war es leider zu spät. „Das ist nur, weil ihr Mädchen irgendwelches weibliches Zeug aussendet und das ungesund für richtige Männer ist!!!“ Ariane zog ein missgestimmt fassungsloses Gesicht. „Hörst du dir eigentlich manchmal selbst zu?“, zischte sie in abfälligem Ton. „Ich bin der einzige, dem ich immer zuhöre!“, entgegnete Vitali locker. Gereizt sagte Ariane: „Dann solltest du vielleicht mehr mit echten Männern unternehmen.“ „Du hast Recht.“ Er wandte sich an Erik und Justin. „Wir sollten nicht immer mit den Mädchen abhängen. Das ist schlecht für uns.“ Erik hob zweiflerisch die Augenbrauen, während Justin völlig verstört schien. „Morgen machen wir einen Männerabend! Jawoll! Keine Weiber!“ Ewigkeit kam freudig auf ihn zugeflogen und strahlte ihn an, als würde sie sich darauf freuen. „Du kannst nicht kommen.“, sagte Vitali. „Nur für Männer!“ Ewigkeit legte den Kopf schief. „Du bist kein Mann.“, erklärte Vitali, doch Ewigkeit schien das nicht zu begreifen. „Wie wird man ein Mann?“, fragte sie, als wäre sie bereit, jede Bewährungsprobe zu bestehen. „Du kannst kein Mann werden!“ Vivien mischte sich ein. „Eigentlich geht das schon.“ Vitali gab ein Grollen von sich. „Sie ist kein Mann!“ „Wieso?“, wollte Ewigkeit regelrecht beleidigt wissen. „Na weil – …“ Vitali wirkte, als hätte man seinen eingebauten Pauseknopf betätigt. „Justin, erklär’s du ihr!“ Justin schaute hilflos. „Dann machen wir einen Mädelsabend!“, verkündete Vivien und wandte sich an Ewigkeit. „Dann feierst du einfach mit uns.“ Ewigkeit schien davon irritiert. Vitali höhnte: „Ja, dann könnt ihr Gesichtsmasken ausprobieren und euch die Nägel lackieren.“ „Du kennst dich ziemlich gut aus.“, bemerkte Ariane, als würde sie andeuten wollen, dass er diese Dinge wohl schon selbst ausprobiert hatte. Vitali brodelte, aber ehe er etwas entgegnen konnte, übernahm Erik das Sprechen. „Klingt gut, ich glaube, ich komme zu euch.“, meinte er zu Ariane und grinste provokant. Ariane ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, sondern wehrte sich gegen den neuen Gegner. „Ja, ich würde dir zu gerne ein nettes Make-up verpassen.“ „Wer sagt, dass ich das nicht will?“, antwortete Erik und untermalte seine Aussage mit einer aufreizenden Bewegung der Augenbrauen. Dann trat etwas Hinterhältiges in sein Lächeln. „Oder würdest du mich mit Lippenstift und Wimperntusche weniger männlich finden?“ Ariane ärgerte sich. Erik wusste genau, dass sie das niemals behauptet hätte, weil das gegen ihre Prinzipien verstieß und sie dadurch auch noch den Unsinn bekräftigt hätte, den Vitali ständig von sich gab. „Es gibt genauso viele Definitionen von Männlichkeit wie es Männer auf der Welt gibt. Jeder bestimmt das selbst. Außerdem ist das Geschlecht ja wohl nicht das Wichtigste an einem Menschen.“ „Ich bin ganz deiner Meinung.“, stimmte Erik ihr gönnerhaft zu. „Hallo! Wir wollten nen Männerabend machen!“, erinnerte Vitali. „Du wolltest einen Männerabend machen.“, verbesserte Erik. Vitali wirkte beleidigt. Erik seufzte. „Wann noch mal?“ „Morgen!“, rief Vitali. „Da kann ich nicht.“ Vitali schaute wenig begeistert. „Wie, du kannst nicht?!“ „Ich muss zu Finsters Geburtstagsfeier. Genau wie Ariane.“ Ariane starrte ihn an. „Was?“ „Finsters Geburtstagsfeier.“, wiederholte Erik. „Davon weiß ich nichts.“ „Soweit ich weiß, ist die ganze Belegschaft mit Familie eingeladen.“ Ariane hielt kurz inne. „Vielleicht hat mein Vater vergessen, es mir zu sagen.“ Ihr Vater ging meistens davon aus, dass ihre Mutter und sie automatisch wussten, was er wusste, als würden sie auf denselben Wissens-Server zugreifen. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob das etwas mit seiner Liebe für Computer zu tun hatte oder ob es sich um einfache Schusseligkeit handelte. „Dann sollten wir das mit den Jungs-Abend vielleicht verschieben.“, schlug Justin vor. „Männerabend!“, verbesserte Vitali. „Und Männer verschieben nichts! Wenn einer nicht kann, hat er Pech gehabt!“ Ewigkeit nickte heftig zustimmend. Sie hatte anscheinend immer noch nicht begriffen, dass sie nicht zu Männern gerechnet wurde.   Kapitel 97: Jungs-Abend ----------------------- Jungs-Abend „Zwei Freunde müssen sich im Herzen ähneln, in allem anderen können sie grundverschieden sein.“ (Sully Prudhomme)   Am späten Nachmittag stand Justin vor der Haustür der Familie Luft. Es war seltsam, ganz alleine hier zu sein, und irgendwie machte es ihn nervös. Üblicherweise wählten die anderen die Gesprächsthemen und sorgten für gute Laune. Er selbst besaß dieses Geschick nicht. Wenn er ehrlich war, hielt er sich für alles andere als eine interessante Person. Im Bezug auf Beschützer-Angelegenheiten war sein nüchternes Wesen wohl nützlich, doch wenn es sich um Dinge handelte, die Leute in seinem Alter so taten, fühlte er sich deplatziert. Sicher würde er Vitali langweilen, schließlich wusste er, wie ungeschickt er im Umgang mit Gleichaltrigen war. Mehr als einmal hatte er schon gesagt bekommen, dass er sich unnormal verhielt, denn die Gepflogenheiten seiner Altersgenossen waren ihm völlig fremd. Abgesehen davon war er die meiste Zeit seines Lebens unsichtbar gewesen und dafür hatte er nicht einmal Vitalis Kräfte gebraucht. Mit Schwung wurde die Tür vor ihm aufgerissen. „Hey!“, rief Vitali ausgelassen und breit grinsend. Mit weniger Elan antwortete Justin. „Hallo.“ Vitali gestikulierte wild. „Komm rein, komm rein!“ Noch einmal Mut fassend betrat Justin die Diele des Hauses, während Vitali unbekümmert weiterredete. „Meine Family ist zu meiner bescheuerten Oma gefahren. Zum Glück durfte ich hier bleiben. Das heißt: Sturmfreie Bude! Woohoo!“ Er wirbelte herum. „Wir bestellen uns Pizza! Und wir können so laut sein wie wir wollen!“ Er brach in irres Gelächter aus, das Justin automatisch zum Schmunzeln brachte. Vitali führte ihn eilig ins Wohnzimmer und legte Justin die Karte des Pizzaservice vor, um ihm sogleich zu empfehlen, welche Pizzen die besten waren. Justin war bemüht, Vitalis sprudelnden Worten zu folgen, dabei irgendetwas davon auf der Karte ausfindig zu machen, als ihm einfiel, dass er seinen Geldbeutel gar nicht mitgenommen hatte. Beschämt sah er zu Vitali auf. Dieser bemerkte seinen Blick sofort. „Hast du schon gegessen?“, fragte Vitali fast entsetzt. „Nein, also ja, nicht jetzt. Also, was ich sagen will: Ich habe kein Geld mitgenommen.“ „Hä?“, stieß Vitali aus und schaute, als wäre er darüber wütend. Justin schämte sich. „Mann! Laber nicht!“, schimpfte Vitali. „Tut mir leid.“, druckste Justin und zog den Kopf ein. Vitali wurde noch lauter. „Du bist eingeladen, Mann!“ Er stieß die Luft geräuschvoll aus, als wäre er genervt. Justin ging davon aus, dass Vitali sich zu diesem Schritt gezwungen sah. „Das musst du nicht.“, sagte er kleinlaut. „Alter! Was ist dein Problem? Du bist mein Gast! Also benimm dich auch so!“ Justin war nun völlig verunsichert. Er hatte den Eindruck, schon in den ersten fünf Minuten die gesamte Stimmung ruiniert zu haben. Sicher bereute Vitali es bereits, ihn eingeladen zu haben. Vitali setzte sich und schaute unzufrieden, dann seufzte er. „Sorry.“ Justin konnte dem nicht folgen. „Wenn du keine Pizza willst, können wir das auch lassen.“, sagte Vitali. doch es war ihm deutlich anzusehen, dass die Aussicht, auf Pizza zu verzichten, ihn frustrierte. „Nein, so hab ich – Du kannst dir gerne was bestellen!“ Nun fixierte Vitali ihn grimmig. „Mann Justin! Ich will, dass wir zusammen Pizza essen! Das ist ein Männerabend! Wir bestellen ne Riesenpizza und essen davon bis uns schlecht wird! Wir machen jeden Scheiß, der uns einfällt, und … keine Ahnung! Irgendwas halt!“ Er zog einen unzufriedenen Schmollmund. „Ähm, … Okay!“, antwortete Justin bestätigend und nickte. Augenblicklich begann Vitali wieder zu strahlen und wollte wissen, welchen Belag Justin auf der Familienpizza haben wollte. Justin überließ Vitali die Auswahl. Vitali grinste, darüber offenbar erfreut. „Das wird super!“ Dann griff er auch schon zum Telefon, um die Pizza zu bestellen, während Justin einen Moment Verschnaufpause hatte. Sobald Vitali aufgelegt hatte, wirbelte er zu Justin herum und rief euphorisch aus: „Wir können alles machen, was wir wollen!“ Sofort stierte er Justin begierig an. „Was willst du machen?“ Justin war davon direkt wieder überfordert. „Mir egal.“ „Okay.“  Vitali lief zur Stereoanlage und griff dann nach einem Tablet, das daneben lag. Im nächsten Moment begannen laute, rockige Töne aus den Lautsprechern zu dröhnen. Augenblicklich begann Vitali dazu Luftgitarre zu spielen. Als Justin nur unbewegt sitzen blieb, gab er ihm gestisch zu verstehen, dass er mitmachen sollte. Justin erhob sich und stand dann reichlich hilflos neben Vitali. Mit steifen Bewegungen versuchte er Vitali nachzuahmen, der passend zur Musik seinen Kopf hin und her schleuderte und mit seiner Rechten wilde Zuckungen machte, die wohl das Spiel der Gitarre nachahmen sollten. Bei Justin sah es eher so aus, als würde er an einer mittelalterlichen Laute zupfen. „Nee, nee.“, sagte Vitali und wies seinen Freund fachmännisch in die Kunst des Luftgitarrespielens ein. „Du musst den Kopf dazu schütteln.“, erklärte Vitali und machte es vor. Justins Versuch wirkte weniger wie eine Tanzeinlage als vielmehr wie eine orientierungslose Bewegung nach einem Schleudertrauma. Vitali lachte sich schlapp und boxte Justin freundschaftlich gegen die Schulter. Justin jedoch kannte diese Art der Freundschaftbekundung nicht und fragte sich, ob er etwas falsch gemacht hatte. „Gleich noch mal!“, rief Vitali und wiederholte das Lied. Zögerlich folgte Justin der Aufforderung, bis Vitali am Ende des Liedes seinen Arm um ihn legte, weil er sich offenbar vor Lachen nicht mehr halten konnte. Da Vitali die meiste Zeit über die Augen geschlossen gehalten hatte, konnte es nicht an Justins schlechter Performance liegen. „Lass uns spielen!“, entschied Vitali ohne Umschweife und zog Justin mit sich, wo er ihm sogleich einen Controller in die Hand drückte und ein Spiel heraussuchte. „Was willst du?“, fragte Vitali und begann verschiedene Spieletitel aufzuzählen, die Justin allesamt nichts sagten. Doch Vitali schien auch gar nicht auf eine Antwort zu warten, denn schon hob er eine Spielhülle in die Höhe und lobte das Spiel lautstark. Sein Redeschwall ging weiter, während er das Spiel einlegte. Als er sich anschließend zu Justin wandte, der immer noch wie eine Marmorstatue dastand, warf er ihm einen irritierten Blick zu, um ihn sogleich anzulächeln. „Hock dich auf die Couch.“ Justin nickte und tat wie ihm geheißen. Der Startbildschirm eines Autorennspieles wurde auf dem Fernseher angezeigt und Justin betrachtete verwirrt die Tasten des Controllers, während sich Vitali neben ihn auf die Couch fallen ließ. Zaghaft ergriff Justin das Wort. „Äh, … Wie …?“ „Einfach mit A Gas geben.“ Justin sah Vitali hilflos an. „Hast du noch nie so was gespielt?“ „Das einzige Mal bei Serena. Mein Bruder hatte zwar früher mal eine Playstation, aber er hat mich nie mitspielen lassen.“ „Echt? Wenn ich Vicki nicht mitspielen lassen würde, würde meine Ma mir das Ding wegnehmen.“ „Gary hat es sich selbst gekauft.“ „Ah.“, war Vitalis Antwort darauf, ehe er dazu überging, Justin die Funktionen der einzelnen Knöpfe näher zu erläutern. Anschließend wählte er mit dem eigenen Controller den Ein-Spieler-Modus und reichte Justin seinen Controller, damit er erst einmal üben konnte. Während Justin daraufhin ein Fahrzeug auswählte und das Rennen startete, gab Vitali ihm Tipps, wo er abbremsen sollte, wo eine Kurve kam und wo es Abkürzungen gab. Als das Rennen beendet war, lobte Vitali ihn, obwohl Justin sicher war, sich sehr ungeschickt angestellt zu haben. Vitali nahm ihm den Controller wieder ab, um in den Mehrspielermodus zu wechseln. Sie fuhren ein paar Rennen. Zwar hielt sich Justin immer noch für einen schrecklichen Fahrer, aber Vitali machte es offensichtlich solchen Spaß über sein Ungeschick zu lachen und ihm dann aus der Patsche zu helfen, dass Justin es irgendwann selbst ganz lustig fand. Anschließend entschied Vitali, dass sie zusammen fernsehen könnten. Es lief gerade eine Comedyserie, bei der Vitali direkt stehen blieb. Er lachte sich über mehrere Stellen schlapp und ließ bei jeder Gelegenheit einen Kommentar ab. Offensichtlich ging es ihm weniger darum, die Serie anzuschauen, als sich mit Justin darüber zu unterhalten. Anfangs davon etwas irritiert, machte Justin schließlich mit und genoss es, mit Vitali herumzualbern. Besonders wenn Vitali über seine Scherze lachte, freute er sich sehr. Gary hatte ihm immer vorgehalten, wie dämlich seine Witze waren, daher hatte Justin mit zehn Jahren aufgehört, auch nur zu versuchen, lustig zu sein. Vitali dagegen schien alles witzig zu finden, was er sagte, egal wie unlustig es war. Irgendwie machte das Justin glücklich. Als die Sendung um war, schaltete Vitali weiter auf einen Musiksender. „Die ist heiß.“, sagte Vitali mit Bezug auf eine brünette Sängerin. Für ein Musikvideo hatte sie erstaunlich viel an und wirkte dank ihres Lächelns eher natürlich als sexy, weshalb Vitalis Wortwahl Justin ziemlich verwunderte. „Irgendwie… sieht sie aus wie Serena.“, stellte Justin fest, was vor allem an der Frisur mit dem Pony lag. Vitali ließ einen Schrei los. „Gar nicht!“ Hastig schaltete Vitali um und grummelte vor sich hin. Justin merkte zu spät, dass er das nicht hätte sagen sollen. Er war sich nicht sicher, wie er nun reagieren sollte. Offensichtlich war Vitali ziemlich verärgert. Vorsichtig hakte er daher nach, anstatt die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Magst du Serena nicht?“ Vitali hörte auf, wie ein Wilder herumzuzappen, woraufhin ein Ermittler ins Bild trat: ‚Die Indizien sprechen eine eindeutige Sprache.‘ „Nicht so.“, antwortete Vitali mit Schmollmund. „Achso.“, sagte Justin kleinlaut. Er wusste nicht, was er sonst hätte entgegnen sollen. Vitali schien immer noch gekränkt. Seine Stimme wurde knarzig. „Sie mag mich doch auch nicht.“ „Hm.“ Jäh wurde Vitali wieder laut. „Warum wollen mich immer alle mit ihr verkuppeln?!“, schimpfte er und schaltete weiter. Justin überlegte laut. „Vielleicht wissen die Mädchen, dass sie dich mag.“ Vitali hörte wieder auf zu zappen. Eine verheulte Frau schluchzte in viel zu lauter, schriller Stimme auf: ‚Ich bin ja so glücklich!‘ „Quatsch.“, blaffte Vitali. Im nächsten Moment neigte er seinen Kopf näher zu Justin. „Hat Vivien irgendsowas gesagt?“ Justin wich zurück und wurde leise. „Nein?“ „Aha.“ Eine Pause entstand. Vitali schrie: „Mann! Das ist voll das schwule Thema für einen Männerabend!“, Justin indes konnte nicht nachvollziehen, was das mit Homosexualität zu tun haben sollte. Er wollte verhindern, dass Vitalis Laune so blieb und erkundigte sich daher: „Was macht man an einem Männerabend?“ „Poker spielen!“, verkündete Vitali überzeugt. „Ich kann kein Poker.“, gestand Justin. „Ich auch nicht.“ Justin stieß die Luft amüsiert aus und musste lächeln. „Hey, das ist nicht lustig. Das müssen wir unbedingt lernen!“, meinte Vitali nun wieder ausgelassen. „Sind das nicht immer mehr Spieler?“, wandte Justin ein. Vitali machte ein entsetztes Gesicht. „Eeeeh?“ Dann verzog er den Mund geradezu angeekelt. „Dann müssen wir ja doch den Bonzen mitspielen lassen.“  Mit Bonze meinte er höchstwahrscheinlich Erik. Justin stellte sich automatisch ein Pokerspiel zwischen Vitali und Erik vor. Vitali mit seinem beeindruckend sprechendem Gesicht und Erik mit seinem natürlichen Pokerface. Von gleichen Chancen konnte da nicht die Rede sein.   Erik zog mit einer gekonnten Bewegung sein Jackett an und kontrollierte vor dem Spiegel noch einmal, ob seine Krawatte richtig saß. Mit erhobenem Haupt und selbstsicheren Schritten verließ er dann sein Zimmer. „Schick!“, rief es links von ihm. Reichlich widerwillig drehte er sich zu Rosa um, die selbst in ein rotes Abendkleid gehüllt war. „Hast du dich für jemand Bestimmten so rausgeputzt?“ „Ich sehe immer gut aus.“, entgegnete er kalt. „Ja, das hast du von Tamara.“, stimmte Rosa ihm zu. „Begleitest du uns ins Theater?“ Seine Mutter kam in einem schwarzen Kleid mit hohem Seitenschlitz, das ihre langen Beine und ihre athletische Figur betonte, gerade aus der Richtung ihres Schlafzimmers auf sie zu. Sie antwortete an seiner Stelle: „Er begleitet seinen Vater auf die Feier eines Klienten.“ Erik warf ihr einen bestürzten Blick zu, doch als sähe seine Mutter die unausgesprochene Frage nicht – und ob sie sie denn sehen konnte, wusste er nicht zu sagen – stand sie unbewegt in angemessenem Abstand von ihm entfernt, während Rosa erneut das Wort ergriff. „Ein Männerabend!“, jubilierte sie. Erik strafte sie mit einem Gesichtsausdruck voller Verachtung, bevor er sich wieder seiner Mutter zuwandte. „Mir hat niemand gesagt, dass er mitkommt.“ Es klang vorwurfsvoll und hart, und das sollte es auch. „Ihr fahrt mit dem Mercedes.“, sagte seine Mutter so gefühlsneutral wie immer. „Er ist noch nicht mal da.“, knurrte er. Offenbar mutete sein Kommentar ihr nicht gewichtig genug an, um eine Stellungnahme von ihrer Seite zu erzwingen. Eriks Kiefer verhärtete sich und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ob seine Mutter nichts davon wahrnahm oder es einfach nicht sehen wollte, war nicht zu sagen. Ohne weiteren Kommentar schritt sie an ihm vorbei die Treppe hinab. Rosa folgte ihr und rief ihm noch ein „Viel Spaß!“ zu. Erik stand kurz davor, die Einrichtung zu zertrümmern.   Tags zuvor bei Ariane zu Hause: Auf Arianes Frage nach Finsters Geburtstagsfeier hin wirkte ihr Vater überrascht. „Oh.“, stieß er aus. „Hatte Blanka dir nichts gesagt? Ihr hatte ich es gesagt.“ „Mama hat mir nichts gesagt.“, antwortete sie. Aus dem Badezimmer rief es: „Ich dachte, Stefan würde es dir sagen.“ Daraufhin drehte sich ihr Vater ihr frontal zu und verkündete feierlich: „Ariane, wir sind auf Finsters Geburtstagsfeier am Samstag um achtzehn Uhr eingeladen. Du hast doch nicht schon was anderes vor, oder?“ Sie verneinte. Ihr Vater lächelte und hielt dann verwirrt inne. „Wenn ich dir nichts gesagt habe und Blanka dir nichts gesagt hat, woher weißt du dann überhaupt von der Feier?“ „Erik hat mich unterrichtet.“ Ihr Vater bekam einen seltsam angespannten Blick. „Wer ist Erik?“ „Er war auch auf der Jubiläumsfeier.“, erklärte sie. „Sein Vater ist Finsters Anwalt. Wir gehen in die gleiche Klasse.“ Wieder ertönte die Stimme ihrer Mutter, nun geradezu flötend. „Redet ihr von Erik?!“ Sogleich erschien sie an der Badezimmertür, eine weiße Paste im Gesicht. „Woher kennst du Erik?“, wollte ihr Vater dringend erfahren. „Das ist doch der schnuckelige Schwarzhaarige!“, jauchzte ihre Mutter und machte eine mädchenhaft begeisterte Geste. Ariane murmelte: „Das ist Ansichtssache.“ Sogleich grinste ihre Mutter verschmitzt und stupste sie mit dem Ellenbogen an. „An den könntest du dich doch ranmachen. Er sieht super aus und hat ne Menge Kohle!“ Sie zwinkerte ihr zu. Ariane ignorierte es. „Wieso hat der Kohle?“, wollte ihr Vater wissen. „Stefan! Das ist doch der Sohn der Familie Donner, diese reichen Leute mit der Villa!“ Ihr Vater empörte sich: „Meine Kleine lässt sich doch nicht mit so einem reichen Schnösel ein!“ Er sah sie flehentlich an. „Nicht wahr, Spätzchen? Du magst lieber die netten Jungs, die so sind wie dein Papa.“ Ariane hätte gerne geantwortet, dass solche Dinge sie bis auf Weiteres herzlich wenig interessierten, doch dann hätte ihre Mutter nur wieder eine Predigt angefangen, dass sie ihre Jugend nicht mit Vernünftigsein verschwenden sollte, wenn sie nicht als alte Jungfer sterben wollte.   Stattdessen gab ihre Mutter ihrem Vater mit der Rückhand einen Klaps gegen die Brust. „Nur weil dich keine wollte, brauchst du Ariane nicht so einen Unsinn einreden.“ Verschwörerisch neigte ihre Mutter sich zu ihr und sprach hinter vorgehaltener Hand. „Männer mit Erfahrung sind immer gut.“ Ignorieren. Einfach ignorieren… „Was soll denn das heißen?!“, begehrte ihr Vater auf. „Ich hab mich für dich aufgehoben!“ Ihre Mutter gab ihrer Stimme daraufhin einen Klang, als würde sie mit einem süßen kleinen Hundewelpen sprechen. „Deshalb lieb ich dich doch auch so, mein kleiner Computerfutzi.“ Dann packte sie das Gesicht ihres Mannes mit beiden Händen und drückte ihm einen Kuss auf, bei dem die Paste ihrer Gesichtsmaske an ihm hängenblieb, woraufhin beide in Gelächter ausgebrachen. Manchmal war sich Ariane sicher, dass ihre Eltern verrückt waren. Verrückt und glücklich. Über diesen Umstand musste sie lächeln.   Die Geburtstagsfeier fand in den gleichen Räumlichkeiten statt wie die Jubiläumsfeier: im Erdgeschoss der Finster GmbH, dem mehrstöckigen Gebäude neben der Baustelle in der Stadtmitte Entschaithals. Ariane hatte sich aufgrund der Kälte gegen ein Kleid und für eine lange, schwarze Stoffhose, Stiefeletten und eine langärmlige Bluse entschieden, deren Taille durch einen schmalen Gürtel betont wurde. In diesem Outfit und mit den gelockten Haaren, die ihre Mutter so fixiert hatte, dass sie über ihre linke Schulter fielen, wirkte sie um einiges erwachsener. Hätte sie ihre Mutter nicht davon abgehalten, ihr dunklen Lidschatten aufzutragen, hätte sie vermutlich wie Mitte zwanzig ausgesehen. Der riesige Saal war dieses Mal anders geschmückt und von den Steintafeln, auf denen die Prophezeiung über die Beschützer stand, war keine Spur. Das große Büffet im hinteren Teil des Saales nahm wieder den meisten Platz ein. Das Rednerpodest von letztem Mal war entfernt worden und neben den Glasvitrinen, die dieses Mal andere Ausstellungsstücke bargen, standen nun mehrere Tische im Raum verteilt, auf denen Getränke und kleine Snacks dargeboten wurden. „Letztes Mal war es voller.“, stellte ihre Mutter fest. Ariane musste ihr Recht geben. Sie waren pünktlich eingetroffen, daher konnten die meisten anderen noch nachkommen. Dennoch sah es so aus, als würde die Belegschaft die Einladung zu Finsters Geburtstagsparty als weniger bedeutsam erachten. Dennoch konnte man sich nicht darüber beklagen, dass der Raum leer gewesen wäre. Es standen ein paar wenige Grüppchen herum, die sich miteinander unterhielten. Aus einer dieser Gruppen löste sich eine Gestalt, die Ariane sofort als Nathan Finster erkannte. Es war zwar erst das dritte Mal, dass sie ihm begegnete, dennoch glaubte sie an seiner Kleidung erkennen zu können, dass er offensichtlich kein Freund der Farbe Schwarz war, dafür aber einen Faible für verspielte Krawattenmotive hatte. Heute trug er einen hell-olivgrünen Anzug mit Krawatte, die dieses Mal kein Paisley-, sondern ein barockes Muster aufwies, wie Ariane es schon in Schlössern als Tapete gesehen hatte. Da er sonst die Angewohnheit hatte, aus dem Nichts aufzutauchen, fiel ihr erst dieses Mal auf, wie geschmeidig er sich bewegte. Sein Gang und seine Statur verleiteten sie zu der Annahme, dass er neben seiner Leidenschaft für alte Legenden eine Kampfkunst ausübte. Eine, bei der Meditation und Konzentration wichtig waren. „Schön, Sie zu sehen!“ Er reichte Ariane und ihren Eltern nacheinander die Hand, wobei er ihr ein besonders breites Lächeln schenkte. Aus der Nähe sah sie, dass das Grün seiner Krawatte diesen Farbanteil seiner Augen hervorhob. „Es freut mich, dass Sie es einrichten konnten.“ Arianes Mutter scherzte. „Ich musste meinen Mann zwingen, auch am Wochenende hierherzukommen.“ Nathan lachte. „Schatz.“, klagte Herr Bach. „Herr Finster denkt noch, ich komme ungern zur Arbeit!“ „Er hat den Scherz verstanden.“, meinte seine Frau. Nathan Finster lächelte Arianes Vater an. „Keine Sorge. Bei Ihnen würde ich nie auf die Idee kommen, dass Sie nicht gerne hier arbeiten. Sie sind immer mit Feuereifer bei der Sache.“ Anerkennend legte Finster ihm die Rechte auf die Schulter und nickte kurz. Vor Stolz schwoll die Brust ihres Vaters an, auch stand er mit einem Mal stramm, was Ariane mit einiger Belustigung wahrnahm. Es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass ein jüngerer Mann dem Älteren lobend auf die Schulter klopfte und damit eine solche Reaktion auslöste. Aber Nathan Finsters Ausstrahlung machte es nachvollziehbar. Er hatte das Auftreten eines Königs, als wäre er geboren, um ein gütiger, aber willensstarker Herrscher zu sein. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, fiel es Ariane ein. Nathan strahlte sie an und bedankte sich. Sofort taten Arianes Eltern es ihr nach. Eilig schüttelte Arianes Vater Nathan die Hand und entschuldigte sich dafür, dass er nicht zuvor daran gedacht hatte. Nathan lachte nur und sein Lachen klang genauso erhaben wie es seine Haltung war. Arianes Vater redete weiter. „Ich wollte Ihnen gestern schon gratulieren, aber irgendwie waren Sie immer gerade mit jemandem im Gespräch während der Mittagspause.“ Zur Feier des Tages hatte es Kaffee und Kuchen für die ganze Belegschaft gegeben und Herr Finster war zu seinen Angestellten gekommen. „Nehmen Sie das mit dem Datum nicht so genau, vielleicht bin ich ja auch schon ein, zwei Tage früher geboren.“ Ariane erinnerte sich daran, dass Nathan ihr geschrieben hatte, dass der zweite November zwar offiziell als sein Geburtsdatum galt, aber dies aufgrund der Tatsache, dass er in einer Babyklappe abgegeben worden war, nicht hundertprozentig sicher war. „Äh ja.“, sagte ihr Vater verlegen. Dass Nathan darauf hingewiesen hatte, dass er ein Findelkind war, machte ihn offenbar nervös. Nicht so seine Frau. „Wie alt sind Sie denn geworden?“ „Schatz.“, klagte Herr Bach. „Einen Mann darf man das doch fragen!“, verteidigte sich Arianes Mutter. „Dreißig.“, antworteten Ariane und Nathan gleichzeitig. Ihre Eltern starrten Ariane an. „Du kennst dich aber gut aus.“, bemerkte ihre Mutter amüsiert. Nathan Finster schmunzelte gütig und stellte klar: „Sie musste ein Referat über mich halten.“ Ariane war froh darüber, dass er sie damit an die Lüge erinnerte, die sie ihm aufgetischt hatte, um an Informationen zu kommen. „Wieso das?“, fragte ihre Mutter verdutzt. „Für Wirtschaft.“, erwiderte Ariane. „Wir sollten einen Unternehmer aus unserer Gegend vorstellen.“ „Was die heute in der Schule alles machen müssen.“, kommentierte ihre Mutter. „Es sind noch nicht so viele Kollegen da.“, merkte ihr Vater an. Nathan lächelte . „Ich habe bei meiner Planung den Feiertag vergessen. Viele haben sich gestern freigenommen und sind übers Wochenende weggefahren.“ „Ach so.“, sagte ihr Vater kleinlaut. Prompt meldete sich ihre Mutter zu Wort. „Sind Sie ohne Partnerin da?“ Ariane hätte sich in diesem Moment gerne versteckt. Sie hasste es, dass ihre Mutter immer am meisten am Beziehungsstatus irgendwelcher Leute interessiert war, selbst wenn sie sie überhaupt nicht kannte. Nathan dagegen nahm es mit Humor. „Glauben Sie mir: Keine lebende Frau würde es mit mir aushalten.“ Seine Antwort erheiterte Ariane. „Du meinst, Nichtlebende haben einen besseren Geschmack?“ Nathan lachte. „Untote haben einfach einen gewissen Charme.“ Ariane grinste. „Dann brauchst du ja nur noch das schwarze Buch der Toten finden.“ Nathans Augen wurden groß. Wie ein kleiner Junge und nicht länger wie ein König rief er aus: „Du hast ‚Die Mumie‘ gesehen!“ „Natürlich!“, rief Ariane ebenso begeistert.  „Ich dachte, du wärst viel zu jung, um den zu kennen. Der ist doch schon uralt!“, meinte Nathan beeindruckt. „Ein Klassiker!“, entgegnete Ariane strahlend. „Ja, nicht wahr?“ Arianes Eltern standen stumm dabei und lauschten der aufgekratzten Unterhaltung. „Ich war noch nie in Ägypten.“, gestand Nathan. „Dabei wollte ich schon immer mal hin.“ „Ich auch!“, pflichtete Ariane bei. „Als Kind wollte ich dort immer Ausgrabungen machen!“ Nathan wirkte erfreut. „Willst du Archäologie studieren?“ Arianes Lächeln schwand. Sie zögerte. „Ich weiß nicht.“ Unsicher sah sie zur Seite. Bisher hatten sich immer alle über sie lustig gemacht, wenn sie gesagt hatte, sie wolle Archäologin werden. Man entdeckte schließlich nicht irgendwelche verschütteten Städte und erlebte auch keine Abenteuer wie Indiana Jones. Nathan lächelte sie an. „Wenn du dann mal Ausgrabungen in Ägypten machst, komme ich dich besuchen.“ Ernüchtert antwortete Ariane: „Als Deutsche Ausgrabungen in Ägypten zu machen, ist eher unwahrscheinlich.“ „Nicht wenn man zu den Besten gehört.“, erwiderte Nathan entschieden. „Und ich bin sicher, dass du mit deinem Köpfchen alle anderen in den Schatten stellen wirst.“ Seine Stimme ließ es nicht klingen wie etwas, das man zu einem kleinen Kind sagte, um es glücklich zu machen, sondern als wäre er wirklich davon überzeugt. Ariane sah ihn an und war so berührt von dem Vertrauen, das er in sie setzte, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Dass er ihren Wunsch nicht als albern abtat, war… Es fehlten ihr die Worte. Nicht einmal ihre sonst so offenen Eltern hatten ihre Idee, Archäologie zu studieren, für sinnvoll erachtet. Nathan legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, wie er es zuvor bei ihrem Vater getan hatte, und sie konnte nur erahnen, dass es auf sie die gleiche Wirkung hatte. „Glaub an dich. Und verfolg deine Träume. Egal, was kommt.“ Sie nickte bloß und Nathan schenkte ihr ein Lächeln. Dann trat er einen Schritt zurück und bemerkte wohl jemanden hinter ihr und ihren Eltern. Ein wohlwollender Gesichtsausdruck erschien auf seinen Zügen. In freudiger Erwartung des Neuankömmlings folgte Ariane Nathans Blick und stockte. Kapitel 98: Finstere Feier -------------------------- Finstere Feier „Wer aus guter Familie ist, hat unbewußt tausend Anschauungen, Empfindungen, anmutende Handlungsweisen usw. voraus, die ein anderer durch Schulerziehung nie bekommt. Selbsterziehung und Selbstbeherrschung, strengstes Pflicht- und Anstandsgefühl pflanzen sich in guten Familien der verschiedensten Kreise durch Tradition und Beispiel fort.“ (Christian Albert Theodor Billroth (1829 - 1894), deutscher Chirurg) Die hochgewachsene Gestalt, der edle schwarze Anzug, der harte Blick, grausam und unerbittlich, dazu die stahlgrauen Augen und die schwarz-grauen Haare, als wäre der Tod persönlich in die Reihen der Feiernden getreten. Ariane glaubte zu spüren, wie die Temperatur abnahm, alle Töne schienen vor Schreck gedämpfter, ehe das erhabene Schweigen sich auflöste, nachdem Herr Donners Blick sich abgewandt hatte und das Leben wieder aufatmen konnte. Es fröstelte sie und am liebsten hätte sie sich versteckt. Wie lächerlich es ihr auch vorkam, dieser Mann machte ihr Angst. Entweder Nathan bemerkte ihr Entsetzen oder aber er hatte einen anderen Grund, warum er nicht erzwingen wollte, dass Herr Donner und ihre Familie zusammentrafen. „Sie entschuldigen mich. Wir sehen uns später.“ Mit diesen Worten verließ er sie und warf Ariane noch einen forschenden Seitenblick zu, ehe er Herrn Donner und Erik entgegen ging. „Der Mann sieht ja gruselig aus.“, flüsterte ihre Mutter ihr zu. „So was sagt man nicht.“, tadelte ihr Mann sie leise. „Er könnte dich hören.“ „Also wenn er mich von da drüben hört, dann ist das mehr als gruselig!“ Ariane verstand nicht, warum Erik ihr nicht gesagt hatte, dass sein Vater mitkommen würde. Vielleicht war es für ihn selbstverständlich gewesen. Irgendwie war sie automatisch davon ausgegangen, dass Erik die Nähe seines Vaters mied. Aber wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht genug über ihn und über das, was er für seinen Vater fühlte. Manchmal hatte sie schon geglaubt, die Worte seines Vaters aus seinem Mund zu hören. Das hatte ein Schaudern in ihr verursacht. Sie wollte nicht, dass Erik wie sein Vater wurde, aber inwieweit konnte man das verhindern? Gebannt beobachtete sie, wie Nathan mit Herrn Donner und Erik sprach. Erik gab offensichtlich nur einsilbige Antworten, woraufhin Nathan es aufgab, ihm Fragen zu stellen. Aufrecht hielt Erik die Stellung, seine Züge waren hart, sein Blick auf Nathan gerichtet, nicht so als würde ihn interessieren, was er sagte, sondern wie ein Soldat, der seine Pflicht tat. Wie er so neben seinem Vater stand, konnte Ariane die unheimliche Ähnlichkeit erkennen. Es war nicht das Aussehen. Das Gesicht von Herrn Donner war nicht so hübsch wie das von Erik, es war weit markanter, weniger perfekt und ästhetisch. Seine Augenbrauen lagen tief und in seinem Blick lauerte immer diese tiefe Verachtung. Selbst wenn er lachte. Doch die Haltung, der Gesichtsausdruck, wie Erik stand und wie er sich bewegte, war eine perfekte Kopie seines Vaters. „Ariane, kommst du?“ Sie schreckte aus ihren Gedanken auf und sah, dass sich ihre Eltern zum Gehen gewandt hatten, um sich ans Büffet zu begeben. Ihr Blick schweifte noch einmal zu Erik. „Wenn du hier warten willst, ist das auch okay.“, meinte ihre Mutter verschmitzt lächelnd. Ariane wusste nichts darauf zu antworten. Unsicher sah sie zurück zu Erik. Offenbar war das Gespräch mit Nathan gerade beendet, denn dieser machte einen Schritt zurück, ging dann langsam an Erik und seinem Vater vorbei, nicht ohne ihnen nochmals etwas zu sagen, und lief dann weiter zu den nächsten Gästen. Erik hob den Blick nur kurz, sah sie und verzog keine Miene. Er wandte sich ab und schritt neben seinem Vater in eine andere Ecke des Raums zu einer Menschengruppe. Ariane brauchte einen Moment, um sich davon zu erholen. Anschließend bemerkte sie, dass ihre Eltern schon gegangen waren. Sie stand ganz allein mitten im Raum und bemerkte, dass ihr Körper die Anzeichen eines Schockzustandes aufwies, als wäre etwas Erschreckendes geschehen. Sie biss die Zähne zusammen und wusste nicht, wieso ihre Augen brannten. Sie blinzelte und schluckte und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Wenige Sekunden wollte sie sich sammeln, blickte zu Boden. Wie aus einem Reflex heraus wirbelte sie stattdessen herum und eilte zum Büffet. Sie lief nicht dorthin, wo ihre Eltern standen, sondern zu den Getränken, wo mehrere Männer und Frauen die Gläser füllten. Sie griff nach einem mit Wasser gefüllten Weißweinglas, atmete ein und aus und starrte in das Wasser ihres Glases. Kohlensäurebläschen strömten an die Oberfläche und spritzten sprudelnd nach oben, wo sie zerplatzten und leise Geräusche erzeugten. Sie starrte auf das Spiel, ohne zu trinken. „Stimmt was nicht mit dem Wasser?“, fragte jemand und sie blickte auf, um sich einem jungen Mann hinter dem Tisch gegenüber zu sehen, der bis eben noch damit beschäftigt gewesen war, die anderen Gläser zu füllen. „Möchtest du ein anderes Glas?“ Ariane schüttelte nur den Kopf, weil sie zu überrascht war, um etwas zu sagen. „Wenn du kein Wasser willst, wir haben auch Orangensaft, Cola, Rotwein oder Weißwein. Oder willst du stilles Wasser?“ Sie hob sachte ihre Linke. „Nein danke. Das Wasser ist okay.“ Der junge Mann, der so aussah, als wäre er nur ein paar Jahre älter als sie, lächelte sie freundlich an und hielt ein wenig zu lange den Augenkontakt. „Wie heißt du?“ „Ariane.“ „Was machst du hier?“ Ariane war etwas verwundert, warum er ein Gespräch mit ihr anfing, denn gleichzeitig war er damit beschäftigt, die nächsten Gläser zu füllen, versuchte darüber hinweg jedoch immer wieder kurz Blickkontakt herzustellen, offenbar um ihr zu zeigen, dass er trotz seiner Beschäftigung zuhörte. „Mein Vater arbeitet für Herrn Finster.“ „Aha.“ Ariane wusste nicht, ob sie noch etwas sagen sollte oder nicht. Da sie nichts weiter von sich gab, ergriff der Junge erneut das Wort. „Ich bin Student und helfe hier aus, um ein bisschen Geld zu verdienen.“ Ariane zögerte kurz, ehe sie sich schließlich aus Höflichkeit zu einer Gegenfrage durchrang. „Was studierst du?“ „Maschinenbau.“ „Ah.“ „Und du?“ „Ich gehe noch zur Schule.“ „Ich hätte dich auf älter geschätzt.“ „Das liegt an dem Make-up. Damit sehe ich älter aus.“ Er lachte. „Wie alt bist du?“ „Sechzehn.“ Er lächelte und schenkte weiter ein. Ariane schaute zur Seite. Sie fühlte sich irgendwie unwohl und konnte nicht sagen, wieso. „Also bist du mit deinem Vater hier.“ „Mit meinen Eltern.“ „Mhm. Und wie findest du es hier?“ Nun lächelte Ariane, weil sie die Frage ziemlich seltsam fand. Der Junge erkannte seinen Fehler. „Keine sehr clevere Frage, was?“ „Nicht wirklich.“ „Dann muss ich mir wohl was Besseres einfallen lassen.“ Ariane wich leicht zurück. „Ich möchte dich nicht bei deiner Arbeit stören.“ „Du störst nicht.“ Sie wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Sie wollte nicht gemein sein. „Kommst du aus Entschaithal?“, fragte der Junge. „Ja. Äh, eigentlich nicht. Also. Es ist so, dass ich hier geboren wurde. Aber groß geworden bin ich in Hannover. Wir sind erst vor Kurzem wieder hierhergezogen.“ „Das hört man.“ „Wie?“, fragte sie überrascht. „Wie du sprichst. Du hast nicht den Dialekt von hier. Es klingt sehr gehoben.“ Ariane verzog leicht das Gesicht. Sie hatte mittlerweile verstanden, dass die Leute hier im Südwesten Deutschlands ihr Hochdeutsch als Zeichen von Hochmut fehldeuteten. „Ich brauche dich wohl nicht fragen, ob du öfter hierher kommst.“ Ariane stieß belustigt die Luft aus. „Nur wenn Herr Finster eine Feier gibt.“ Der Junge lächelte. Ariane fiel auf, dass sie sich vorgestellt hatte, ohne ihn nach seinem Namen zu fragen, was wohl ziemlich unhöflich war. „Wie heißt du eigentlich?“, erkundigte sie sich daher zaghaft, obwohl ihr Bedürfnis, das Gespräch zu verlängern, äußerst gering war. „Ah.“, machte er, stellte Glas und Flasche ab und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. „Ich bin Moritz.“ Sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. „Weißt du, wozu diese ganzen Schaukästen sind?“ Er wies nach hinten. Obwohl sie wusste, dass er die Ausstellungsgegenstände meinte, die Nathan im Raum verteilt hatte, folgte Ariane seiner Geste automatisch und drehte sich um,. Ihr Blick fiel auf den Schaukasten nahe des Eingangs, durch den sie hereingekommen war. Vor ihm stand Erik. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, aber allein seine Rückenansicht genügte… Eilig wandte sich Ariane wieder um. „Ist hier eine Ausstellung? Oder ist das nur Deko?“ Ariane war kurz unfähig zu reagieren. Dann sah sie wieder zu Moritz auf. „Wie bitte?“ „Ich meine, die Sachen, die hier ausgestellt sind.“ „Ach das. Das ist eine private Vorliebe von Herrn Finster. Er interessiert sich für alte Legenden und dergleichen.“ Sie sah wieder in ihr Glas. Das Sprudeln hatte aufgehört. Kaum noch ein Kohlensäurebläschen traute sich an die Oberfläche. Ganz kurz schloss sie die Augen. „Ungewöhnliches Hobby.“ „Ja.“, antwortete Ariane mit gequältem Lächeln. Eriks Präsenz in ihrem Rücken war ihr unerträglich. Mit beiden Händen umklammerte sie den Kelch ihres Glases. „Du hast immer noch nicht getrunken.“, stellte Moritz fest. „Nicht dass du meinetwegen noch verdurstest.“ Wieder rang sie sich ein Lächeln ab. Sie konnte nicht trinken. Das Wissen, dass Erik nicht weit von ihr entfernt mit dem Rücken zu ihr stand, verursachte bei ihr einen Kloß im Hals. Sie drehte ihren Kopf, so als wolle sie sich nur kurz umsehen. Erik war nicht mehr da. Auf diese Erkenntnis hin breitete sich etwas Seltsames in ihr aus. „Ich muss jetzt gehen.“, sagte sie abrupt zu Moritz. Er schenkte ihr noch einmal sein offenes Lächeln, das zu seiner aufgeschlossenen Art passte. „Vielleicht sieht man sich noch mal.“ „Sicher.“, sagte Ariane eilig, versuchte, nicht herumzuwirbeln, sah aber auch nicht nochmals zu Moritz zurück und schritt dann viel zu schnell auf den Schaukasten zu, vor dem Erik gestanden hatte. Es war Enttäuschung gewesen – das Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte. Sie starrte das Kunstwerk in dem hohen Schaukasten an, der erst oberhalb ihres Kopfes abschloss. Darauf waren drei junge Frauen in weißen Gewändern abgebildet, die unter einem hellen weißen Licht standen und die Augen geschlossen hielten. Zwei von ihnen erhoben die Arme in die Höhe. Auf der Informationstafel wurde erklärt, dass es sich um Seherinnen handelte, die göttliche Visionen hatten. Unter anderem war die Rede davon, dass es den Mythos gäbe, die Seherinnen hätten jungfräulich bleiben müssen, um ihre hellseherischen Kräfte zu behalten. Sobald sie sich einem Mann hingaben oder vergewaltigt wurden, verloren sie diese Fähigkeit. Ein Schatten fiel auf Ariane, der sie im Lesen unterbrach. Reflexartig sah sie auf und konnte über das Pergament hinweg durch das Glas des Schaukastens Erik erkennen. Seine blaugrünen Augen waren auf sie fixiert, als sei sie ein Schmetterling, den er mit seinen stechenden Blicken auf einem Stück Holz festnageln wollte. Sprachlos sah Ariane ihn durch das Glas an. Sein Blick verlor an Intensität und wurde weicher. Ariane spürte plötzlich Glas unter ihren Fingern und bemerkte, dass sie ihre Linke auf den Schaukasten gelegt hatte. Eilig zog sie ihre Hand zurück. Im nächsten Moment stand Erik neben ihr. Sie fühlte seine Nähe, obwohl er zwei Schritte von ihr entfernt stand, und wagte nicht aufzublicken. Erik betrachtete das Innere des Schaukastens, zumindest ging sie davon aus, denn nicht länger empfand sie die Last seiner Blicke. „Es heißt, sie hätten ihre Kräfte nur gehabt, solange sie Jungfrauen waren.“, hörte sie sich selbst sagen. Erik gab ein abfälliges Geräusch von sich. „Klar, wenn sie ihren eigenen Wünschen folgen statt nur den Göttern gefällig zu sein, werden sie fallen gelassen.“ Nun sah Ariane zu ihm auf. Er blieb auf den Schaukasten konzentriert.„Wenn man sich den patriarchalischen Gesetzen widersetzt, verliert man seinen Wert. So hält man die Menschen von Selbstbestimmung ab.“ Seine Worte überraschten sie. „Du sagst das so, als wäre man unfrei, wenn man Jungfrau ist.“ Seine Züge wurden noch angespannter. „Man ist unfrei, wenn das der einzige Wert ist, den man hat. Wenn dir eingeredet wird, dass du nur in diesem System leben kannst und alles andere dich deinen Wert kostet. So hält man Menschen klein, indem man dafür sorgt, dass sie das selbst glauben.“ Etwas wie Resignation legte sich auf seine Züge. „Wenn dieser Punkt erst mal erreicht ist, gibt es kein Entkommen mehr.“ Ariane betrachtete ihn von der Seite. Sie hatte noch nie einen Jungen in ihrem Alter von der Unterdrückung von Frauen sprechen hören, als würde er es ernst nehmen, ja sogar verstehen. Bisher hatten sich Jungs in ihrer Umgebung nur darüber lustig gemacht und die Wiedereinführung alter Zustände gefordert. Wie Erik zu diesem Thema stand, war ihr neu. Nun war sie ehrlich beeindruckt. Doch etwas stimmte nicht. Als er gesprochen hatte, hatte es so bitter geklungen, als würde er von einem persönlichen Leid erzählen. Ariane wurde daraus nicht schlau. Sie betrachtete nochmals die Zeichnung. Ihr fiel erst jetzt auf, dass die Frauen wirkten, als würden sie das weiße Licht von oben anflehen. Ihre Gesichter waren verzweifelt verzerrt, ja geradezu abhängig. Sie dachte an Eriks Worte. Unfreiheit und patriarchalische Gesetze. Patriarchat. Das war die Herrschaft des Mannes. Sie stockte, wandte sich zurück zu Erik, der sie immer noch nicht ansah. Pater, das hieß nicht Mann, das hieß Vater. Eine ihr bekannte Stimme erklang hinter ihnen. „Die Geschichte mit den jungfräulichen Seherinnen wird heute vor allem im Fantasy-Genre weitertradiert.“ Wieder einmal hatte sich Nathan Finster angeschlichen, als habe er bei seinen Ausstellungsstücken Bewegungssensoren angebracht, die ihm signalisierten, wenn sich jemand ihnen näherte. Nathen sprach weiter. „Für gewöhnlich war die Sexualität in alten Kulturen nicht so verpönt und schon gar nicht unter Strafe gestellt wie später im Christentum. Die einzigen jungfräulichen Priesterinnen waren die römischen Vestalinnen und dies galt nur für die Dauer ihrer Amtszeit.“ Erik und Ariane schwiegen. „Entschuldigt.“, sagte Finster lächelnd. „Wenn jemand über solche Mythen redet, muss ich mich immer einmischen.“ „Sie sollten andere Leute nicht belauschen.“, antwortete Erik abweisend. „Das war keine Absicht. Ich wollte Ariane nur sagen, wo sich die Steintafeln jetzt befinden. Ich bin vorhin nicht dazu gekommen.“, rechtfertigte Nathan sein Verhalten. „Und ich dachte, das würde dich interessieren.“ Ariane nickte. „Draußen in der Vorhalle, die Treppe hoch. Ich hielt es für einen guten Platz für sie. Vom Eingangsbereich aus kann man direkt auf sie schauen.“ „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie noch hier sind.“, sagte Ariane. „Sie sollten für die Ausgrabungsstätte stehen und die gehört der Finster GmbH.“, erklärte Finster. „Wobei das wohl eine ziemlich dumme Idee war. Ich wollte das Produktprogramm um Software erweitern, mit der man Ausgrabungsgegenstände und alte Dokumente einscannen, bearbeiten und archivieren kann. Der Kauf der Ausgrabungsstätte sollte dazu eine Art PR sein, um Aufmerksamkeit auf die Finster GmbH und diese neuen Produkte zu lenken. Aber auf diesem Gebiet haben sich andere Firmen schon so stark etabliert, dass die Forschungsinstitute gar nicht erst ein neues Programm ausprobieren wollen. Oft bestehen auch langjährige Verträge. Daher ist mir nichts anderes übriggeblieben als diese Produktreihe wieder einzustampfen. Das war ein großer Verlust für uns. Darum werde ich die Steintafeln in Kürze auch von ihrem momentanen Platz entfernen. Es ist nicht gerade ratsam, eine Erinnerung an unseren Misserfolg im Eingangsbereich hängen zu haben.“ „Und was wird dann aus der Ausgrabungsstätte?“, fragte Ariane. Nathan seufzte. „Ich werde sie verkaufen müssen.“ „Aber hat man dort nicht irgendwelche neuen Entdeckungen gemacht?“ Ariane selbst war mit den anderen dort gewesen und war auf die beiden Skelette und Wände voller rätselhafter Schriften gestoßen. „Momentan gibt es niemanden, der dort arbeitet und nach neuen Funden sucht. Und selbst wenn, ist das für die Finster GmbH nicht von Belang. Die Software verkauft sich nicht. Das einzige, was sich durch neue Funde ändern würde, wäre der Preis, den ich für die Ausgrabungsstätte verlangen kann. Aber dafür müsste sich erst einmal jemand überhaupt für die Funde interessieren.“ „Und du kannst die Ausgrabungsstelle nicht privat übernehmen?“, hakte Ariane weiter nach. „Das ist eine Summe, die mein Privatvermögen übersteigt. Es wäre eine völlig sinnlose Investition.“ Die Enttäuschung war Ariane anzusehen. „Keine Angst, die Ausgrabungsstätte wird uns noch eine Weile erhalten bleiben. Bisher gibt es keine Interessenten und ich habe momentan auch nicht die Zeit mich darum zu kümmern. Ich muss mich jetzt erst mal darum bemühen, die Verluste wieder reinzukriegen. So ist das eben, wenn man sich so Hals über Kopf in ein Unterfangen stürzt, nur weil man selbst davon begeistert ist.“ „Du hast mir vorhin gesagt, dass man an sich glauben soll, aber du gibst einfach auf!“, hielt sie ihm vor. „Weil diese Entscheidung nicht mich allein betrifft. Ich kann die Zukunft meiner Mitarbeiter nicht für meine Interessen aufs Spiel setzen.“, sagte Nathan ernst. Ariane schwieg kurz. „Und was wird aus den Steintafeln?“ Nathan zögerte, ehe er schließlich weitersprach. „Die sind ein Sonderfall.“ Ariane warf ihm einen fragenden Blick zu. „Wie meinst du das?“ „Ich habe sie nicht mit der Ausgrabunsstätte zusammen erworben. Offiziell gehören sie zu meinem Privateigentum.“ Ariane dachte darüber nach. Die Steintafeln waren damals entwendet worden. Einer der Punkte, die Nathan Finster besonders verdächtig machten, war, dass er im Besitz der Steintafeln war, die der Schatthenmeister mithilfe von Schatthen gestohlen hatte. Aber wenn er ohnehin vorgehabt hatte, die Ausgrabungsstelle zu erwerben, wieso hätte er dann Schatthen schicken sollen, um sie zu stehlen? Andererseits: Woher hatte er sie? „Sie sollten ihre Worte mit Bedacht wählen.“, sagte Erik kalt. Nathan gab ein belustigtes Geräusch von sich. „Ganz der Anwaltssohn.“ Ariane stockte. Legte Erik damit nahe, dass Nathan Finster die Tafeln auf illegalem Wege erworben hatte? Aber wieso hätte der Schatthenmeister sie verkaufen sollen, nachdem er sie so dringend hatte haben wollen? Ihr fiel ein, dass niemand, der noch bei klarem Verstand war, wusste, aus was der ominöse Fund bestanden hatte. Wie hatte Nathan Finster es erfahren? Erik sprach nicht weiter, doch seinem Blick glaubte Ariane entnehmen zu können, dass er Nathan Finster für einen Narren hielt. Sie erinnerte sich daran, dass Erik an der Echtheit der Tafeln gezweifelt hatte. Also ging er wohl davon aus, dass Nathan eine Fälschung gekauft hatte, vermutlich auf dem Schwarzmarkt. Dass viel mehr dahinter stecken musste, konnte Erik natürlich nicht wissen. Nathan kam zum eigentlichen Thema zurück. „Du wirst die Tafeln zwar ab übernächster Woche nicht mehr hier bewundern können, aber sie bleiben in meinem Besitz.“, versicherte er und sah kurz still vor sich hin. Dann wurde er wieder lebhafter und lachte. „Aber ich störe euch beiden jetzt nicht länger mit irgendwelchen Geschäftsproblemen. „Sie stören nicht!“, beteuerte Ariane hastig. „Ich finde das sehr interessant!“ Sie bemerkte nicht den Blick, den Erik ihr von der Seite aus zuwarf.   Ihre Art mit Finster zu reden, missfiel Erik. Sie hatte dabei diesen Blick. „Ach ja, ihr seid ja am Wirtschaftsgymnasium!“, sagte Finster. Erik horchte auf. „Woher wissen sie das?“, fragte er in düsterer Tonlage. „Dein Vater hat es mir erzählt.“ Dass sein Vater irgendjemandem freiwillig von der Schande erzählte, dass sein Sohn auf ein berufliches Gymnasium ging, wo sonst nur Leute mit Realschulabschluss ihre Allgemeine Hochschulreife erwarben – etwas, das weit unter der Würde der Familie Donner war – konnte sich Erik beim besten Willen nicht vorstellen! Finster sprach einfach weiter. „Ich weiß, dass ich mit meinem Hauptschulabschluss nicht gerade dazu berechtigt erscheine, qualifizierte Aussagen diesbezüglich zu machen, aber ich denke, dass es nicht darauf ankommt, an welcher Schule man seinen Abschluss macht. Auch wenn man viel Geld verdient, macht einen das nicht glücklich. Man sollte seinem Herzen folgen.“ Seine flachen Kalendersprüche konnte sich Finster sparen! Endlich hielt dieser die Klappe und stand kurz einfach nur da wie bestellt und nicht abgeholt. „Ich werde mal sehen, was die Raubtiere am Büffet übrig gelassen haben. Ihr solltet euch auch beeilen, bevor alles weg ist.“ Mit diesen Worten machte er endlich die Fliege. „Wieso bist du immer so unhöflich!“, schimpfte Ariane, nachdem Finster außer Hörweite war. „Er wollte dir Mut zusprechen!“ Erik hätte sie am liebsten mit Blicken traktiert für diese selten dämliche Aussage. Wie bescheuert war sie eigentlich, wenn es um Finster ging? Fast hätte er ihr diese Frage vor Verachtung ins Gesicht gespuckt. Stattdessen wandte er sich ab, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Im gleichen Moment fing er den Blick seines Vaters auf. In einigen Metern Entfernung inmitten einer kleinen Menschengruppe, die sich angeregt unterhielt, stand er. Die Rechte um ein Weinglas gekrampft, dessen Inhalt im Licht der Beleuchtung schwarzrot glühte, starrte er zu ihm herüber.   Ariane ärgerte sich, dass Erik sie offensichtlich ignorierte, schon zum zweiten Mal heute! Nur dass es das erste Mal schlimmer gewesen war… Eigentlich hätte sie auf ihn wütend sein müssen, schließlich hatte er sie vorhin gesehen und war dennoch einfach weitergegangen. Andererseits hätte er in Anwesenheit seines Vaters wohl auch schlecht ihre Nähe suchen können. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Erik ein ganz anderes Leben führte, als wäre er aus einer anderen Welt als sie. Sie nahm einen Schluck aus dem Glas, das sie immer noch in der Rechten hielt. Das Wasser hatte alle Kohlensäure verloren und schmeckte abgestanden. „Willst du etwas essen?“, fragte sie Erik, um ein Gespräch einleiten zu können, und erkannte in diesem Moment erst seinen Zustand. Sein Blick war auf etwas anderes fixiert, sein Gesichtsausdruck sollte fest wirken, aber aus der Nähe erkannte sie die kleinen Anzeichen, die ihr verrieten, dass er kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren. Ein ängstliches Glimmen leuchtete in seinen Augen und seine Augenbrauen waren nur noch behelfsmäßig feindselig zusammengezogen. Sein Wille schien zu brechen. In der gleichen Sekunde, in der sie nach seinem Arm griff, folgte sie seiner Fokussierung und fühlte sich im gleichen Moment, als hätte jemand Leere in ihr Inneres gekippt.   Die Berührung riss Erik aus der Trance. Geschockt riss er den Kopf zu Ariane herum. Mit leerem Gesichtsausdruck sah sie in die Richtung seines Vaters. Im gleichen Moment zog sie ihre Hand abrupt zurück – als habe sie begriffen, dass sie an der Schranke zu einer fremden Welt stand, akzeptierend, dass er für immer in dieser Welt bleiben musste. Erik schluckte und biss die Zähne zusammen. Seiner Gegenwehr beraubt stellte er sich erneut dem Blick seines Vaters. Sobald dieser in seinem Gesicht die Resignation las, wandte er sich ab. Erik fühlte sich geschlagen. Er wusste, dass er dem nie entkommen konnte. Er konnte nur in dieser Welt leben. Und alle anderen Menschen waren nichts als Schatten, die an ihm vorbeizogen. Ariane kam ihm mit einem Mal wie eine leere Hülle vor, die ihm übel werden ließ. Er wollte sie nicht in seiner Nähe haben. Alles, was ihn an ihr interessierte, waren doch ohnehin nur Projektionen seiner infantilen Wünsche. Das ekelte ihn. Seine Schwäche, die sich in ihr spiegelte, ekelte ihn. Und in seinem Inneren hätte er am liebsten – er wusste nicht mehr was. Es war alles belanglos. Er konnte nicht mehr. Wie von einem plötzlichen Trieb gepackt, drehte er sich nach rechts, ließ Ariane hinter sich und lief auf die große Tür des Festsaals zu. Er ergriff sie, zog sie auf und rettete sich in die menschenleere Vorhalle, bis er an der Treppe ins Obergeschoss stehenblieb. Er schnappte nach Luft und schloss die Augen. Sein Mund verzog sich – jetzt, da niemand mehr ihn sehen konnte, jetzt, da er keine Rolle mehr spielen musste. Seine Atmung war nicht länger geräuschlos. Er schluckte, aber war noch nicht im Stande, sich wieder zu beruhigen. Er hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde, für einen Moment drangen die Menschenstimmen aus dem Inneren wieder zu ihm, ehe sie wieder zufiel. Leise Schritte folgten, aber derjenige blieb hinter ihm stehen. Erik war nicht in der Lage, sich umzuwenden, lieber war es ihm, die Präsenz der anderen Person einfach zu ignorieren. Er konnte einfach nicht mehr.   Ariane blieb hinter Erik stehen und war unfähig zu handeln. Sie konnte nur zusehen, wie Erik sich quälte. Sie war so unnütz. Es war nicht richtig, ihn zu beobachten. Es wäre besser gewesen, ihn alleine zu lassen. Aber er hatte sie auch nicht allein gelassen auf der Halloweenparty. Nur dass sie nicht das Geschick besaß, Menschen von ihren Gedanken abzulenken. Sie wusste, wie man über Probleme redete, nicht wie man eine andere Stimmung erzeugte. Sie war nicht Vivien, und Erik war nicht der Typ, der über Probleme sprach. Plötzlich drehte er ihr den Kopf zu und sein Blick war der gleiche, den er gehabt hatte nach ihrem Vorwurf, er würde genauso wie sein Vater werden, direkt bevor er sie hilfesuchend an sich gezogen hatte. Ariane wusste nicht, wie sie die Schritte zu ihm hinter sich brachte, aber im nächsten Moment hatte sie die Arme um seinen Brustkorb geschlungen.   Erik blieb reglos stehen, während sie sich an seinen Rücken lehnte. Er versuchte den Ekel in sich niederzuringen und verspürte den Drang sich von ihr loszureißen. Stattdessen begann er zu zittern von dem unterdrückten Schluchzen, das ihre Berührung in ihm verursachte. Und seine verdammte Atmung erzeugte Geräusche, die er nicht von sich geben wollte. Er beugte sich leicht nach vorne, doch nichts half gegen die Kontraktion seines Inneren. Arianes Arme ließen von ihm ab und mit einem Mal stand sie vor ihm und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Erik wich zurück, als sie ihm in die Augen sah und entzog sich ihrer Berührung.   Ariane sah Angst in seinen Augen, als er vor ihr zurückschreckte und sie wie ein geschlagenes Tier anstarrte. Ein Sturm schien in seinem Inneren zu toben, den er kontrollieren wollte, ohne zu registrieren, dass er damit alles nur verschlimmerte. Schlagartig packte er seinen linken Arm, sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Einen erstickten Laut ausstoßend ging er in die Knie. „Erik.“ Ariane warf sich zu ihm auf den Boden und versuchte, nicht panisch zu werden. Doch bei dem Versuch beschleunigte sich ihre Atmung so sehr, dass sie sich erst darauf konzentrieren musste, wieder langsamer zu atmen, um nicht zu hyperventilieren. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Sie legte ihre Rechte auf seinen Arm und rief ihre Heilungskräfte. Die kühlende Energie floss durch ihre Finger und ging auf seinen Oberarm über. Augenblicklich hörte sie Erik ein leises Stöhnen durch die Zähne ausstoßen. Ein Pulsschlag ging durch ihren Körper, von dem sie nicht sagen konnte, ob es ihr eigener war. Er pochte in ihrem Kopf und beeinträchtigte ihr Sehen. Dann riss sie ihren Kopf nach rechts herum und sah, dass die Steintafeln, die am Ende des ersten Treppenabsatzes in einer Vitrine ausgestellt waren, glühten. Was hatte das zu bedeuten? Ein weiterer Ton von Erik ließ sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn richten. Er sah ihr in die Augen und gab ihr ohne Worte zu verstehen, dass sie ihn wieder loslassen sollte. Hastig folgte sie der stummen Aufforderung. Als wäre nichts geschehen, richtete sich Erik wieder auf. Für einen Moment von der Situation überfordert, tat sie es ihm gleich. Sie drehte sich nochmals zu den Tafeln um, doch das Leuchten hatte aufgehört. Kurz wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie fasste einen Entschluss.   „Setz dich auf die Treppe.“, befahl Ariane. „Es geht schon wieder.“, antwortete Erik ausweichend. Er wollte die ganze Situation verdrängen, nichts hiervon wissen. „Tu es einfach!“ Jäh fühlte er sich an die Situation auf dem Jahrmarkt erinnert, als Serena auf eine ähnliche Weise reagiert hatte, kurz bevor der Schmerz in seinem Oberarm ihn ohnmächtig hatte werden lassen. Schweigend lief er die Stufen hinauf bis zum Treppenabsatz und nahm auf dem nächsten Treppenlauf Platz, wodurch er von unten nicht mehr zu sehen war. Ariane kam ihm nach und sah von seiner Aktion nicht begeistert aus. „Zieh das Jackett und das Hemd aus.“ „Glaubst du, du siehst mehr als ein Arzt?“ „Der Arzt hat den Arm nicht im akuten Zustand gesehen.“ Er zögerte. Widerwillig zog er das Jackett aus, stockte dann aber. „Was glaubst du, was die Leute denken, wenn sie uns hier in einer dunklen Ecke sitzen sehen und ich nur noch im Unterhemd bin?“ „Das ist mir egal.“, sagte Ariane halblaut. Aber er wusste, dass sie log. Wären solche Gerüchte über sie aufgekommen, hätte sie sich in Grund und Boden geschämt. „Bitte.“, flehte Ariane. „Kannst du nicht einfach das Gleiche machen wie eben?“ Nach kurzem Zögern setzte sich Ariane links neben ihn und legte ihm erneut die Hand auf den Oberarm. Im gleichen Atemzug fühlte er eine angenehme Ruhe. Er schloss die Augen und genoss den Moment. Die Entspannung entlockte ihm weitere Worte. „Wieso ist das so angenehm?“   Hastig suchte Ariane nach einer halbwegs akzeptablen Erklärung, doch ihr fehlte die Zeit dazu, und sie musste sich auf ihre Kräfteausübung konzentrieren. Daher redete sie einfach drauf los. „Manche Leute behaupten, man kann einem anderen Energie übertragen.“ Oh nein, er würde sie auf diesen Kommentar hin sicher für eine Esoterik-Spinnerin halten. Erik atmete ruhig. Seine Stimme war sanft. „Das meinte ich nicht.“ Jäh wurde Ariane heiß. Sie wagte es nicht, in Eriks Gesicht zu sehen, und fühlte eine unbegründete Nervosität. „Das… ist nur –“ Sie unterbrach sich und haspelte weiter. „Es ist immer angenehm, wenn man von jemandem berührt wird, bei dem man sich wohl fühlt.“ „Das kenne ich nicht.“, sagte Erik leise.   Er erinnerte sich an keine Berührung seines Vaters, zum Geburtstag hatte er ihm bloß die Hand geschüttelt. Seine Mutter war gleichgültig neben ihm gestanden, wenn er geweint hatte. Pflaster hatte er sich selbst aufkleben müssen. Weder eine Hand auf seinem Kopf, noch das Händehalten, wenn man an einer Straße entlang ging, kannte er von seinen Eltern. Berührungen waren nur mit Arztbesuchen oder der Tätigkeit von Kindermädchen verbunden gewesen. Berührungen waren reine Routine, bloße Arbeit und hatten nichts mit Wohlbefinden zu tun.   Ariane schwieg. Sie wusste nicht, was sie auf Eriks Aussage entgegnen sollte. Unsicher sah sie ihm ins Gesicht, doch sobald er ihren Blick erwiderte, kam wieder diese Nervosität in ihr hoch. Erik hielt die Augen stumm auf sie gerichtet, sodass sie sich gezwungen sah, die Augen niederzuschlagen. Sie mochte diese innere Unruhe nicht, die ihr den Kräfteeinsatz unmöglich machte. „Geht es wieder?“, presste sie hervor. Erik gab ihr keine Antwort, aber sie wagte nicht, ihm noch mal ins Gesicht zu sehen, um seinen Zustand einzuschätzen. „Das heißt, Schatthen sind in der Nähe.“ Bei seinen Worten schreckte Ariane zusammen. „Wenn ich die Wunde spüre. So ist es doch.“ Seine Stimme war nun fordernd. „Kannst du sie alleine besiegen?“ Ariane schluckte, sie reckte das Kinn und erhob sich. „Geh wieder rein.“ Erik sah zu ihr auf und machte den Eindruck, als brauche es mehr als einen bloßen Befehl, um ihn zum Gehen zu bewegen. „Wenn die Schatthen hier sind, will ich nicht, dass du in der Nähe bist.“, erklärte sie. Erik schien sich selbst nicht die Zeit geben zu wollen, über ihre Aussage nachzudenken. Er stand auf, nahm sein Jackett und lief an ihr vorbei die Treppe hinunter. Auf dem unteren Treppenlauf hielt er an. „Geh bitte.“, bat Ariane inständig. Er drehte sich zu ihr. Es war nicht Skepsis oder Unglaube, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, sondern Sorge um sie. „Ich rufe die anderen.“, versicherte sie. „Die sind niemals rechtzeitig da.“ „Vitali kann teleportieren.“ „Würde Secret dich alleine lassen?“ Ariane stockte. Erik machte kehrt und trat wieder zu ihr. Sie sah, wie er sein Handy hervorholte, eine Nummer auswählte und es sich ans Ohr hielt. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er sprach. „Hier sind Schatthen.“ Kapitel 99: Alarm ----------------- Alarm   „Im Streit, da kommt mancher immer wieder auf das zurück, wovon er durchaus nicht sprechen wollte.“ (Otto Weiss)   „Was?“, fragte Vitali ungläubig in den Hörer des Telefons. „Willst du mich verarschen?“ Justin, der noch im Wohnzimmer saß, sah fragend zu ihm herüber. Eriks Stimme klang nicht, als wolle er Scherze machen. „Ariane hat gesagt, dass ihr herkommen sollt.“ Vitali spürte Anspannung. „Wo ist Ariane?“ „Hier, mit mir in der Finster GmbH.“ Vitali bemerkte, dass Justin neben ihn getreten war. Die Nennung von Arianes Namen hatte ihn wohl alarmiert. „Was ist los?“, fragte er besorgt. „Erik. Er sagt in der Finster GmbH sind Schatthen.“ Mit einer Handbewegung verlangte Justin den Hörer. Stattdessen schaltete Vitali auf Lautsprecher. „Du kannst einfach sprechen.“ Ernst wandte Justin das Wort an das Telefon. „Können wir mit Ariane reden?“ Sofort ertönte Arianes Stimme. Sie musste direkt neben Erik stehen. „Erik hat seine Wunde wieder gespürt. Ich weiß nicht, ob es an den Steintafeln lag oder ob Schatthen in der Nähe sind.“ Justins Gesicht war anzusehen, dass er augenblicklich im Beschützermodus war. „Als ihr die Platten das erste Mal gesehen habt, hat seine Wunde nicht reagiert.“, erinnerte er mit Bezug auf die Jubiläumsfeier der Finster GmbH. „Ruf Ewigkeit. Wir holen Vivien und Serena. Wenn die Schatthen auftauchen, kommen wir sofort.“ Vitali musste einhaken. „Ich war noch nie in der Finster GmbH. Ich kann nicht richtig teleportieren, wenn ich nicht weiß, wie es da aussieht.“ „Dann teleportierst du einfach neben die Baustelle.“, sagte Justin entschieden. Unversehens war wieder Erik zu hören. „Reicht es, wenn ich euch ein Foto schicke?“ „Wie willst du das machen?“, fragte Justin verständnislos. „Handy.“, erklärte Vitali und lief, um seines zu holen. „Ich kümmere mich um das Foto. Sagt ihr Vivien und Serena Bescheid.“ Es war seltsam, Eriks Stimme das sagen zu hören. Justin bestätigte und legte auf.   Im Kinderzimmer des Hauses Baum saß Vivien mit Serena und ihren beiden Geschwistern um ein Brettspiel versammelt. Ewigkeit hatte – nachdem sie die erste Runde noch mitgespielt hatte – lieber die Rolle übernommen, die Spielfiguren zu bewegen. Mitten während des Zuges verschwand sie jedoch plötzlich. Im gleichen Moment dudelte Viviens Handy die Superman-Melodie. Mit der Vorahnung, dass dies nichts Gutes verheißen konnte, sprang Vivien auf und nahm den Anruf entgegen. „Was ist los?“   Auf Arianes gedankliches Rufen hin erschien Ewigkeit prompt vor ihr. „Spürst du Schatthen?“, fragte sie ihr kleines Helferlein. „Gerade nicht.“, antwortete stattdessen Erik. „Ich meine nicht dich. Ewigkeit ist da.“ Erik sah angesichts dieser Aussage immer noch sehr skeptisch drein. Ewigkeit antwortete nicht sofort. Sie flog langsam hin und her und machte dabei ein angestrengtes Gesicht, als würde sie versuchen, eine Botschaft zu empfangen. Dann wandte sie sich wieder Ariane zu, zuckte aber bloß mit den Schultern. „Wenn sie auftauchen, musst du die anderen informieren.“, erklärte Ariane ihr eindringlich und drehte sich zu Erik. „Ewigkeit spürt keine Schatthen. Vielleicht haben wir Glück und es war nur ein Fehlalarm.“ Ewigkeit meldete sich zu Wort. „Hast du deinen Beschützerinstinkt gehört?“ Ariane schüttelte den Kopf. „Nein. Aber der Ton kommt oft ziemlich spät.“ Sie fasste sich an die Stirn. „Du könntest deinen Schutzschild einsetzen.“ „Meine Eltern sind da drinnen, die kann ich nicht allein lassen.“, antwortete Ariane. „Willst du wieder rein?“, fragte Erik, vielleicht um endlich wieder Teil des Gesprächs zu sein.   Ariane zögerte. „Der Schatthenmeister mag Überraschungsangriffe. In einer Menschenmenge rechnet man nicht damit, dass plötzlich Schatthen auftauchen. Deshalb würde er das nutzen.“   Erik war verwirrt. Wenn das alles echt war, dann hätten sich die Leute doch später daran erinnern müssen. Und wenn es ein Spiel war, dann war es geschickter, den Angriff außerhalb des Festsaals zu planen, wo man ungestört war. Wollte Ariane ihn einfach nur ablenken? Weil er eben … Er schob seine Gedanken beiseite und spielte einfach weiter mit. „Ist es nicht grotesk, in so einer Situation so zu tun, als wäre alles normal?“ Ariane sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als wäre das für sie schon zur Regel geworden. Sie lächelte traurig. „Das ist es.“   In Begleitung Ewigkeits betraten Ariane und Erik erneut den Festsaal. „Wenn ich den Schmerz draußen gespürt habe, ist es dann nicht wahrscheinlicher, dass die Schatthen draußen sind.“, wandte er ein. „Ich weiß es nicht.“, gestand Ariane. „Und wenn sie uns wollen, bringen wir dann die anderen Leute nicht in Gefahr?“ Schockiert sah Ariane ihn an, wandte sich dann erneut ab. „Der Schatthenmeister hat gesagt, dass er unsere Familien in Ruhe lässt, aber ich glaube ihm nicht.“ „Wäre auch ziemlich naiv.“, sagte Erik. „Du meinst also, er könnte sie als Geiseln nehmen?“ „Ich weiß es wirklich nicht.“ Trotz der Situation klang Erik so ruhig, wie damals im Schatthenreich. Vielleicht lag dies aber auch nur an dem Umstand, dass er weiterhin an der Echtheit des Ganzen zweifelte. „Ewigkeit soll auf deine Eltern aufpassen, Wenn der Schatthenmeister es auf uns abgesehen hat, dann bringst du sie sonst nur in Gefahr. Wenn sie sein Ziel sind, soll Ewigkeit dir Bescheid geben.“ Ariane nahm den Vorschlag nicht gerade mit Begeisterung entgegen. Aber Erik hatte Recht, sie wollte nicht versehentlich ihre Eltern ins Fadenkreuz eines Angriffs bringen, deshalb bat sie Ewigkeit, der Anweisung zu folgen. Die Kleine gab keine Widerworte von sich, sondern war im gleichen Moment verschwunden. Erik sprach weiter. „Wir stellen uns ans Büffet in der Ecke, dann können sie nur von zwei Seiten kommen.“ „Dann können sie uns einkeilen.“, wandte Ariane ein. „Das können sie so oder so.“ Ariane hatte keine Alternative parat. Erik holte sein Smartphone hervor. Mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es das Normalste auf der Welt einfach zu fotografieren, ohna auf die Leute um einen herum zu achten, setzte er den ausgemachten Plan um und schickte die Fotos an Vitali. „Gehen wir.“ Mehrere andere Leute standen am Büffet, doch diese waren vor allem um die warmen Speisen versammelt. Daher stellten sie sich nahe der Wand auf, wo kalte Häppchen dargeboten wurden. Nervös ließ Ariane den Blick durch den Raum schweifen. Erik dagegen wandte sich dem Tisch zu. „Iss etwas.“, sagte er in gedämpftem Tonfall. „Als könnte ich jetzt etwas essen!“, antwortete Ariane, ohne sich ihm zuzuwenden. Eriks Stimme hatte wieder diesen gesetzten Klang, den sie von Secret kannte. „Wenn der Schatthenmeister uns beobachtet und sieht, dass du panisch die Gegend absuchst, weiß er, dass du vorgewarnt bist.“ Er drückte ihr einen Teller in die Hand. Nachdrücklich sah er ihr in die Augen. „Es ist besser, ihn im Glauben zu lassen, dass du nichtsahnend bist.“ Widerwillig folgte Ariane der Aufforderung, lud sich zwei belegte Baguettescheiben auf den Teller und zwang sich, sich Erik zuzuwenden, um nicht mehr den Anschein von übertriebener Wachsamkeit zu machen. „Du hast etwas von einem Ton gesagt.“, sagte Erik beiläufig, während er unter den Horsd’œuvre wählte. „Es ist ein Warnsignal, das ich höre, bevor die Schatthen angreifen. Aber erst kurz davor.“ Sie sah zu, wie er das zuletzt von ihm gewählte Appetithäppchen auf seinem Teller ablegte. „Dann wirst du es rechtzeitig wissen.“ Seine Augen fanden die ihren. Sein Blick hatte wieder diese unergründliche Tiefe, die sie an Secret erinnerte, aber so viel mehr beinhaltete. Nicht so gefühlskalt und abweisend wie der Secrets. In einer Seelenruhe begann Erik zu essen und Ariane bemerkte, dass sich ihre Mundwinkel gehoben hatten. Sie konnte nicht sagen, wieso, aber sie fühlte sich mit einem Mal in seiner Nähe sicherer. Als wäre seine Unterstützung allein etwas, das ihr die Sache leichter machte. Sie war nicht allein. Plötzlich rief eine Stimme ihren Namen „Ah Ariane!“ und sie erkannte zu ihrem Schrecken, dass Moritz von der anderen Seite an das Büffet trat.   Bei demjenigen, der Ariane gerufen hatte, als würde er sie kennen, handelte es sich um einen brünetten jungen Mann, der ein Stück größer war als Erik und die Kleidung des Partyservices trug. Ungeniert trat dieser von der anderen Seite des Tisches zu ihnen oder genauer gesagt zu Ariane und lächelte sie dabei so gewollt charmant an, dass Erik statt den nächsten Bissen zu tun, seine mit Lachs belegte Baguettescheibe auf den Teller legte. „Hallo.“, antwortete Ariane zaghaft und lächelte den Fremden schüchtern an. „Du solltest die Hähnchenschlägel probieren, die sind die Spezialität des Partyservices.“ „Ich habe nicht so großen Hunger.“, antwortete Ariane sanft lächelnd in einer Erik unnatürlich vorkommenden Tonlage. „Verstehe. Ich werde in Kürze gehen müssen, weil ich morgen noch einen Auftritt mit meiner Band habe.“ Ui, mit seiner Band. Klar, dass er das erwähnen musste. „Ah.“, machte Ariane und benahm sich Eriks Meinung nach völlig untypisch. „Würdest du mir deine Telefonnummer geben?“ Erik heftete einen finsteren Blick auf Ariane, die davon nichts zu bemerken schien. Sie zauderte. „Ähm. Tut mir leid, ich gebe niemandem meine Telefonnummer.“ Gut so! „Oh, schon klar.“, sagte der Typ. „Bist du auf Facebook?“ Erik hoffte, dass sie es nicht war. „Äh, ja.“, antwortete Ariane. „Dann kann ich dich ja adden. Oder stört das deinen kleinen Freund?“ Das Lächeln des Jungen bei seinen Worten triefte vor Spott. Es war eindeutig, dass er damit andeuten wollte, dass er Erik nicht als Konkurrenz ansah. Das in Kombination mit dem unterschwelligen Hinweis darauf, dass Erik von Alter und Größe im Vergleich zu ihm noch ein kleiner Junge war, ließ Eriks Kiefer verhärten.   „Wie bitte?“, fragte Ariane irritiert. „Der Kleine.“, grinste Moritz und deutete mit einer Bewegung seines Daumens auf Erik. Ariane zog die Augenbrauen zusammen. Auf ihre Reaktion hin wandte sich Moritz postwendend Erik zu, griff über den Tisch hinweg nach seiner Rechten und stellte sich ihm freundlich lächelnd vor. „Wie ist dein Name?“ Ariane bemerkte erst in diesem Moment, wie finster Eriks Miene geworden war. Er antwortete Moritz erst gar nicht. Da ihr die Situation unangenehm war und sie schnellstmöglich das Gespräch beenden wollte, übernahm Ariane das an seiner Stelle. „Das ist Erik. Wir gehen in die gleiche Klasse.“ Augenblicklich spürte sie Eriks Blick auf sich lasten, sah aber nicht in seine Richtung. Sie wollte einfach nur Moritz loswerden. „Du findest mich unter Ariane Bach auf Facebook.“ „Danke.“ Er lächelte breit. „Ich melde mich.“ „Tu das!“ Sie lächelte so freundlich sie nur konnte. „Bis dann.“ Moritz grinste zurück und lief endlich wieder hinüber zu den Getränken. Ariane atmete aus und sah sich im nächsten Moment einem so düster dreinblickenden Erik gegenüber, dass sie sich fragte, ob er wieder Schmerzen hatte. Ehe sie ihn jedoch danach fragen konnte, wurde sie von hinten gerufen. Sie erkannte die Stimme sofort als die ihres Vaters. So viel zu dem Plan, dass ihre Eltern ihr fernbleiben sollten. Sie stellte ihren Teller ab und drehte sich zu ihren Eltern um. „Wir haben dich schon vermisst!“, rief ihr Vater. „Dein Vater hat dich vermisst.“, verbesserte ihre Mutter. „Besonders nachdem ich gesagt habe, dass du mit Erik rausgegangen bist.“ Herr Bach warf seiner Frau einen verstimmten Blick zu. Erik ergriff das Wort. „Keine Angst.“ Seine Stimme wandelte sich zu purer Verachtung. „Sie gibt sich lieber mit Leuten vom Personal ab.“ Sein Blick machte überdeutlich, dass die Beleidigung ihr galt. Dass er sie so ansehen konnte, verschlug Ariane für einen Moment die Sprache. Es brauchte Sekunden, ehe sie antworten konnte. Ihr Plan war es, ihrer Stimme einen trotzigen Klang zu geben, aber durch den Kloß in ihrem Hals bekam sie stattdessen etwas Bitteres. „Im Gegensatz zu dir, macht es mir nichts aus, mich mit Menschen zu unterhalten, die unter deiner Würde sind.“ Sie sah, wie die rasende Abscheu auf seinem Gesicht sich noch steigerte. „Was glaubst du, was du bist!“ Arianes Gesichtsmuskulatur verlor ihre Spannung. Sie starrte ihn ausdruckslos an. Ihr Mund öffnete sich leicht und schloss sich wieder. „Ich wusste nicht, dass ich unter deiner Würde bin.“ Abrupt stockte Erik. Die Stimme ihres Vaters erhob sich. „So spricht niemand mit Ariane!“, mischte er sich aufgebracht ein. „Und ich bin dagegen, dass sie mit jemandem zusammen ist, der sie nicht zu schätzen weiß!“   Eriks Gesichtsausdruck wurde wieder hart. Der letzte Teil des Satzes erinnerte ihn an Arianes Verhalten gegenüber diesem Kellnerverschnitt, ein anderes Verhalten als das, das sie ihm gegenüber zeigte. Ein Verhalten, das Männer wie dieser Typ bewirkten, deren ganzes Verhalten nichts weiter war als ein abgekartetes Spiel! Jemand der sie zu schätzen wusste – dass er nicht lachte! „Sie sollten von Ihrer Tochter nicht zu viel erwarten. Sie könnten enttäuscht werden.“, spie er angeekelt aus.   „Also das ist doch!“, brachte Herr Bach erregt hervor und musste nach Worten ringen. Dann schrie er. „Es ist mir egal, wie viel Geld dein Vater verdient, so kannst du nicht über Ariane reden!“ Seine Stimme brach fast und er atmete viel zu hektisch. Sein Gesicht war rot vor Aufregung. Vermutlich durch das Geschrei auf den Streit aufmerksam gemacht, trat im nächsten Moment Nathan Finster zu ihnen. „Was ist hier los?“ Arianes Vater war immer noch halb am Hyperventilieren und sprach in viel zu aufgewühlter Tonlage. „Dieser – Junge hat meine Tochter beleidigt.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen.“, antwortete Finster ruhig. „Entschuldigen Sie, Herr Finster, aber –“ Finster unterbrach ihn.  „Glauben Sie mir, Erik würde Ariane nie –“ Eine tiefe, grollende Stimme erklang und Eriks Vater tauchte hinter Finster auf. „Was geht hier vor?“ „Ihr Sohn!“, fing Herr Bach an, doch Ariane rief hektisch dazwischen. „Es ist alles in Ordnung!“ Ihre Stimme war viel zu schrill. „Nichts ist in Ordnung!“, widersprach ihr Vater. „Stefan.“, versuchte seine Frau ihn zu beruhigen und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Es handelt sich um ein bedauerliches Missverständnis.“, erklärte Finster. Herrn Donners kalter Blick fiel auf Finster. „Welche Art von Missverständnis?“ Herr Bach sprach an seiner Stelle. „Ihr Sohn hat meine Tochter beleidigt!“ Herr Donner reagierte nicht. Er sah Arianes Vater nur stumm an. Schließlich sprach er in ruhigem Geschäftston. „Ich würde Sie bitten, dass Ihre Tochter meinem Sohn in Zukunft fernbleibt.“ „Worauf Sie sich verlassen können!“ „Papa!“, rief Ariane. „Komm, Erik.“, sagte Herr Donner ohne Wut in der Stimme, als wäre diese Angelegenheit für ihn völlig belanglos. Erik stand da und konnte keinen klaren Gedanken fassen, wie aus weiter, grauer Entfernung. Er hatte gerade selbst seine Beziehung zu Ariane zugrunde gerichtet und fühlte sich … wie von sich selbst entrückt … nicht länger… in sich. Langsam, als würde er Erik in einen sicheren Hafen führen, sprach sein Vater:. „Wir gehen.“ Finster versuchte nochmals, die Wogen zu glätten. „Bitte, das ist doch kein Grund –“ Herr Donner brachte ihn mit einem unbarmherzigen Blick zum Schweigen. Für einen Moment stand Finster still, von Herrn Donners Blick mundtot gemacht. Dann änderte sich etwas in seinem Gesicht und an seiner Haltung. Seine Schultern strafften sich, die Atmosphäre um ihn herum schien sich zu ändern. Er strahlte schlagartig eine bedrohliche Willensstärke aus. Sein Stimmvolumen verstärkte sich, ohne dass er die Lautstärke erhöhte. „Ich möchte Sie bitten, hier keine Neuauflage von Romeo und Julia aufzuführen.“ Herr Donner ließ sich davon nicht einschüchtern. Während Arianes Vater schon allein aufgrund von Finsters Ausstrahlung verstummt war, versuchte Eriks Vater Finster mit Blicken in die Knie zu zwingen. Doch Nathan Finster stand aufrecht und blieb von Herrn Donners Machtdemonstration unbeeindruckt. „Sie alle sind meine Gäste und dass sie sich über zwei Personen streiten, die sich offensichtlich gut verstehen, ist weder besonders vernünftig, noch vorteilhaft.“ „Erik.“, sagte Herr Donner auf eine so befremdlich schonungsvoll klingende Weise, die umso verstörender wirkte. Er sah seinen Sohn nun direkt an. Auch Finster heftete seinen Blick auf Erik, als würde er ihn allein dadurch in einer Bahn halten, aus der die Stimme seines Vaters ihn zu reißen drohte. Dennoch wusste Erik nicht, wie er reagieren sollte. Schließlich presste er hervor „Wir sind Freunde.“ und klang dabei nicht nach Erik Donner, sondern einem erbärmlichen Schwächling. „Ich habe ihn zuerst beleidigt.“, sagte Ariane hastig. Erik hatte den Blick gesenkt. „Hast du nicht.“ „Es war gemein, was ich gesagt habe.“, erwiderte Ariane in entschuldigendem Tonfall und sah ihn direkt an. Dieses Mal widersprach Erik ihr nicht. Finster ergriff das Wort. „Meine Herren, Sie sehen die Jugend kann sich gut alleine um ihre Probleme kümmern. Ich bitte Sie, das in Zukunft zu respektieren. Es handelt sich nicht um kleine Kinder, sondern um junge Erwachsene.“ Weder Herr Bach noch Herr Donner erwiderten etwas. Für eine Sekunde herrschte Schweigen. Ohne Hast drehte sich Herr Donner anschließend zu Finster und sprach in unemotionalem Ton, als wäre nichts vorgefallen. „Herr Finster.“ Er reichte ihm die Hand. „Danke für die Einladung. Ich wollte Ihnen gerade mitteilen, dass wir uns leider verabschieden müssen.“ Es war Finster anzusehen, dass er diesen Zug von Herrn Donner als unangebracht empfand, dennoch schüttelte er Donner die Hand. „Es hat mich gefreut, dass Sie gekommen sind.“ Herr Donner nickte. „Noch einen schönen Abend.“ „Gleichfalls.“ Indem er sich umwandte, streifte Herr Donner Ariane noch mit seinen stahlgrauen Augen. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Dann ging er davon. Erik warf einen letzten hastigen Blick auf Ariane und folgte, ohne noch etwas zu sagen, seinem Vater nach. Finster sah ihnen noch hinterher und wandte sich dann wieder Arianes Vater zu. Eine ungewohnte Strenge zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Mittlerweile hatte Herrn Bachs Stimme wieder ihre normale Tonlage zurückgewonnen. „Entschuldigen Sie mein Betragen, aber wenn es um meine Tochter geht –“ „Und jetzt überlegen Sie, wie er reagiert, wenn es um seinen Sohn geht!“, warf Finster nicht gerade freundlich ein. „Ich mag keine Kinder haben, aber seine Kinder als Entschuldigung dafür zu nehmen, dass man sich nicht beherrschen kann, ist für mich inakzeptabel.“ Wie ein geschlagener Hund starrte Herr Bach seinen Chef an. Ariane begehrte auf. „Das hat mein Vater nicht verdient.“ „Offensichtlich spricht in einer Familie jeder für den anderen.“, sagte Finster feindselig. So hatte Ariane ihn noch nie gesehen. „Ja, so ist das in einer Familie.“, erwiderte sie. „Dann ist es ja gut, dass ich nie eine hatte!“ Jähes Schweigen. Ariane und ihre Eltern starrten Nathan an. Dieser schien in diesem Moment erst begriffen zu haben, was er da von sich gegeben hatte. Betroffen wandte er den Blick ab und fuhr sich mit einer ungelenken Bewegung durchs Haar. Er atmete tief aus. Seine Stimme wurde wieder ruhig. „Da halte ich eine Strafpredigt darüber, wie man sich beherrschen soll und bekomme es selbst nicht fertig.“ Er  sah Ariane und ihre Eltern wieder an. „Entschuldigen Sie, ich bin es nicht gewöhnt, private Streitigkeiten beizulegen. Im Geschäftsleben ist es immer das Beste, dann alle zurechtzuweisen. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin.“ Er deutete ein Nicken an, auf das Arianes Vater jedoch nicht reagierte. Finster schluckte und sah ziemlich mitgenommen aus, als bereue er den vorigen Ausbruch. „Ich hoffe, Sie hatten dennoch einen schönen Abend.“ „Ja sicher“, bestätigte Arianes Mutter. „Vielen Dank für die Einladung. Wir werden uns dann auch auf den Weg machen.“ Sie kannte ihren Mann gut genug, um abschätzen zu können, dass ihm die Feierlaune nun vergangen war. Ariane fühlte sich mies. Dann spürte sie plötzlich etwas auf ihrer Schulter und schreckte herum, nur um zu erkennen, dass es sich um Ewigkeit handelte. Wo das Schmetterlingsmädchen zwischendurch gewesen war, wusste sie nicht. Vielleicht hatte es nach Schatthen Ausschau gehalten. Ein Problem, das Ariane fast vergessen hatte. Vielleicht hatte die Kleine sich bei dem Streit auch lieber auf Abstand gehalten, wie sie selbst es gerne getan hätte. „Danke fürs Kommen.“, hörte sie Nathan sagen. Er reichte ihrem Vater und ihrer Mutter nacheinander die Hand. Sie sah, dass er nicht mehr sein übliches Lächeln zeigte. Noch immer war leichte Reue in seinen Zügen zu erkennen. Dann war sie an der Reihe. Er nahm ihre Hand und sah ihr höflichkeitshalber ins Gesicht. Jäh weiteten sich seine Augen. Ariane verstand diese Reaktion nicht, denn er sah ihr noch immer direkt ins Gesicht, es konnte also nicht an etwas hinter ihr liegen, zumal Ewigkeit auf ihrer Schulter stand und sie augenblicklich gewarnt hätte, wenn die Schatthen plötzlich hinter ihr aufgetaucht wären. Abrupt ließ Nathan von ihr ab und starrte sie immer noch entgeistert an. „Ist etwas?“, fragte Arianes Mutter, die über Herrn Finsters Verhalten offenbar genauso verwundert war. Wirr wandte Finster sich ihr zu und gewann wieder die Kontrolle über seine Gesichtszüge. „Nein. Es ist alles in bester Ordnung.“ Er holte Luft. „Ich wünsche eine angenehme Heimfahrt.“ „Dankeschön. Noch einen angenehmen Abend.“, erwiderte Arianes Mutter, da ihr Mann nach der Rüge von seinem Chef in Schweigen verfallen war. „Ebenso.“, sagte Finster. Langsam folgte Ariane ihren Eltern in Schweigen gehüllt durch den Festsaal. Ewigkeits Stimme erklang neben ihrem Ohr. „Das war der Mann.“ Ariane wisperte zurück. „Welcher Mann?“ „Der Mann, den der Schatthenmeister gesehen hat.“ Kapitel 100: Nacht ------------------ Nacht   „Solange du nicht in mein Herz siehst und ich nicht in dein Herz blicke, herrscht Nacht.“ (Augustinus)   Die kurze Autofahrt verlief schweigend. Erik wusste nicht, ob er dafür dankbar sein sollte. Er glaubte fast, dass sein Vater ihn durch sein Schweigen härter bestrafte als durch Worte. Vielleicht weil er sich in dieser Zeit selbst darüber Gedanken machte, auf wie viele verschiedene Weisen er seinen Vater heute Abend bloßgestellt und den Namen der Familie Donner entehrt hatte. Wie ein Verfemter saß er auf dem Beifahrersitz und hielt den Kopf gesenkt. Als sie in die Auffahrt ihres Hauses fuhren, hielt sein Vater kurz an. „Raus.“, bellte er. Als hätte er ihn geschlagen, stieg Erik wortlos aus und lief auf die Tür zu, die ihm wie der Schlund zur Hölle vorkam. Am liebsten hätte er geheult. An Weglaufen dachte er längst nicht mehr, er hatte sich vor Jahren in sein Schicksal ergeben. Er hörte, wie sein Vater den Wagen in die Garage fuhr, das Öffnen und Schließen der Autotür, wie er den Wagen per Knopfdruck abschloss und dann mit den erhabenen Schritten eines Menschen, der über anderen stand, aus der Garage trat. Das Garagentor schloss sich geräuschvoll, während Erik die Schritte seines Vaters immer näherkommen hörte, und jedes einzelne Klacken der Lederschuhe auf dem Weg ihn wie eine Ohrfeige traf. Als sein Vater neben ihn trat, um die Tür aufzuschließen, schloss er unwillkürlich die Augen, wie man es tut, um den Schmerz besser ertragen zu können. Das Klicken der Tür erklang und sein Vater trat ein. Erik folgte ihm nach, sah unsicher auf und schloss dann umständlich die Tür hinter sich wie ein unbeholfener Knappe, der einem großen Ritter diente und sich, gerade weil er sich keine Fehler erlauben wollte, umso ungeschickter benahm. Laut klirrend schlugen die Schlüssel auf, als sein Vater sie auf die Kommode schleuderte. Erik schluckte. Mit einer reißenden Bewegung, die den Stoff aufstöhnen ließ, entledigte sich sein Vater seines Mantels und hängte ihn mit harschen Bewegungen, die seine Aggression unverkennbar machten, auf einen Bügel der Garderobe. Erik stand noch immer regungslos bei der Tür und wartete. Jeglichen Blick auf Erik demonstrativ verweigernd, stürmte sein Vater in Richtung Wohnzimmer und Erik hörte das Knallen der mit Wucht zugeschlagenen Tür. Wieder schluckte er und atmete durch den offenen Mund. Er versuchte den Blick zu heben, aber es gelang ihm kaum, nicht ohne dass seine Augen sich mit Tränen füllten, die er sofort wieder wegblinzelte, indem er den Kopf hob und auf die große Treppe zulief wie ein Adliger zu seiner Hinrichtung. Jegliches Gefühl schaltete er aus. Er lief einfach und lief und lief und lief und lief. Weiter. Vor seiner Tür angekommen hörte er es unten laut poltern, als wäre ein Möbelstück zu Boden gekracht oder umgeworfen worden. Sein Atem tönte wie das Entweichen hunderter von Seelen aus einem tönernen Gefängnis. Jetzt erst bemerkte er, dass er noch immer seinen Mantel trug. Er drehte sich um, sah zur Treppe. Dann rannte er, eilte die Stufen hinunter, nahm den Schlüssel, der im Schloss steckte, und stürzte aus dem Haus.   Ariane getraute sich nicht sofort, die anderen anzurufen, während sie mit ihren Eltern im Auto saß. Gleichzeitig wollte sie Ewigkeit noch nicht wegschicken, für den Fall, dass doch noch Schatthen auftauchten. Daher entschied sie sich, Vivien eine Nachricht zu schreiben, in der sie ihr mitteilte, dass sie mit ihren Eltern auf dem Heimweg war und sich melden würde, sobald sie zu Hause ankam. Währenddessen lief der Radio und ihre Mutter redete über die Feier, das Büffet, die Dekoration, die Leute, die dort gewesen waren, wahrscheinlich um Arianes Vater etwas abzulenken. Dieser blieb aber ungewohnt still und konzentrierte sich aufs Autofahren. Ariane wusste, dass er ihr nicht böse war. Er war immer sehr engagiert und ein kleiner Perfektionist, daher ging es ihm wohl nahe, dass Herr Finster ihn gerügt hatte. „Ach, Bärchen.“, sagte ihre Mutter mit einer Stimme, mit der man üblicherweise mit Kindern oder Tieren redete. „Sei doch nicht beleidigt.“ „Ich bin nicht beleidigt.“, antwortete ihr Vater schmollend. Ihre Mutter streichelte ihm die Wange und er schien das gerne anzunehmen. Dann hatten sie ihr Zuhause auch schon erreicht. Im Inneren angekommen, wollte Ariane sich nach oben in ihr Zimmer begeben. „Prinzessin.“ Ariane blieb auf der Treppe stehen und wandte sich zu ihrem Vater um. „Bist du mir böse?“ Ariane war überrascht. „Ich hätte mich nicht einmischen sollen.“ Sie lächelte ihren Vater liebevoll an. „Du hast es nur gut gemeint.“   Erik lief durch die Kälte und mied das Licht der Straßenlaternen. Der Himmel war klar, doch die kränklich schmale Sichel des abnehmenden Mondes hatte keine Leuchtkraft. Er hatte keine Ahnung, wohin er lief, er hatte eine Richtung eingeschlagen und gedacht, er wüsste es. Die Kälte drang durch seine Kleider und er war dankbar dafür. Dankbar, etwas spüren zu müssen, das nicht aus seinem Inneren kam. Dann sah er vor sich das große Jugendstilgebäude des Entschaithaler Theaters, aus dessen Inneren helles Licht nach außen drang.   Justin und Vitali hatten sich zu Serena und Vivien teleportiert, um notfalls auf einen Schlag Ariane und Erik zu Hilfe eilen zu können. Da Viviens Geschwister in das Geheimnis der Gleichgewichtsbeschützer eingeweiht waren, waren sie auf das Auftauchen der beiden Jungen hin eher neugierig als verstört gewesen. Kai hatte Vitali mehrfach gebeten, die Teleportation zu wiederholen, weil er diese so cool gefunden hatte. Mit diesem Lob mehr als zufrieden, hätte Vitali ihm auch den Gefallen getan, nur um weiteren Applaus zu ernten, wenn die anderen ihn nicht davon abgehalten hätten. Eine Weile waren sie dagesessen und hatten gewartet, während Kai Vitali und Justin über ihre Kräfte ausgefragt hatte, besonders Vitalis Fähigkeiten gefielen ihm. Und Vitali genoss es sichtlich, endlich mal die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen. Justin dagegen beantwortete die Fragen, die ihm nicht nur von Kai, sondern auch von Ellen gestellt wurden, gewissenhaft, wenn auch etwas verlegen. Er war so viel Aufmerksamkeit einfach nicht gewöhnt und fiel dadurch aus seiner üblichen Rolle als derjenige, der die anderen zu Ernsthaftigkeit und Konzentration auf die momentane Notlage aufrief. „Ariane schreibt, dass alles in Ordnung ist, sie ist auf dem Weg nach Hause und ruft uns gleich an.“, informierte Vivien die anderen. „Geht es ihr wirklich gut?“, fragte Serena besorgt. Vivien lächelte sie an. „Ansonsten würde sie es wohl nicht schreiben.“ Serena nickte zustimmend, aber wenig beruhigt. Wenige Minuten später traf der Anruf ein. „Vitali kann dich abholen.“, schlug Vivien Ariane vor. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“, antwortete Arianes Stimme. Auf Arianes gedrückte Tonlage hin ergriff Serena das Wort. „Ist alles okay bei dir?“ „Ja…“ Kurz war es still auf der anderen Seite der Leitung. „Ihr habt Recht. Wir sollten uns kurz sehen. Aber ich möchte nicht, dass meine Eltern merken, dass ich nicht mehr da bin.“ „Klar.“, meinte Vivien mit heiterer Stimme. „Vitali ist gleich da.“ Sie legte auf und gab Vitali Bescheid, der sich glücklicherweise noch halbwegs daran erinnern konnte, wie Arianes Zimmer aussah. Sekunden später stand Ariane in ihrer Mitte und wunderte sich über das vollgestopfte Zimmer. Viviens Geschwister saßen noch immer bei der Gruppe, die sich mittlerweile auf die untere Hälfte des Stockbetts und auf Viviens Bett verteilt hatte. Vitali setzte sich wieder zu Justin und Viviens Bruder, während Ariane mit Ewigkeit  zunächst stehenblieb und sich dann auf den Boden setzte, auf dem ein Brettspiel aufgebaut war. Sie seufzte kurz. „Was ist passiert?“, fragte Justin. Ariane fuhr sich über die Stirn und wusste nicht, wo sie anfangen sollte. „Erik hat die Wunde gespürt. Aber was viel wichtiger ist: Ewigkeit hat Herrn Donner erkannt. Der Schatthenmeister hat ihn getroffen, nachdem die Allpträume besiegt waren.“ Die anderen sahen sie entsetzt an. „Stimmt das, Ewigkeit?“, fragte Justin ernst. Ewigkeit sah ihn erstaunt an, als verstünde sie nicht, warum sie das gefragt wurde. Sie schüttelte verständnislos den Kopf und zuckte mit den Schultern. Nun waren die anderen völlig verwirrt. Ariane wandte sich an Ewigkeit. „Du hast doch vorhin gesagt, dass das der Mann war, den der Schatthenmeister gesehen hat.“ Ewigkeit nickte heftig. „Der Mann in Grün.“ Die anderen verstanden nichts davon, doch Ariane wurde mit einem Mal leichenblass und hätte umzukippen gedroht, wenn sie nicht gesessen hätte. Entsetzt starrte sie vor sich und sah die anderen nicht an. „Was hat das zu bedeuten?“, wollte Justin wissen. Ariane schluckte und hätte sich für ihre eigene Dummheit ohrfeigen können. „Ich habe uns alle in Gefahr gebracht.“ „Wovon redest du?“, verlangte Justin zu erfahren. Ariane war leicht vornüber gebeugt und schloss die Augen. „Es ist Finster.“ Die anderen schwiegen, obwohl Ariane erwartet hatte, dass Serena ihr nun eine Szene machte und sie beschimpfen würde, dass sie es die ganze Zeit gesagt hatte. Nichts davon geschah. „Der Allptraum hat sich in ihn verwandelt!“, rief Ewigkeit hektisch aus und schwenkte die Arme in die Höhe. „Und der Schatthenmeister ist panisch geworden und der Mann hat ihn angegriffen und – und – dann hat er ihm von hinten an die Brust gefasst.“ Vitali verzog das Gesicht, seines Erachtens klang das weniger brutal als pervers. Auch die anderen wurden aus dieser Beschreibung nicht schlau. „War das, als wir dich zum ersten Mal zum Schatthenmeister geschickt haben?“, fragte Vivien. Ewigkeit nickte und Vivien half den anderen auf die Sprünge. „Wisst ihr noch die Gestalt, auf die Vitali einen Amboss hat fallen lassen?“ „Das war genial, was?“, warf Vitali dazwischen, bekam aber nur von Vivien kleinem Bruder Bestätigung dafür. „Das war Finster, beziehungsweise der Allptraum als Finster.“, erklärte Vivien. Ariane sah sie fragend an. „Was heißt das?“ „Dass Grauen-Eminenz vor Finster Angst hat.“ Vivien war die einzige, die den Schatthenmeister bei seinem Namen nannte. „Hä?“, machte Vitali. „Wieso?“ Serena hätte gerne geantwortet, dass er vielleicht der Chef des Schatthenmeisters war, verkniff es sich aber, weil sie fürchtete, Ariane würde dann erneut beginnen sich Vorwürfe zu machen. „Das heißt, der Schatthenmeister kennt Herrn Finster.“, schlussfolgerte Justin. Viviens kleine Schwester Ellen ergriff das Wort. „Ist er nicht gut, wenn der Böse vor ihm Angst hat?“ Ihr Bruder antwortete ihr, als wüsste er es besser. „Nee, der ist dann sicher noch viel viel böser!“ Es klang, als fände er das cool. Auf diese Worte hin fiel Arianes Gesicht erneut ein. Justin sprach in sanftem Ton zu den beiden Kindern. „Es könnte beides bedeuten.“ „Ist aber schon wahrscheinlicher, dass er böse ist. Vor den Guten hat doch keiner Angst.“, meinte Vitali, woraufhin Kai vor Stolz ein Stück größer wurde. Justin ließ sich auf solche Spekulationen nicht ein. „Jetzt haben wir zumindest einen Ansatzpunkt.“ „Du willst doch gar nicht mehr, hat er zum Schatthenmeister gesagt.“, brachte Ewigkeit ein. „Und: Es ist ganz einfach!“ „Die Allpträume sagen viel, um einen zu verletzen, das muss nicht mit der echten Person übereinstimmen.“, erwiderte Justin und musste bei der Erinnerung an seine Begegnung mit der falschen Vivien schwer schlucken. Seine Rechte legte sich über seinen Mund. Vitali zog eine Grimasse. „Was ist daran verletzend?“ Kai neben ihm nickte zustimmend. „Es ist unnötig, uns darüber Gedanken zu machen.“, beendete Justin das Thema. „Vielleicht können wir mehr herausfinden, wenn wir Finster beobachten.“, schlug Vivien vor. „Willst du Ewigkeit zu ihm schicken?“, fragte Ariane unsicher. „Wir sollten Ewigkeit nicht in Gefahr bringen!“, brachte Serena vor. Vivien erklärte: „Ich hatte auch eher daran gedacht, dass wir Vitalis Unsichtbarkeit benutzen und uns bei Finster mal umsehen.“ Vitali war ganz Ohr. „Sollen wir ihn beschatten?“ „Das ist zu gefährlich.“, war Justins Meinung. Vivien ließ sich davon nicht von weiteren Überlegungen abbringen. „Zwei von uns könnten unsichtbar vor sein Haus stehen und schauen, was passiert.“ Justin widersprach. „Der Schatthenmeister mag keine Teleportation beherrschen, aber wir wissen nicht, wie es mit Finster steht. Ich halte das für keine gute Idee.“ „Ich schon.“, sagte Ariane ernst. „Wir können nicht immer darauf warten, dass der Schatthenmeister den nächsten Schritt tut.“ „Es ist nicht hilfreich, wenn wir uns dann noch einen weiteren Feind machen.“, hielt Justin entgegen. Ariane konterte mit entschlossenem Blick. „Der Schatthenmeister ist für unsere Entführung verantwortlich, aber Finster steckt in der Sache mit der Ausgrabungsstätte mit drin. Das heißt, er ist so oder so unser Feind.“ Serena mischte sich ein. „Wir wissen nicht, ob er unser Feind ist.“ Ariane stierte sie ungläubig an. Serena wich ihrem Blick aus. „Du hast ihm bisher auch vertraut.“ „Das war ein Fehler.“, sagte Ariane hart. Serenas Stimme war deutlich weniger vehement als sonst. „Versuch einfach, objektiv an die Sache ranzugehen.“ Frutstriert schlug Ariane die Augen zu Boden. Kai wandte sich an Vitali. „Kann ich mit?“ „Das ist zu gefährlich.“, antwortete Justin, ehe Vitali etwas sagen konnte. „Wir nehmen Ewigkeit mit.“, sprach Ariane. „Wenn irgendetwas ist und wir euch nicht mehr sagen können, was wir herausgefunden haben, wird es Ewigkeit tun.“ „Du meinst doch nicht, dass wir draufgehen!“, warf Vitali in wenig begeistertem Ton ein. Ariane antwortete nicht. „Ich find das nicht lustig.“, betonte Vitali, aber Ariane schien ihre Entscheidung getroffen zu haben. „Du kannst teleportieren und ich habe einen Schutzschild. So schnell sterben wir nicht.“, erwiderte sie. Justin hatte einen weiteren Punkt zu besprechen. „Wir sollten uns auch in der Finster GmbH umsehen. Irgendetwas muss die Reaktion von Eriks Wunde verursacht haben.“ „Dann tun wir das auch morgen.“, sagte Ariane. „Was sollen wir denn morgen noch alles machen?“, nörgelte Vitali. „Morgen ist Sonntag!“ Ariane warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Je schneller wir mehr herausfinden, umso besser.“   Kurz nach acht war das Theaterstück zu Ende und Eriks Tante Rosa verließ in Begleitung von Tamara Donner den Saal. Während die beiden von zahlreichen anderen Leuten umgeben die Treppe hinabstiegen, begann Rosa bereits zu plappern und über die Kostüme und die darstellerischen Fähigkeiten der Schauspieler zu philosophieren. Ihre Schwester dagegen gab nur kurze, aber deswegen nicht weniger qualifizierte Antworten. Während sie den zweiten Treppenlauf hinab ins Erdgeschoss liefen, sah Tamara Donner hinab ins Foyer, ohne dass Rosa dem Beachtung geschenkt hätte. Auch dass ihre Schwester nun gar keine Antworten mehr gab, fiel ihr nicht auf. Als die beiden schließlich im Foyer angekommen waren, wo ein Großteil der anderen Theaterbesucher zur Garderobe strömte, während der andere Teil direkt den Weg zum Haupteingang einschlug, blieb ihre Schwester schließlich stehen. „Was ist?“, fragte Rosa überrascht und folgte erst jetzt dem Blick ihrer Schwester. Etwas abseits des Haupteingangs, vor einer Sitzgelegenheit neben der ein Prospekthalter mit Schauspielplänen zum Mitnehmen platziert war, stand Erik. Die Leute liefen an ihm vorbei, nur ein paar Frauen verschiedenen Alters warfen dem schönen Jungen mehrere Blicke zu. Rosa begriff nicht, wieso er hier war und sah fragend zu ihrer Schwester. Die sah ihrem Sohn nur stumm entgegen, während weitere Leute vorbeigingen, und die Sicht auf Erik behinderten. Tamara machte keine Anstalten, ihm entgegenzugehen, Sie blieb einfach stehen, bis die Flut an Leuten abgeflaut war. Rosa fragte sich, woher sie diese Geduld nahm. Sie selbst war kurz davor, zu Erik hinüberzueilen, doch da Eriks leerer Blick allein auf seine Mutter gerichtet war, hielt sie das für keine so gelungene Idee. Der Junge machte alles andere als einen guten Eindruck. Auch wenn er eine ernste Fassade aufgesetzt hatte, hatte Rosa den Eindruck, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen war. Als der Raum zwischen Erik und ihnen schließlich frei war, senkte er den Blick, woraufhin seine Mutter auf ihn zu schritt wie eine Hohepriesterin auf einen niederrangigen Tempeldiener. Zwei Schritte vor Erik blieb sie stehen und sah ihn stumm an, ohne dass er den Blick nochmals gehoben hätte. Aufgeregt sprudelte es aus Rosa: „Was ist denn passiert? Wieso bist du hier?“ Erik gab ihr keine Antwort. Seine Mutter jedoch schien ihn stumm zu verstehen. „Warte hier.“ Sie lief zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen. Rosa war kurz unsicher, ob sie bei Erik bleiben sollte. Da sie jedoch ebenfalls ihre Jacke abgegeben hatte, hastete sie ihrer Schwester nach. Zurück bei Erik, hielt Tamara erneut an, woraufhin er zaghaft den Blick hob. Auf andere hätte ihr Gesichtsausdruck kalt und herzlos gewirkt, doch Rosa kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass es sich um den gefühlvollsten Blick handelte, zu dem sie überhaupt im Stande war. „Das Auto steht in der Tiefgarage.“ Erik nickte.   Erik saß auf der Rückbank und hatte den Blick zu Boden gerichtet. Rosa betrachtete ihn besorgt. Das Schweigen zwischen ihm und seiner Mutter erschien ihr grotesk und sie hätte gerne gefragt, was vorgefallen war. Aber da ihre Schwester Erik offenbar ohne Worte verstand, sah es wohl keiner von beiden als nötig an, sie in das Geheimnis einzuweihen. Und zur Einstimmung aufs Theater hatte ihre Schwester auch noch den Klassiksender eingestellt und offenbar nicht vor, diesen zu wechseln, obwohl die dramatische Instrumentalmusik in diesem Moment die Spannung nur noch verschlimmerte. Rosa drehte sich wieder nach vorne. Sie war nicht Akteur dieses Stücks, sondern nur stummer Zuschauer, der das Drehbuch nicht kannte, dem die anderen beiden augenscheinlich folgten. Als sie bei dem Anwesen der Familie Donner ankamen und durch die Haustür eintraten, kam von drinnen kein Geräusch. Rosa sah zu, wie ihre Schwester sich ihren Mantel abstreifte, ihn aufhängte und dann in Richtung Wohnzimmer schritt. Sie verstand das nicht. Erik blieb neben ihr stehen und schien nicht ganz da zu sein. Für Momente blieb sie einfach neben ihm stehen, anstatt sich ihrer Jacke zu entledigen. Plötzlich hörte sie ein tobsüchtiges Brüllen aus dem Wohnzimmer, das eindeutig von Eriks Vater stammte. Sie musste sich hochkonzentrieren, aber selbst dann verstand sie kaum etwas. Irgendetwas mit ‚demütigend‘und ‚Pöbel‘ und ‚schämte‘. In der nachfolgenden Pause, vermutete sie, dass Tamara sprach, in gesetztem Ton wie es ihre Art war. Ihre Schwester konnte verletzend sein, sie konnte giftig sein, aber sie schrie nie. Zu so viel Emotionsausdruck war sie nicht fähig. Thomas begann wieder mit seiner tiefen Stimme in Rage zu schreien. Ein Wort war deutlich herauszuhören: ‚Sohn‘. Rosa sah zu Erik hinüber, der sich neben ihr langsam aufzulösen schien. Wie ein Fluch wirkte dieses Szenario auf sie, als sei es nie anders gewesen, als wäre dieses Haus ein Gefängnis, das aus diesem Leid seine Energie zog. Sie blieb nicht länger stehen, sondern ging zur Kommode, kramte dort nach ihrem Autoschlüssel. Gleichzeitig konnte sie von hier aus weitere Brocken aufschnappen, aus denen sie sich zusammenreimte, dass Thomas davon sprach, dass Erik nicht mehr wisse, wo er hingehörte. Sie achtete nicht darauf, fand ihren Schlüssel und lief zurück zur Haustür. „Komm.“, sagte sie zu Erik. Er reagierte nicht. Kurz zögerte sie. „Du kannst mitkommen oder du kannst hier bleiben.“ Erik blickte auf.   Die Fahrt, während der Musik aus den Achtzigern lief, dauerte zwanzig Minuten. Dann parkte der Wagen nahe am Rheinufer. Kleine Lichter, die auf der anderen Seite des Ufers brannten, verursachten Spiegelungen auf dem dunklen Wasser und machten dadurch die Wellenbewegungen des Flusses sichtbar. Der Motor wurde ausgeschaltet und der Radio verstummte. „Willst du darüber reden?“, fragte Rosa. Erik schwieg. Rosa seufzte. „Dein Vater war nicht immer so.“ Er hätte sich gewünscht, dass sie einfach still war. Nur weil er in ihr Auto gestiegen war, hieß das nicht, dass er mit ihr reden wollte. Dass er mit irgendwem reden wollte! „Es gab eine Zeit, da –“ Kurz hielt sie inne. Vielleicht hatte sie begriffen, dass es keine Zeit im Leben seines Vaters gegeben hatte, in der er anders gewesen war. „Als du noch klein warst, war er total in dich vernarrt.“ Sie drehte sich zu ihm. „Ich bin sicher, er – er ist einfach nur unfähig dir zu zeigen, wie sehr er dich liebt.“ Es dauerte eine Sekunde, ehe Erik sich ihr zuwandte, doch der Gesichtsausdruck, den er ihr zeigte, ließ Rosas Gesichtszüge entgleisen. Kapitel 101: Finsters Haus -------------------------- Finsters Haus   „Wenn ich mein Geheimnis verschweige, ist es mein Gefangener. Lasse ich es entschlüpfen, bin ich sein Gefangener.“ (aus Arabien)   „Besser geht’s ja gar nicht.“, kommentierte Change ihren Aussichtspunkt. Er und Desire hatten sich in Begleitung von Ewigkeit auf die Rückseite von Finsters Haus geschlichen, das etwas außerhalb, nahe dem Waldrand lag. Ein Garten, der einzig aus einer Terrasse und Rasen bestand, schloss sich dem Haus an und endete in einer leichten Anhöhe, die zu einer Baumgruppe führte, in der Desire und Change Deckung gesucht hatten. Das Erdgeschoss des Hauses wies auf der Rückseite eine große Fensterpartie mit Schiebetür zur Terrasse auf, die freien Blick ins Innere ermöglichte. So sahen sie direkt in das Wohnzimmer des Hauses, das offenbar gleichzeitig als Trainingsraum genutzt wurde, zumindest sah Desire an der linken Seite, ein gutes Stück vor dem Sofa, einen Sandsack von der Decke hängen. Rechts endete die Fensterfront und ging in zwei normalgroße Fenster über, dort vermutete sie eine Küche. Die Tür in den Flur stand offen, wie jede Tür, die sie von hier aus sehen konnten, was für diese Jahreszeit ziemlich ungewöhnlich anmutete. Weiter hinten konnte man durch einen Durchgang eine Art Bibliothek erahnen, die jedoch von dieser Seite nicht einsehbar war und es hätte sich nicht gelohnt, den Standpunkt dafür zu wechseln. Die große Fensterfront bot den besten Einblick, auch wenn Finster bisher nicht aufgetaucht war. „Wo bleibt der?“, fragte Change ungeduldig. „Wir sind erst fünf Minuten hier.“ „Und?“ Desire schwieg, während sie und Change von Ewigkeits Glöckchenklang umschwirrt wurden. „Was ist?“, wollte Change wissen, als hätte sie irgendetwas Ungewöhnliches getan. „Ich denke nach.“, antwortete Desire. „Da fällt mir ein kurzer Witz ein: Denkt eine Blondine nach.“ Er grinste sie an. Desire wandte sich zu ihm und lächelte ihn grimmig an. „Der ist ja fast so witzig wie: Gibt Change einen schlauen Kommentar ab.“ Sofort schaute Change eingeschnappt. Beide fixierten einander für einen weiteren Moment, dann fingen sie an, mit den Händen nach einander zu schlagen wie zwei kleine Kinder. „Da!“, rief Ewigkeit. Desire und Change ließen sofort von ihren Kindereien ab. Sich bei den Händen nehmend machten sie sich unsichtbar und starrten zu dem Haus, wo sie jemanden durch den Flur huschen sahen. „Ist er das?“, wollte Change wissen. „Keine Ahnung.“, gestand Desire. Dann endlich erblickten sie Nathan Finsters Gestalt, wie sie in der Bibliothek verschwand, anschließend glaubten sie Bewegungen hinter den Fenstern der Küche wahrnehmen zu können. Erst Minuten später trat Finster in den Bereich der großen Fenster und setzte sich mit einer Tasse Kaffee – zumindest gingen sie davon aus, dass es sich um Kaffee handelte – auf das Sofa. Er trug kurze Hosen und ein ärmelloses Shirt. Der Kontrast zu seinem üblichen, edlen Aussehen in Hemd und Krawatte war gewaltig. In diesem Aufzug wirkte er eher wie jemand, der im Fitnessstudio tätig war, anstatt wie der Geschäftsführer eines Softwareunternehmens, der sich für alte Legenden interessierte. Finster stellte seine Tasse auf den Glastisch vor sich und bedeckte das Gesicht mit der Linken. „Was hat der denn?“, fragte Change. Offensichtlich mochte er keine Stille. „Wahrscheinlich war es gestern noch eine lange Nacht.“, antwortete Desire. „Du meinst, er hat nen Kater?“ Ewigkeit schwebte zwischen Change und Desire – irgendwie schien sie sie trotz ihrer Unsichtbarkeit noch orten zu können – und sah sich interessiert um. „Ich sehe keinen.“ Change starrte sie verwirrt an. „Da sitzt er doch.“ Ewigkeit sah nochmals hin. „Du meinst, du siehst ihn nicht?“, fragte Desire besorgt. Ewigkeit schüttelte den Kopf. „Der Mann, der da auf der Couch sitzt! Wie kann man den übersehen?“, schimpfte Change. Ewigkeit strahlte mit einem Mal, dann zog sie einen Schmollmund. „Ist Kater nicht eine Katze?“ „Nee, Kater wie Muskelkater!“ Wieder sah Ewigkeit Finster an und lächelte, als hätte sie verstanden. „Muskelkater!“ Sie deutete auf Finster. Desire schüttelte den Kopf, auch wenn das aufgrund ihrer Unsichtbarkeit nicht effektiv war. „Wenn es einem nicht gut geht, sagt man, man hat einen Kater, besonders wenn man zu viel Alkohol getrunken hat. Und Muskelkater ist, wenn einem die Muskeln wehtun.“ „Dann ist das kein Muskelkater.“, stellte Ewigkeit mit Verweis auf Finster fest. „Nein.“, sagte Desire. Jetzt schien die Kleine enttäuscht zu sein. „Aber er sieht schon aus wie ein Muskel-Kater.“, meinte Change und Desire konnte das Grinsen aus seiner Stimme heraushören. Sie verdrehte die Augen und hatte nicht den Nerv, mit ihm über seine Komplexe bezüglich muskulöser Männer zu diskutieren. Stattdessen beobachtete sie weiter Finster. Der beugte sich derweil nach vorne und schien seine Stirn mit den Handballen zu massieren. Plötzlich sah er auf, direkt in ihre Richtung. Automatisch schreckte Desire zurück, obwohl sie hätte wissen müssen, dass sie nicht sichtbar war. Äste und Blätter raschelten unter ihren Füßen. Sie bemühte sich still zu stehen und wagte erst wieder zu atmen, als Finster den Blick abgewandt hatte. „Der sieht uns nicht.“, erinnerte Change. Desire nickte, ehe ihr einfiel, dass Change das nicht sehen konnte. Sie konzentrierte sich wieder auf Finster. Dieser erhob sich mit einem Mal, ließ seinen Kaffee stehen und verließ den Raum. „Was ist, wenn er uns doch gesehen hat?“, fragte Desire aufgeregt. „Vielleicht kommt er jetzt raus und sieht sich um.“ „Dann teleportieren wir eben.“, meinte Change locker. Kurz schämte sich Desire. Der Anblick von Nathan Finster erinnerte sie immer an ihr normales Leben, in dem keiner magische Fähigkeiten besaß und in dem man sich nicht einfach wegteleportieren konnte. Dabei hatte sie sich vorgenommen, nicht länger so blauäugig zu sein, was diesen Mann anbelangte. Doch noch immer stritten in ihr zwei Stimmen. Die eine wollte Nathan nicht einfach als Bösewicht abstempeln, die andere mahnte sie, den Tatsachen ins Auge zu sehen, um weder die anderen noch Erik in Gefahr zu bringen. Minutenlang war nichts mehr zu sehen, dann hörten sie den Motor eines Wagens starten. „Ist das Finsters Wagen?“, fragte Desire. „Hey. Schau mal, ob der das ist.“, sagte Change und Desire musste erst begreifen, dass er mit Ewigkeit gesprochen hatte. Unsichtbarsein war nicht so praktisch wie sie sich das vorgestellt hatte. Ewigkeit zumindest hatte sofort verstanden und war im gleichen Moment verschwunden.   Sie tauchte direkt neben Nathan Finster auf und erkannte, dass sie sich nun im Inneren eines Automobils befand, über dem Beifahrersitz auf Höhe von Finsters Kopf. Das Auto rollte nach hinten und Ewigkeit wollte gerade durch die Fenster die Umgebung ausmachen, als der Wagen abrupt gebremst wurde und sie fast gegen die Fensterscheibe geprallt wäre. Sich verwirrt umblickend sah sie, dass das Auto aus einer Garage auf eine Auffahrt hinaus gerollt war, dann schaute sie leicht pikiert zu Finster, der aus ihr unerfindlichen Gründen gebremst hatte. Nicht, dass sie sich mit Autofahren besonders gut ausgekannt hätte. Und natürlich konnte sie nicht davon ausgehen, dass jemand darauf Rücksicht nahm, dass sie nicht angeschnallt war. Dennoch war sie stets beleidigt, wenn Leute sich auf sie setzen oder sie über den Haufen rennen wollten. Dass niemand sie sehen konnte, war eine Sache, damit konnte sie leben, musste sie wohl auch. Doch dass niemand auf sie Rücksicht nahm, daran würde sie sich nie gewöhnen! Nathan Finster starrte sie an. Das war gewiss Unsinn, sicher sah er etwas durch das Fenster hinter ihrem Rücken. Dennoch fühlte es sich an, als würde er sie ansehen. Ewigkeits Herz klopfte. Das tat es zwar immer, aber sonst bemerkte sie es nicht, nicht einfach so. Nicht, wenn sie sich nicht darauf konzentrierte oder es ihr aus anderen Gründen auffiel. Jetzt bemerkte sie es und das war ungewöhnlich. Jedenfalls hielt sie es für ungewöhnlich. Vielleicht war es gar nicht ungewöhnlich, vielleicht war es ganz normal und was sie für normal hielt, war völlig ungewöhnlich. Sein Blick war so verletzlich. Irgendwie fiel ihr das auf. Genau wie seine grünen Augen und seine Lippen und dass er ziemlich hübsch war für einen riesigen Menschen, der abrupt und ohne Grund bremste und sinnlos in die Luft starrte, wo sie stand. Er wandte sich ab. Ewigkeit war enttäuscht, sie hätte ihn gerne länger angesehen. Sie erkannte, dass er mit seinen dunklen Wimpern blinzelte, ehe er ausatmete und wieder aufrecht hinsaß. Er schluckte. Sie bemerkte, dass er andere Kleidung trug als zuvor: ein weißes Hemd und Jeans. Noch einmal sah er direkt in ihre Richtung. Ewigkeit griff sich hastig an ihre Wangen und versuchte das komische Kribbeln daraus zu verscheuchen. Dann hörte sie die Stimme von Wunsch in ihrem Kopf, die ihren Namen rief. Sie zögerte nicht und war flugs zurück bei den Beschützern.   „Alles okay?“, fragte Desire hastig. Ewigkeit nickte. Spöttisch erklärte Change: „Sie hat gedacht, Finster hat dich gefangen und quält dich.“ „Wir wissen nicht, ob er sie sehen kann!“, hielt Desire entgegen. „Hätte er sie dann nicht gestern schon sehen müssen?“, konterte Change. Desire schwieg. Sie hasste es, wenn Change sie für dumm verkaufte. „Er könnte auch nur so getan haben, als würde er sie nicht sehen.“, brachte sie hervor. „Ist ja gut.“ Change stockte kurz. „Hey, was ist mit dir?“ Desire konnte nur von der Richtung, in die er redete, darauf schließen, dass er wieder mit Ewigkeit sprach, da sie seinen Kopf ja nicht sehen konnte. Sie wusste wirklich nicht, wie Ewigkeit es machte, dass sie sofort wusste, wer angesprochen war. Ewigkeit nahm die Hände von den Wangen und schaute unschuldig. „Du bist ganz rot.“, stellte Change fest. Prompt waren Ewigkeits Händchen wieder an ihrem Gesicht und ihr Ausdruck zeugte von plötzlicher Besorgtheit, als hätte Change ihr gerade eröffnet, dass dies ein Anzeichen für eine schlimme Krankheit war. Ängstlich schaute sie sie beide an. „Das geht wieder weg.“, sagte Desire, um die Kleine zu beruhigen. „Was macht Finster?“, wollte Change wissen. „Er sitzt im Auto und er fährt ganz furchtbar.“, erzählte Ewigkeit. Desire wollte Change einen irritierten Blick zuwerfen, was aufgrund ihrer Unsichtbarkeit nicht möglich war. „Dann ist er eine Weile weg?“, erkundigte sich Changes Stimme. „Wenn er in dem Tempo weiterfährt nicht.“ Change überging den Kommentar kurzerhand. „Gut.“ Dann fühlte Desire wie sich die Umgebung änderte. Mit reichlich Verwirrung stand sie daraufhin in Finsters Wohnzimmer. Change ließ ihre Hand los, woraufhin sie endlich wieder sich selbst und ihn erkennen konnte. „Wir können hier nicht einfach rein. Wenn Nathan irgendwelche magischen Fallen gegen Eindringlinge hat!“ Mist, sie hatte schon wieder Nathan gesagt, dabei hatte sie sich nach der Feier vorgenommen, ihn nur noch Finster zu nennen! „Ach.“, machte Change bloß und ließ sie einfach stehen. Desire ärgerte sich und musste zugeben, dass sie ein wenig verstand, warum sich Destiny manchmal so über ihn aufregte. Change war derweil bereits damit beschäftigt, sich umzusehen. Seufzend tat sie es ihm gleich. „Ewigkeit, bleib bei der Tür und sag uns Bescheid, wenn Finster zurück kommt.“, sagte sie zu ihrem Helferlein. Das Schmetterlingsmädchen nickte und flog durch die offene Tür hinaus. „Wonach suchst du eigentlich?“ „Keine Ahnung.“, antwortete Change und blätterte in der Fernsehzeitschrift, die auf dem Tisch gelegen hatte. Desire bezweifelte, dass das viel brachte. Auch Change schien zu diesem Ergebnis zu kommen, denn er warf die Zeitschrift zurück auf den Tisch und wandte sich dem Regal zu seiner Linken zu. Desire indes entschloss sich, die anderen Räume zu inspizieren. Sie lief zu dem Durchgang zu der Hausbibliothek und trat über ihre Schwelle. Hier waren die Wände voller Bücherregale, nur rechts an der Wand fand sich ein Tisch mit Leuchte, der nicht völlig leer war, auch hier lagen zwei Bücher. Ihre Augen überflogen die Titel in den Regalen. Es handelte sich um eine Vielzahl an Werken über alte Mythen, Legenden, Märchen, große Bildbände über Weltwunder und verschiedene Länder, Sachbücher über Religionen, verschiedene Kulturen, Ausgrabungen, Rätsel der Weltgeschichte und dergleichen. Eine Reihe war mit naturwissenschaftlichen Werken gefüllt, Quantenphysik und dergleichen. Außerdem gab es viele Esoterikwerke und Bücher, die sich mit paranormalen Phänomenen beschäftigten. Bei dem Schreibtisch angekommen begutachtete sie die dort liegenden Bücher. Eines beschäftigte sich mit den Todesriten verschiedener Völker, das andere schien eine Mischung aus Esoterikbuch und naturwissenschaftlichem Werk zu sein, soweit sie das aufgrund des Rückentextes einschätzen konnte. Es ging darum, inwieweit sich aus den Ergebnissen der Physik die Vorstellung von Gott stützen konnte. Bei einem weiteren Blick entdeckte sie ein drittes Buch und nahm es zur Hand. Das Thema war die Geschichte von Geisterscheinungen, offenbar wurden darin verschiedene Vorstellungen aus den vergangenen Jahrhunderten mit Zeugenberichten aus der Zeit und heute aufgeführt und verglichen. Sie stellte es wieder so hin, wie es zuvor gestanden hatte. Wenn er ein Buch ‚Bösewichtsein für Dummies‘ oder ‚Schatthen erschaffen leicht gemacht‘ besessen hätte, wäre das um einiges aufschlussreicher gewesen. Durch die nächste Tür gelangte sie in die Küche, wo auch Change mittlerweile gelandet war. Hier gab es eine Bar, hinter der sich die eigentliche Küche mit Arbeitsfläche, Kochplatten, Backofen, Spülmaschine, Kühlschrank und Schränken befand, in der Ecke zum Garten standen Esstisch und Stühle. „Irgendwas Interessantes?“, erkundigte sich Change. „Viele Bücher.“ „Urgh.“ „Und bei dir?“ „Keine CDs, keine BluRays.“ „Wir sollten in den anderen Räumen nachsehen.“ Gemeinsam verließen sie die Küche und sahen sich weiter um, wobei sie auf einen weiteren Raum mit Büchern und einen Vorratsraum stießen. Auffallend war, dass die Türen offen standen. Hinter der einzigen, die geschlossen war, fanden sie eine Toilette, die Change auch gleich aufsuchte. Desire fand das zwar unpassend, aber von ihm zu verlangen, extra nach Hause zu teleportieren, um aufs Klo zu gehen, war natürlich auch unsinnig. Daher sah sie sich solange die Diele an. Ewigkeit schwebte dort vor der Haustür und starrte diese in Grund und Boden. Offenbar nahm sie ihre Aufgabe mal wieder etwas zu ernst, während Change sie wohl nicht ernst genug nahm. Desire hörte die Spülung, kurz darauf trat Change wieder heraus. „Kein regelmäßiger Frauenbesuch.“ „Was?“, fragte Desire irritiert. „Die Klobrille war oben. Meine Ma würde mich killen, wenn ich das machen würde. Also geht hier keine Frau aus und ein.“ Desire verzog das Gesicht und wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Sie wollte das gar nicht wissen! „Gehen wir hoch?“, fragte sie, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Die schlimmen Dinge sind immer im Keller.“, meinte Change. Irgendwie gefiel Desire die Vorstellung nicht, dennoch gab sie ihm Recht. Also schlugen sie zunächst den Weg ins Untergeschoss ein. Dieses war in mehrere Räume unterteilt, die allerdings weitestgehend ebenfalls leer waren. „Vielleicht entführt er manchmal Leute und sperrt sie hier unten ein.“, mutmaßte Change. Desire konnte nicht glauben, dass er sie damals im Schatthenreich ausgeschimpft hatte, weil sie es für möglich gehalten hatte, dass unendliche Räume existierten. „Dann würde es hier irgendwo Fesseln geben oder zumindest eine Matratze oder Blut.“ „Vielleicht hat er aufgeräumt.“, entgegnete Change. „Ist doch komisch, dass hier nichts ist.“ „Er wohnt alleine.“ „Das ist doch noch komischer. Wozu braucht man denn dann so ein großes Haus?“ „Vielleicht will er ja nicht für immer alleine wohnen.“ „Dann kauft man sich ein Haus, wenn man nicht mehr alleine ist.“ Desire antwortete nicht, sondern ging zum letzten Raum. Hierin waren zahlreiche Ordner in Regalen. Sie zog einen heraus und sah, dass es sich um Unterlagen der Finster GmbH handelte. Sie fand es zwar seltsam, diese Akten im Keller aufzubewahren, aber andererseits erkannte sie am Datum, dass die Unterlagen schon drei Jahre alt waren. Vermutlich brauchte Finster sie nicht mehr ständig und hatte sie daher hier untergebracht. Wieder andererseits ging sie davon aus, dass er sie eigentlich nicht bei sich zu Hause bunkern durfte, schließlich handelte es sich bei seinem Unternehmen um eine GmbH, somit gehörten ihm diese Akten nicht, sondern dem Unternehmen. Er war nur der Geschäftsführer. „Und? Hat er darin irgendwelche Konten auf den Cayman Inseln aufgeführt oder eine Liste von Mitgliedern der Schatthenmeistervereinigung?“ „Nein.“ Desire stellte den Ordner zurück. „Aber um auf Nummer sicher zu gehen, sollten wir alle Ordner durchsehen.“ Change machte kein begeistertes Gesicht. „Wer weiß, wann der Typ wiederkommt. Schauen wir uns lieber oben um.“ Irgendwie glaubte sie, dass er nur keine Lust hatte, die Ordner durchzusehen, sagte aber nichts. Im Obergeschoss gab es ein Arbeitszimmer, einen Raum, der völlig leer war, und einen großen mit einem riesigen Sofa und Blick in den Garten, sowie mit einem Oberlicht, durch das Licht von draußen herein kam. Auf der anderen Seite befanden sich das Bad, eine Waschküche und ein großes Schlafzimmer mit Kleiderschrank und Doppelbett. Bei dem Anblick wurde Desire klar, dass Finster keine Partnerin haben mochte, aber das ja nicht bedeutete, dass er immer alleine schlief. Die Erkenntnis war ihr unangenehm, wie etwas, das man lieber nicht von jemandem wusste. Change lief zum Kleiderschrank und suchte dort nach einem in den Schrank eingelassenen Geheimzimmer, wurde allerdings nicht fündig, sondern drohte bloß Finsters Anzüge herunterzuwerfen. Desire trat ans Fenster, durch das man Blick auf den kleinen Vorgarten und auf die Einfahrt hatte. Ein Nachbarhaus gab es hier nicht, daher mussten sie sich auch keine Sorgen machen, von neugierigen Nachbarn beobachtet zu werden. „Wahrscheinlich würde es mehr bringen, wenn wir Finster beschatten würden.“ „Du hast doch gesponnen, nur weil ich Ewigkeit zu ihm geschickt hab. Wenn ich nicht weiß, wo er ist, kann ich mich nicht dorthin teleportieren, ohne direkt neben ihm aufzutauchen.“ Desire seufzte. „Ewigkeit soll heute Nacht wieder auf Erik aufpassen. Gestern hat sie es schon nicht getan, sondern ist bei mir geblieben. Sie kann nicht beides, sie muss auch noch schlafen.“ „Aber sie muss nicht zur Schule.“, meinte Change mit Bezug darauf, dass die Herbstferien mit dem heutigen Tag zu Ende gingen. Wieder seufzte Desire. „Vielleicht finden wir später mehr in der Finster GmbH heraus.“   Vivien stand vor der Eingangstür des Donner-Anwesens und betätigte die Klingel. Sie hatte Erik absichtlich nichts von ihrem Besuch gesagt, für den Fall, dass ihre Anwesenheit nicht erwünscht war. Als sie Ariane gestern Abend nach Erik gefragt hatte und wie es ihm ging, hatte diese seltsam reagiert und nur geantwortet, dass er mit seinem Vater nach Hause gefahren sei. Mehr nicht. Arianes Gesichtsausdruck hatte zu verstehen gegeben, dass sie weitere Fragen vermeiden wollte. Nach dem gestrigen Ereignis waren die Karten neu gemischt worden, was Erik und die Wahrheit betraf. Vivien durfte den Augenblick nicht verpassen, in dem Erik dafür offen war, die Wahrheit zu hören. Seinem gestrigen Verhalten nach zu urteilen fehlte jetzt vielleicht nur noch ein winziger Anstoß. Voller Vorfreude dachte Vivien an den großen Moment. Sie hätte ihn zu gerne mit den anderen geteilt, aber echte Wahrheiten wirkten einfach überzeugender, wenn man sie unter vier Augen enthüllte. So hatte der andere das Gefühl eingeweiht zu werden und nicht, dass ein paar Leute sich einen üblen Scherz mit ihm erlaubten. Die Tür wurde geöffnet und in der Tür stand eine blonde Frau, die von ihrer Ausstrahlung her Erik nicht wirklich ähnlich sah und deren Äußeres irgendwie eine lustige Mischung mit dem alt-ehrwürdigen Interieur ergab. „Hallo?“ „Hallo, ich wollte zu Erik.“, strahlte Vivien. „Ah, sehr schön. Das wird ihm gut tun.“, sagte die Dame heiter und machte Vivien den Weg frei. „Er ist oben in seinem Zimmer, ich bringe dich hin.“ Von dem unverhofft leicht errungenen Zugang und der freundlichen Begrüßung positiv überrascht, trat Vivien ein. Sie hatte erwartet, äußerst unterkühlt empfangen zu werden und mit einer guten Ausrede aufwarten zu müssen, um überhaupt zu Erik vordringen zu können. „Danke.“ Sie folgte der unbekannten Dame die Treppe hinauf. „Sie sind…?“ „Ich bin Rosa, Eriks Tante.“, verkündete die Blondine fröhlich. Vivien lächelte und stellte sich ebenfalls vor. „Wohnen Sie auch hier?“ „Ich bin nur zu Besuch.“ Vor Eriks Tür angekommen, klopfte Rosa. Keine Antwort. „Erik, hier ist Besuch –“ Ehe Eriks Tante weiterrufen konnte, hatte Vivien einfach die Klinke heruntergedrückt und die Tür geöffnet. Die Gefahr, dass Erik sie einfach wegschickte oder so tat, als wäre er nicht da, war ihr zu groß. Erik saß mit angezogenen Beinen auf seiner Couch und starrte Vivien ungläubig an. „Besuch.“, wiederholte Rosa, als würde er das nicht selbst sehen. Sie blieb in der Tür stehen, während Vivien eintrat, dann schien ihr einzufallen, dass sie gehen sollte. Sie schloss die Tür hinter sich. Sobald Rosa den Raum verlassen hatte, stierte Erik sie feindselig an und nahm eine andere Position ein. Aufrecht und erhaben. Wie auf einen Angriff gefasst. „Was willst du hier?“ Vivien setzte ihr fröhlichstes Lächeln auf. „Dich besuchen.“ „Wieso?“ Seine Stimme klang fast drohend, als müsse er sich wehren. „Freunde machen das so.“, klärte sie ihn mit heiterer Stimme auf. Er schaute, als würde er ihr das nicht abkaufen. Vivien ging daher zu einer anderen Taktik über. Erik war nicht Serena. Möglichst ungeniert tat sie einige Schritte und sah sich in seinem Zimmer um, als wäre sie daran interessiert, demnächst einzuziehen. Schließlich trat sie zu seiner Stereoanlage und nahm ohne zu fragen eine seiner CDs zur Hand. So konnte sie ihm etwas Zeit geben, sich auf ihre Gegenwart einzulassen. Erik schwieg und beobachtete sie argwöhnisch. Vivien legte die CD wieder hin und sah sich nochmals um. „Wo ist Bruno?“ Erik antwortete ihr nicht. „Der Teddy, den du auf dem Jahrmarkt gewonnen hast.“, präzisierte sie, wie um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Das war eine schöne Erinnerung. Vielleicht würde diese ihn gnädig stimmen. Er sah sie durchdringend an. „Warum bist du hier?“ „Ich bin von der internationalen Teddy-Polizei und uns ist von einer seriösen Quelle zugetragen worden, dass dein Teddy sich nach Gesellschaft sehnt.“, sagte sie spielerisch.   Erik verzog keine Miene. Das Scherzen war ihm restlos vergangen. Er spürte Wut. Wut auf dieses Rollenspiel, Wut auf die seltsamen Begebenheiten, die sich in letzter Zeit mehrten, Wut auf sein Leben und Wut auf die fünf Personen, mit denen dieser ganze Albtraum angefangen hatte! Vivien wandte sich erneut der Stereoanlage zu. „Darf ich Musik anmachen?“ Sein erneutes Schweigen fasste sie schlicht als Zusage auf und schaltete seine Anlage an. Während die ersten Töne eines Instrumentalstücks anspielten, lief sie zu Erik hinüber und setzte sich ungefragt neben ihn. „Hast du schon die Hausaufgaben gemacht?“ Ihre aufdringliche Art nervte ihn über die Maßen. In diesem Moment wurde die Tür erneut geöffnet oder eher aufgerissen. Sein Vater stand mit tödlicher Miene davor.   „Hallo!“, sagte Vivien möglichst fröhlich und hob die Hand zum Gruß. Etwas in Herrn Donners Gesichtsausdruck legte nahe, dass er jemand anderen erwartet hatte. Vivien ging davon aus, dass er mit Arianes Anwesenheit gerechnet hatte. Dennoch wich der Zorn nicht von Donners Zügen. Schlimmer: er wirkte so aufgebracht, dass er kein Wort hervorbrachte. „Wollen Sie etwas sagen?“, fragte Vivien so unbekümmert sie konnte. So absurd die Frage klang, sie bewirkte, dass Herr Donner seine Wut wieder in geregelte Bahnen lenkte, um die Fassung zu wahren. „Ich mag keine Gäste in meinem Haus.“ Vivien strahlte ihn an. „Sie sollten ein Schild draußen hinhängen.“, scherzte sie. Herr Donner lachte nicht. Vivien sah ihn an. Herr Donner sah sie an. Sie änderte nichts an ihrem Blick, während die stumme Aufforderung, sie solle verschwinden, immer deutlicher auf sein Gesicht trat. Offenbar weigerte er sich, es auch noch laut auszusprechen. Vivien stand auf und tat einige Schritte zur Tür hin. Auf halber Strecke blieb sie stehen. „Ich bin Vivien.“ Sie hielt Eriks Vater die Hand entgegen. Der sah sie erzürnt an und rührte sich nicht. Als würde sie die Absage nicht verstehen, hielt sie die Hand erhoben und zog damit die Farce in die Länge. Die Szene hätte sich noch minutenlang hinziehen können, hätte nicht Erik dem ein Ende gesetzt. Seine Stimme war ein Knurren. „Geh.“ Vivien drehte sich getroffen zu ihm um, doch Erik sah sie nicht an. Er saß mit auf das Sofa gestützten Armen und gesenktem Kopf da. Sein Befehl hatte voller Verletztheit geklungen, als wolle er sie mit aller Gewalt von sich stoßen, aber habe nicht mehr die Kraft, seiner Stimme diese Stärke zu verleihen. Vivien stockte kurz. Mit weit weniger sorgloser Stimme als sie beabsichtigt hatte, sagte sie: „Ich ruf dich später an.“ Erik sah sie nicht mal an, Sie erkannte, dass sein Gesichtsausdruck sich nur noch mehr verhärtete. Einen Moment lang wollte sie nicht gehen, ihn nicht so zurücklassen, aber sie hatte durch ihre Erfahrungen mit Serena gelernt, dass es nicht in ihrer Macht stand, einem anderen sein Leid zu nehmen. Schließlich lief sie an Herrn Donner vorbei aus dem Zimmer. Dieser schloss die Tür hinter ihr, als wolle er Erik einsperren wie der Wärter eines Gefängnisses. Vivien spürte ihr Inneres sich zusammenziehen.   Erik war wieder allein. Zorn jagte durch sein Blut. Er sprang auf. Er wollte etwas zerstören, seinen Hass an etwas auslassen, jemandem wehtun! Nicht mehr er sein!!!   Das Quietschen einer Tür erfüllte die Stille und ein Lichtstrahl fiel in den finsteren Raum, der von der Silhouette eines großen menschenähnlichen Ungetüms durchbrochen wurde. Die Bestie machte einen Satz in das Innere und knurrte. Im gleichen Moment ließ eine donnernde Stimme den Saal erbeben: „Du wagst es, meine Gemächer zu betreten!“ Er liebte es, diese altmodische Sprechweise zu verwenden! Gegenüber normalen Leuten hätte es natürlich lächerlich geklungen. Daher war es umso unterhaltsamer den Schatthen alles an den Kopf zu werfen, was er wollte, da es sie sowieso nicht interessierte. Wenn er sich also wie ein Adliger aus einem klassischen Drama gebärden wollte, tat er das. Oder wenn er eine Figur aus einem Film nachzumachen wünschte – vorhin hatte er den Paten nachgespielt, leider hatte der Schatthen seinen Einsatz völlig verpatzt. Man gönnte sich ja sonst nichts. Und da die Reaktion der Schatthen sowieso immer die gleiche war, konnte er wenigstens so etwas Abwechslung hineinbringen. Wohin einen ein Leben jenseits sozialer Kontakte doch brachte… Ach, er fand es trotzdem lustig! Der Schatthen ließ ein Brüllen los und sprang in der Dunkelheit umher, um den Urheber der Stimme anzugreifen, doch Grauen-Eminenz‘ Silhouette war nichts als ein Hologramm. Vielleicht sollte er sich einfach mal an intelligenteren Schatthen versuchen. Andererseits würden die dann vielleicht auf die Idee kommen, eine Gewerkschaft zu fordern oder so. Vielleicht würden sie sogar eine Bezahlung verlangen und bessere Unterkünfte! Das klang nicht so prickelnd. Also musste er wohl weiter mit diesen Dummköpfen arbeiten. Hatte ja auch was, wenn man immer der Schlauste im Raum war. Mit einer einfachen Handbewegung fing Grauen-Eminenz sein Geschöpf ein und verfrachtete es zurück in die der Unterbringung der Schatthen dienende Ebene. Er seufzte und ließ mit einem Gedanken das Licht angehen. Ein riesiges Foyer wurde sichtbar, in dessen Mitte eine Treppe hinauf zu einer nach innen geöffneten Galerie führte, von der aus man über ein Geländer hinab ins Erdgeschoss sehen konnte. Grauen-Eminenz wusste nicht, ob man die Architektur besser mit einem Gefängnis oder einem Einkaufszentrum vergleichen konnte. Von seinem Platz aus, einem bequemen Rollsessel, den er von seinem Kontrollpult weg hin zum Geländer des Obergeschosses geschoben hatte, hatte er die perfekte Aussicht auf die leere Fläche unter ihm. Ihm war langweilig. Immer noch. Irgendwie konnte ihn heute einfach nichts aufheitern. Er seufzte. Er hatte beim besten Willen keine Lust an dem dämlichen Bericht über die Allpträume zu arbeiten, den er bis Ende nächster Woche abgegeben haben sollte. Die Schatthen, die er als letztes geschaffen hatte, sahen aus, als wären sie selbstmordgefährdete Jugendliche. Und die Wiederaufnahme der Experimente mit seinem Versuchskaninchen schien auch nicht vielversprechend, auch wenn die Beschützer ihn auf diese seltsame Narbe aufmerksam gemacht hatten. Was half das schon? Grauen-Eminenz zog einen Schmollmund. Momentan ging aber auch alles schief. Er brauchte Urlaub! Urlaub! Toll und was hätte er dann gemacht? Es war ja nicht so, dass er nicht jederzeit hätte abhauen können. Mist. Er sprang auf die Beine. Der Stuhl hinter ihm rollte auf die abrupte Bewegung hin von ihm weg, was die Bewegung weniger cool aussehen ließ. Es gab nur eins, das ihn jetzt auf bessere Gedanken bringen konnte: etwas Sinnloses! – Okay, das mit den Schatthen war ja schon sinnlos gewesen, aber er hatte jetzt einfach Lust, jemanden zu ärgern, der das auch zu schätzen wusste! Jawohl. Ein recht dämliches Grinsen nahm sein Gesicht ein. Kapitel 102: Bedroher --------------------- Bedroher   „Wo Zorn und Rache heiraten, da wird die Grausamkeit geboren.“ (Aus Russland)   Die fünf hatten ausgemacht, sich um sechzehn Uhr gemeinsam in der Finster GmbH umzusehen. Um sicherzugehen, dass sich zu diesem Zeitpunkt auch bestimmt niemand in dem Gebäude aufhielt, hatten sie Ewigkeit vorgeschickt, die ihnen schließlich das Zeichen gab, dass die Luft rein war. Nun war es doch noch von Nutzen, dass Erik ein Foto vom Festsaal geschickt hatte, denn so konnte Change sie hineinteleportieren. Interessiert sahen die fünf sich in dem Raum um. Desire erkannte, dass die Tische des Büffets verschwunden waren und der Raum mit einem Mal leer wirkte. „Hier lang.“, sagte sie zu den anderen und führte sie und Ewigkeit aus einer der beiden Türen aus dem Saal hinaus in die Lobby. Am Aufzug vorbei lief sie zur Treppe und stieg die Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinauf, wo die Steintafeln in einem in die Wand eingelassenen Schaukasten neben einem Plakat für ein Computerprogramm standen. „Das sind sie also.“, sagte Trust, der die beiden Steinplatten bisher nur in seinen hellseherischen Träumen gesehen hatte. Auch Ewigkeit betrachtete sie interessiert. „Gestern Abend haben sie geleuchtet. Also die Buchstaben. Vielleicht hat darauf Eriks Wunde reagiert.“, erläuterte Desire. Trust sah sie ernst an. „Du hattest nicht gesagt, dass sie geleuchtet haben.“ „Zu dem Zeitpunkt hatte ich anderes im Kopf.“, verteidigte sich Desire. „Entschuldige. So war es nicht gemeint.“ Trust wandte sich der Vitrine zu. „Es ist nur, dass sie in dem Traum, den ich damals hatte, auch geleuchtet haben. Das war direkt bevor der Schatthen bei Herrn Schmidt aufgetaucht ist.“ „Du meinst bei dem Typ, der verrückt geworden ist.“, sagte Change, als müsse er Trusts Aussage für die anderen übersetzen. Destiny warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Der hatte einen Namen.“ „Aber wen interessiert sein Name?“, meinte Change scherzend. „Für uns ist es der Typ, der die Steinplatten hatte und dann verrückt geworden ist, dann kapiert jeder, von wem wir sprechen!“ Er grinste. „Es gab auch einen Toten.“, erinnerte Trust in andächtigen Ton und bereitete dadurch Changes Albernheiten ein Ende. Destiny fasste zusammen: „Okay, die Tafeln haben geleuchtet und Erik hat seine Wunde gespürt. Das eine hat entweder das andere bedingt oder beides ist aus dem gleichen Grund ausgelöst worden. Wenn Schatthen in der Nähe gewesen wären, hätte aber Desires Beschützerinstinkt reagieren müssen.“ „Auf Burg Rabenfels hat Erik die Nähe der Schatthen auch lange vor uns gespürt.“, erinnerte Trust. Destinys Augenbrauen zogen sich zusammen. „Das heißt, sie könnten hier gewesen sein, aber nicht vorgehabt haben, jemanden anzugreifen.“ Zweifel legte sich auf ihre Stirn. „Was sollte das dem Schatthenmeister bringen?“ Desire hatte eine andere Theorie. „Vielleicht waren es auch gar keine Schatthen. Die Allpträume haben auch kein Signal bei uns ausgelöst. Wer weiß wie viele verschiedene Lichtlose es noch gibt.“ Trust nickte und wirkte angesichts dieser Aussicht besorgt. „Vielleicht war es auch Grauen-Eminenz.“, brachte Unite fröhlich ein. Destiny schimpfte: „Hör auf ihn beim Namen zu nennen, als wären wir alte Freunde!“ Unite grinste. „Er hat uns sechs doch miteinander bekannt gemacht.“ „Das war nicht seine Absicht!“, blaffte Destiny. „Aber was sollte der Schatthenmeister hier wollen?“, fragte Desire nachdenklich. „Vielleicht hat er irgendeine Spyware auf die Computer gespielt.“, schlug Change vor. „Um Finsters Firma zu überwachen oder so.“ „Hätte er das nicht besser gemacht, wenn niemand da ist?“, hielt Desire entgegen. „Tjaaa…“, holte Change grinsend aus. „Er kann ja leider nicht teleportieren, daher musste er wohl kommen, wenn nicht abgeschlossen ist.“ Man konnte ihm ansehen, dass er mächtig stolz darauf war, etwas zu beherrschen, das der Schatthenmeister nicht konnte. „Das würde Sinn ergeben.“, stimmte Trust zu. „Während der Party hat wohl niemand damit gerechnet, dass jemand sich an den Computern und dem Server zu schaffen macht.“ „Er könnte auch irgendwelche Dateien gestohlen oder einen Virus installiert haben.“, fantasierte Change weiter. Unite wandte sich an Ewigkeit, die ganz gebannt vom Anblick der Steintafeln war. „Spürst du irgendwas?“ Ewigkeit schien nachzudenken. „Es … ist wie als ich euch gefunden habe.“ Sie legte den Kopf schräg. „Etwas, das dich ruft?“, hakte Unite nach. Die Muskulatur um Ewigkeits Augen zog sich zusammen, als müsse sie ein Detail auf den Tafeln erkennen. Sie streckte ihr kleines Händchen nach den Tafeln aus und zog plötzlich ein Gesicht, als würde sie von schmerzhafter Sehnsucht heimgesucht. „Wieso hast du das nicht gestern schon gesagt?“, beschwerte sich Change. „Wunsch hat nur gefragt, ob Schatthen da sind.“, verteidigte sich Ewigkeit. Trust beendete das Thema. „Dass Ewigkeit auf die Prophezeiung reagiert, ist nichts Ungewöhnliches. Wichtiger ist, was die Reaktion der Tafeln ausgelöst hat.“ Mit diesen Worten wandte er sich in die Richtung des zweiten Treppenlaufs, der in den ersten Stock führte. Gemeinsam liefen sie die Treppe hinauf. Links und rechts gingen zwei Gänge ab, die durch Glastüren abgetrennt waren. Trust musste feststellen, dass beide abgeschlossen waren. Grinsend trat Change an ihm vorbei, da er durch das Glas Blick auf den dahinterliegenden Bereich hatte, teleportierte er sich und die anderen kurzerhand hinein. Stolz sah er die anderen an, als erwarte er ein Lob von ihnen, doch mit Ausnahme von Unite, die ihn anerkennend anstrahlte, waren die anderen zu sehr auf die Mission konzentriert, und Destiny ignorierte ihn demonstrativ. Desire betätigte den Lichtschalter, den Ewigkeit ihr mit ihrem Leuchten gezeigt hatte, und erhellte damit den Gang. Auf beiden Seiten gab es mehrere Räume, vermutlich Büros. „Was wollen wir überhaupt finden?“, fragte Destiny, als zweifle sie am Sinn dieser ganzen Aktion. „Ich weiß es nicht.“, gestand Trust und lief den Gang weiter, ohne den Büros Beachtung zu schenken. Vermutlich waren sie ohnehin verschlossen. „Wenn der Schatthenmeister Angst vor Finster hat, wäre es doch seltsam, dass er sich extra in seine Nähe begibt.“, gab Destiny weiter zu bedenken. „Kenne deinen Feind wie dich selbst.“, zitierte Change mit pathetischer Stimme. Trust blieb abrupt stehen. „Vielleicht hat er gar keine Angst vor Finster.“ Die anderen warfen ihm fragende Blicke zu. Trust fuhr fort. „Vielleicht ist es nicht die Person, sondern was der Allptraum in der Gestalt von Finster zu ihm gesagt hat.“ Unite schien Trust wie immer sofort zu verstehen und versuchte, den anderen auf die Sprünge zu helfen. „Wie bei Destiny. Sie hat vor uns ja auch keine Angst, sondern vor dem, was die Allpträume ihr in unserer Gestalt angetan haben.“ Trust schluckte. „Ja.“ „Hä? Hat der nicht gesagt“, Change verstellte seine Stimme. „Du willst doch gar nicht mehr. Es ist ganz einfach.“, er wechselte wieder in seinen normalen Tonfall, „oder so? Klingt nicht gerade gruselig.“ Trust dachte an sein eigenes Erlebnis mit dem Allptraum in Unites Gestalt. Auf andere hätte es wohl auch nicht gerade wie Folter gewirkt, von dem Mädchen geküsst zu werden, das man liebte. Doch für Trust war es das Grausamste gewesen, das man seiner Person hatte antun können. Die abartige Verdrehung von etwas, das er sich von ganzem Herzen wünschte, in etwas völlig Verkehrtes und Krankes ließ noch immer seinen Magen sich verkrampfen. „Alles okay?“, erkundigte sich Unite besorgt und war direkt neben ihn getreten. Offenbar hatte sein Gesicht seine Gefühle verraten. Trust nickte nur, versuchte sich an einem kurzen gequälten Lächeln und entzog sich dem Augenkontakt zu Unite. Es tat weh, sie vor sich zu haben, solange diese Erinnerung in seinem Kopf herumspukte. Es fühlte sich an, als habe er sie betrogen, auf eine Art und Weise, die schlimmer war, als wenn der Allptraum für seine Tat eine andere Gestalt gewählt hätte. In dem Fall hätte er es als eine Gewalttat abhaken können, gegen die er sich nicht hatte wehren können. Stattdessen quälten ihn Ekel und Abscheu, weil er – wenn auch nur für eine Millisekunde – das Gefühl, Unites Lippen zu spüren, als beglückend empfunden hatte. Obwohl er doch gewusst hatte, dass es nicht die echte Unite war! Diese Reaktion seines Körpers widerte ihn an. Es war ihm klar, wie unsinnig dieser Gedanke war, dennoch fühlte er sich von sich selbst abgestoßen. „Wir wissen nicht, was diese Worte im Schatthenmeister ausgelöst haben und auf was sie sich bezogen.“, sagte er. Unite griff nach seiner Rechten. Automatisch zog er seine Hand zurück. Er wollte auf keinen Fall, dass sie seine Gefühle versehentlich oder willentlich anzapfte! Nur kurz sah Unite ihn an und ließ die Sache dann auf sich bewenden. Glücklicherweise schien sie ihm sein Verhalten nicht übelzunehmen, dennoch musste Trust ein frustriertes Seufzen unterdrücken. Er setzte sich wieder in Bewegung.   Als er den Standpunkt der fünf auf seinem Plan gesichtet hatte, war Grauen-Eminenz nicht wenig verwundert, sie in der Finster GmbH vorzufinden. Wenn er bedachte, wie offensichtlich die Finster GmbH mit der Ausgrabungsstelle zusammenhing, hätte er wohl damit rechnen können, dass sie weit früher dort nach dem Rechten sahen, um irgendwelchen geheimen Verschwörungen auf die Schliche zu kommen. Grauen-Eminenz entblößte seine Zähne in einem hinterhältigen Grinsen, als würde ihn der Gedanke absolut amüsieren. Wenn dem so war, dann passte sein kleines Spielchen ja noch viel besser zu der Situation. Schließlich wollte er seine Auserwählten ja nicht enttäuschen. Wenn sie auf der Suche nach einem Anzeichen für Schatthenmeister waren, dann würde er ihnen natürlich – aufmerksam und zuvorkommend wie er eben war – gerne behilflich sein.   Sie entschieden sich in den zweiten Stock zu gehen. Dort führte eine weitere Glastür die Beschützer in ein Großraumbüro, das mehrere Schreibtischplätze umfasste. Draußen war es schon dunkel geworden, sodass sie sich trotz der großen Fensterfront rechts gezwungen sahen, nach dem Lichtschalter zu suchen, um nicht gegen die Schreibtische zu stoßen, deren Umrisse durch das einfallende Licht der Straßenlaternen erkennbar waren. Sobald Ewigkeit für sie den Schalter gefunden hatte, machte Change sie unsichtbar, bevor sie diesen betätigten. Im Schein der Lampen, suchten sie dann zunächst die oberen Ecken und die Decke nach etwaigen Überwachungskameras ab. An den Regalen links und an den Schreibtischen selbst schienen keine angebracht zu sein. Erst als sie sich sicher waren, dass keine vorhanden waren, beendete Change den Einsatz seiner Kräfte. Zwar waren ihre Silhouetten durch die Beleuchtung von der Straße und den gegenüberliegenden Häusern aus zu sehen, aber Taschenlampen einzusetzen hätte weit dubioser gewirkt und noch eher dazu veranlasst, die Polizei zu alarmieren. Außerdem wäre ihre ganze Aktion nutzlos gewesen, wenn sie die Hinweise, nach denen sie suchten, aufgrund übertriebener Vorsicht übersahen. Ewigkeits Leuchten war nun wirklich nicht ausreichend. Trust führte die Gruppe an den Arbeitsplätzen vorbei. „Sollen wir uns nicht irgendwas anschauen? Schreibtische durchwühlen oder so?“, fragte Change. „Finsters Büro.“, sagte Trust. „Dort werden wir uns umsehen.“ Kaum hatte er den Satz beendet, explodierte ein grelles Blitzlichtgewitter am Ende des Raumes, als hätte etwas auf seine Aussage reagiert, Wie Kanonendonner rollte der Knall durch den Raum, dröhnte in ihren Ohren und ließ sie zusammenzucken. Plötzlich spielte die Melodie aus den Boxerfilm Rocky, auch wenn die fünf keine Ahnung hatten, wo die Musik herkam. Erst als ihre Augen den Lichterschock überstanden hatten, erkannten sie vor sich Schatthen. „Deckung!“, schrie Trust. Sie warfen sich hinter einen Schreibtisch links von ihnen. Ewigkeit folgte ihnen. Im gleichen Moment rief Desire ihren Schutzschild, der sie alle einhüllte, gleichzeitig sprang Change auf, um die Bestien über den Schreibtisch hinweg zu beschießen. Die anderen sahen, dass er stockte. „Die sehen komisch aus…“ Dass etwas seltsam genug war, ausgerechnet Change zögern zu lassen, brachte die anderen dazu, ebenfalls wieder auf die Beine zu springen, um das Phänomen selbst in Augenschein zu nehmen. Noch immer spielte die unpassende Musik, als würden sie einem Gegner im Boxkampf gegenüberstehen. In Obachtstellung sahen sie durch die nur leicht von einem orangenen Schimmer überzogene Schutzhülle ihren Gegnern entgegen. Die Schatthen standen einfach nur reglos da. Nicht wie die bewegungsunfähigen Exemplare, die sie damals auf dem Jahrmarkt getroffen hatten, sondern als würde ihnen der Antrieb fehlen, sich zu rühren. Ihre Köpfe hielten sie halb gesenkt, ihre Körperhaltung hatte gerade so viel Spannung, dass sie nicht zusammenklappten. Nichts an ihnen sah nach Angriff aus und den Beschützern schenkten sie nicht die geringste Beachtung. Stattdessen stöhnten und seufzten sie, als wäre ihnen allein das Dastehen schon zu anstrengend. Fast glaubten  die fünf sie sogar deprimierte Sätze vor sich hinmurmeln zu hören. Ewigkeit starrte sie gebannt an. „Sie sehen irgendwie… frustriert aus.“, stellte Desire fest. „Das sind Schatthen!“, schimpfte Destiny. „Emo-Schatthen!“, rief Change begeistert. „Was sind Emo-Schatthen?“, fragte Ewigkeit unwissend. „Na Emos. So Leute, die immer jammern und selbstmordgefährdet sind.“, erklärte Change. „So wie Tiny.“ Destiny warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Unite scherzte. „Sie brauchen vielleicht jemanden, der mit ihnen spricht!“ „Die brauchen Fleisch! Wenn man nicht genug Fleisch isst, kriegt man Depressionen.“, rief Change überzeugt. „Du kannst dich ihnen ja anbieten!“, fauchte Destiny.   Emo-Schatthen! Grauen-Eminenz prustete und amüsierte sich köstlich. Er hatte es sich auf seiner Couch bequem gemacht und einen riesigen Bildschirm vor sich aufgebaut, um das Treiben der Beschützer zu beobachten. Zur Feier des Tages hatte er sich auch Popcorn gemacht und stopfte sich eine Hand voll in den Mund. Er hatte ja gewusst, dass seine Auserwählten in Diskussionen ausbrechen würden, wenn er sie mit seinen verkorksten Schatthen konfrontierte. Musste ja einen Vorteil haben, dass diese fünf so verkopft waren. Dass seine Schatthenexemplare nicht ganz gelungen waren, war nicht einfach ein Versehen gewesen, sondern ein wichtiges Signal an ihn, vorsichtig zu sein, denn der Hauptgrund, warum Schatthenmeister nie lange ihren Beruf ausüben konnten, war – abgesehen von der hohen Todesrate aufgrund von Unfällen mit den Schatthen – dass sie sehr schnell an Burn-Out und psychischen Störungen litten. Sich immer wieder in negative Gefühle und Gedanken hineinzusteigern, um daraus Schatthen zu erschaffen, ebnete den Boden für die verschiedenartigsten psychischen Erkrankungen. Drogenmissbrauch kam häufig hinzu. Dieser jedoch endete meist nach kürzester Zeit tödlich. Nicht nur dass der Drogenkonsum sich negativ auf die Ausübung magischer Fähigkeiten auswirkte, die Schatthen schienen auch einen sechsten Sinn dafür zu haben und griffen ihre Meister dann vehementer und zielstrebiger an, als wüssten sie um deren Schwäche. Gleiche Effekte konnten auch verschiedene Medikamente bewirken. Daher war es absolut genial von ihm gewesen, dass er statt Psychopharmaka zu schlucken, den hervorragenden Einfall gehabt hatte, die Beschützer zu nerven. So tat er etwas für seine Gesundheit und diese Schatthen waren nicht völlig nutz-  Plötzlich spürte er etwas. Etwas lief verkehrt. Sein Inneres zuckte zusammen, als würde etwas durch seine Eingeweide kriechen.   „Vielleicht sollen sie uns von irgendetwas ablenken.“, überlegte Desire. „Vielleicht sind sie auch nur die Vorhut.“, mutmaßte Trust. „Sollten wir sie dann nicht am besten gleich abschießen?“, fragte Change. Trust verneinte. „Nicht, wenn dadurch erst andere Schatthen alarmiert werden. Jetzt können wir noch verschwinden.“ „Aber wenn die genau auftauchen, wenn wir zu Finsters Büro wollen, dann sind wir doch auf der richtigen Fährte!“, warf Change ein. Trust zögerte mit einer Antwort. „Ganz einfach.“, wandte Destiny ein und streckte ihre Hand den deprimiert herumhängenden Schatthen entgegen, um diese zu paralysieren. Bevor sie ihre Attacke jedoch einsetzen konnte, ertönte erneut ein Donnerschlag, als würden Welten aufeinanderprallen. Die Musik verstummte.  Eine weitere Gestalt war aufgetaucht.   Auf dem Schreibtisch direkt vor den Schatthen stand mit einem Mal eine Person in grauer Kleidung, mit dem Rücken zu ihnen. Dennoch machte ihr Herz einen Satz, denn die Haltung der Person ließ sie die Identität des Neuankömmlings bereits erahnen, ehe Sehsinn und Verstand es rational erfassen konnten. Die nächsten Bewegungen des Jungen waren schnell. Er riss die Arme auseinander. In der gleichen Sekunde wurden zwei Schatthen von einer unsichtbaren Kraft nach links, die anderen nach rechts geschleudert. Einen eleganten Sprung vollführend, landete er, wirbelte herum, wobei er mit der Rechten eine dunkelblau-violette Energiewelle auslöste, die sich wie ein Schleier um die Schatthen rechts von ihm legte und sie in einer Art Netz fing. Mit einer harschen Bewegung zerrte er sie darin wieder auf die Beine, nutzte seinen linken Arm, um die Schatthen zu seiner Linken gegen einen der Schreibtische zu schleudern, und sah dann für eine Sekunde direkt zu den Beschützern. Eriks selbstgefälligstes Grinsen schlug ihnen entgegen. Er trug die Kleidung eines Beschützers in grauer Farbe. Ein indigofarbener Stein prangte auf seiner Brust, der von Verzierungen umgeben war. Seine linke Hand war behandschuht, der rechte Unterarm von einer lederartigen Manschette umhüllt. Auf der linken Seite wies sein Oberteil einen kurzen, zerschlissen Ärmel auf, auf der anderen war es ärmellos. Um seine Hüften trug er einen Gürtel und seine Füße steckten in unterschiedlich hohen Stiefeln. Von seinem Anblick noch einmal in eine Art Schockstarre versetzt, reagierten sie nicht sofort, sondern sahen wie er das Band um die einen Schatthen fester zurrte und sie so zu zerquetschen drohte. „Wir müssen ihm helfen!“, rief Desire, löste den Schutzschild auf und eilte in Secrets Richtung, schneller als Trust reagieren konnte. Er rannte ihr hinterher, um sie aufzuhalten, doch die anderen nahmen das als Aufruf, ihm ebenfalls nachzueilen. „Nicht!“, rief Trust Secret entgegen, doch dieser fühlte sich nicht einmal angesprochen. Beim Anblick der Schatthen verzog sich Secrets Mund vor Abscheu und seine Hand krampfte sich zusammen. In der gleichen Sekunde stießen die Kreaturen einen schrecklichen Schmerzenslaut aus. Ewigkeit wurde die Luft abgedrückt. Die Beschützer vor ihr nahmen längst keine Notiz mehr von ihr, und bekamen so auch nicht mit, wie sie zu Boden stürzte. Verzweifelt rang sie nach Atem. Als Secret seinen Griff um die Schatthen noch einmal verstärkte, kreischte sie auf. Im nächsten Moment ließ der Schmerz endlich von ihr ab.  Unite hatte dem Leiden der Schatthen durch ihre Attacke ein Ende bereitet und sie in glitzernden Schimmer aufgelöst. Dadurch hatte sie die anderen endlich zum Stehenbleiben animiert, als wäre ihnen eingefallen, dass ihre Kräfte genauso gut aus der Ferne eingesetzt werden konnten. Secret indes warf ihr einen abschätzigen Blick zu, als habe sie ihm den Spaß verdorben. „Wir wissen nicht, wie viele noch hier sind.“, rief sie ihm mit ungewöhnlich fester Stimme zu. „Wenn wir sie auslöschen, kommen vielleicht noch mehr.“ Augenblicklich verzog sich Secrets Gesicht zu einem breiten Grinsen, als wäre das genau, was er wollte. Ohne den Blick von ihnen zu nehmen, vollführte er eine abrupte Armbewegung. Ein krachendes, ekelerregendes Geräusch erklang, dessen Ursprung sie erst erfassten, als Secret mit einer weiteren Bewegung den abgetrennten Kopf eines der beiden verbleibenden Schatthen in ihre Richtung schleuderte. Entsetzt duckten sie sich, obwohl der Wurf ohnehin knapp an ihnen vorbeigezielt hatte. „Zurück!“, schrie Trust. Die anderen waren viel zu perplex, um zu reagieren. Allein Unite schien noch bei Sinnen zu sein. „Der Schutzschild!“, befahl Trust, doch Desire sah ihn nur verstört an. Von der Stelle ausgehend, an der Secret stand, fingen die Lichter plötzlich an zu flackern und tauchten die Umgebung immer wieder für Augenblicke in Dunkelheit. Es wurde schwarz und wieder hell, im gleichen Moment stand Secret in unmittelbarer Nähe vor ihnen. Trust wollte auf ihn schießen, wurde aber von einer Handbewegung Secrets hinfortgeschleudert, schlug mit dem Kopf gegen eine Schreibtischkante und brach in sich zusammen. Geistesgegenwärtig teleportierte Change hinter Secret. „Mann!“, schrie er auf ihn ein und versuchte ihn in die Mangel zu nehmen, um ihn zur Vernunft zu bringen. Secret gab ihm einen Ellenbogencheck in den Magen, drehte bereits die Hüfte ein, um ihm einen weiteren Schlag zu versetzen, als er sich umbesann, sich wieder in die Richtung der anderen Beschützer drehte und mit einer Bewegung seines linken Arms Destiny gegen einen Schreibtisch beförderte, die – offenbar mit der Misshandlung ihres Partners nicht einverstanden – zu einer Paralyseattacke angesetzt hatte. Jäh wurde Secret von einer orangefarbenen Kuppel eingeschlossen.    Desire stand heftig atmend mit ausgestreckten Armen da. Das Licht ging an und aus und wieder an. Ihr Kopf fühlte sich taub an, als wäre das alles nur ein schlimmer Albtraum. Vielleicht hatten sie doch nicht alle Allpträume unschädlich gemacht und dies war das Werk einer dieser Kreaturen. Ihr blieb nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Als handle es sich bei ihrem Schutzschild um nichts als eine Lichtshow zu Unterhaltungszwecken, schritt Secret durch die Hülle hindurch. Vor Entsetzen war Desire wie gelähmt. „Erik!“, kreischte Unite in einem vergeblichen Versuch, zu ihm durchzudringen, und stellte sich vor die erstarrte Desire. Unite versuchte erst gar nicht, ihren Gegner zu attackieren. Es war offensichtlich, dass er jeden Angriff vorhersah. Wie um ihre Annahme zu bestätigen, vollführte Secret eine Armbewegung nach hinten, um Change, der sich wieder aufgerappelt hatte, in die Höhe und gegen die Wand hinter sich zu schleudern. Change knallte gegen den oberen Teil der Wand und fiel. Im letzten Moment retteten ihn seine Levitationskräfte vor dem harten Aufschlag, dennoch blieb er wehrlos liegen. Eine Energiewelle drang unter einem Schreibtisch hervor und hüllte Secret ein wie eine Staubwolke – und genauso viel Wirkung zeigte sie. Gelangweilt wandte sich Secret in die Richtung des Angriffs, benutzte beide Hände, um einen Schreibtisch telekinetisch in die Höhe zu hieven und krachend über den dahinterstehenden und auf den darauf folgenden zu schmeißen. Seines Schutzes beraubt, war Trust sichtbar geworden. Er hatte nicht die Kraft einem Angriff auszuweichen. Ehe Secret ihn erneut attackieren konnte, wurde er von einer andersartigen Kraft getroffen. Das Flackern des Lichtes endete. Wutentbrannt hatte Destiny eine dunkelrot glühende Energie abgefeuert und hielt Secret darin gefangen, doch der wehrte sich nach Kräften. Es war ihr nicht möglich, ihre Paralyse einzusetzen, zu sehr beanspruchte das Ringen mit ihm ihre Aufmerksamkeit. Desire rannte nach vorne, um Secret im Moment seiner Bewegungsunfähigkeit zu läutern, im Glauben, er würde fremdgesteuert werden. Doch als sie die Hand nach ihm ausstreckte, wurde sie von den ihn einhüllenden Kräften Destinys verbrannt, taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und ging in die Knie. Unite erkannte, welche Kraft Destiny herbeigerufen hatte und wollte ihr sagen, dass sie damit aufhören sollte, doch da all ihre anderen Kräfte keine Wirkung zeigten und Change zu weit weg und offenbar zu einem Teleport nicht fähig war, fehlten die Alternativen. Unites eigene Kräfte waren völlig nutzlos. Sie suchte auf dem Schreibtisch links von ihr nach irgendetwas, das sie als Waffe benutzen konnte, doch das einzige, das sie fand, war ein voller A4 Ordner. In Ermangelung einer besseren Lösung, packte sie diesen und rannte auf Secret zu, um ihn K.O. zu schlagen. Doch wie eine eingebaute Hemmung dagegen, jemanden zu verletzen, den sie eigentlich beschützen wollte, wich die Kraft aus ihren Armen, als sie zuschlug, weshalb der Schlag weit weniger kraftvoll war als gewollt. Secrets Kopf ging kurz nach unten, dann blitzten seine Augen in blinder Raserei auf und Destiny verlor den Kampf gegen sein Aufbäumen. Secret zerriss Destinys Fesseln und wollte Unite mit seinen bloßen Händen an der Kehle packen, als ein grelles Licht vor seinen Augen explodierte. „Weg hier!“, schrie Ewigkeit, die aus ihrer Besinnungslosigkeit nach der Zerstückelung des Schatthens erwacht und vor Secrets Gesicht erschienen war. Statt seine telekinetischen Kräfte einzusetzen, schlug Secret sie mit seiner flachen Hand weg, als sei sie ein Insekt. Doch bevor die Nachwirkungen der Blendattacke nachließen und er die Mädchen angreifen konnte, trat ein weiterer Gegner auf den Plan. Keiner von ihnen hatte dem letzten verbleibenden Schatthen noch irgendeine Beachtung geschenkt. Die Bestie jedoch hatte sich wieder aufgerafft und sprang auf Secret zu. Secret, durch die Blendung für einen Moment nicht fähig, noch rechtzeitig seine Telekinese in die richtige Richtung einzusetzen, schleuderte statt des Schatthens nur einen Stuhl durch die Gegend und wurde von dem Gegner zu Boden gerissen. Er schrie vor Schmerz, als die Bestie ihm in die Schulter biss.  Unite, die direkt daneben stand, war unfähig zu handeln. Wenn sie Secret half, würde er sie und die anderen erneut attackieren, aber sie konnte ihn doch nicht – Secret schrie und das Geräusch reißenden Fleischs klang in ihren Ohren. In höchster Seelenqual setzte Unite ihre Kräfte frei, wohl wissend, dass sie damit das Todesurteil von sich und den anderen besiegelte. Aber sie konnte Erik nicht sterben lassen! Der Schatthen löste sich auf und ließ einen blutenden Secret zurück. Der gab einen unterdrückten Schmerzenslaut von sich, riss die Augen auf und sah Unite hasserfüllt an. Sie wich zurück. Hätten ihn die Schmerzen nicht davon abgehalten, hätte er sie ohne zu zögern attackiert. „Erik.“, sagte Desire leidvoll und wollte auf ihn zu eilen. Secret zog seine Nasenflügel voller Verachtung nach oben und wollte Desire für die Erwähnung dieses Namens attackieren, als eine lila-violette Wand zwischen ihm und den beiden Beschützerinnen aufflackerte. Secret ließ den Arm wieder sinken und sah in die andere Richtung. Grauen-Eminenz war an der Stelle erschienen, an der die Schatthen zuvor aufgetaucht waren. Von dem Auftritt des Schatthenmeisters offenbar wieder zu sich gekommen, teleportierte sich Change neben Unite, machte aber nicht den Eindruck, als würde er eine weitere Ausübung seiner Fähigkeiten überstehen. Hilfesuchend stützte er sich auf Unites Schulter, um nicht umzukippen. Destiny, die immer noch am Boden kauerte, hob ihren Arm zum Angriff gegen den Schatthenmeister, als dieser näher zu den anderen schritt. Grauen-Eminenz sah in Destinys Richtung. „Du solltest dir überlegen, gegen wen du deine Kräfte einsetzt.“, sagte er und lief weiter auf Secret zu. Desire rannte vor den am Boden liegenden Secret und setzte ihr Schutzschild ein. „Fass ihn nicht an!“ Grauen-Eminenz sah sie für einen Moment stumm an. „Er hat euch angegriffen.“ Desire ließ sich nicht beirren und blieb beharrlich vor Secret stehen. „Außerdem verblutet er.“, bemerkte Grauen-Eminenz trocken. Desire sah erschrocken auf Secret, aus dessen Schulterbereich immer mehr Blut hervorquoll. Entsetzt kniete sie sich zu ihm und legte ihm die Hände auf. Secret sah sie dabei an, als würde er sie am liebsten töten, dann verzog sich sein Gesicht vor Schmerz. Während Desire ihre Heilungskräfte einsetzte, sah Grauen-Eminenz zu den anderen Beschützern. Trust kam gerade zu Unite und Change gehumpelt, während Destiny noch immer am Boden kauerte. „Ihr seid ziemlich bescheuert, jemandem zu helfen, der euch so zugerichtet hat.“, bemerkte Grauen-Eminenz. „Wir sind dran gewöhnt.“, sagte Change. Was sonst lässig geklungen hätte, hörte sich aufgrund der Schwäche seiner Stimme wie ein Röcheln an. „Was wollen Sie?“, fragte Trust ernst. „Ich habe euch gerade geholfen.“, sagte Grauen-Eminenz, als erwarte er dafür eine freundlichere Behandlung. „Du Arsch bist doch schuld an der ganzen Scheiße.“, presste Change hervor und wäre trotz Unites Unterstützung fast zusammengesackt. „Als nächstes bin ich auch noch für die Energiekrise und den Welthunger verantwortlich.“, meinte Grauen-Eminenz empört.  Desire konnte beobachten, wie ihre Energie durch Secrets Körper floss. Er wehrte sich zunächst dagegen, sein Gesicht war schmerzverzerrt und er zuckte, doch als ihre Kräfte Wirkung zeigten, wurde er endlich ruhig und schloss schließlich die Augen, während die Blutung stoppte und das aufgerissene Fleisch sich erneuerte. Als die Wunde schließlich geschlossen war, schien Secret in Schlaf gefallen zu sein. „Wie geht es ihm?“, fragte Grauen-Eminenz, der offenbar sofort gemerkt hatte, dass sie die Ausübung ihrer Fähigkeit beendet hatte. Desire sah ihn feindselig an, zu zornig, um zu sprechen. Doch Grauen-Eminenz wartete auf eine Antwort. „Was hast du mit ihm gemacht?“, spie sie schließlich aus. Grauen-Eminenz sah sie nur unbewegt an. Wieso ging hier jeder davon aus, dass er etwas damit zu tun hatte? „Lass mich zu ihm.“, sagte er. „Niemals!“, schrie Desire. Er wandte sich an die anderen Beschützer. „Er wird euch wieder angreifen.“ „Wir werden das verhindern!“, rief Desire. „Ich habe gesehen, wie ihr es verhindert habt.“, spottete Grauen-Eminenz. „Ihr wisst nicht, mit was ihr euch da einlasst.“ „Mit dem, was du uns eingebrockt hast!“, gab Change zurück und sank nun wirklich zu Boden, Unite folgte ihm, um ihn weiterhin stützen zu können. „Es ist nicht meine Absicht, dass sich meine Versuchspersonen gegenseitig abmurksen.“ „Das haben wir anders in Erinnerung.“, röchelte Change. „Ich habe ihn auf jeden Fall nicht auf euch angesetzt, wenn es das ist, was ihr glaubt.“ Er sah wieder zu Secret. „Nächstes Mal kommt ihr vielleicht nicht so glimpflich davon. Ihr solltet ihn mir überlassen.“ „Nur über meine Leiche!“, schrie Desire. „Ihr wart schon damit überfordert, euch gegen ihn zu verteidigen, ihr seht nicht gerade so aus, als könntet ihr mir gegenüber noch viel Gegenwehr leisten.“ Trust machte einen Schritt nach vorne, woraufhin er spürte, wie Change sich gegen seine Beine lehnte. Im gleichen Moment spürte er, wie er mit teleportiert wurde. Er, Change und Unite tauchten neben Destiny auf, Unite ergriff Destinys Hand und zapfte Changes Kräfte abermals ab, um bei Desire und Secret aufzutauchen. „Er wird es wieder tun.“, rief Grauen-Eminenz ihnen noch zu, dann waren sie allesamt verschwunden.   Kapitel 103: Schadensbegrenzung ------------------------------- Schadensbegrenzung   „U[nheimlich] nennt man Alles, was im Geheimen, im Verborgenen … bleiben sollte und hervorgetreten ist“ (Friedrich Schelling, zitiert nach Sigmund Freud in Das Unheimliche)   Gefolgt von Ewigkeit kamen die fünf in ihrem Hauptquartier an, bei ihnen: der sich nicht regende Secret. Sobald sie sich orientiert hatte, kroch Destiny an Secrets Seite und setzte ihre Kräfte ein. „Was tust du?“, fragte Desire. „Sicher gehen, dass er nicht aufwacht.“ „Sie narkotisiert ihn.“, erklärte Trust. Als Destiny damit fertig war, herrschte kurzes Schweigen. „Glaubst du, das hilft?“, presste Change hervor. Destiny machte ein düsteres Gesicht. „Ich weiß nicht, wie lange es anhält. Unite stand unterdessen auf, trat zu Desire und ergriff deren Hand. Verwirrt sah diese sie an, die ganze Situation schien sie zu überfordern. „Wir müssen die anderen heilen.“, sagte Unite und lieh sich Desires Kräfte. Desire nickte, machte den Ansatz aufzustehen und sah dabei aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Unite legte ihr eine Hand beruhigend auf die Schulter und drückte sie wieder zu Boden. Desire wollte sich erst wehren, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Sie blieb sitzen und starrte leer vor sich hin. Mit einem Blick und einer leichten Kopfbewegung gab Unite Destiny zu verstehen, dass sie sich um Desire kümmern sollte. Dann verließ sie ihren Platz, um Changes und Trusts Wunden zu versorgen. Destiny biss die Zähne zusammen, um ihre körperlichen Schmerzen zu unterdrücken und nahm Unites Platz neben Desire ein. Diese machte erneut einen Ansatz aufzustehen. „Ich … ich muss…“, japste sie und sah wirklich nicht so aus, als wäre sie auch nur noch im Entferntesten dazu in der Lage, ihre Kräfte einzusetzen. Der Kampf gegen die Tränen und die Hilflosigkeit schien schwer genug für sie zu sein. Destiny sah kurz auf den schlafenden Secret und dann zu Unite, sagte aber nichts. Sie hielt es für keine gute Idee, Secret in ihrer Nähe zu lassen. Er war wie eine tickende Bombe, deren Explosion nur eine Frage der Zeit war. Aber sie konnte es Desire nicht antun, gerade jetzt diesen Einwand vorzubringen. Desire hatte so darum gekämpft, dass sie Erik endlich die Wahrheit sagten, und nun war das eingetroffen, wovor sie sich am meisten gefürchtet hatten. Weder wollte Destiny riskieren, dass Desire ausrastete und sie alle beschimpfte, Schuld zu haben, noch dass Desire heulend zusammenbrach, weil die ganze Situation zu viel für sie war. Und dass die Situation zu viel war – nicht nur für Desire –, stand außer Frage. Unite hatte derweil Change geheilt. Allein die psychische Überbelastung hatte sie ihm nicht nehmen können. So gekonnt war sie nicht in der Anwendung von Desires Kräften. Und auch ihre Gefühlsübertragung hätte in diesem Fall nichts genützt, denn sie selbst hielt sich nur noch auf den Beinen, indem sie die Situation einfach ausblendete und sich auf ihre Aufgabe konzentrierte. Als sie sich Trust zuwandte, um ihn zu heilen, schüttelte dieser den Kopf. Er hatte Ewigkeit, die vor Erschöpfung zu Boden gestürzt war, aufgehoben. Im Halbschlaf lag sie in seinen Händen und er hielt sie Unite hin. Unite kniete sich vor ihn und legte ihre Linke auf Ewigkeits schmächtigen Körper. Sie ließ Desires Heilungskräfte auf sie übergehen. ○ Was sollen wir nur tun? Trusts Flüstern tönte in ihrem Kopf und sie sah auf, um seinem gequälten Blick zu begegnen. Leid zeichnete sich auf seinen Zügen ab, Leid, das sie auch mit Desires Läuterung nicht lindern konnte. Seine Mimik sprach eine eindeutige Sprache: Er wusste nicht mehr weiter. Unite legte ihre noch freie Hand auf seine Linke und lächelte ihn mitfühlend an. Für ein paar Atemzüge sah sie ihm einfach nur in die Augen, um ihm das gleiche Gefühl zu schenken, das er immer in ihr auslöste. Zu ihrem Bedauern schien es ihr jedoch nicht zu gelingen, ihm Vertrauen zu vermitteln. Sein Blick sprach weiterhin von inneren Qualen und davon, dass er sich unter dem Druck fühlte, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Unite drehte den Kopf zu dem reglos daliegenden Secret. Sie zwang sich, sich einen weiteren Moment auf Ewigkeit zu konzentrieren. Endlich regte die Kleine sich wieder und wirkte nun wieder fit. Unite ließ von Trust ab und begab sich zu Secret hinüber. Die Blicke aller waren auf sie gerichtet, als sie sich neben Secret kniete und ihm die Rechte auf die Brust legte. Sie konzentrierte sich. Fast wäre sie zurückgezuckt, als Secrets Emotionen auf sie eindrangen. Eine Welle an durcheinanderwirbelnden Gefühlen riss sie mit sich. Es war zu viel, viel zu viel! Sie wollte wegrennen! Nein! Unite zog die Hand zurück und atmete schwer. Die anderen forderten mit ihren Blicken, über das Ergebnis informiert zu werden, aber Unite musste sich erst beruhigen. Nochmals setzte sie ihre Kräfte ein und bemühte sich, nicht von dem Chaos an Emotionen fortgerissen zu werden. Sie blendete ein paar der Informationen aus, in dem Versuch, wenigstens die Form von ein paar der Gefühle erfassen zu können. Doch ob es an ihrer eigenen emotionalen Aufgewühltheit lag oder ob sie die Gefühle aus anderen Gründen nicht greifen konnte, das Ergebnis blieb dasselbe. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und schreckte herum, wo Trust stand. Ohne Worte ging er an ihr vorbei und kniete sich neben ihr zu Secret. Er legte Secret die Linke auf die Stirn und schloss die Augen. Unite wusste, was er tat. „Seid ihr sicher, dass das sicher ist?“, fragte Change. Keiner antwortete ihm. Es dauerte ein paar Momente. Kurz öffnete Trust dann seine Augen mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er völlig verwirrt. Erst dann fiel Unite ein, dass sie das, was Trust sah, mit den anderen teilen konnte. Sie fasste Trust am Arm und hielt ihre freie Hand den anderen hin. Die verstanden und setzten die Kette fort. Trust warf Unite einen Blick zu, der deutlich machte, dass er es nicht gerade begrüßte, dass die anderen seinen Blick in Secrets Erinnerungen teilen wollten. Im gleichen Moment kam Ewigkeit über Secret geschwebt. Mit einer Geste gab sie ihnen zu verstehen, dass sie Wache stehen und sie warnen würde, sollte der Junge aufzuwachen drohen. Trust wandte sich daraufhin wieder Secret zu und schloss erneut die Augen. Die Bilder, die den anderen daraufhin übertragen wurden, waren die ihres eben erfolgten Kampfes mit Secret im Rückwärtslauf. Das Verstörende jedoch war, dass eine unwillkürliche Kombination aus Unites und Trusts Fähigkeiten bewirkte, dass sie Secrets Gefühle während des Kampfes spürten. Da war Wut. Unendliche Wut auf sie. Der Wunsch, sich an ihnen zu rächen. Allein dieser Wunsch schien ihn anzutreiben und mit euphorischer Begeisterung zu erfüllen, wenn er sie in Angst und Schrecken versetzte, wenn er ihre entsetzten Blicke sah, ihren Schmerz, ihre vergeblichen Versuche, sich gegen ihn zu wehren. Es war ein Rausch! Ein Hochgefühl, sich an ihrer Unterlegenheit zu weiden. Das Geschehen lief weiter rückwärts. Die Schatthen waren ihm egal gewesen, sie hatten ihn nicht interessiert, kalte Gleichgültigkeit und Überlegenheit rauschte durch ihre Adern. Dann war der Moment gekommen, wo Secret in der Finster GmbH erschienen war. Kurz wurde es schwarz. Dann sahen sie Eriks Spiegelbild, sein Zimmer. Sie gingen in der Erinnerung aus Secrets Sicht rückwärts, setzten sich, legten sich, schlossen die Augen. Dann Schwärze. Trust unterbrach die Übertragung. Er und die anderen öffneten die Augen. „Warum machst du nicht weiter?“, fragte Desire. Trust sah sie nicht an, er wirkte wie in Trance. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Da ist nicht mehr.“ Die anderen verstanden nicht. „Wie? Kannst du da nicht rankommen?“, wollte Change wissen. „Du hast es versucht.“, vermutete Unite und nahm die Hand von Trusts Arm. Trust nickte. „Das ist alles, woran er sich erinnert.“ „Wie ist das möglich?“, stieß Desire aus. Trust senkte den Blick. „Ich weiß es nicht.“ Change zuckte mit einem Mal, wie Destiny neben ihm reichlich befremdet feststellte. „Was?“, wollte Destiny von ihm wissen. In einer so angespannten Situation war sie kein Freund von Geheimniskrämerei und unausgesprochenen Überlegungen. Change versuchte seinen Gedanken zu versprachlichen. „Erik hat bloß so was gesagt. Irgendwas mit Secret und ihm. Und weil er sich nicht erinnert. Umgekehrt wäre es besser. Oder so.“ „Dass Secret sich nicht an Erik erinnert?“, fragte Unite. „Ich glaube.“, sagte Change. „Ich hab ihm nicht zugehört, als er den Schwachsinn erzählt hat.“ „Aber das ist nicht Secret.“, wandte Desire ein. „Das ist –“ „…ein Gleichgewichtsbedroher.“, wiederholte Trust tonlos den Titel, den Erik selbst vorgeschlagen hatte. Desire schluckte, dann schluchzte sie auf, aber der Moment zu weinen war bereits verflogen. Keine Träne löste sich aus ihren Augen und eine taube Gedankendürre trat ein. Kurz versuchte sie ihren Verstand in eine von der Realität abgetrennte Nische ihres Gehirns zu retten. Für Sekunden gelang es ihr. „Dann lösch doch einfach sein Gedächtnis!“, rief Change. „Lösch alles. Lösch den ganzen Typen! Wenn er dann aufwacht, weiß er vielleicht nicht, wer wir sind.“ Trust sah zu den anderen, als würde er in ihren Gesichtern eine Antwort suchen. „Es ist keine schöne Erinnerung.“, sagte Unite. Zwar nickte Trust und wandte seinen Blick ab, doch sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er diese Handlungsweise kaum mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Er zögerte weiterhin, offenbar in seinem Kopf nach Alternativen suchend, nur dass es keine Alternativen gab. Secret erwachen zu lassen, war ein Risiko, das sie nicht eingehen konnten. Mit einer Mimik, als müsse er gegen seinen Willen ein Tier töten, um zu überleben, schloss er die Augen und machte sich an die Arbeit. Schweigend warteten die anderen. Es dauerte mehrere Minuten, während derer die anderen sich Blicke zuwarfen. Auch unter ihnen gab es Zweifel an ihrer Handlungsweise, doch es waren Zweifel, die sie bei jeder Entscheidung gehabt hätte, die so gewichtig war wie diese, keine Zweifel wie sie Trust verspürte, schließlich mussten sie diese Tat nicht vollbringen. Als Trust seine Kräfte lange genug eingesetzt hatte, wurde Secrets Verwandlung mit einem Mal rückgängig gemacht  und er nahm wieder Eriks Gestalt an. Die Gestalt eines normalen Jungen, der nur bemerkenswert gut aussah, mehr nicht. Trust öffnete die Augen und erkannte den Wandel. Als hätte der Kleidungswechsel einen anderen Menschen enthüllt, änderte sich die Art, auf die Desire den Jungen ansah, als wäre er klein und verletzlich. „Weck ihn nicht.“, sagte Trust. Von dieser Aussage erneut in Sorge versetzt, sah Desire ihn fragend an. „Wir wissen nicht, ob es geholfen hat.“, erklärte Trust. „Er hat jetzt andere Klamotten an!“, meinte Change in scherzhafter Anerkennung, doch Trust war nicht zum Spaßen aufgelegt. Unite legte ihm einen Arm auf den Rücken, um ihn zu stützen, doch er reagierte auf ihre Berührung nicht, vielleicht war sie ihm sogar unangenehm. Aus Sorge letzteres könne der Fall sein, ließ sie schließlich wieder von ihm ab und wandte sich Ewigkeit zu. „Er hat dich gesehen.“ Ewigkeit blickte auf. „Er hat dich gesehen und er hatte Kräfte wie wir.“ „Das waren nicht unsere Kräfte.“, widersprach Change. „Wir haben auch schon solche Kräfte eingesetzt. Wir haben Ewigkeit fast umgebracht!“, erinnerte Unite. Trust sah nicht in ihre Richtung, doch schien er ihren Einwand gehört zu haben. „Gleichgewichtsbedroher.“, sagte er, als habe er eine Erkenntnis gewonnen. „Wir waren auch Bedroher.“, meinte Unite.   „Das ist doch jetzt völlig egal!“, rief Desire. „Es geht jetzt um Erik. Wir … wir …“ Sie fand keine Worte. „Wenn er wieder Erik ist.“, wandte Change ein. Nach kurzer Stille, ergriff Trust wieder das Wort. „Wir bringen ihn zurück in sein Zimmer.“ „Aber -“, setzte Desire an. Trust sah sie an, als warte er darauf, dass sie einen besseren Vorschlag vorbrachte. „Wenn er bei sich zu Hause aufwacht, erinnert er sich vielleicht an sich selbst.“, meinte Destiny. Desire hatte keine Alternative. Was hätten sie auch tun sollen? Sie waren erschöpft und konnten weder einen erneuten Kampf mit Secret riskieren noch hatten sie die Kraft dazu, Erik bei seinem Erwachen eine Erklärung dafür zu geben, warum er sich plötzlich an einem ihm fremden Ort wiederfand. Trust sprach die anderen an. „Sollte Secret bei einem von uns auftauchen, alarmiert ihr sofort Ewigkeit. Sie holt Change und er teleportiert euch hierher.“ „Kann Ewigkeit nicht auf ihn aufpassen und uns dann warnen?“, schlug Change vor. „Secret kann sie sehen. Wenn er ihr etwas antut, haben wir keine Möglichkeit mehr, einander schnell genug zu warnen. Er wird uns sicher nicht die Zeit für einen Anruf lassen.“, erwiderte Trust. „Du meinst, er kann auch teleportieren?“, wollte Change wissen. „Ich weiß nicht, wie er dort aufgetaucht ist.“, entgegnete Trust. Change deutete ein Nicken an, sein Blick wanderte zu Erik. „Morgen ist Schule.“, merkte Destiny an. „Dein Ernst?“, rief Change. Destiny wurde ebenfalls laut. „Ich meine -“ Sie brach ab und ließ ihren Blick auf Erik ruhen. Change verstand. Trust seufzte. „Deshalb sollten wir jetzt nach Hause gehen.“ Ein Moment der Stille entstand, als würde keiner von ihnen sich getrauen, den nächsten Schritt zu tun. Schließlich erhob sich Trust. „Eine Sache noch.“, sagte Destiny. Ihr Mund verzog sich. „Ich hab abartige Rückenschmerzen, könnte mich vielleicht auch mal jemand heilen?“ „Das… wäre wirklich ganz gut.“, gestand auch Trust ein, der seine Schmerzen nun auch wieder deutlicher spürte.   Unite und Desire halfen Trust Erik auf sein Bett zu hieven, während Ewigkeit mit Argusaugen über dem Schlafenden schwebte und Change und Destiny sich vor die Tür gestellt hatten, um andere am Eindringen zu hindern. Sollten sonstige Störenfriede wie etwa Schatthen auftauchen, war es Destinys Aufgabe, sie zu paralysieren, und Changes, schnellstmöglich zu teleportieren. „Haltet ihr es wirklich für eine gute Idee, ihn hier zu lassen?“, fragte Desire. Change trat mit Destiny wieder zu den anderen. „Hättest du ihn lieber allein im Hauptquartier eingesperrt?“ Desire schwieg. Hätte sie Changes Kräfte besessen, wäre sie mit Erik in ihrem Hauptquartier geblieben und hätte über ihn gewacht. In dem Fall, dass er sie erneut angegriffen hätte, wäre sie rechtzeitig geflüchtet und hätte die anderen alarmiert. Doch zum einen hatte sie keine Ahnung, wie Changes Kräfte funktionierten, demnach hätte ihr eine Übertragung durch Unite nicht weitergeholfen. Zum anderen wusste sie, dass Trust eine solche Handlungsweise nicht zugelassen hätte. Letzteres Problem hätte sie einfach umgangen, indem sie sich heimlich zu Erik teleportiert hätte, um unsichtbar über seinen Schlaf zu wachen, aber sie besaß nun einmal nicht Changes Fähigkeiten und konnte von ihm nicht verlangen, mit ihr gemeinsam auf Erik aufzupassen, nachdem Secret ihn durch den ganzen Raum gegen eine Wand geschleudert hatte. Sie machte sich keine Sorgen um sich selbst, aber sie wusste, dass Change bei einem erneuten Zusammentreffen mit dem Bedroher nicht unverletzt bleiben würde. Sie wurde von Unite bei der Hand genommen, das Zeichen, dass sie gleich teleportieren würden. Noch einen Moment mussten die fünf warten, bis Ewigkeit kurz in Desires Zimmer teleportiert hatte und dann wieder auftauchte, um ihnen zu bestätigen, dass die Luft rein war. Daraufhin teleportierte Change. Die fünf tauchten in Desires dunklem Zimmer wieder auf. Desire seufzte. „Hey, morgen weiß er wieder von nichts und ist ganz normal!“, rief Change, wie um sie zu trösten. Sie schenkte ihm ein Lächeln, das allerdings wenig überzeugt wirkte. Bei diesen Lichtverhältnissen konnte er es vermutlich ohnehin nicht wahrnehmen. „Wir sehen uns morgen.“, sagte sie schwach. „Nach allem, was heute war, sollten wir uns den Tag freinehmen dürfen.“, fand Change. Desire sprach es nicht aus, aber sie konnte den nächsten Tag nicht erwarten, denn sie hoffte darauf, dass sie in der Schule Erik sehen könnte. Den echten Erik. Ewigkeit tauchte wieder auf, nachdem sie kurz verschwunden war. „Niemand ist im Raum.“, erklärte sie mit Bezug auf Destinys Zimmer, in das sie als nächstes teleportieren wollten. Sich noch einmal verabschiedend, verschwanden Change und die anderen. Kapitel 104: Besuch im Schatthenreich ------------------------------------- Besuch im Schatthenreich   „Hüte dich vor einem Mann, der im Zorne lächeln kann.“ (Deutsches Sprichwort)   Secret erwachte an einem ihm unbekannten Ort. Es handelte sich um ein ziemlich großes Zimmer. Die Einrichtung war eine Mischung aus edlen Möbeln und neuester Technik. Secret schenkte dem keine Beachtung. Er spürte, wohin er musste. Im hinteren Teil des Raumes fühlte er etwas wie eine Krümmung oder seltsame Aura. Er nahm diese wie eine dunklere Färbung wahr, die mitten im Raum schwebte. Er trat auf den mannshohen Spiegel zu und schritt hindurch. Für einen Moment schluckte ihn die Dunkelheit, dann kam er an einem anderen Ort an. Es handelte sich um ein kleines Zimmer, eines, das vergleichsweise schäbig wirkte. Vor ihm stand ein Bett, links von ihm ein an die Wand gelehnter großer Tisch und ein Kleiderschrank. „Ich dachte mir, du würdest hier auftauchen.“ Die Stimme kam von hinten. Secret wirbelte herum und riss seinen Arm in die Höhe. Seine Geste war automatisiert, als wüsste seine Muskulatur genau, wie sie reagieren musste. Und ohne willentlich darüber nachzudenken, wusste auch er was diese Bewegung bedeutete. Der Stuhl auf dem der Fremde saß, wurde mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert. Es krachte, als die Lehne brach. Der Mann jedoch saß weiterhin an der gleichen Stelle, obwohl es nichts mehr gab, auf dem er sitzen konnte. Secret erkannte, dass es sich um ein Hologramm handelte, das einen glatzköpfigen Mann mit grauer Haut in dunkelgrauer Kleidung darstellte. „Nicht gerade freundlich, so mit seinem Gastgeber umzugehen.“, sagte das Hologramm und stand auf. „Dabei habe ich dir extra ein Zimmer eingerichtet. Nur für den Fall, dass du wieder durch mein Portal kommst.“ Secret blickte zurück auf das seltsame dunstartige Etwas, durch das er getreten war. Das Hologramm sprach weiter. „Ich wusste nicht, dass jemand anderes als ich, sie benutzen kann. Du dürftest sie nicht mal sehen können.“ Secret warf dem Fremden einen abschätzigen Blick zu. Der lachte leise. „Erinnerst du dich?“ Secrets Augenbrauen zuckten. Im gleichen Moment strömte das Wissen auf ihn ein, als hätte er es irgendwo gefunden. Er starrte auf die Wand vor sich. Er war im Schatthenreich. Details dieses Ortes fanden sich in seinem Kopf wie plötzlich auftauchende Dateien während eines Downloads. Woher er das wusste, konnte er nicht sagen. Aber er war es gewohnt, Dinge einfach so zu wissen. Das gehörte zu seinen Fähigkeiten und er hatte große Fähigkeiten. Gerade deshalb hatte er keine Lust, mit einem Hologramm zu reden. Er ließ die Projektion einfach stehen und trat aus der Zimmertür, fand sich in einem Gang wieder. Es sah aus wie in einem Labor. Zielgerichtet lief er in eine Richtung. Er wusste, wo er hin musste. Am Ende des Ganges bog er nach rechts zu dem letzten Raum. Als er die Tür öffnete, saß der Mann, den das Hologramm gezeigt hatte, in Fleisch und Blut in einem Bürostuhl, der zu ihm gedreht war, als hätte er ihn erwartet. Secret sagte nichts. Der Raum, in dem der Mann saß, war abgedunkelt, allein ein paar Bildschirme im Hintergrund leuchteten. Das hier langweilte ihn. Was sollte er hier? Er hatte Dringenderes zu tun. Er wollte – Er presste die Zähne aufeinander. Er wollte diese fünf. Das war das einzige. Er wollte jetzt sofort zu ihnen und – Was auch immer er dann tun würde. Alles andere fühlte sich bedeutungslos an. Hier zu stehen, war bedeutungslos. Dieser Mann war bedeutungslos und die Langeweile unerträglich. Er musste zu ihnen. Jetzt sofort! Dieser Drang war übermächtig. Als wäre der Grund seiner Existenz einzig der, in ihrer Nähe zu sein. Am liebsten hätte er sich sofort zu ihnen teleportiert. Doch diese Fähigkeit besaß er nicht. Er konnte die Portale dieses Schatthenmeisters nutzen und dadurch Strecken schneller zurücklegen, aber das war nicht dasselbe. Außerdem war das eine Fähigkeit, die sich anfühlte wie ein aufgeschraubtes Extra, etwas, das nicht allein zu ihm gehörte, sondern hier seinen Ursprung hatte. Doch das Schatthenreich interessierte ihn nicht. Der Drang in ihm schmerzte. Er musste hier raus. Secret drehte sich um, lief zurück in den Gang, streckte beide Arme zur Seite und ließ eine dunkelblaue Energie um sie zucken, die er wie zwei Klingen in die Wände zu beiden Seiten schrammen ließ, in dem Versuch, durch wahllose Zerstörung, den Druck in seinem Inneren abzulassen. Neben dem Zimmer, in dem er angekommen war, blieb er stehen, drehte sich um und brüllte. Die indigofarbenen Blitze zuckten um seine Füße, nahmen seine ganze Gestalt ein, dann schoss er. Er riss mit einer Handbewegung die Wand des Zimmers ein und schleuderte sie gegen die daneben, die dadurch zu Bruch ging. Als nächstes warf er das Interieur des Zimmers im ganzen Gang herum, sodass das Holz splitterte und Teile herumlagen. Die Reste der Möbel beschoss er mit seinen Kräften bis sie zu immer kleineren Teilen zersprungen waren. Er atmete ein und aus, hörte sein Schnaufen und spürte die Reizung seiner Muskulatur, das Adrenalin. Es war ein großartiges Gefühl. Jetzt ging es ihm schon viel besser. Einen erneuten Schrei ausstoßend, ließ er seine blau-violetten Blitze zwischen seinen beiden Händen erscheinen, hob sie in die Höhe über seinem Kopf und stieß die Energieklinge durch die Decke, riss sie auf, indem er nach vorne rannte, sodass es Trümmer regnete. Er stoppte, drehte sich um, sah die völlige Verwüstung und lachte. Laut und ausgelassen. Ein so lautes Lachen hatte er noch nie gelacht.   Grauen-Eminenz beobachtete das Treiben des Jungen auf einem Bildschirm und war nicht wirklich … beeindruckt. Er war nur froh, dass es in seinem Schatthenreich so etwas wie tragende Wände nicht gab. Allerdings stand er kurz davor, die Decke willentlich einstürzen zu lassen, nur um zu sehen, wie der dumme Junge damit umging. Er grinste kurz. Das blöde arrogante Getue des Jungen nervte ihn. Die anderen Beschützer waren sehr viel umgänglicher. Okay, vielleicht hatte die unterbrochene Gehirnwäsche damals einfach einige Gehirnzellen bei dem Jungen abgetötet, und streng genommen war er dafür verantwortlich. Trotzdem fand das Verhalten des Jungen einfach nicht unterhaltsam. Der brauchte ein Anti-Aggressionstraining! Hm... Grauen-Eminenz betätigte einen Knopf und schaltete einen Lautsprecher ein. „Willst du gegen die Schatthen kämpfen?“, ließ er es in dem Raum ertönen, in dem der Schwarzhaarige stand. Der Junge sah sich nach einem Lautsprecher um, sah zwar keinen, schoss aber dennoch in der Gegend herum, als hätte er einen gefunden. Ja, er wollte eindeutig gegen die Schatthen kämpfen!, entschied Grauen-Eminenz grimmig. Und wie er das wollte! Er ließ ein Portal im Boden erscheinen, auf dem der Junge stand.   Secret fiel und landete auf fremdem, sandigem Boden. Im nächsten Moment wurden Scheinwerfer angeschaltet und er erkannte, dass er sich in einer Kampfarena gleich einem Kolloseum befand. Die zahlreichen Zuschauerplätze waren unbesetzt. Aus einem großen grauen Lautsprecher tönte die Stimme von Grauen-Eminenz wie die eines Kommentators. „Und in der rechten Ecke haben wir einen Neuling. Den Schatthenreichzerstörer mit seltsamem Kleidungsgeschmack und fehlenden Manieren. Einen Applaus für –“ Secret zerschoss den Lautsprecher. Kurz herrschte Stille. Dann ertönte Grauen-Eminenz‘ Stimme von Neuem. „Ich brauche keinen Lautsprecher, um dich nerven zu können!“, schimpfte er. Secret verdrehte die Augen. Ein Gitter gegenüber von Secret wurde geöffnet und ein Schatthen kam herausgesprungen. Secret erkannte, dass dieses Exemplar nicht besonders gut gelungen war, es war etwas zu tierisch geraten und ging auf allen Vieren. Seine Reißzähne waren zu einer Drohgebärde gefletscht. Secret schnaubte spöttisch. Ein einziger Schatthen war doch keine Herausforderung. Daher blieb er unbewegt stehen. „Dir ist schon klar, dass das kein Miezekätzchen ist!“, rief die Stimme des Schatthenmeisters, als der Schatthen näher kam. Secret reagierte nicht darauf.   „Na fein!“, stieß Grauen-Eminenz aus und beobachtete das Geschehen. Der Schatthen, zunächst noch auf eine Reaktion des Gegners gefasst, verlor seine Vorsicht und sprang auf den Jungen zu, um ihn zu zerfetzen. Grauen-Eminenz wollte ihn im letzten Moment durch eine Barriere schützen, als Secret die Hand hob und mit einem einzigen Schuss den Kopf des Schatthens wegblies, dann machte er einen gekonnten Schritt zur Seite, damit der Kadaver nicht auf ihm landete. Grauen-Eminenz war für einen Moment fassungslos. Auf seinen Bildschirmen sah er Secret in seine Richtung sehen. Naja, eigentlich in irgendeine Richtung, schließlich empfing er hier Bilder aus allen möglichen Himmelsrichtungen. Der Junge hatte einen kalten Blick aufgesetzt. Eben hatte Grauen-Eminenz ihn noch loben wollen. Das verkniff er sich beim Anblick dieses Gesichtsausdrucks. Dieser Bursche war so von sich selbst überzeugt, dass man sich nur lächerlich machte, wenn man ihn auch noch darin bestätigte. Secret sah wieder in die Richtung, aus der der Schatthen gekommen war. Da er sich bis eben nicht für die Anwesenheit des Schatthens überhaupt interessiert hatte, ging Grauen-Eminenz davon aus, dass er ihm damit sagen wollte, dass er auf Nachschub wartete. Dieses Mal schickte er ihm gleich drei Schatthen und als Secret sie herausstürmen sah, trat ein teuflisches Grinsen auf sein Gesicht. Er stürmte den Bestien entgegen, die sich teilten und auf ihn zugerannt kamen, entfesselte seine Kräfte, wirbelte um die eigene Achse, um mit einem Rundumschlag alle drei auf einmal zu erwischen. Die Bestien wurden hinweggeschleudert, knallten gegen die Begrenzungen und rafften sich wieder auf, um den nächsten Angriff zu wagen. Secret grinste noch breiter. Grauen-Eminenz beobachtete ihn, wie er gekonnt mit den drei Schatthen spielte, sie gleichzeitig zu handhaben wusste und jede Bewegung von ihnen vorauszuahnen schien. Er wich aus, nutzte seine Fähigkeiten und machte den Eindruck, als würde ihm das Ganze einen Heidenspaß machen. Grauen-Eminenz erwischte sich dabei, wie er beim Zusehen selbst grinste. Der Junge strahlte solche eine Begeisterung für den Kampf aus, wie er sie noch nie gesehen hatte. Außer bei Leuten, die wirklich komplett übergeschnappt waren. Vielleicht war der Junge ja auch übergeschnappt. Dass er sein eigenes Zimmer verwüstet hatte, sprach jedenfalls nicht für seine geistige Gesundheit. Secret lachte während des Kampfes. Ein tiefes, kehliges Lachen – das Lachen eines Bösewichts, für das andere lange üben mussten. Es sollte ja Naturtalente geben. Noch während Secret seine Kräfte einsetzte und die Schatthen durch die Gegend warf, lachte er lautstark, doch nicht hysterisch. Er schien einfach nur etwas gefunden zu haben, das ihm Spaß machte. Und an seinen Bewegungen erkannte Grauen-Eminenz, dass er mit den Schatthen spielte wie eine Katze mit einer Maus, bevor sie sie tötete. Deshalb hatte der Junge auch die Zeit zu lachen. Irgendwie war Grauen-Eminenz neidisch. Er hatte nie so großen Spaß, wenn er mit den Schatthen kämpfte. Er fand sie einfach nur dumm und hirnlos und mit ihnen zu kämpfen war meistens nur Teil der Routinearbeit, damit sie nicht vergaßen, wer der Chef war. Das Problem war vielleicht auch, dass er wusste, wie lange er daran gesessen hatte, sie zu erschaffen. Es machte nicht so großen Spaß, etwas kaputt zu machen, das man selbst hergestellt hatte. Andererseits hatte ihm auch das Testen der Schatthen von anderen Schatthenmeistern nicht wirklich Freude bereitet.  Ach was! Er war zufrieden! Er bemühte sich zu lächeln. Doch das Lächeln hielt nur für Sekunden. Mist. Er war überhaupt nicht zufrieden. Das würde doch jetzt nicht schon wieder so eine Sinnkrise geben! Zurückblickend war der Kampf mit den Allpträumen doch ganz unterhaltsam gewesen! …naja. Okay, der Einsatz der Emo-Schatthen war auch nicht so lustig geworden, wie er sich erhofft hatte, aber das hatte man ja nicht vorhersehen können. Sein Blick folgte wieder dem Jungen. Vielleicht brachte dieser ja etwas Leben in die Bude. Andererseits wirkte er furchtbar einzelgängerisch. Verdammt! Seit wann wollte er denn Gesellschaft? Alleinsein war gut! Alleinsein war schön! Wenn er Unterhaltung wollte, zog er sich einfach einen Film rein. Filme konnte man auch gut wieder verstauen, ohne dass sie sich beschwerten. Man konnte sie aus dem Regal holen, wenn man sie brauchte, und wieder zurückstellen, wenn man keinen Bock mehr auf sie hatte. Zwar kamen sie auch  nicht aus den Regalen gesprungen, wenn man ihre Unterstützung nötig gehabt hätte, aber Menschen taten das auch nicht, also war man schlussendlich mit den Filmen besser dran. Außerdem konnte er Menschen sowieso nicht leiden. Secret hatte derweil wieder zu lachen begonnen, während er den Schatthen allmählich die Glieder abschoss. Grauen-Eminenz fand das nicht witzig. Er konnte die Schatthen zwar ohne Probleme wieder zusammenflicken, da die Kräfte des Jungen sie nicht auflösten, aber wenn dieser die Einzelteile dabei durcheinanderbrachte, musste er sie wieder zusammenlesen und rätseln, welcher Arm und welches Bein denn nun zu welchem Rumpf gehörten. Und leider hatte er keine weißen Tauben, die ihm beim Sortieren geholfen hätten wie bei Aschenputtel. Hrmpf.   Secret war von Torsos umgeben und lachte. Sein Lachschwall stieg an, während er den Schatthen die Köpfe zerschoss. Das hatte so gut getan. Er fühlte sich richtig befreit. Reichlich zufrieden mit sich selbst stand er da. Daran konnte er sich gewöhnen. „Hey!“, rief er in die Höhe. „Das machen wir wieder!“ Kapitel 105: Verletzter Stolz – Secret verstehen ------------------------------------------------ Verletzter Stolz – Secret verstehen „In Wut geraten, heißt stolz sein.“ (Von den Bantu) Nachdem sie auch Destiny zu Hause abgeliefert hatten, tauchten sie im Keller von Unites Haus auf. Da das Zimmer von ihr und ihren Geschwistern oft nicht leer war, hatten sie sich dazu entschlossen, diesen als Abhol- und Ankunftspunkt zu wählen. „Bis morgen.“, sagte Trust sachte. Doch anstatt seine Hand loszulassen und wie gewöhnlich ihn und Change mit einem Lächeln zu verabschieden, blieb Unite stehen, ohne ihn anzusehen. Gerade wollte er sie danach fragen, als er sich eines Besseren besann. „Change, ich gehe von hier aus zu mir. Dann kannst du deine Kräfte schonen.“ Leicht überrascht bestätigte Change. Ewigkeit erschien und informierte, dass Trusts Zimmer leer war, woraufhin sie gebeten wurde, bei Change nachzusehen. Sie verschwand erneut, tauchte Sekunden später wieder auf und gab das Freizeichen. Mit einem letzten Gruß ließ Change Unite und Trust allein.   Das Leuchten Ewigkeits, die bei ihnen geblieben war, war die einzige Lichtquelle im Raum. Für weitere Momente blieb Unite neben Trust stehen. „Danke.“, flüsterte sie. „Was ist los?“, erkundigte er sich vorsichtig und schämte sich im gleichen Moment für die dumme Frage. Nach allem, was geschehen war, wäre nichts unangebrachter gewesen. Er spürte, wie sie seine Hand drückte, und wusste nicht, was er sagen sollte. Ihre Offenbarung kam überstürzt und ohne Vorwarnung. „Ich war bei Erik. Heute Mittag. Bevor wir uns getroffen haben.“ Trust stockte und fühlte, wie sein Magen zu einem harten Klumpen wurde. Er hatte das Gefühl, etwas gehört zu haben, das er nicht wissen sollte. Schuldgefühle zurrten seine Brust zusammen. „Was hast du …“ Unite riss ihren Kopf in seine Richtung. Im Schein Ewigkeits sah er das Entsetzen auf ihren Zügen. Schmerz zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab und sie ließ seine Hand abrupt los, als hätte er sie betrogen. Trust begriff, was er gerade gesagt und gedacht hatte. Er hatte geglaubt, sie habe etwas mit Eriks Verwandlung zu tun gehabt. Von der Erkenntnis getroffen, wusste er nicht, was er sagen sollte. In Unites Augen glitzerten Tränen. Aber das schlechte Gewissen über seine grausame Unterstellung ließ es nicht zu, dass er sich ihr näherte oder noch einen Ton herausbrachte. „Was ist passiert?“, fragte stattdessen Ewigkeit. Er hörte Unite hart schlucken und hätte sich gewünscht, seine unbedachten Worte rückgängig machen zu können. „Du bist nicht schuld daran.“, versuchte er hastig, sie zu beruhigen. „Ich weiß!“, stieß sie heftig aus. Es klang fast, als wolle sie ihm einen Vorwurf machen. Vielleicht fühlte es sich für ihn auch nur so an. Sie ließ ihn stehen und lief, gefolgt von Ewigkeit, zur Tür des Kellerraums, öffnete sie und schaltete in dem dahinter befindlichen Teil das Licht an. Zeitgleich verwandelte sich ihre Beschützeruniform in ihre normale Kleidung.  Wieder in seine Richtung gedreht, hielt sie die Tür geöffnet, wodurch das Licht hinter ihr hereinfiel. Allein Ewigkeits Leuchten beschien ihre Züge. Noch nie hatte er so einen harten Gesichtsausdruck an ihr gesehen. Er musste sie aufs Tiefste verletzt haben und wusste nicht, wie er das wieder gutmachen konnte. Wie ein geschlagener Hund tat er die Schritte, die ihn von ihr trennten, und hielt den Kopf gesenkt. Er trat aus dem Kellerraum. „Du solltest dich zurückverwandeln.“, sagte Vivien in grobem Tonfall, während sie die Tür hinter ihm schloss, ohne ihn anzusehen. Er schluckte und nahm seine alltägliche Gestalt an. Erst in diesem Moment fiel ihm ein, dass er sich in seinem Zimmer verwandelt hatte, wo er einfache Hauskleidung und keine Straßenschuhe getragen hatte. Das hatte er nicht bedacht, als er sich entschieden hatte, noch einen Moment bei Vivien zu bleiben.   Vivien warf Justin hinter seinem Rücken einen flüchtigen Blick zu. Sie bemerkte sofort, dass er keine Schuhe trug. Eine Millisekunde tat es ihr leid, ihn dazu genötigt zu haben, bei ihr zu bleiben. Dann spürte sie wieder die Wut und Kränkung darüber, dass er geglaubt hatte, sie wolle ihm gegenüber ein Schuldgeständnis ablegen, wo sie ihm doch nur hatte anvertrauen wollen, was am Mittag geschehen war! Sie hatte es den anderen nicht verheimlichen wollen! Sie hatte nur nicht die Gelegenheit gehabt, es ihnen zu sagen. Der Zeitpunkt wäre mehr als unpassend gewesen. Und der einzige Grund, aus dem sie jetzt noch mit Justin darüber hatte reden wollen, war, dass ihr die ganze Sache viel näher ging als sie es den anderen gegenüber hatte zeigen wollen. Weil sie wusste, dass besonders Ariane noch mehr litt als sie selbst. Ja. Sie trug die Verantwortung. Daran, dass sie Erik noch nicht die Wahrheit gesagt hatten. Diese Schuld nahm sie auf sich, auch wenn es ihr – nach dem, was eben geschehen war – Leid bereitete. Sie konnte es nicht rückgängig machen. Und sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen und zu klagen, hätte ihr nur den Blick auf die nun notwendigen Schritte verstellt. Sie musste mit der jetzigen Situation umgehen! Das hatte höchste Priorität. Dennoch hatte sie Gefühle. Gefühle, die sie nicht lange unterdrücken konnte oder wollte, weil sie wusste, dass Verdrängung falsch war. Diese Gefühle hatte sie ihm zeigen wollen. Nur ihm. Deshalb tat es auch so weh. Dass er geglaubt hatte, sie habe etwas mit Eriks Verwandlung zu tun, hätte sie noch akzeptieren können. Es wäre kein Grund gewesen, ihm böse zu sein. Aber seine Annahme, sie hätte es den anderen verschwiegen, um sich feige vor der Verantwortung zu drücken, – dass er ihr das zutraute! – schmerzte.  Ihm keinen einzigen Blick schenkend, lief sie mit wütenden Bewegungen zur Treppe und stieg diese hinauf, ohne auf ihn zu warten. Sie musste erst mal mit ihren eigenen Emotionen klarkommen. Am Ende der Treppe angekommen, beobachtete sie ihn grimmig, wie er ihr reumütig nachschlich, den Kopf eingezogen, Ewigkeit ihm voraus. Aber das genügte ihr nicht. Sie wollte den Schmerz auf seinem Gesicht sehen. Denn das einzige, das ihre eigene durch ihn verursachte Pein in Schranken hielt, war – Vivien erstarrte. Ihr Sehnerv nahm Ewigkeits unschuldig arglose Gestalt wahr, die lächelnd die Treppe hinauf schwebte, als wäre die Welt noch heil, doch Viviens Verstand war mit etwas anderem beschäftigt. Sie fühlte, dass das, was sie gerade dabei war zu erfassen, richtig war. Wichtig war! Diese Wut und Enttäuschung, der Wunsch, geliebten Menschen Leid zuzufügen. Sie hätte das früher einmal als Sadismus abgetan, als etwas, das nur gemeine Menschen fühlen konnten. Jetzt verstand sie, warum sie Secrets Gefühle zuvor nicht hatte einordnen können. Diese Gefühle waren ihr fremd gewesen! Solche schrecklichen Dinge hatte sie vorher durch niemanden kennengelernt. Diesen Schmerz und den leidvollen Widerwillen. Secrets Grinsen kam ihr in den Sinn. Ja. Es hätte ihr Genugtuung gegeben, wenn Justin gelitten hätte, jetzt auf dieser Treppe. Aber sie wusste, dass sie sich im Nachhinein für ihr Verhalten furchtbar gefühlt hätte. Das war wohl der Unterschied. Secret hatte nicht den leisesten Ansatz dafür gezeigt, Reue zu empfinden. Er hatte diese kleinen Mechanismen, die im Hintergrund abliefen, einfach ausgeschaltet. Die Angst, jemanden zu verletzen und dadurch dessen Zuneigung zu verlieren, die Vivien in Schranken hielt… Diese Schranke hatte er eingerissen und war in eine Freiheit getreten, in der er jedem, dem er wollte, Leid zufügen konnte. Sie taumelte ein paar Schritte von der Treppe weg und hielt sich den Kopf. Sie verstand Secret! Das Glöckchenklingeln Ewigkeits ertönte neben ihrem Ohr, sie hörte wie Justin die letzten Stufen nahm und neben ihr stehen blieb. „Vivien…?“, fragte er voller Sorge in der Stimme. Sie sah wieder zu ihm auf und fragte sich, ob sie ihn gegen eine Wand oder einen Tisch schleudern können würde, wenn es ihr egal war, was er fühlte. Wenn es ihr egal war, ob er sie danach noch mochte.   Ja. Dazu wäre sie fähig. Wieder kam der Groll, als sie Justins verständnisloses Gesicht sah, und sie musste sich schwer zusammenreißen, um ihn nicht einfach vor die Tür zu setzen, denn eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, ihm ihre Erkenntnis mitzuteilen! Das hatte er überhaupt nicht verdient! Aber wem hätte sie es stattdessen sagen wollen? Ihr wurde klar, dass sie, solange sie so wütend auf Justin war, mit gar niemandem reden wollte. Stattdessen würde sie über ihren Zorn auf Justin nachdenken und darüber, was sie am liebsten gesagt hätte, um ihn zu treffen. Vielleicht war es ja das Beste, ihm einfach eine Ohrfeige zu geben, damit diese Wut endlich verschwand! Aber bei dem bloßen Gedanken daran zog ihr Körper die Notbremse. Sobald sie ihre Hand erheben wollte, wusste sie, dass sie Justin überhaupt nicht wehtun wollte. Was für ein kompliziertes Gefühlsmischmasch! Bei dem Vorsatz, nett zu ihm zu sein, zog sich ihre Brust zusammen an der Stelle, wo ihr Stolz und ihr Ego saßen. Ihr Stolz gebot ihr, ihm keinesfalls ihre Verwundbarkeit zu zeigen, sondern ihm gegenüber die gleiche Grausamkeit an den Tag zu legen, die er ihr erwiesen hatte. Wie hätte sie ihm das einfach nachsehen können, ohne sich dabei selbst zu verraten? Darum bemüht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, rief sie sich Serena und Erik ins Gedächtnis und wie viel Leid ihnen ihr Stolz einbrachte. Wie sehr sie sich damit selbst verletzten. Eriks Blick.   Einen weiteren Moment rang sie mit sich und dem Anspruch, Recht zu behalten, indem sie an ihrem Groll und ihrem Urteil über Justins Verhalten festhielt. Aber wollte sie Recht haben oder wollte sie glücklich sein? Mit aller Kraft warf sie sich in Justins Arme.   Davon völlig überrumpelt, stand er kurz einfach nur regungslos da, während Vivien ihre Arme um seinen Brustkorb schlang. „Es tut mir leid.“, sagte Justin und kam sich auch dabei blöd vor. Er verstand die Situation nicht und hatte keine Ahnung, was die richtige Handlungsweise war. Im Kampf hatte er immer schnell einen Plan parat, wusste, was er tun musste: Er musste die anderen beschützen. Aber er war ein Versager, wenn es um den Umgang mit Menschen ging. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er sich einfach von Menschen fernhielt. Er konnte nicht wissen, dass seine Worte für Vivien wie eine Belohnung dafür waren, dass sie gerade ihren ganzen Stolz über Bord geworfen hatte. Die Hände immer noch halb um seinen Oberkörper geschlungen, machte sie einen halben Schritt zurück. Das war notwendig, um ein vernünftiges Gespräch führen zu können, denn in seinen Armen fühlte sie sich sicher und geborgen, und wenn man sich sicher und geborgen fühlte, dachte man nicht. Sie sah zu ihm auf und fühlte ihre Wangen unwillkürlich vor Freude glühen, als sie seinen hochroten Kopf bemerkte. „Secret hat einen guten Grund.“, begann sie. Justin sah sie verwundert an. „Es sind seine Gefühle. Er muss das tun, sonst –“ Sie drehte ihren Kopf zur Seite, weil ihr die Worte erst in diesem Moment kamen. „Sonst leidet er.“ Ihr Gesicht verzog sich vor Mitgefühl. Sie erinnerte sich daran, wie Erik geklungen hatte, als er sie weggeschickt hatte. ‚Geh.‘ Sie hatte ihm Schmerzen zugefügt, ohne es zu wollen. Genau wie Justin ihr Schmerz zugefügt hatte, ohne es zu wollen. Sie hob ihren Kopf, um Justin wieder in die Augen zu sehen. „Tut mir leid.“ Er schien gar nichts mehr zu begreifen. Vivien lehnte ihren Kopf gegen sein Brustbein. „Ich war gemein zu dir.“ Justin konnte dieser Unterhaltung beim besten Willen nicht mehr folgen. Nicht zuletzt, da die Körpernähe zu Vivien seinen Kopf zwar mit reichlich Blut versorgte, gleichzeitig jedoch die Sauerstoffzufuhr seines Körpers kurzzeitig unterbrach und ein schwummriges Gefühl in seiner Stirn verursachte. „Justin, wenn… wenn ich dich verletzen würde, würdest du mir dann wehtun wollen?“, fragte sie und sah erneut zu ihm auf. Justin schüttelte entschieden den Kopf. Das stimmte wohl. Er würde ihr nie wehtun, egal was sie ihm antäte. Ein leicht trauriger Ausdruck erschien auf Viviens Zügen. Er war ein so viel besserer Mensch als sie es war. Auch dafür liebte sie ihn. „Ich würde dir wehtun.“, gestand sie. „Sehr.“ Kummer und Sorge zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. „Könntest du mir das verzeihen?“ Justin nickte verwirrt. Wieder lehnte sie sich gegen ihn. In diesem Moment wurde eine der Türen geöffnet und Viviens Mutter trat in die Diele. „Huch!“ Vivien drehte sich halb zu ihr, während Justin zur Salzsäule erstarrt war. „Wer –“ Justin war hochrot und brachte keinen Ton heraus. Endlich ließ Vivien seinen Brustkorb los und wandte sich vollständig zu ihrer Mutter um. „Das ist Justin.“ „Ach ja! Ich habe ihn erst gar nicht erkannt.“ Ein freundliches Lächeln trat auf Frau Baums Gesicht. Sie hatte den Nachbarsjungen zwar kurz nach dem Einzug der Familie Boden getroffen, aber seither keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, außer über die Beschreibungen ihrer Tochter. „Ich habe schon sehr viel von dir gehört.“ Kurz hielt sie inne. „In der Tat sehr, sehr viel.“ Vivien kicherte. „Entschuldigt. Ich wollte nicht stören. Ihr seid wohl vor den Kleinen geflüchtet. Die lassen euch sicher keine Minute allein. Aber im Keller ist es um diese Jahreszeit etwas kalt.“, sagte ihre Mutter, wohl mit Bezug auf die noch brennende Beleuchtung im Keller. „Was rede ich da, euch wird sicher nicht kalt werden.“, lachte sie dann. „Lasst euch nicht stören.“ Mit diesen Worten verschwand sie wieder durch die Tür, aus der sie gekommen war. Vivien kicherte nochmals. Wenn ihre Mutter Justin richtig gekannt hätte, wäre sie sicher nicht auf die Idee gekommen, dass sie beide in den Keller gehen wollten, um ungestört zu knutschen. Allein die Andeutung hätte Justin vermutlich in Ohnmacht fallen lassen. Apropos. Vivien drehte sich wieder zu ihm um. Wie erwartet hatte Justin die Augen weit aufgerissen und war noch immer ganz rot im Gesicht. „Du hast keine Schuhe.“, sagte sie und riss ihn damit aus dem Delirium. „Ja.“, bestätigte er kleinlaut. „Warte, ich gebe dir welche von meinem Papa und gehe schnell mit dir rüber zu dir.“ Sie suchte im Schuhschrank nach einem passenden Paar. „Ich hoffe, du passt hinein.“ Sie reichte Justin ein Paar Joggingschuhe und erkannte, dass er ein Gesicht zog, als wäre ihm etwas schrecklich peinlich. „Das ist kein Problem, Justin. Wir gehen kurz zu dir und ich nehme die Schuhe dann wieder mit.“ „Ich habe keinen Schlüssel.“, presste er hervor. In einer Mischung aus Mitleid und Rührung lächelte Vivien. Obwohl er weder Schuhe noch einen Haustürschlüssel dabei hatte, war er bei ihr geblieben, anstatt sich von Vitali nach Hause teleportieren zu lassen. „Kein Problem. Ich gehe mit dir rüber und erkläre das Ganze.“ Justin schaute skeptisch. Vivien bedeutete ihm, sich auf die Treppe, die ins Obergeschoss führte, zu setzen. Er folgte der Aufforderung und schlüpfte in die Schuhe. Sie waren ein ganzes Stück zu klein, aber die kurze Strecke würde er es überleben. Besser als in Socken vor seiner Haustür zu stehen. „Justin?“ Er sah zu Vivien auf, die vor ihm stehen geblieben war.   „Danke, dass du bei mir geblieben bist.“ Sie beugte sich zu ihm, ihre warme Hand berührte sein Gesicht, dann spürte er wie ihre weichen Lippen auf seine Wange gepresst wurden. Wen interessierten zu kleine Schuhe oder die Peinlichkeit, jetzt bei sich zu Hause klingeln und erklären zu müssen, was geschehen war?!! Justin schwebte auf Wolke Sieben. Vielleicht… ja vielleicht würde sie ihn irgendwann tatsächlich mögen. Vielleicht.   Dass Justin über den Kuss so erfreut war, machte Vivien glücklich, und so begleitete sie ihn grinsend zu seinem Haus hinüber. Vor seiner Tür angekommen, nahm sie ihn nochmals bei der Hand. Sie sah im Augenwinkel, dass er sich verwundert zu ihr drehte, tat ihm aber nicht den Gefallen, ihm ihr Verhalten zu erklären. „Du solltest klingeln.“ Beschämt nickte er und betätigte die Klingel. Für Momente geschah nichts. Vivien beugte sich an ihm vorbei und klingelte kurzerhand Sturm. Etwas, das Justin selbst nie im Leben gewagt hätte. Endlich ging ein Licht jenseits der Tür an. Es dauerte weitere Momente, ehe eine genervte Jungenstimme fragte: „Wer ist da?“ „Ich bin’s.“, rang sich Justin durch zu sagen. „Justin.“ Der Schlüssel wurde gedreht und die Tür aufgezogen. „Kannst du keinen Schlüssel mitnehmen?“, schimpfte Gary, ehe er mit einiger Verwirrung Viviens Anwesenheit bemerkte. Dann blieb sein Blick daran hängen, dass Vivien und Justin Händchen hielten. Vivien lehnte sich absichtlich noch etwas näher zu Justin und legte ihm die noch freie Hand auf den Arm. „Entschuldige. Ich habe ihm vorhin nicht die Zeit gelassen, noch einen Schlüssel mitzunehmen. Ich bin manchmal etwas zu stürmisch.“ Kichernd warf sie einen lasziven Blick auf Justin, weil sie wusste, dass das ihren Worten in den Augen eines hormongesteuerten Jugendlichen eine ganz andere Bedeutung geben würde. Dicker konnte sie leider nicht auftragen, weil sie wusste, dass Justin ihr Verhalten sonst wieder als Hohn fehlgedeutet hätte. Das hatte sie mittlerweile gelernt. Daher blieb sie absichtlich bei so subtilen Andeutungen, dass Justin sie nicht einmal als solche wahrnahm. Gary indes hatte das Gesicht verzogen, als würde er die Szene nicht fassen können, was genau dem entsprach, was Vivien beabsichtigt hatte. Aus ihren Gesprächen mit Justin auf dem Schulweg hatte sie herausgehört, dass Justins Bruder ihn öfters aufzog und nicht gerade dazu beitrug, dass Justin ein gesundes Selbstvertrauen entwickelte. Als habe sie nur Augen für Justin, drehte sie sich wieder zu ihm. „Wir sehen uns morgen.“ Sie ließ Justins Linke los und griff mit beiden Händen nach seinem Kopf, um ihm einen weiteren Kuss zu geben, dieses Mal auf die Backe, weil sie aufgrund ihrer Größe auch auf Zehenspitzen und trotz ihres Versuchs, seinen Kopf mit den Händen etwas in ihre Richtung zu neigen, nicht ganz bis zu seiner Wange reichte. Gerne hätte sie ihm auch noch etwas ins Ohr geflüstert, aber aus den gleichen Gründen konnte sie das leider nicht. Sie drehte sich um und lief wieder zu ihrem Haus hinüber, ohne sich noch einmal umzuwenden. Nachdem Justin eingetreten war, schloss Gary die Tür. „Sag bloß…“ Er drehte sich zu Justin. „Bist du endlich mal ein Mann gewesen!“ Justin schaute seinen Bruder an, als wäre er gestört. „Wuuh. Die Kleine ist ja ziemlich schnell dabei.“ Justins Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Gary klopfte ihm auf den Rücken. „Und wie war’s? Ich hoffe, du hast nicht versagt.“ „Wovon redest du?“, fragte Justin genervt. „Ich bin dein Bruder, mir kannst du’s doch erzählen. Hat die Kleine was drauf? Jungfrau oder mit Erfahrung? Naja, muss ja Erfahrung haben, sonst wäre das bei dir sicher schief gegangen.“ Purer Zorn entflammte auf Justins Gesicht. „Ach, sei nicht eingeschnappt. Ich war auch mal Jungfrau.“ Ekel verzerrte Justins Züge. Sein Bruder war einfach widerlich! Er lief an ihm vorbei, wobei er wieder die Schuhe spürte. Er hatte vergessen, sie Vivien wieder mitzugeben. In der gleichen Sekunde tauchte Ewigkeit neben ihm auf. „Vereinen sagt, du sollst ihr die Schuhe morgen geben.“, verkündete sie. Justin nickte, woraufhin Ewigkeit lächelnd verschwand. Er entledigte sich der Schuhe. Keinen Moment zu früh. Jeder Schritt war eine Qual gewesen. „Echt jetzt? Du willst mir nichts, aber auch gar nichts von deinem ersten Mal erzählen?“, laberte Gary. „Wovon redest du eigentlich?“, brüllte Justin aufgebracht. Dieses ganze Gequatsche vom ersten Mal machte ihn wahnsinnig! Nur weil Gary ein oberflächlicher, sexbesessener Vollidiot war, hieß das nicht, dass er sich diesen Schwachsinn anhören musste! Plötzliche Ernüchterung zeigte sich auf Garys Gesicht. „Ach, eben hätte ich fast geglaubt, du hättest mal Eier gehabt und es der Kleinen besorgt.“ Wutverzerrt fuhr Justin ihn an. „Wenn du noch einmal so über sie redest, dann–“ „Du bist schwächer als ich.“, unterbrach Gary. Richtiger war, dass Gary gewaltbereiter war und Justin noch nie gut darin, sich gegen Gewalt, deren Anlass er nicht verstand, zu wehren. Außerdem hatte Gary ihn nicht mehr drangsaliert, seit Justin den Wachstumsschub bekommen hatte, durch den er einen halben Kopf größer als sein Bruder geworden war, was mittlerweile über ein Jahr her war. „Mann, du tust ja grade so, als wäre Sex ein Verbrechen.“ Justin schnaubte und lief die Treppe hinauf. Leider ließ Gary noch immer nicht locker und folgte ihm einfach. „Das ist was ganz Natürliches!“ Im ersten Stock angekommen, drehte sich Justin zu seinem Bruder um. „Kannst du dich einfach um deinen Kram kümmern?“ „Ich versuche dir nur zu helfen! So, wie die Kleine dich eben angemacht hat, wirst du mir in Kürze dafür dankbar sein!“ „Hör auf von ihr zu reden, als würde sie –“ Justin stieß ein wütendes Grollen aus. „Sag bloß, du hast das nicht gemerkt.“ Gary klopfte ihm auf den Rücken. „Junge, du brauchst meine Hilfe ja noch viel dringender als ich dachte!“ „Halt die Klappe!“, fuhr Justin ihn an. „Vivien ist nicht so ein Mädchen!“ „Du meinst ein Mädchen, das Sex hat? Ist sie ein Cyborg?“ „Halt die Klappe!“, wiederholte Justin und stürmte in Richtung seines Zimmers. „Wenn du ihr nicht gibst, was sie will, lässt sie dich ganz schnell fallen!“ Justin wirbelte herum. „Wir sind – Sie –“ Vor Empörung hyperventilierte er fast. Gary legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Ganz ruhig, Junge. Viele haben Angst vorm ersten Mal. Dafür brauchst du dich nicht schämen. Wichtig ist, dass du es trotzdem durchziehst. Die Erfahrung macht’s.“ Justin war kurz davor zu platzen. „Sie ist fünfzehn!“, schrie er, als wäre sie dadurch noch ein unschuldiges Kind. Dabei ging es überhaupt nicht darum! Selbst wenn sie älter gewesen wäre, älter als er, hätte er niemals auch nur daran – … Justin biss die Zähne zusammen. Ganz so stimmte das nicht. Aber er war nicht stolz darauf. Er hätte sich immer selbst dafür ohrfeigen können, wenn er für Sekundenbruchteile ihrem Körper zu viel Beachtung schenkte oder unwillkürlich aufblitzende Gedanken Vivien zu etwas machten, was er ihr nicht antun wollte. Er schämte sich dafür. Zwar hatte er sie sich noch nie nackt vorgestellt, nicht willentlich, aber selbst ohne das spielten seine Hormone verrückt. Wenn sie nachts in seinen Träumen vorkam, genügte ein bestimmter Blick von ihr, wenn sie sich zu ihm beugte, oder sie einfach nur dastand, dass sein Körper reagierte. Er hasste sich dafür, wusste aber gleichzeitig, dass er nichts dagegen tun konnte. Und dass wenigstens nie etwas Explizites in seinen Träumen vorkam, diente ihm als kleiner Trost, der sein Selbstbild aufrechterhielt und ihm als Verteidigung gegen ein schlechtes Gewissen diente. „Ist sie überhaupt noch Jungfrau?“, fragte Gary. Justin biss die Zähne zusammen und hasste sich dafür, auch nur über diese Frage nachzudenken. Er wollte sich nicht vorstellen, dass Vivien mit irgendjemandem – Er wandte sich ab. Der Gedanke war zu schrecklich. Andererseits war Vivien nicht wie er. Sie war viel lockerer und selbstbewusst und hatte keine Probleme mit körperlicher Nähe. Augenblicklich fühlte er Frustration. Wahrscheinlich hatte selbst der Kuss auf die Wange nichts zu bedeuten. Wenn er es recht bedachte, war das ein Zeichen für Freundschaft, nicht mehr. Er Dummkopf hatte natürlich wieder sonst was hineininterpretiert. Für Vivien musste es etwas ganz Normales, Unverfängliches sein, einen Jungen auf die Wange zu küssen. Was sollte sie auch an ihm finden? Seine Stimme verlor an Kraft. „Lass mich einfach in Ruhe.“, flüsterte er resigniert und verschwand in seinem Zimmer, ohne auch nur zu ahnen, dass derweil im Haus gegenüber der Gedanke an ihn ein Lächeln auf Viviens Lippen zauberte. Kapitel 106: [Plötzlich verfeindet] Opfer und Täter --------------------------------------------------- Opfer und Täter   „Das Opfer vergisst nicht so schnell wie der Täter.“ (Gert von Paczensky)   Nach dem Vorfall in der Finster GmbH hatte Ewigkeit das Verhalten der Beschützer mit einiger Besorgnis verfolgt. Wie die fünf ihr befohlen hatten, war sie nicht wieder zu dem unheimlichen Jungen gegangen. Stattdessen hatte sie sich von einem Beschützer zum anderen teleportiert, um auf sie aufzupassen. Die fünf waren jedoch so sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft gewesen, dass sie ihrer Anwesenheit nicht einmal wahrgenommen hatten. Schicksal hatte niedergeschlagen gewirkt, derweil hatte Vertrauen den Eindruck gemacht, von Schuld- und Ohnmachtsgefühlen gequält zu werden. Während Ewigkeits Visite hatte Wunsch das Gesicht zumeist in ihren Kissen vergraben gehabt, Vereinen indes war ungewöhnlich still und nachdenklich in ihrem Zimmer gesessen. Einen ganz anderen Anblick hatte Verändern geboten. Zunächst war er mit wütender Miene einfach da gesessen, dann war er aufgesprungen und in seinem Zimmer auf und ab getigert, hatte dabei aufgebrachte Gesichter gezogen, und immer wieder wild mit den Armen gestikuliert, als würde er in Gedanken jemanden anschreien. Von allen fünf Beschützern war seine Vorstellung auf jeden Fall die unterhaltsamste gewesen, weshalb Ewigkeit sich erst nach einer Weile davon hatte loseisen können. Als die Beschützer schließlich zu Bett gegangen waren, hatte Ewigkeit jeweils eine Viertelstunde über den Schlaf eines jeden von ihnen gewacht, ehe sie sich zum nächsten begeben hatte. Auch davon bemerkten die fünf nichts. Allein Vertrauen, der offenbar keinen Schlaf finden konnte, hatte ihr mehrfaches Erscheinen mitbekommen und hatte kurz mit ihr darüber gesprochen, war dann jedoch in ein tiefes Schweigen verfallen. Die nächsten Male hatte er sie nicht mehr angesprochen, auch wenn sie erkannt hatte, dass er sich noch immer unruhig hin und her wälzte in einem vergeblichen Versuch, endlich einzuschlafen. Stumm war sie in einer Ecke seines Zimmers gesessen wie ein unerkannter Schutzgeist und hatte sich schließlich wieder zum nächsten Beschützer teleportiert. Es wurde fünf Uhr morgens, dann kurz vor sechs. Ewigkeit wusste, dass die Beschützer in Kürze erwachen würden, auch wenn es draußen noch dunkel und trostlos aussah. Weitere Minuten saß sie da und überlegte. Die Beschützer hatten nur gesagt, sie dürfe in der Nacht nicht zu dem Jungen gehen. Die Nacht war nun um. Wenige Minuten wartete sie noch, dann stand sie auf und teleportierte.   Ewigkeits Augen waren bereits an die Dunkelheit gewöhnt, als sie in seinem Zimmer erschien. Der schwarzhaarige Junge lag reglos da. Ewigkeit sah sich um, aber sie konnte keine weitere Gefahrenquelle entdecken. Vorsichtig schwebte sie näher an den Jungen heran, darauf gefasst, schnellstmöglich zu flüchten, wenn er eine verdächtige Bewegung machte. Vielleicht stellte er sich ja nur schlafend. Obwohl sie sich langsam bewegte, war ihr leiser Glöckchenklang zu vernehmen und ließ erst nach, als sie in direkter Nähe zu ihm stehenblieb. Je näher sie kam, desto argloser und unschuldiger wirkte der Junge auf sie. Das Dunkel seiner Wimpern – als würde eine sternenklare Nacht darin ruhen – sah so mild und verletzlich aus, wie etwas, das nie das Sonnenlicht gesehen hatte und vom grellen Alltag unberührt geblieben war. Niedlich wie ein Kind lag er mit ruhigen Atemzügen in seinem Bett, als könne man ihn mit einem Ausbreiten der Arme aufnehmen, so klein erschien er ihr. Dabei waren Ewigkeits Arme nicht einmal dazu geeignet, sein ganzes Gesicht zu umschließen. Mit einem Mal begannen die Augenlider des Schlafenden leicht zu flattern. Überstürzt suchte Ewigkeit hinter der kleinen Lampe auf dem Nachttischchen Schutz und verursachte dabei ein wildes Schellen und Klingeln wie ein vom Sturmwind durcheinanderwirbelndes Windspiel. Ein Brummen ertönte und Ewigkeit lugte vorsichtig hinter der Nachttischlampe hervor. Der Junge fasste sich an die Stirn, bewegte sich dann nicht mehr, brummte nochmals und – seine Hand bewegte sich in ihre Richtung! Panisch teleportierte Ewigkeit in weitere Entfernung. Einen Meter vor dem Bett, jenseits seiner Reichweite, erschien sie wieder. Von hier aus erkannte sie, dass seine Hand nach etwas auf seinem Nachttisch griff:  sein Smartphone. Er hob es über sein Gesicht und kontrollierte mit einem Knopfdruck die Uhrzeit. Sie hörte ihn ausatmen und sah wie er das Smartphone wieder weglegte und noch einen Moment liegenblieb. Er bedeckte seine Augen mit beiden Händen und machte eine Bewegung, als wolle er sich das Gesicht waschen oder unliebsame Nachtgespenster daraus vertreiben. Er setzte sich auf und hielt sich den Kopf, wirkte leicht benommen. Ewigkeit wartete und wich weiter von ihm weg, als er aufstand. In sicherer Entfernung folgte sie ihm, als er sich auf seine Zimmertür zu bewegte. Ihre Glöckchenlaute schien er nicht zu vernehmen. Dennoch blieb sie auf der Hut, vielleicht wollte der Junge sie auch nur in Sicherheit wiegen.   Erik war irritiert. Er hatte gestern offenbar vergessen, seinen Wecker zu stellen, überhaupt konnte er sich nicht mehr an den Abend erinnern. An ihm haftete ein ekelhaftes Gefühl. Seine Brust fühlte sich an, als habe jemand ein schwarzes Loch hineingeschabt. Irgendwas an ihm war ihm fremd und unvertraut. Wahrscheinlich hatte er einen schlechten Traum gehabt. Wie in letzter Zeit so häufig. Wie gerne hätte er das fremdartige Gefühl einfach von sich abgestreift. Stattdessen entledigte er sich, im Badezimmer angekommen, seines sich seltsam klamm anfühlenden Oberteils. Er musste gestern plötzlich eingeschlafen sein, ohne noch seinen Schlafanzug anzuziehen. Vielleicht hatte er ja Fieber gehabt, dass hätte den Schweiß erklärt. Er wusch sich das Gesicht und versuchte sich der Nebelschleier fremdartiger Ahndungen zu entledigen, die unsichtbar wie Spinnenfäden an ihm klebten. Selbst als er kaltes Wasser über seinen Kopf laufen ließ, half das nur bedingt und das Duschen fiel ihm ungewöhnlich schwer, als wäre das Wasser heute etwas Feindliches, von dem er sich nicht berühren lassen wollte. Oder lag es an seinem Körper? Er wurde das Fremdheitsgefühl einfach nicht los. Er lehnte seine Stirn gegen eine der Duschwände und bemühte sich, seinen Körper wieder richtig wahrzunehmen, doch jedes Mal, wenn er das versuchte, wurde es schlimmer. Schließlich packte er ein Handtuch und trocknete sich ab.   Würde Erik in der Schule wieder der Alte sein? Würde er sich wirklich an nichts erinnern? Und wenn ja, wie sollten sie sich ihm gegenüber verhalten? Würde er sie in der Schule angreifen, wenn er wieder zum Bedroher geworden war, oder würde er gar nicht erst kommen? Zu viele Fragen gingen an diesem Morgen in den Köpfen der fünf hin und her und hielten sie davon ab, logisch zu denken oder irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Vielleicht hätten sie sich vorher treffen sollen, vielleicht hätten sie gemeinsam auf Eriks Schulweg auf ihn warten sollen. Vielleicht hätten sie auch zu Hause bleiben sollen. Die Entscheidungen waren zu viele. Daher hatten sie sich überhaupt nicht entschieden. Sie waren einfach zur Schule gelaufen, obgleich dieser Tag nicht war wie jeder Tag. Serena und Ariane wagten nicht, das Thema anzusprechen. Schweigend liefen sie zur Schule, ängstlich und zögerlich, als wollten sie den Moment hinauszögern, in dem sie erfahren würden, wem sie in der Schule gegenüberstehen würden: Erik oder Secret. Auch Vivien und Justin hielten sich nicht mit Gesprächen auf. Vivien schlug ein so hohes Tempo an, als könne sie die Minuten, die sie noch von einem Zusammentreffen in der Schule trennten, kaum noch ertragen. „Vivien.“ Justin eilte ihr hinterher. „Ich will vorher noch mit den anderen sprechen.“, sagte Vivien. „Ich muss ihnen erzählen, was gestern passiert ist.“ Justin schwieg. Er wusste noch immer nicht, was zwischen Vivien und Erik vorgefallen war. Zu ihrer Überraschung trafen Vivien und Justin in der Schule bereits auf Vitali, nur von den Mädchen war noch keine Spur. Vitali wirkte aufgekratzt und verwickelte Justin sofort in ein Gespräch, das einzig aus Schimpftiraden über Erik bestand und bei dem Justin nicht zu Wort kam. Derweil holte Vivien ihr Handy hervor und rief Ariane an, um zu erfahren, wie lange sie und Serena noch brauchen würden. Da Vivien nicht auf das Ankommen der Mädchen warten und sie und die Jungs einem unvorhergesehenen Zusammentreffen mit Erik aus dem Weg gehen wollten, begaben sie sich in den Aufenthaltsraum im Gartengeschoss der Schule. Vivien begann Justin und Vitali – sowie Ariane und Serena am Telefon – zu erzählen, was bei ihrem Besuch bei Erik geschehen war. „Warum hast du uns davon nichts erzählt?“, forderte Arianes aufgewühlte Stimme aus dem Lautsprecher zu erfahren. „Ich wollte es euch sagen, nachdem wir uns in der Finster GmbH umgeschaut hätten.“, erklärte Vivien. „Aber nach allem, was dann passiert ist –“ Sie brach ab. „Wir sind jetzt da. Am Haupteingang.“, informierte Serenas Stimme. „Okay.“, sagte Vivien. „Bis gleich.“ Sie legte auf. Sie und die Jungs liefen wieder die Treppe nach oben. Im Foyer vor dem Haupteingang warteten Serena und Ariane.   Sobald sie in Hörweite waren, rief Serena aufgebracht: „Du hättest das nicht machen sollen!“ Dabei war Vivien davon ausgegangen gewesen, dass Ariane diejenige sein würde, die sie anschrie. Justin trat vor Vivien, wie um sie aus der Schussbahn zu nehmen. „Sie hat nicht wissen können, -“ „Sie hätte verletzt werden können!“, schrie Serena. Vivien stockte. Serenas Aufregung war ihr anzusehen. „Was, wenn er sich da schon verwandelt hätte? Wir hätten nicht mal gewusst, wo du bist! Bist du völlig irre?!“ Keiner sagte etwas. Ariane drehte sich zum Haupteingang in Erwartung von Eriks Ankunft. „Wenn der Spinner kommt, kriegt der was von mir zu hören!“, beschwerte sich Vitali. Ariane starrte nur weiter auf den Eingang, durch den andere Schüler geströmt kamen. Keiner machte Vitali darauf aufmerksam, wie bescheuert sein Plan war, Erik zu maßregeln. Ebenso wenig wagten sie es, die Frage laut auszusprechen, ob Erik, wie sie ihn kannten, überhaupt noch existierte. Sie wandten sich allesamt dem Haupteingang zu wie ein unangenehm angespanntes Begrüßungskomitee, das den Zerstörer der Welt in Empfang nehmen sollte. Sie warteten. Erik kam nicht. Ariane nahm ihr Handy wieder zur Hand und wählte Eriks Nummer aus, zögerte aber. Unsicher sah sie die anderen an und drückte dann Anrufen. Sie stellte auf Lautsprecher. Jedes Rufzeichen war eine Zerreißprobe für ihre angespannten Nerven. Aufgeregt warteten die fünf darauf, dass jemand abnahm, und wussten nicht, ob sie sich diesen Moment herbeisehnten oder es ihnen lieber gewesen wäre, wenn sich niemand meldete. Noch immer piepste es bloß. Dann plötzlich der Klang, dass der Anruf entgegengenommen wurde. Eine endlos entnervte Stimme drang vom anderen Ende, als würde der Sprecher dem Anrufer einen bitteren Vorwurf machen wollen. „Hallo?“ Ariane bekam keinen Ton heraus. „Bist du’s?!“, rief Vitali an ihrer Stelle viel zu laut in das Mobiltelefon. Schweigen. „Erik!“, schrie Vitali aufgeregt, als würde er fürchten, sein Freund würde gerade von Terroristen entführt werden. „Wer soll’s sonst sein?“, knurrte Eriks Stimme. Nun hatte auch Ariane ihre Stimme wiedergefunden. „Wo bist du?“, fragte sie besorgt. „In der Schule, wo sonst? Die Herbstferien sind um, falls ihr das noch nicht gemerkt habt.“ Die Entnervtheit seiner Stimme erreichte einen neuen Höhepunkt. „Im Klassenzimmer?“, hakte Ariane nach. Erik gab erst gar keine Antwort darauf. „Und du bist normal?!“, fragte Vitali ungläubig schrill. Erik legte auf. „Ich brauche keine Eskorte zum Klassenzimmer.“, sagte eine Männerstimme und die fünf erkannten Herrn Mayer, ihren Wirtschaftslehrer, der gleichzeitig ihr Klassenlehrer war, hinter sich. Er warf ihnen einen vielsagenden Blick zu, denn gerade läutete es zum Unterrichtsbeginn. Die fünf verstanden und begaben sich von ihrem Lehrer gefolgt zu ihrem Klassenzimmer. Dort angekommen, blieben sie jedoch direkt in der Tür stehen, wie um Herrn Mayer nicht durchzulassen. An seinem üblichen Platz saß Erik und warf ihnen einen finsteren Blick zu. Um seinen Kopf schwebte Ewigkeit.   Die fünf, Vitali und Ariane voran, blieben bei seinem Anblick abrupt stehen. Erik warf ihnen einen distanzierten, wenig freundlichen Blick zu, ehe er Herrn Mayers Stimme hinter den fünfen vernahm. „Bleibt nicht mittendrin stehen. Rein mit euch!“ Noch eine Millisekunde zögerten die fünf. Dann erst setzten sie sich wieder in Bewegung, wobei sie ihn keine Sekunde aus den Augen ließen, als wäre er ein seltenes Naturphänomen oder eine näherkommende Naturkatastrophe. Erik drehte sich weg. Wer wusste, was Ariane und Vivien den anderen erzählt hatten. Sowohl sein Auseinandergehen mit Ariane auf Finsters Geburtstagsfeier als auch das gestrige Zusammentreffen mit Vivien waren alles andere als erfreulich verlaufen… – War ihm doch egal, was die anderen jetzt von ihm dachten! Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Herrn Mayer und nahm sich vor, nicht länger jegliche Sekunden an diese fünf Spinner zu verschwenden, mit denen er nichts zu tun hatte. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.   Während Herr Mayer die Klasse begrüßte und mit dem Unterricht begann, rief Justin per Telepathie Ewigkeit zu sich. Sofort folgte sie seinem Aufruf. ○ Was ist passiert?, fragte er sie gedanklich. „Ich hab auf ihn aufgepasst!“, verkündete Ewigkeit stolz. „Er wird euch nichts tun.“ Sie lächelte und fügte dann etwas kleinlauter an: „Glaub ich…“ Ariane und Serena hatten sich auf Ewigkeits Worte hin zu Vivien und Justin umgedreht. „Er scheint wieder normal zu sein.“, wiederholte Serena an Ariane gewandt, wohl um diese nochmals zu beruhigen. Ariane nickte schwach und sah dann wieder in Eriks Richtung. Doch Erik schien bewusst keine Notiz von ihr oder den anderen zu nehmen. Selbst Vitali wurde von ihm ignoriert. Zumindest versuchte er nicht, sie zu töten. „Hier spielt die Musik.“, rief Herr Mayer und ermahnte Serena und Ariane, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.   Als die erste Doppelstunde Wirtschaft beendet war, getraute sich selbst Vitali nicht, Erik anzusprechen. Hilfesuchend blickte er zu den anderen, während Erik sich demonstrativ mit seinem Smartphone beschäftigte. Schweigend tauschten alle fünf Blicke aus. Nicht einmal Vivien schien den Mut zu haben, ihn anzusprechen. Ewigkeit, die bis dahin noch damit beschäftigt gewesen war, Erik zu beobachten, erschien zwischen ihnen. Sie begutachtete einige Momente das Verhalten der Beschützer. „Mögt ihr ihn jetzt nicht mehr, weil er böse ist?“ „Er ist nicht böse!“, platzte Ariane heraus. Von dem Ausruf aufgeschreckt, sah selbst Erik in ihre Richtung. Schnellstens wandte Ariane ihren Blick ab. Keiner von ihnen sah in Eriks Richtung, keiner sagte ein Wort. „Warum redet ihr dann nicht mit ihm?“ Manchmal stellte Ewigkeit einfach zu dumme Fragen! Merkte sie denn nicht, was für eine angespannte Stimmung herrschte? Außerdem: Was hätten sie denn sagen sollen? Jedes Thema kam ihnen belanglos vor angesichts dessen, was gestern geschehen war. Und darüber konnten sie nicht reden. Erik atmete geräuschvoll aus. Alle wandten sich in seine Richtung, als warteten sie darauf, dass er irgendetwas tat.   Erik packte sein Smartphone weg, ohne Vitali anzuschauen. Er rang mit sich. Er hätte einfach fragen können, wie der Jungs-Abend gewesen war. Aber er wollte nicht auf Heile Welt machen, wenn die anderen ihn für einen Irren hielten, der Ariane beleidigte und Vivien aus dem Haus warf. Und wenn er eines ganz sicher nicht tun würde, dann sich entschuldigen. Eher würde er sterben. Wenn es ihnen nicht passte, wie er sich verhielt, dann sollten sie sich einfach von ihm fernhalten! Das kam ihm gerade recht. Er wollte sowieso nichts mehr mit ihnen zu tun haben! Er würde sich einfach einen anderen Sitzplatz suchen und nicht mehr mit ihnen reden. „Tut mir leid!“, schrie es plötzlich und Erik drehte sich perplex in Viviens Richtung. „Tut mir leid!“ Vivien schluchzte und starrte Erik mit weinerlichem Gesichtsausdruck an. „Es tut mir wirklich leid.“ Erik wusste beim besten Willen nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Ich wollte dich nicht nerven.“, heulte Vivien. „Erik.“ Erik stierte sie sprach- und hilflos an. „Sei mir nicht böse!“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen und verwirrt verzogenem Mund suchte Erik nach einer Entgegnung. Schließlich stöhnte er entnervt und hielt sich die Stirn. „Ich bin nicht böse.“, knurrte er halblaut. „Was?“, schluchzte Vivien umso lauter. „Ich bin nicht böse!“, schrie Erik. Vivien sah ihn mit großen Augen an. „Wirklich?“ Erneut stöhnte Erik, während der Teil seines Fanclubs, der in der Pause nicht das Klassenzimmer verlassen hatte, zu tuscheln anfing. Nochmals genervt die Luft ausstoßend, schob Erik seinen Stuhl zurück. erhob sich abrupt und stapfte mit betont männlich festem Schritt um seinen Tisch herum zu Vivien, neben deren Tisch er stehenblieb und auf sie herabblickte. Ab da versagte ihm offenbar der Mut, denn er sagte nichts mehr. „Sind wir immer noch Freunde?“, fragte Vivien mit großen Kulleraugen. Erik sog nur die Luft ein und stieß sie wieder aus. Alle fünf schienen auf seine Antwort zu warten. Eine Antwort, die er nicht geben wollte. „Natürlich.“, sagte Serena leise. Erik starrte sie an, woraufhin sie beschämt den Blick senkte. Er konnte nichts entgegnen. Vielleicht kannte er auch einfach die Antwort nicht. Er wollte keine Freunde. Er hatte noch nie Freunde gewollt! Freunde waren etwas für schwache Menschen, die nicht alleine zurechtkamen. ‚Ich brauche keine Freunde‘, ging es ihm durch den Kopf. Er wollte es laut aussprechen und ihnen den Satz wie einen Vorwurf an den Kopf knallen. Nur weil er nett zu ihnen gewesen war, brauchten sie sich nichts darauf einbilden. Man war auch nett zu Leuten, die man nicht leiden konnte, wenn die Situation es gebot. Nettigkeiten waren nur dazu da, mit Menschen ausgetauscht zu werden, mit denen man versuchte gut auszukommen. Freundschaft – Pah! ‚Wir waren nie befreundet.‘, klang es in seinem Kopf, ohne dass er die Worte ausgesprochen hätte. Schließlich biss er die Zähne zusammen. Seine Stimme wurde hart: „Du weißt doch gar nicht, was Freundschaft ist.“ Vivien starrte ihn an. Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, verließ Erik das Klassenzimmer. Entsetzt sahen die anderen ihm nach. Ewigkeit nahm sofort die Verfolgung auf.   Shit! Was hatte er sich dabei gedacht? Erik lief zum Treppenhaus. Es war gemein, so etwas zu sagen. Aber er konnte es nicht bereuen. Auch konnte er nicht umhin, eine tiefe Wahrheit in seinen Worten zu entdecken. Was wusste Vivien schon von Freundschaft? Sie war immer nur gut gelaunt und fröhlich. Wenn sie etwas von Freundschaft verstanden hätte, hätte sie gewusst, dass man mit ihm nicht befreundet sein konnte. Er war niemand, der andere Menschen an sich heran ließ. Er wollte niemandem wehtun, aber noch weniger wollte er, dass jemand anderes ihm – Nein, nicht wehtat. Er war am Fenster des Treppenhauses angekommen und sah hinaus. Er wollte nicht, dass jemand anderes ihn sehen konnte. Ihm nahe kam. Wie das Wasser am Morgen – es ekelte ihn von anderen berührt zu werden. Es war ein entsetzliches Gefühl. Freundschaft hieß, berührt werden zu wollen. Hinter sich konnte Erik die schnatternden Stimmen von Mädchen und Schritte auf der Treppe hören, die heraufkamen. Abrupt brachen die Geräusche ab. Erik drehte sich um und stand drei Mädchen gegenüber, die ihn ängstlich anstarrten und den Anschein machten, als würden sie sich nicht trauen, an ihm vorbei zur Treppe in den nächsten Stock zu gehen. Erik machte einen Schritt zur Seite, um den Mädchen zu demonstrieren, dass sie ohne Sorge an ihm vorbeigehen konnten. Hastig huschten die drei hintereinander an ihm vorbei, wie um schnellstmöglich seiner Nähe zu entkommen. Er sah ihnen schweigend nach. Genau so musste sein Umgang mit anderen Menschen ablaufen.   Vitali war zu den anderen getreten. „Was machen wir jetzt?“ Vivien hatte sich die Tränen aus den Augen gewischt und machte den Eindruck, als habe sie das Weinen nur gespielt, doch bei ihr war das schwer zu sagen. Sie lächelte. „Er hat mit uns geredet!“ „Er hat dir vorgeworfen, dass du nicht weißt, was Freundschaft ist.“, stellte Ariane entsetzt fest und wirkte, als habe der Vorwurf sie weit mehr getroffen als Vivien.  „Ja!“, frohlockte Vivien. „Das war richtig vorwurfsvoll!“ Sie kicherte vergnügt. „Das heißt: Er mag mich!“ Die Logik war den anderen zu hoch. „Wenn dir jemand egal ist, dann machst du ihm keine Vorwürfe.“, versuchte Vivien ihnen auf die Sprünge zu helfen. Serena warf ein: „Aber was, wenn man so enttäuscht ist, dass man nichts mehr mit der Person zu tun haben möchte?“ „Dann muss man die Person sehr lieben.“, sagte Vivien mit sanftem Blick. „Das heißt aber nicht, dass man ihr verzeihen kann!“, klagte Serena und zog einen Schmollmund. Vivien kicherte bloß, als wäre das allein schon Antwort genug. Serena seufzte und nickte schließlich. Wenn jemand deutlich zu hartnäckig war, um sich von jedwedem noch so abweisendem Verhalten vertreiben zu lassen, dann Vivien. Justin beendete das Thema. „Das Wichtigste ist doch, dass er wieder er selbst ist.“ Selbst Ariane stimmte dem zu.   Ewigkeit wich Erik auch in der nächsten Doppelstunde nicht von der Seite. Allerdings ließen ihre Kräfte allmählich nach. Der Schlafentzug machte sich langsam bemerkbar, sodass sie gegen Ende der Englischstunde fast abgestürzt wäre. Halb benommen war sie unwillkürlich auf Eriks Kopf gelandet und hatte ihre Augen geschlossen. Die Pausenglocke jedoch riss sie abrupt wieder aus ihrem Schlummer. Vitali starrte gebannt auf Eriks Kopf, auf dem Ewigkeit aufschreckte, fast heruntergefallen wäre und sich dann etwas umständlich wieder in die Lüfte zu erheben versuchte. „Was ist?“, wollte Erik mit tiefer Stimme von ihm wissen. Vitali setzte zu einer Antwort an, brach jedoch kopfschüttelnd ab, wobei er wieder das für ihn typische facettenreiche Mienenspiel zur Schau stelle. „Was soll das?“ „Nichts.“ Vitalis Gesicht schwankte zwischen einem amüsierten und einem bedauernden Grinsen. „Du würdest es doch nicht glauben.“ Erik gab ein Brummen von sich, wandte sich ab und stieß dann die Luft aus. Zu Vitalis Überraschung ergriff er nochmals das Wort. „Wie war der Jungs-Tag?“ „Männerabend!“, korrigierte Vitali prompt. „Wie war der Männerabend?“, wiederholte Erik seine Frage mit abfälliger Betonung des letzten Wortes. „Fantastisch!“, rief Vitali. „Du warst schließlich nicht da.“ Er grinste über das ganze Gesicht und sah dabei ziemlich dämlich aus. Erik antwortete mit einem grimmigen Lächeln. Er wollte gerade eine schnippische Entgegnung machen, als Vitali überfröhlich zu strahlen anfing, wohl weil er Eriks Lächeln als etwas wie eine freundschaftliche Geste fehlgedeutet hatte. Vitali verschränkte die Arme vor der Brust und redete nach vorne, als würde er mit einem unsichtbaren Dritten reden. „Unglücklicherweise werden wir wohl nicht drum herum kommen, dich das nächste Mal einladen zu müssen, weil wir noch jemanden zum Pokerspielen brauchen.“ „Du solltest einen Grundschüler fragen, dann hättest du vielleicht Chancen zu gewinnen.“ Vitali zog ein übertrieben mürrisches Gesicht, auf das hin Erik sich kaum das Grinsen verkneifen konnte. Vitalis Mienenspiel war einfach zu erheiternd! „Du solltest besser Scharade spielen, dein Gesicht ist dazu besser geeignet.“ „Halt’s Maul!“, grummelte Vitali. „Nur weil du ne Fresse hast, als würdest du dir täglich Betäubungsmittel spritzen.“ Erik schnaubte belustigt und konnte das Grinsen nicht länger unterdrücken. „Blöder Muskelprotz.“, legte Vitali in eingeschnapptem Ton nach und brachte Erik damit vollends zum Lachen.   Ariane sah zu Erik und Vitali und konnte kaum fassen, dass es Vitali gelungen war, ihn zum Lachen zu bringen. Wie hatte er das bloß angestellt? Die Anspannung ließ von ihr ab und ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Eine leichte Berührung am Arm ließ sie sich zu Serena drehen. Diese schenkte ihr einen aufmunternden Blick, als wolle sie ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. Ariane nickte und glaubte erstmals wieder daran.   Vivien gab derweil Ewigkeit, die wieder an Höhe gewonnen hatte, mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie zu ihr kommen sollte. Träge schwebte das Schmetterlingsmädchen zu ihr. Auch Justin sah die Kleine besorgt an. „Du solltest schlafen.“, sagte er sacht. Ewigkeit wirkte kaum noch so, als würde sie das Gesprochene verstehen, dennoch schien sie eisern wachbleiben zu wollen. Vivien lächelte sie sanft an. „Keine Sorge. Wir können ab jetzt auf ihn aufpassen.“ Ewigkeit blinzelte schlaftrunken. Liebevoll flüsterte Vivien ihr zu „Geh nach Hause.“ und tätschelte ihr mit dem Zeigefinger das kleine Köpfchen. Ewigkeit nickte, vielleicht fiel ihr aber auch nur der Kopf auf die Brust. Das war nicht klar zu sagen. Dann war sie auch schon verschwunden.   Ewigkeit öffnete nochmals die Augen, zu müde, um zu erkennen, bei welchem Beschützer zu Hause sie aufgetaucht war. Sie glaubte noch, diesen furchtbar schlechten Autofahrer zu sehen, den der Allptraum dem Schatthenmeister gezeigt hatte. Hinter ihren Augenlidern empfing sie die Erinnerung an seine grün-grauen Augen und seinen geschockten Blick – so als hätte er sie direkt angesehen. Dann schlief sie endgültig ein. Kapitel 107: Eriks Rolle und Vorsorgemaßnahmen ---------------------------------------------- Eriks Rolle und Vorsorgemaßnahmen   „Ins Ohr geflüsterte Worte können tausend Meilen weit dröhnen.“ (aus China)   Während der nächsten Pausen taute Erik immer mehr auf und wirkte besonders selbstherrlich und spöttisch. Er begann wieder mit ihnen zu reden, wenn auch leicht von oben herab. Bis zur Mittagspause hatte sich sein Verhalten soweit gemausert, dass sie die Zeit bis zum Sportunterricht so verbringen konnten, wie sie es mittlerweile gewohnt waren. Sie scherzten und es wirkte, als wäre der Vorfall mit Secret nur ein böser Albtraum gewesen, eine Halluzination. Zunächst erschien ihnen Eriks schneller Wandel geradezu unglaubwürdig, ehe sie sich wieder in Erinnerung riefen, dass er sich an seinen Amoklauf überhaupt nicht erinnerte und die Mauer, die sie zwischen ihm und ihnen gespürt hatten, wohl nur durch ihre eigenen Befürchtungen zustande gekommen war. Allein zu Vivien schien Erik noch immer eine gewisse Distanz zu wahren, als fürchte er sich davor, ihr zu nahe zu kommen. Vivien war jedoch die einzige, der das auffiel. Die anderen waren viel zu erleichtert darüber, wieder ganz normal mit Erik sprechen zu können.   Nach ihrem Mittagsunterricht in Sport begleitete Erik Ariane und Serena wie üblich nach Hause. Zunächst schien das auch kein Problem darzustellen. Als sie jedoch bei Serena zu Hause ankamen, stockte diese plötzlich und starrte Ariane an. Ariane verstand die Reaktion erst nicht, ehe sie begriff, dass Serena sie nicht mit Erik allein lassen wollte. Es bestand immer noch die  Gefahr, dass er sich jederzeit wieder in ihren Feind verwandelte. Ariane wollte diesen Gedanken nicht zulassen. Sie wollte nicht mal die Möglichkeit in Betracht ziehen! Aber Serena sah sie besorgt an und rührte sich nicht vom Fleck. „Was ist?“, fragte Erik. Serena druckste mit einer Antwort herum, woraufhin Erik Ariane ansah, als sei sie die Ursache von Serenas seltsamen Verhalten. Sie glaubte, eine leichte Verunsicherung hinter der Skepsis in seinen Augen zu erkennen. „Serena… wollte mir… noch etwas erzählen.“, log Ariane langsam. Sie wusste nicht, ob es Skepsis oder Enttäuschung war, die sie in Eriks Gesicht aufflackern sah. Immer noch in Eriks Gesicht sehend, sprach sie unüberlegt weiter. „Aber das kann sie mir auch am Telefon erzählen!“ Erik trat einen Schritt zurück. „Schon gut. Bis morgen.“ Er wandte sich ab und ging. Ariane sah ihm hinterher, wie er sich von ihnen entfernte, und konnte das schlechte Gewissen nicht unterdrücken. Sie dachte nicht länger darüber nach, was Serena wollte. Sie lief Erik nach. Erik blieb stehen. „Was ist?“, fragte er argwöhnisch. Ariane wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wurde verlegen. „Ich…“ Sie senkte den Blick. „wollte mit dir…“   Erik blickte auf Arianes völlig ungewohnte Reaktion und sah dann zurück zu Serena. Es war nicht rechtens, dass Ariane Serena zu seinen Gunsten im Stich ließ. Was auch immer er sich in Arianes Nähe erhoffte, was auch immer er sich auf dieses seltsame Verhalten einbildete oder hineininterpretierte, das - „Ich warte dort vorne auf dich.“   Überrascht sah Ariane auf. Erik wandte seinen Blick ab, als würde er sie ignorieren, auch seine Stimme hatte geklungen, als wäre ihm das eine Last, die er fast widerwillig auf sich nahm. Normalerweise wäre sie wütend auf ihn gewesen, dass er ihr das so gönnerhaft sagte, als hätte sie ihn angefleht. Aber heute konnte sie ihm nicht böse sein. Sie war einfach nur froh, Erik vor sich zu haben, nicht den Bedroher von gestern. Sie nickte und lief zurück zu Serena. „Was sollte das?“, zischte Serena leise, als Ariane sie erreicht hatte. „Du kannst nicht mit ihm allein –“ „Er ist normal.“, sagte Ariane. „Er erinnert sich nicht mehr daran.“ „Vielleicht hat er die ganze Zeit auch nur den Normalen gespielt.“ Ariane sah sie empört an. Sie hasste es, wenn Serena mit solchen Verschwörungstheorien um sich warf, als wäre die ganze Welt schlecht. Sie hatte wirklich die Nase voll von ihrem Pessimismus! Wahrscheinlich würde sich Serena sogar ohne Weiteres von ihr abwenden, wenn sie einen Grund dafür fand. „Ich gehe mit ihm.“, sagte Ariane bestimmt und gab Serena mit einem Blick zu verstehen, dass ihre Einwände sie nicht interessierten. Serena schien diese Aufmüpfigkeit ganz und gar nicht zu gefallen. Wütend begegnete sie Arianes Blick. „Nimm wenigstens Ewigkeit mit.“ „Wenn irgendwas ist, dann rufe ich sie.“ „Dann ist es vielleicht zu spät!“, stieß Serena leise aber in einem Ton aus, der ihre Erregung deutlich machte. „Dein Schutzschild hilft nicht.“ „Hör endlich auf!“, stieß Ariane aus. „Lass mir wenigstens diesen Moment!“ Ihre Stimme nahm einen befremdlichen Ton an. Sie spürte ihre Augen und blinzelte das Gefühl weg, damit sich keine Tränen bildeten. Sie konnte nicht immer vorsichtig sein! Sie konnte nicht immer darauf gefasst sein, dass ein Schatthen aus einer Gasse gerannt kam, um sie zu töten, oder der Schatthenmeister nachts in ihrem Zimmer auftauchte. Sie hielt das nicht aus! Sie wollte Normalität, und wenn sie die nicht haben konnte, dann doch wenigstens den Anschein davon! Feindselig sah Serena sie an. Trotz wallte in Ariane auf. Wenn Serena ihr Leben lang immer misstrauisch sein und nur das Schlimmste erwarten wollte, war das ihre Sache, aber sie würde sich dem nicht beugen! Sie drehte sich um und ging. Zwar wusste sie, dass Serena es nur gut meinte, aber – Noch einmal blieb Ariane stehen und drehte sich zu Serena um. Sie versuchte sie mit einem Blick um ihr Verständnis zu bitten, aber Serena antwortete ihr mit klarer Sorge auf der Stirn. Einen Moment war Ariane hin und her gerissen. Sie wollte Serena nicht unnötig Kummer bereiten, aber sie wollte auch Erik nicht alleine lassen. Ihm war sie genauso viel Rücksicht schuldig wie Serena. Und so wie die Probleme sich in seinem Leben gerade stapelten, fand Ariane, dass er momentan sogar etwas mehr davon verdient hatte als Serena oder einer der anderen. Ariane setzte ihren Weg fort. Allein schon die bloße Überlegung, ob sie nun einen dummen Fehler beging, kam ihr wie ein Verrat an Erik vor… Dennoch blitzte die Frage in ihren Gedanken auf. Warum hatte Serena jetzt auch so eine Szene machen müssen?! Eben war alles noch so schön gewesen. Eben hatte sie mit Erik reden können, ohne Gedanken an ihr Beschützerdasein, ohne Gedanken an die Gefahr, die von ihm ausging. Sie kam zu der Stelle, an der Erik auf sie wartete, woraufhin er sich wieder in Bewegung setzte. Ohne Kommentar ging Ariane neben ihm her und verfluchte die in ihrem Kopf herumschwirrenden Ermahnungen, auf der Hut zu sein. Warum konnte sie sie nicht einfach aus ihrem Kopf verbannen? Warum konnte sie nicht unbeschwert mit Erik umgehen? Erik machte den Ansatz, etwas zu sagen, ohne sie anzusehen. „Wegen dem…“ Er unterbrach sich. „Am Samstag.“ Ariane fuhr zusammen, ehe sie begriff, dass er Finsters Geburtstagsfeier gemeint hatte. Nach Secrets Auftauchen hatte sie keinen Gedanken mehr daran verschwendet, was dort geschehen war und wie sie auseinander gegangen waren. Sie hatte größere Probleme gehabt. Als sie versuchte, sich die Begebenheit zurück ins Gedächtnis zu rufen, erinnerte sie sich an das Gefühl, ganz weit von Erik entfernt zu sein. Sie hasste dieses Gefühl. Doch Erik tat ihr nicht den Gefallen weiterzusprechen. Sie blieb stehen. „Warum hast du mich ignoriert?“, fragte sie in einem Versuch, die unsichtbare Mauer, die damals zwischen ihnen bestanden hatte, zu verstehen. „Du bist einfach an mir vorbeigelaufen, als hättest du mich nicht gesehen!“ Erik stoppte ebenfalls. Er antwortete nicht sofort. Auf der Feier hatte er sie verletzt, indem er versehentlich angedeutet hatte, sie sei unter seiner Würde. Hier in diesem Leben lag nichts weiter von der Wahrheit entfernt, aber – allein die Anwesenheit seines Vaters genügte, um ihm schmerzhaft ins Gedächtnis zu rufen, dass er noch ein anderes Leben hatte. Eines, in das Ariane nicht gehörte. Eines, in dem er sich von ihr fernhalten musste. „Du hättest mir wenigstens sagen können –“, rief sie empört und stoppte. Herr Donner kam ihr in den Sinn. Sie schlug die Augen nieder. „Du hättest mich wenigstens warnen können, dass du dort nicht mit mir reden kannst.“ „Ich habe mit dir geredet.“, widersprach Erik leise. Ariane entsann sich seiner Worte über die Seherinnen. „Tut mir leid, ich weiß nicht, wie es ist…“ Sie rang nach dem richtigen Wort. „...du zu sein.“ Erik war wütend über diesen Satz. Er hätte es vorgezogen, wenn sie ihn beschimpft hätte. „Es ist feige, sich dem anzupassen, was andere von einem erwarten.“, grollte er verbissen. Vielleicht um sich selbst zu maßregeln. Überrascht sah Ariane ihm in die Augen. Sie fühlte sich an ihr eigenes Verhaltensmuster erinnert. Auf der Halloweenparty hatte er sie danach gefragt, warum sie immer perfekt aussehen musste, wenn sie doch behauptete, Aussehen sei ihr nicht wichtig. Einen ähnlichen Widerspruch hatte sie bereits an ihm festgestellt. Am ersten Schultag hatte er auf die Frage von Herrn Mayer, ob er der Sohn von Rechtsanwalt Donner war, nicht antworten wollen, hatte sich ihnen jedoch als Erik Donner vorgestellt, obwohl Vivien nur ihre Vornamen genannt hatte. „Hast du Angst, nicht mehr Erik Donner zu sein?“, sprach sie ihren Gedanken laut aus. Erik sah sie getroffen an. Zum ersten Mal begriff sie, dass er genau das Gleiche tat wie sie. Genau wie sie stets den Zwang verspürte, perfekt aussehen zu müssen, obwohl sie Oberflächlichkeit verabscheute, passte er sich den Forderungen an seine Rolle als Erik Donner an, obwohl er diese Rolle hasste. Die ganzen Vorurteile und Ansprüche, die die Außenwelt an einen herantrug, quälten einen zwar, aber da man sie nicht abstellen konnte, gewöhnte man sich irgendwann an sie und fügte sich in seine Rolle. Diese Rolle, geschaffen aus all den Klischeebildern, wurde zu einer Art Rüstung, in die man hineinschlüpfte, um das Selbst zu schützen, das dem Bild der anderen nicht entsprach. Mit jäher Entschlossenheit machte Ariane einen Schritt auf ihn zu, griff mit der Rechten in seinen Nacken, um seinen Kopf näher zu sich zu ziehen, und beugte sich vor. „Es ist nicht dein Name, der dich zu dem macht, wer du bist.“, flüsterte sie ihm ins Ohr, auf die gleiche Weise, wie er es auf der Halloweenparty bei ihr getan hatte. Gerade wollte sie sich wieder von ihm entfernen, als Erik sie unerwartet an sich zog. Vor Schreck sog sie abrupt Luft durch den Mund ein und erzeugte dabei einen überraschten Laut, und das direkt neben Eriks Ohr. Auch ihre nächsten Atemzüge waren viel zu geräuschvoll, aber die Nähe zu ihm machte es ihr unmöglich ihre normale Atmung durch die Nase wieder aufzunehmen. Dann spürte sie seinen Atem an ihrem Ohr, sodass sie automatisch die Augen schloss und nicht länger gegen den Griff seiner Arme ankämpfte. Seine Stimme war nur noch ein tiefes Hauchen. „Mein Name ist Geheim.“ Von Panik gepackt wollte Ariane sich losreißen. Mit aller Kraft stieß sie den Angreifer von sich, um seinem Griff zu entgehen. Sie musste Ewigkeit – Erik starrte sie entgeistert an, als habe sie plötzlich ein Messer gezückt und ihn damit bedroht. Ariane wurde zur Salzsäule. „Es… tut mir leid.“, japste sie und schämte sich in Grund und Boden. Sie war wie selbstverständlich bei der Nennung des Namens Geheim davon ausgegangen, dass Erik sich wieder in ihren Feind verwandelt hatte. Eriks Gesichtsausdruck wandelte sich bei ihren Worten von Schock in Leid, als schmerzten ihre Worte ihn noch mehr als ihre Aktion, ihn wegzustoßen.  „Ich war nur so überrascht!“, redete sie in viel zu hoher Tonlage weiter. Aus dem verletzten Gesichtsausdruck Eriks wurde plötzlich ein schwaches Lächeln. Der Blick seiner Augen war sanft. „Und ich dachte schon, du willst nicht von mir umarmt werden.“ Bei seinen Worten wurde ihr heiß. Sie war sich sicher, dass sie noch zwei Wochen zuvor mit einem schlauen Spruch darauf geantwortet hätte. Warum konnte sie das jetzt nicht? Wollte sie ihn etwa wissen lassen, dass seine Umarmung ihr nicht zuwider war? Oder wollte sie sogar, dass er sie wieder umarmte? Auf die Überlegung hin wurde ihr noch heißer. Nun wieder mit seinem üblich provokanten Lächeln sprach Erik weiter. „Ich warte immer noch auf deinen Konter. Du wirst doch nicht eingerostet sein.“ Ein pikierter Ausdruck erschien auf Arianes Zügen. „Ich wollte nur nicht zugeben, dass du damit absolut richtig lagst.“ Erik grinste und hatte offenbar nicht vor, sie nochmals zu umarmen. Dass sie das auch nur bemerkte, ärgerte sie entsetzlich! „Als Wiedergutmachung kann ich dich ja auf Finsters nächster Feier mit einer Umarmung begrüßen.“ Ob diese sogenannte Wiedergutmachung ihr galt, weil er sie auf Finsters Geburtstagsfeier mit Verachtung gestraft hatte, oder ob er ihr damit eine Rache androhte dafür, dass sie ihn eben so heftig von sich gestoßen hatte, wusste Ariane nicht. „Das wagst du nicht.“, stieß sie aus. Ein gemeines Grinsen grub sich in sein Gesicht. Ariane begriff, dass sie einen Fehler begangen hatte. Wenn sie ihm sagte, er würde etwas nicht tun, würde er es auf jeden Fall tun! Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Th. Mich stört das nicht.“, log sie. „Du wärst auch die erste, die es stört, in meinen Armen zu sein.“ Arianes Gesicht verzog sich kurz, ehe sie ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte. „Es stört mich nicht, dich vor allen Leuten von mir zu stoßen. Ich dachte nur, dass es für dich etwas peinlich wäre.“ „Dass du mich mit hochrotem Kopf von dir stößt, weil ich einfach zu verdammt sexy bin?“, höhnte er. „Du meinst wohl, weil du so verdammt eingebildet bist.“ Plötzlicher Ernst trat in seinen Blick, als wolle er ihr gegenüber ein bedeutsames Geständnis ablegen. „Ich weiß, es ist schwer zu glauben, weil ich so unheimlich perfekt bin, aber ich bin nicht eingebildet. Ich bin tatsächlich echt.“ Ariane starrte ihn mit abgespanntem Gesichtsausdruck an. Dann prustete sie mit einem Mal und musste lachen. Erik stieß sie von der Seite leicht an, woraufhin sie erst richtig lachte. Er lächelte sie an, sie lächelte zurück. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort.   ⁎⁎⁎       Aufgrund der akuten Gefahr, dass Secret trotz ihres Vorgehens nochmals auftauchen könnte, hatten die fünf ausgemacht, sich nachts heimlich zu einem außerplanmäßigen Training zu treffen. Vitali hatte vorgeschlagen, dass sie am besten am nächsten Tag die Schule schwänzen sollten, um dieser überaus wichtigen Aufgabe mehr Zeit zu widmen. Die anderen waren damit allerdings nicht einverstanden gewesen. Ewigkeit flog vor ihnen hin und her wie ein General vor seinen Soldaten, während sie ihnen ihren Schlachtplan unterbreitete. Sie waren sichtlich bestürzt, dass die Kleine sich tatsächlich etwas überlegt hatte. Normalerweise waren sie selbst für ihr Training verantwortlich und Ewigkeit fungierte eher als Zuschauerin und Kommentatorin. Zudem waren sie davon ausgegangen, dass Ewigkeit in der Zeit, in der sie in der Schule gewesen waren, einfach nur geschlafen hatte. Zumindest wirkte sie nun wieder ziemlich energiegeladen. „Am wichtigsten ist zunächst, dass Wunsch lernt, ihr Schutzschild undurchlässig zu machen.“, verkündete Ewigkeit. „Ihr solltet euch auf die Flucht konzentrieren. Sobald der Bedroher auftaucht, müsst ihr schnellstens verschwinden.“ „Wir sollen vor ihm weglaufen?“, fragte Change reichlich unwillig. „Laufen ist zu langsam. Ihr müsst teleportieren!“, erwiderte Ewigkeit überzeugt. „Er ahnt jeden unserer Züge voraus.“, sagte Desire. „Wenn wir alle gleichzeitig angreifen, könnten wir ihn dennoch überwältigen.“, scherzte Unite. „Mit was denn angreifen?“, schimpfte Destiny. „Unsere Attacken haben keine Wirkung auf ihn und wenn ich versuche, ihn zu paralysieren, fegt er mich einfach weg.“ Sie untermalte ihre Aussage mit einer für Secret typischen Armbewegung. „Wir könnten uns unsichtbar machen, dann weiß er nicht, aus welcher Richtung wir angreifen.“, schlug Change vor. „Er würde es trotzdem wissen.“, widersprach Desire. Trust überlegte laut. „Vielleicht könnte ich ihn ablenken.“ „Das ist zu gefährlich!“, widersprach Destiny energisch. „Er würde dich angreifen!“ „Ich meinte, wenn ich Secrets Gedankenstrang finden kann, könnte ich ihn vielleicht dadurch verwirren. Dann wäre er nicht mehr in der Lage jeden eurer Schritte vorauszuahnen.“, präzisierte Trust. Unite nickte. „Das Problem ist, dass wir ihn weder von fern, noch von nah angreifen können.“ Desire stimmte zu. „Je weiter wir weg sind, einen desto besseren Überblick hat er und kann seine Telekinese einsetzen. Doch wenn wir ihm zu nahe kommen, benutzt er Nahkampftechniken.“ „Ein Ellenbogencheck ist keine Nahkampftechnik.“, meckerte Change, der das Bild von Secret als ausgebildeter Kämpfer nicht leiden konnte. Desire sah ihn ernst an. „Erik ist körperlich stärker als jeder von uns. Trust könnte es wahrscheinlich mit ihm aufnehmen, aber Erik beherrscht Kampfsport. Das tut Trust nicht. Auch wenn ich euch ein paar Selbstverteidigungstricks beibringe, habt ihr keine Chance gegen ihn.“ Unzufrieden verschränkte Change die Arme vor der Brust. „Wir müssten einfach alle teleportieren können.“ „Soll ich?“, fragte Unite mit Bezug auf ihre Kräfteübertragung. Destiny hatte Einwände. „Es ist schon schwierig genug unsere eigenen Fähigkeiten zu beherrschen, auch ohne dass wir versuchen die von einander einzusetzen. Es ist deine Gabe, die Kräfte von uns einfach imitieren zu können. Wir anderen sind darin nicht so geschickt.“ „Ich finde, ich war ziemlich gut mit deinen Kräften.“, meinte Change grinsend. Destiny biss sich auf die Unterlippe. Es passte ihr nicht, dass Change die Fähigkeit, die ihr immer noch Probleme bereitete, mit so einer Leichtigkeit hatte einsetzen können, als wäre es das Einfachste auf der Welt. „Meinetwegen kannst du sie haben und ich steige aus dem ganzen Schwachsinn aus.“, zeterte sie. Davon genervt grummelte Change: „Dann könntest du mich wenigstens nicht mehr paralysieren oder mir sonstwie wehtun!“ Trust versuchte, den beiden gar nicht erst die Zeit für einen Streit zu geben. „Wir wissen nicht, wie lange die Kräfteübertragung anhält und wir können nicht darauf vertrauen, dass wir im Kampf die Gelegenheit erhalten, die Kräfte miteinander zu teilen.“ Nun endlich kam Ewigkeit wieder zu Wort und erklärte, welche Trainingsmethoden sie sich ausgedacht hatte. Destiny sollte lernen, ihre Paralyse schneller und auch bei beweglichen Zielen einzusetzen. Ewigkeit wollte hierfür als Zielscheibe dienen. Als Trust einwandte, dass Ewigkeit durch die Paralyse zu Boden stürzen und sich wehtun könnte, meinte die Kleine nur, dass sie bereit sei, diese Last zu tragen. Zudem hielt sie es für eine gute Übung für Desire, wenn sie so schwer verletzt würde, dass Desire sie heilen musste. Die fünf waren von Ewigkeits übergroßem Einsatz etwas verstört. Change indes sollte üben, seine Unsichtbarkeit gleichzeitig mit seiner Teleportation einzusetzen. Während Unite seine Teleportationsfähigkeiten übernehmen und versuchen sollte, darin etwas geschickter zu werden. Am Tag zuvor hatte es zwar geklappt, aber Unite war nicht sicher, ob das nicht nur daran gelegen hatte, dass Change in ihrer unmittelbaren Nähe gewesen war und sie sozusagen nur als Leiter für seine Kräfte gedient hatte, da Changes Körper zu schwach gewesen war. Trust half indessen Desire dabei zu testen, ob ihr Schutzschild noch immer passierbar war und war nebenher damit beschäftigt, immer wieder Gedanken an die anderen zu senden, um den Wechsel zwischen ihnen schneller vorzunehmen. ○ Funktioniert es?, fragte er Unite telepathisch, weil es auf die Dauer einfach nur dämlich wirkte, immer nur ein ○ Hallo zu übertragen. Da er mittlerweile das Umschalten von Gedankenübertragung und Gedankenlesen automatisch vornahm, konnte er Unites Antwort sofort empfangen. Sie sendete ihm ein Lachen. ♪ Nicht ganz so gut. ○ Oh. ♪ Meinst du, es würde etwas bringen, wenn du versuchen würdest, Secrets Gedanken zu lesen? ○ Nein, er… ich glaube er denkt nicht viel nach, sondern handelt. Kurz herrschte Schweigen und Trust ging davon aus, dass Unite das Gespräch nicht weiterführen wollte. ♪ Mist., sagte sie plötzlich. Ich krieg es nicht mal hin, die paar Meter zu dir zu teleportieren. ○ Vielleicht hat Destiny Recht. Vielleicht sollten wir uns auf unsere eigenen Stärken konzentrieren. ♪ Im Kampf habe ich nicht wirklich viel ausrichten können. ○ Ich auch nicht. Ich glaube nicht mal, dass es mir hilft, wenn ich die Gedankenübertragung mit euch übe. Ich bin eure Frequenz gewöhnt. Es ist, als wären eure Kanäle eingespeichert. Wie beim Radio. Aber Secrets Gedankenströmung kenne ich nicht. „Trust? … Trust …. Trust!“, rief Desire, doch ihr Trainingspartner reagierte nicht. Daraufhin machte sie einfach einen Schritt nach vorne, um zu testen, ob der Schutzschild ihn immer noch aufnahm. Zu ihrem Leidwesen wurde er unbehelligt von der Barriere akzeptiert. Desire seufzte und sah auf die Uhr. Es war schon nach elf und noch immer hatte sie keine Erfolge vorzuweisen. Den anderen schien es nicht besser zu ergehen. Unite stand da, ohne jegliche Reaktion zu zeigen. Destiny versuchte noch immer vergeblich Ewigkeit zu erwischen. Ihre Wutschreie waren bis zu Desire zu hören und sie wartete nur noch darauf, dass Destiny eine Zorneswelle freisetzte. Change dagegen schaffte es zwar unsichtbar zu sein und zu teleportieren, doch direkt vor dem Teleportieren und danach war er sichtbar. „Wir sollten für heute Schluss machen.“, sagte Desire. Trust nickte. „Wir werden die nächsten Tage noch nachts trainieren müssen.“ „Wenn wir vor Müdigkeit nicht kämpfen können, ist das auch nicht gerade nützlich!“, schimpfte Destiny aufgebracht. Die Frustration über ihr Scheitern machte sie ungenießbar. Trust seufzte. „Du hast Recht.“ Change teleportierte zu Destiny, ergriff sie am Arm, teleportierte weiter zu Unite, die er an der anderen Seite festhielt und tauchte vor Desire und Trust auf. „Ihr müsst zugeben, ich bin toll, und ohne mich wären wir wirklich verloren.“, grinste Change und erstarrte im nächsten Moment. Destiny hatte ihn in ihrer miesen Laune schlicht paralysiert. Unite fing an zu lachen, während Desire erschöpft dazu überging, Change zu läutern. Sobald er wieder dazu fähig war, grollte er in Destinys Richtung „Du –!“ und zuckte hastig zurück, als sie ihn böse anschaute. Schnell entfernte er sich von ihr, bevor sie nochmals auf die Idee kam, ihre Kräfte auf ihn anzuwenden. Desire seufzte und warf Destiny einen leidenden Blick zu. Auf die stille Rüge hin verschränkte Destiny trotzig die Arme vor der Brust und wirkte regelrecht beleidigt. Desire schüttelte den Kopf. „Ich wollte euch was erzählen!“, rief Unite, nicht nur um die schlechte Stimmung zu vertreiben. Am Morgen war sie aufgrund der Sorge um Erik nicht dazu gekommen. Interessiert landete Ewigkeit auf ihrem Kopf. „Ich habe eine Vermutung, warum uns Secret angegriffen hat.“, begann Unite. „Weil er ein irrer Psychopath ist?“, mutmaßte Change mit erhobenen Augenbrauen. „Was ist ein Psychopath?“, fragte Ewigkeit. „Jemand, der seine Freunde angreift!“, meinte Change. Alle Blicke waren schlagartig auf Destiny gerichtet. „Ich bin kein Psychopath!“, schrie sie. Unite sprach derweil weiter. „Er wollte uns wehtun.“ „Eeehrlich?“, sagte Change gelangweilt. „Ich dachte, das war seine Art Hallo zu sagen. Indem er uns gegen Tische und Wände schleudert!“ „Sei doch mal ernst.“, tadelte Desire. „Ich bin ernst, ich bin sogar todernst, schließlich wäre ich am Ende fast tot gewesen.“ „Und warum wollte er uns wehtun?“, fragte Trust Unite, um das Gespräch wieder in geordnete Bahnen zu lenken. „Weil wir ihm wichtig sind.“, sagte Unite. „Ist das Tiny-Logik?“, wollte Change wissen. „Hör auf, das immer auf mich zu beziehen!“, beschwerte sich Destiny. „Das klingt einfach nach dir.“, gab Change zurück. „Ich hab euch schon eine Weile nicht mehr angegriffen!“ Change starrte sie vielsagend an, vor allem nachdem sie ihn keine fünf Minuten zuvor bewegungsunfähig gemacht hatte. Okay, sie hatte in seiner Seelenwelt ziemliches Chaos angerichtet und bei dem Angriff der Allpträume hatte sie die anderen paralysiert. Destiny ließ den Kopf hängen, als ihr klar wurde, dass Changes Vorwurf wohl auf die ein oder andere Weise irgendwie ein klein wenig mehr oder weniger berechtigt war. Verdammt. „Es ist anders.“, sagte Unite, während Ewigkeit den Platz auf ihrem Kopf verließ und sich zu den anderen gesellte. „Tiny freut sich nicht, wenn sie uns angreift. Sie ist dann verzweifelt. Secret nicht.“ Destiny unterließ es, sich zu beschweren, dass Unite nun auch Changes Spitznamen für sie benutzte. „Aber was ist es dann?“, wollte Desire wissen. „Es war … wie Rache.“, versuchte Unite es verständlich zu machen. „Es tat ihm gut, uns wehzutun, weil er den Schmerz sonst hätte ertragen müssen. Indem er uns wehtut, hat er keine Schmerzen mehr.“ „Das ist echt krank.“, war Changes Meinung. „Wofür wollte er sich rächen?“, fragte dagegen Trust. Unite zuckte mit den Schultern. „Es gibt so viele Kleinigkeiten, die einen verletzen können.“ Erregt rief Desire aus: „Es ist keine Kleinigkeit, dass wir ihn die ganze Zeit anlügen!“ Die plötzliche Lautstärke ließ Ewigkeit hastig Zuflucht auf Trusts Schulter suchen. Trust ergriff das Wort. „Deshalb ist Unite ja zu ihm gegangen. Keinem von uns macht es Spaß, Erik zu belügen.“ „Ich weiß.“, sagte Desire und senkte den Blick, ihren Gefühlsausbruch bedauernd. „Ich bin nur auf mich selbst sauer.“ „Hey.“, rief Change ungläubig. „Seit wann ist sowas ne Entschuldigung dafür, andere krankenhausreif zu prügeln? Dass Tiny nen Schaden hat, okay. Aber zwei Gestörte? Das wird langsam echt zu viel.“ Destiny feuerte einen bösen Blick auf ihn ab.   „Aber Change!“, stieß Unite aus. „Du hast doch sooo ein großes Herz, da wirst du doch noch Platz für jemand neben Destiny haben.“ Change stockte. „Halt die Klappe!“, schrie Destiny. Ein vielsagendes Lächeln nahm Unites Gesicht ein. „Du meinst, du willst Change ganz für dich allein?“ „Natürlich nicht!“ Unite drehte sich zu Change. „Hast du gehört? Sie ist bereit, dich zu teilen.“ „Mann!“, schimpfte Change peinlich berührt. „Es geht darum, dass das echt anstrengend ist!“ „Und denkst du, die beiden sind es wert?“, fragte Unite erwartungsvoll. Change wich ihrem Blick aus. Seine Antwort bestand aus einem kurzen gebrummten Ja, das Destiny unvorbereitet traf. Unite klatschte begeistert in die Hände und lachte vergnügt. Desire sah zu Trust.   Dieser seufzte. Sie alle brauchten dringend Schlaf. „Wollen wir einfach hoffen, dass es sich um ein einmaliges Erlebnis gehandelt hat.“, beendete er das Thema für diesen Tag. Desire nickte. Kapitel 108: Der verlorene Sohn ------------------------------- Der verlorene Sohn   „Nicht die Liebe macht abhängig, sondern der Wunsch, geliebt zu werden.“ (Gerhard Uhlenbruck)   Am Dienstagmorgen waren die fünf so müde, dass die Idee eines weiteren nächtlichen Trainings sofort verworfen wurde. Glücklicherweise wirkte Erik ganz normal. Fast als wäre das Erscheinen Secrets ein einmaliges Ereignis gewesen. Die Drohung des Schatthenmeisters, dass der Bedroher wieder auftauchen würde, ließ ihnen dennoch keine Ruhe. Ewigkeit hatte die Nacht in Eriks Nähe verbracht, für den Fall, dass der Schatthenmeister dort auftauchen oder Erik des Nachts seltsames Verhalten zeigen sollte. Allerdings wussten sie nicht, ob das etwas brachte. Nach ihrer Siegesfeier, am Tag vor Finsters Geburstagparty, hatten sie eigentlich Ewigkeit mit Erik nach Hause schicken wollen. Doch die Kleine hatte so unglücklich darüber gewirkt, die Zeit mit jemandem verbringen zu müssen, der sie nicht sehen konnte, dass sie schließlich davon abgesehen hatten. Wenn Ewigkeit bei ihm Wache gehalten hätte, hätte seine Verwandlung dann verhindert werden können? Solche Fragen brachten sie nicht weiter. Die Woche schritt voran und allmählich wurde die Furcht vor einem erneuten Angriff zu einem bloßen Hintergrundrauschen.   Mittwoch. In Spanisch, das im Zimmer der Parallelklasse stattfand, saß Ariane vor Vitali und Erik in der ersten Reihe der Fensterseite. Bis zum Unterrichtsbeginn blieben noch ein paar Minuten und Ariane entschied, das Hungerloch in ihrem Magen nicht länger zu ignorieren. Da sie in Eile das Haus verlassen hatte – der Schlafentzug der Nacht zuvor, hatte offenbar nachgewirkt – hatte sie heute Morgen nach dem Erstbesten gegriffen, das sie zu fassen bekommen hatte. Sie kramte die Packung hervor. Der Platz rechts neben ihr war unbesetzt. Die ersten paar Male hatte zwar ein Mädchen aus der Parallelklasse neben ihr gesessen, aber seit das Gerücht umgegangen war, dass Ariane ihrer Freundin den Freund ausspannte, wurde sie von sämtlichen Schulkameradinnen gemieden. Auch die Offenbarung, dass zu keiner Zeit eine Beziehung zwischen Serena und Erik bestanden hatte, hatte daran nichts geändert. Da das Licht der Herbstsonne gerade genau auf ihren Tisch fiel und sie leicht blendete, entschied Ariane aufzustehen und sich kurzerhand auf den Tisch zu setzen. Zu Vitali und Erik gewandt, öffnete sie die Verpackung und knabberte schließlich an einem zusammengepressten Taler aus gepufftem Reis. Vitali starrte sie an. „Warum isst du Styropor?“ Ariane lachte. „Das sind Reiswaffeln.“ „Ah.“ Vitali nickte verstehend. „Ich hab mich schon immer gefragt, aus was Styropor hergestellt wird.“ Ariane schüttelte amüsiert den Kopf. „Diät?“, scherzte Vitali. Erik klinkte sich in das Gespräch ein: „Bei der Figur?“ Ariane warf ihm einen empörten Blick zu. „Und du ernährst dich wohl von Anabolika.“ „Nur zum Frühstück.“, sagte er mit einer aufreizenden Bewegung seiner Augenbrauen. Sie konnte ihr Schmunzeln nicht verbergen. Kommentarlos stand Erik auf und setzte sich auf den unbesetzten Stuhl zu ihrer Linken. Ariane reichte ihm eine Reiswaffel, aber Erik lehnte mit einer Handbewegung ab. „Warum sitzt du dann hier?“, fragte sie herausfordernd, nicht weil es sie gestört hätte, ihn in ihrer Nähe zu haben. Ihre spielerischen Wortwechsel mit Erik waren schlicht zu einer Art Gewohnheit geworden. „Von hier habe ich eine bessere Sicht.“, antwortete er, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. „Du solltest über eine Brille nachdenken.“, entgegnete sie so gönnerhaft, wie es sonst seine Art war. Erik lächelte süffisant. „Ich weiß, eine Brille würde mir unheimlich gut stehen. Aber so gern ich deine geheimen Wünsche erfüllen würde, denke ich, dass ich deine Fantasien nicht noch nähren sollte.“ Vitali mischte sich ein. „Arianes Fantasie von dir ist, wie du mit zugeklebtem Mund dasitzt.“ Ariane brach in ein Lachen aus. Erik drehte sich mit leicht säuerlichem Blick zu Vitali um. Dann lächelte er herablassend.   „Es ist der Traum vieler Frauen, mit mir gefesselt und geknebelt tun und lassen zu können, was sie wollen.“ „Du meinst, dich vor nen Fernseher mit Lehrsendungen zu setzen bis dir die Augen bluten?“, grinste Vitali. Ariane lachte noch lauter. „Deine traurigen Erfahrungen mit Frauen sind wirklich bedauerlich.“, konterte Erik und wischte Vitali damit das Grinsen aus dem Gesicht. Ariane kam Vitali zu Hilfe. „Kann ja nicht jeder einen Fanclub haben.“ „Deine Unterstützung hat er offensichtlich.“, mokierte sich Erik. „Ariane liebt mich.“, alberte Vitali, woraufhin Ariane ihm eine Kusshand zuwarf. Erik bedachte ihn mit einem drohenden Blick. „Das dürfte Serena brennend interessieren.“ Augenblicklich erstarrte Vitali. „Das war gemein.“, sagte Ariane tadelnd zu Erik. Auch wenn sie nicht verstand, warum Serena wegen jeder unbedeutenden Kleinigkeit auf Vitali sauer war, war es offensichtlich, dass er darunter litt. Erik sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie so noch nicht an ihm kannte – eine Mischung aus Unwillen und Schmollen. „Ich versuche hier deine Aufmerksamkeit zu erregen.“ Ariane lächelte augenblicklich, beugte sich zu ihm und wollte ihm neckisch das Haar verwuscheln. Im letzten Moment stoppte sie in der Bewegung, Sie erinnerte sich gelesen zu haben, dass es in Thailand ein großes Tabu war, den Kopf eines Menschen zu berühren, weil er als heiliger Sitz der Seele galt. Und Eriks Seele zu berühren, war… „Willst du Fliegen fangen?“, kommentierte Vitali ihre seltsame Körperhaltung mit ausgestrecktem Arm in Eriks Richtung. Erik drehte sich zu Vitali um. „Sie überlegt sich, wie ich meine Haare stylen könnte, damit ich noch besser aussehe.“ Ariane zog den Arm zurück und lächelte beide grimmig an. Doch ehe sie zu einem Konter kam, läutete die Schulglocke den Unterrichtsbeginn ein. Erik und sie begaben sich zurück auf ihre Sitzplätze. Ariane sah nochmals kurz in Eriks Richtung. . Er war normal. So normal Erik Donner eben war. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.   Donnerstag. Als habe sie seine Rückkehr inständig herbeigesehnt, stürmte Rosa auf Erik zu, sobald er das Haus betreten hatte. Warum hatte sie nicht einfach wie geplant abreisen können? Dann wäre er sie endlich los gewesen. Doch kurzfristiges Umentscheiden gehörte wohl zu ihrer Lebenseinstellung. Dagegen schien sie mit den daraus resultierenden Folgen nicht umgehen zu können. Wie ein kleines Kind. Als Geschäftsführerin eines großen Konzerns konnte seine Mutter sich dergleichen natürlich nicht erlauben. Dem ursprünglichen Plan entsprechend hatte sie sich nur bis gestern Urlaub genommen. Selbst während ihrer freien Tage hatte sie mindestens einmal täglich mit ihren Mitarbeitern korrespondieren müssen. Meistens deutlich öfter. Erik kannte es nicht anders. Wichtige Entscheidungen ließen sich nunmal nicht aufschieben. Doch Rosa fehlte nun offensichtlich die Unterhaltung. Vermutlich hatte sie sogar Frau Wittek, die Haushälterin, genervt, die ebenfalls ab heute wieder ihren Dienst aufgenommen hatte. Zuzutrauen war es ihr. Und zu allem Überfluss hatte sie doch tatsächlich die Dreistigkeit besessen, mit dem Mittagessen zu warten, bis er heimkam! „Wenn man alleine isst, schmeckt es nicht.“, behauptete Rosa. Erik hörte diesem Unfug stumm zu. Wie ein Mensch freiwillig durch die Anwesenheit anderer beim Essen gestört werden wollte, war ihm schleierhaft. Im Internat hatte er mit zig anderen seine Mahlzeiten in einem riesigen Speisesaal einnehmen müssen. Er hatte es gehasst. Zurück im Hause Donner war das gemeinsame Essen mit seinen Eltern für ihn eine Tortur. Der Druck, sich vor seinem Vater keine Blöße zu geben, verleidete ihm die Nahrungsaufnahme und zerstörte den Geschmack jeglicher Speise. Der einzige Trost war, dass diese gemeinsamen Mahlzeiten eine Seltenheit darstellten.   Erik schnitt sich ein Stück von der Lasagne auf seinem Teller ab und führte die Gabel zu seinem Mund. Da Rosa neuerdings Vegetarierin war – weil das jung halten sollte – handelte es sich um Gemüselasagne. Sein Vater hätte sich darüber aufgeregt, Erik war das einerlei. Er aß, damit er etwas im Magen hatte, mehr nicht. „Geht es dir besser?“ Erik hörte auf zu kauen und wusste für einen Moment nicht, was die weniger nervige Folge nach sich ziehen würde: Die Frage zu ignorieren und Rosa damit auf die Idee zu bringen, dass ihm auch nur irgendetwas nahegehen konnte. Oder sich zu einer Antwort durchzuringen, obwohl er nicht einmal die Luft, derer ein verächtliches Schnauben bedurft hätte, an sie verschwenden wollte. Er warf ihr schließlich einen zweiflerischen Blick zu, als wisse er beim besten Willen nicht, wovon sie sprach. „Tut mir leid, dass ich die letzten Tage nicht für dich da war.“ Sie sah ihn so widerlich mitleidig an, dass seine Augen sich automatisch verengten. „Ich brauche kein Kindermädchen.“ Rosa war kurz stumm, dann lächelte sie auf eine Weise, die wohl verständnisvoll wirken sollte. „Entschuldige, es ist etwas her, dass ich Teenager war.“ Erik biss die Zähne aufeinander und stopfte sich dann hastig einen weiteren Bissen der Lasagne in den Mund, um schnellstens in sein Zimmer verschwinden zu können. „Es ist ganz normal, dass man in deinem Alter gegen die Eltern rebelliert und seinen eigenen Weg gehen will.“ Erik warf ihr einen tödlichen Blick zu. Eine Mischung aus Gereiztheit und Taubheit überschwemmte sein Inneres. Er starrte auf seinen Teller, auf dem immer noch die Hälfte seiner Lasagne lag. Die Entscheidung, ob er aufstehen und weggehen oder Rosas Gerede aushalten sollte, um Stärke zu beweisen, machte ihn handlungsunfähig. Regungslos saß er da. Ein Donner lief nicht davon. Er lief nicht davon, denn das war ein Zeichen von Schwäche. Weitere Sekunden verharrte er bewegungslos. Ihm war schlecht. Die Lasagne widerte ihn an und er hatte das Gefühl, nie wieder etwas essen zu wollen. Er schob den Teller von sich. „Schmeckt es nicht?“, erkundigte sich Rosa. „Nein.“ Erik stand auf, drehte sich um und verließ den Raum. Er lief die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort angekommen, kam er sich vor wie in einer Gefängniszelle. Nur dass das, was draußen auf ihn wartete noch schlimmer schien als das Gefängnis, in dem er sich einsperrte. Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und wollte jemanden per Kurznachricht kontaktieren, ehe er sich besann, dass Justin kein Handy besaß und Vitali seine Nachrichten immer erst Stunden später beantwortete. Er fing an, stattdessen eine Gruppen-Nachricht an Vivien und die anderen zu tippen. Hi, habt ihr Lust morgen nach der Schule zusammen essen zu gehen? Ich lade – Er löschte die Zeilen wieder und legte sein Smartphone weg. In dieser Sache war er allein. Niemand konnte ihm da helfen. Er ging hinüber zu – wo wollte er eigentlich hin? Verdammt! Er nahm erneut sein Smartphone zur Hand und rief Justins Festnetznummer an.   Justin war gerade im Erdgeschoss, wo er sein Mittagessen alleine zu sich nahm. Er hörte das Telefon in der Diele klingeln und stand auf. „Hier bei Boden.“, meldete er sich. „Hi.“, sagte die Stimme am anderen Ende. „Ich bin’s Erik. Störe ich?“ „Äh, nein.“ Justin war ziemlich verblüfft, einen Anruf von ihm zu erhalten. Er wollte schon fragen, ob alles in Ordnung bei ihm war. Allerdings hielt er das für eine unhöfliche Frage und ließ sie daher fallen. „Ich wollte nur fragen, ob … du und die anderen, ob ihr am Wochenende Zeit habt.“ Justin fiel auf, dass Erik ungewöhnlich unsicher klang, ganz anders als in der Schule. „Ähm, ich weiß nicht. Ich kann schlecht für alle reden.“ „Klar.“ Der Gesprächsfaden riss ab. Justin fühlte sich reichlich unbehaglich bei dieser plötzlichen Stille und versuchte, sie schnellstens zu überwinden. „Wir könnten die anderen fragen.“ „Ja.“ „An welchen Tag hast du denn gedacht?“ Kurzes Zögern. „Morgen nach der Schule.“ „Hast du dir was Bestimmtes vorgestellt?“ „Nein.“ Wieder eine kurze Pause. „Es geht auch Samstag… Oder Sonntag.“, sagte Erik, als habe er sich durch Justins fehlende Reaktion dazu genötigt gefühlt. „Mh.“ Justin fühlte sich schuldig, dass ständig diese Unterbrechungen auftraten. Nur weil er so ein schlechter Gesprächspartner war. „Ähm, ich habe gehört, Geocaching sei ganz interessant. Vivien hat davon erzählt.“ „Was?“ „Ähm, das ist eine Art Schnitzeljagd. Es gibt Leute, die sogenannte Caches anlegen und die kann man dann suchen, indem man die Hinweise des Caches aus dem Internet holt und dann mit einer Karte oder über ein GPS-Gerät nach dem Punkt sucht.“ „Du meinst ein Smartphone?“ „Ähm, wahrscheinlich funktioniert das.“ „Und wozu macht man das?“ „Ich denke, weil die Suche Spaß machen soll.“, antwortete Justin von der Frage leicht verunsichert. „Es ist eben eine Freizeitbeschäftigung.“ „Hm.“ „Es war nur ein Vorschlag.“, sagte Justin kleinlaut und schämte sich für die dumme Idee. „Wir könnten auch…“ Er stockte. Irgendwie fühlte er sich dafür verantwortlich, Erik eine geeignete Unternehmung vorzuschlagen, weil er ihn angerufen hatte anstatt einen der anderen. „Wir könnten einen Filmabend bei mir zu Hause machen.“ Einen qualvoll langen Moment später antwortete Erik endlich. „Klingt gut.“   Justins Eltern begegneten seiner Bitte, Freunde einladen zu dürfen, anders als er befürchtet hatte. Es war ihm peinlich gewesen, dass er ihnen, besonders seiner Mutter, dadurch unnötig Arbeit machte, denn er wusste, dass seine Mutter sich mit Häppchen für die Gäste verkünsteln würde. Das hatte er oft genug erlebt, wenn Gary Freunde nach Hause gebracht hatte, bevor Gary in das Alter gekommen war, in dem man sich seiner Meinung nach nicht mehr zu Hause mit Freunden traf. Statt mit Unwillen und erschöpften Gesichtern hatten Justins Eltern mit Freude über die Ankündigung reagiert und ihn darüber ausgefragt, wer alles kommen wollte. Dies hatte ihn leicht verwundert, aber auch beruhigt. Der Filmabend wurde – nachdem die Kunde über das Treffen die Runde gemacht und Serenas Mutter ihren Unwillen darüber geäußert hatte, sich erst zu treffen, wenn man eigentlich wieder nach Hause gehen sollte – schließlich zum Filmnachmittag umgewandelt. Auch wenn Vitali es unheimlich nervig fand, dass sie sich immer nach Serenas Mutter richten mussten.   Am Freitagnachmittag um halb vier trafen nach und nach alle bei Justin ein. Justin hatte zusätzlich zu der Couch und den beiden Sesseln im Wohnzimmer noch zwei Stühle organisiert, damit alle Platz fanden. Sowohl Vivien als auch Vitali hatten verschiedene Filme mitgebracht. Die Frage, welchen sie als erstes ansehen wollten, entflammte eine rege Diskussion. Schließlich einigten sie sich auf einen Animationsfilm. Erik saß neben Vitali auf einem Stuhl und schenkte der Filmhandlung wenig Aufmerksamkeit. Er war kein Fan von Animationsfilmen und hatte für sprechende Tiere nicht viel übrig. Er fühlte sich schlecht und konnte selbst nicht begreifen, was die Ursache dafür war. In der Nähe der anderen fühlte er sich wie ein Fremdkörper. Er blickte hinüber zu dem Tisch, auf dem statt der klassischen Salzstangen und Chips belegte Brote bereit standen. Getränke gab es jedoch keine. „Justin.“, sagte Erik. „Habt ihr auch was zu trinken?“   Justin blickte verwundert auf und bemerkte da erst, dass Getränke fehlten. Eilig sprang er auf. „Ich hab sie in der Küche stehen lassen.“ „Moment, ich mach Pause.“, sagte Vivien und griff nach der Fernbedienung. „Nein, nein.“, versicherte Justin. „Schaut ruhig weiter.“ „Spul noch mal zurück. Wenn die reinlabern, kapiert man ja nix.“, beschwerte sich Vitali, während Justin am Fernseher vorbeitorkelte und zur Küche lief. Wortlos erhob sich auch Erik und folgte ihm. In der Küche erst schien Justin ihn zu bemerken. „Du brauchst nicht helfen. Du verpasst den Film.“ „Nicht schlimm.“, sagte Erik desinteressiert. „Oh, ähm, gefällt dir der Film nicht?“, fragte Justin kleinlaut. Dass Erik sich offenbar langweilte, machte ihm ein schlechtes Gewissen,. Erik wich seinem Blick aus. „Das ist es nicht.“ Unsicher, wie er jetzt reagieren sollte, verharrte Justin an der Stelle, an der er stand. Erik lehnte sich an einen Teil der Arbeitsfläche und hielt sich an deren Kante fest, den Blick zu Boden gerichtet. Justin hätte ihn gerne gefragt, ob es ihm gut ging. Aber die Frage kam ihm ziemlich ungeschickt vor, und er bezweifelte, dass Erik ihm darauf antworten würde. Etwas Bitteres trat in Eriks Stimme. „Manchmal ist es, als wäre es ganz egal, wie sehr man sich anstrengt, es hilft sowieso nichts.“   Erik wusste selbst nicht, warum er die Worte aussprach. Sie waren wie ein übles Aufstoßen, das er nicht länger unterdrücken konnte. Vielleicht wollte er sich auch nur seiner kindischen Hoffnungen entledigen, indem er sich mit Justins Schweigen und Unverständnis konfrontierte. Etwas anderes erwartete er nicht.   Seine Worte ließen Justin aufhorchen. Eriks Blick war noch immer zu Boden gerichtet. Er sah aus wie ein erschöpfter Kämpfer. Justin schlug ebenfalls die Augen nieder. Er wollte etwas entgegnen, das Erik den Mut gab, weiterzusprechen. Da er fürchtete, die Gelegenheit würde ungenützt verstreichen und Erik einfach zurück ins Wohnzimmer zu den anderen gehen, griff er nach dem erstbesten Gedanken, der ihm in den Sinn kam. „Kennst du das Gleichnis vom verlorenen Sohn?“ Erik riss den Kopf hoch und starrte ihn fassungslos an. Justin wusste dieses Verhalten nicht zu deuten. Dann entsann er sich, dass Erik keinen Religionsunterricht besuchte. Vielleicht waren ihm biblische Geschichten daher nicht vertraut. Justin begann die Geschichte kurz zusammenzufassen. „Ein Vater hat zwei Söhne. Der eine ist immer brav und tut, was man ihm sagt. Der andere zieht aus und verprasst seinen Erbteil. Völlig verwahrlost kommt er schließlich zurück nach Hause, um sich zu entschuldigen. Statt zu schimpfen, nimmt der Vater ihn freudig auf. Er gibt sogar ein Fest für ihn. Der andere Bruder beklagt sich beim Vater. Er war immer gehorsam, aber ist nie dafür belohnt worden. Daraufhin meint der Vater bloß, dass man sich über die Rückkehr freuen müsse. So endet die Geschichte.“ Justin lehnte sich an die Küchenzeile in seinem Rücken. „Als Kind fand ich das furchtbar ungerecht. Ich fand es falsch, dass derjenige, der sich richtig verhält, überhaupt nicht wertgeschätzt wird, und der, der sich falsch verhalten hat, eine Belohnung bekommt. Es –“ Justin musste sich einen Moment überwinden, um die Worte auszusprechen. „Es hat mich immer an meinen Bruder und mich erinnert.“ Er versuchte seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten. „Wenn mein Bruder etwas angestellt hat, waren meine Eltern meist einfach froh, dass ihm nichts zugestoßen war. Ich dagegen habe mich immer bemüht, alles richtig zu machen. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie ihn lieber haben.“ Er musste schlucken. Nochmals Luft holend sah er zu Erik. Der fixierte ihn mit ernstem Blick. „Entschuldige.“, sagte Justin hastig und ließ den Kopf hängen. „Das war wohl nicht, was du gemeint hast.“ Er hatte Erik nur den Anlass geben wollen, selbst etwas zu sagen, aber das war wohl reichlich nach hinten losgegangen. Ungefragt mit einer so bescheuerten Geschichte aus seinem Leben anzufangen war sicher unangebracht gewesen. Vielleicht hielt Erik ihn jetzt für egozentrisch…   „Nein.“, sagte Erik langsam. „Das war genau das –“ Er unterbrach sich und sah Justin an, biss kurz die Zähne zusammen. „Egal, wie sehr man sich anstrengt, es ändert nichts.“ Er machte eine kurze Pause. Seine Hände krampften sich um die Arbeitsfläche in seinem Rücken. „Ich war wie du.“, presste er hervor. „Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen und dem zu entsprechen, was man von mir erwartet hat. Mein ganzes Leben lang.“ Er blinzelte und kämpfte die unwillkürlich aus seinem Inneren aufsteigenden Gefühle nieder. „Aber –“ Er atmete flach ein und aus, schluckte und brauchte kurz, bevor er weitersprechen konnte. „Es war nie gut genug.“ Seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich. „Falsch. Es war völlig egal.“ Wieder biss er die Zähne aufeinander. „Manchmal frage ich mich, ob es besser gewesen wäre, wenn ich nicht getan hätte, was man mir gesagt hat. Wenn ich einfach nicht immer Befehlen gehorcht hätte! Wenn ich einfach –“ Er stockte. Ein bitterer Geschmack trat ihm auf die Zunge und sein Gesicht verzog sich. „Mein Vater hätte mich auch nicht verächtlicher ansehen können.“   Justin hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht. Einen Moment schämte er sich für seinen dummen Vergleich. Erik hatte es wirklich schwer, anders als er, und er wusste nicht, wie er ihn trösten sollte. Unverhofft sprach Erik weiter. Seine Stimme hatte ihre Kraft verloren. „Ich war nie ein Donner.“ Justin betrachtete ihn stumm. Es war ihm unbegreiflich, wie Erik so über sich denken konnte. Er besaß doch alle wünschenswerten Eigenschaften. „Wie ist denn ein Donner?“, fragte er zögerlich. Als wäre die Frage völlig absurd, sah Erik ihn verwirrt an, dann schwankte sein Blick über den Boden. „Nicht wie ich.“, brachte er bloß hervor. Justin blickte ebenfalls zu Boden. Stille trat ein. Schließlich rang sich Justin zu Worten durch. Er wollte Erik auf keinen Fall in dieser Stimmung belassen. „Es… klingt vielleicht dumm, aber … Ich denke, du bist gut so wie du bist… Ich meine, ähm, du bist selbstbewusst und sehr intelligent. Du weißt, wie man mit anderen umgeht und wie du dich in der Gegenwart anderer richtig verhältst. Du wirkst immer so souverän. Alle bewundern dich. Du bist eine bewundernswerte Person.“ Eriks Gesichtsausdruck hatte sich verfinstert, als hätte Justin ihn, anstatt ihm Komplimente zu machen, beleidigt. Mit zorniger Miene stieß er sich von der Arbeitsfläche ab. „Das bin nicht ich!“, donnerte er. Justin zuckte angesichts der Wut in Eriks Stimme zusammen. Dann warf Erik ihm einen feindseligen Blick zu. „Du hast keine Ahnung.“ Mit diesen Worten packte Erik die Flaschen, die er hineinbringen sollte, und verließ mit heftigen Schritten die Küche.   Justin blieb zurück. Er hatte Erik erzürnt und wusste nicht einmal genau wodurch. Dabei hatte er ihn aufmuntern wollen. Frustriert drehte er sich um, nahm das Tablett, auf dem er die Gläser für die anderen und sich gestellt hatte, und folgte Erik nach. Kapitel 109: Steckbriefe ------------------------ Steckbriefe   „Die großen Tugenden machen einen Menschen bewundernswert, die kleinen Fehler machen ihn liebenswert.“ (Pearl S. Buck)   Vivien konnte nicht entgehen, dass irgendetwas zwischen Erik und Justin vorgefallen war. Während Erik nach ihrer Rückkehr mit verhärtetem Gesichtsausdruck die Augen auf den Fernsehbildschirm fixiert hatte, hatte Justin zunächst zu Erik hinüber gelugt und war dann in sich zusammen geschrumpft, ohne dem Film noch Beachtung zu schenken. Da Vivien den anderen dreien die Freude an dem Film nicht verderben und keine große Szene machen wollte – Erik hätte sonst sicher Hals über Kopf das Haus verlassen – entschied sie, die Sache zunächst auf sich beruhen zu lassen. Als der Abspann des Films erreicht war und Vitali schon nach dem nächsten Film suchte, hatte Vivien schließlich ihren Einsatz. „Wir könnten eine kleine Pause vom Fernsehen machen und ein Spiel spielen!“, schlug sie heiter vor. Einzig Vitali wagte es, dem Vorschlag laut zu widersprechen. „Es heißt Filmtag, weil man Filme guckt.“ „Es ist ein Spiel zum besser Kennenlernen!“, jauchzte Vivien. Vitali stöhnte. Vivien ging darüber hinweg. Sie war es gewöhnt, dass Vitali erst den Coolen mimte und wenn es dann soweit war, volle Begeisterung zeigte. „Also. Jeder nimmt sich ein Blatt Papier und einen Stift. Kannst du das auftreiben, Justin?“ Mit unbedarftem Gesichtsausdruck nickte Justin und stand auf, um Gewünschtes zu beschaffen. Gut. Eine Betätigung brachte Justin üblicherweise auf andere Gedanken. Derweil zeugte Erik Blick von purem Widerwillen. Seiner Miene nach zu urteilen, war er kurz davor aufzustehen und zu gehen. Aber Vivien wusste, dass er zu selbstbeherrscht war, um diesem Impuls direkt zu folgen. Bevor es soweit kam, war Justin auch schon mit einem Collegeblock und seinem Mäppchen zurück und reichte jedem von ihnen ein Blatt und einen Stift. „Danke.“, sagte Vivien und begann direkt mit den Ausführungen. Wenn sie den Stein erst mal ins Rollen brachte und alle anderen mitzogen, würde die Hürde für Erik, als einziger auszusteigen, höher werden. „Okay, jetzt schreibt jeder auf sein Blatt, was ich euch diktiere. Aber lasst oben noch frei für eine Überschrift. Als erstes Lieblings-Filmgenre, darunter Musikgeschmack. Dann Lieblingslektüre.“ „Sollen wir einen Steckbrief machen?“, fragte Ariane verwundert. Vivien grinste. „Fast.“ Anstatt die anderen darüber aufzuklären, was damit gemeint war, fuhr sie einfach damit fort zu diktieren. „Hobbies, Lieblingsfarbe, Würde gerne mal nach... Und Mag nicht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Okay. Jetzt dreht ihr das Blatt um und schreibt auf die Rückseite.“ Wieder diktierte sie. „Stärken Doppelpunkt. Wenn er/sie eine Pflanze wäre, wäre er/sie… Wenn er/sie ein Tier wäre, wäre er/sie…. Und als letztes schreibt ihr: Die Eigenschaft, die ich am meisten an ihm/ihr bewundere Doppelpunkt.“ Sie schrieb selbst auf, was sie genannt hatte. „So, wenn ihr das habt, schaut ihr, wer links von euch sitzt. Schreibt den Namen der Person oben als Überschrift auf die Vorderseite. Für diese Person müsst ihr die Angaben jetzt ausfüllen.“ „Äh? Woher soll ich das Zeug denn wissen?“, beschwerte sich Vitali. „Wenn du’s nicht weißt, rätst du einfach.“, antwortete Vivien und wandte sich an alle. „Ihr müsst auf jeden Fall überall etwas hinschreiben, auch wenn ihr keine Ahnung habt. Sonst ist es nur halb so lustig.“ Den Mienen der anderen nach zu urteilen, hielten sie das Ganze so oder so nicht für lustig. Vivien wandte sich an Serena und Ariane, die links von ihr saßen. „Könntet ihr die Plätze tauschen?“ „Hey, wieso darfst du dir aussuchen, über wen du schreibst!“, schimpfte Vitali. „Es ist viel lustiger, wenn man den Steckbrief für jemanden ausfüllt, von dem man nicht so viel weiß. Bei Serena würde ich zu viele Antworten schon kennen.“ Serena warf ihr einen zweiflerischen Blick zu, als wäre sie der Überzeugung, dass Vivien nicht im Geringsten die richtigen Antworten für sie kennen würde, tauschte dann aber dennoch mit Ariane die Plätze, wodurch sie nun rechts von Vitali saß. „Also los!“, rief Vivien und begann selbst damit, ihr Blatt auszufüllen.   Erik starrte nochmals unwillig zu Vivien und dann auf das Blatt. Er musste die Lücken für Justin ausfüllen und scheiterte schon an der ersten Frage. Nachdem jeder von ihnen bestätigt hatte, fertig zu sein, ergriff Vivien wieder das Wort. „Wir lesen jetzt die Steckbriefe nacheinander vor. Und zwar immer erst die Vorderseite. Wenn das gemacht ist, sagt die Person, die beschrieben wurde, was davon gestimmt hat und was nicht und gibt die richtige Antwort. Erst danach wird die Rückseite vorgelesen. Irgendwelche Fragen?“ Keiner meldete sich. „Dann würde ich sagen, Erik fängt an!“ Vivien warf ihm ein überfröhliches Lächeln zu, dem er nicht über den Weg traute. Er musste ein Schnauben unterdrücken und sah auf seinen Zettel. Es war ihm zutiefst zuwider, mit keinen überlegenen Antworten aufwarten zu können. Aber er war Erik Donner! Er würde sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Mit fester Stimme begann er vorzulesen. „Justins Lieblings-Filmgenre ist Drama, er hört am liebsten Popmusik und liest gerne Liebesromane.“ Er geriet ins Stocken. Irgendwie war die Behauptung, Justin lese Liebesromane seltsam. Allerdings war ihm nichts Besseres eingefallen und irgendwie konnte er es sich vorstellen. „Seine Hobbies sind Wandern und Lesen. Seine Lieblingsfarbe ist Braun. Er würde gerne mal nach Rom und er mag keinen Rosenkohl.“ Erik wagte nicht aufzublicken, denn seine Mutmaßungen kamen ihm reichlich fadenscheinig vor. „Und, Justin, was stimmt davon?“, fragte Vivien. Justin zog ein ziemlich betretenes Gesicht und druckste auf ihre Frage hin merklich herum. „Äh, ähm, eigentlich…fast… gar nichts.“ Vivien lächelte. „Dann klär uns auf.“ Zögerlich begann Justin. „Naja, ich glaube, an Filmen sehe ich am liebsten Krimis. Ich komme nicht oft zum Lesen, aber früher mochte ich am liebsten Detektivgeschichten.“ „Ich auch!“, rief Ariane begeistert. Justin lächelte schüchtern und setzte fort. „Von der Musik her, höre ich eher Soul und Balladen.“ „Echt?“, stieß Vitali fassungslos aus. Verwundert sah Justin zu ihm. „Da fehlen die Gitarren! Die Gitarren!“, entsetzte sich Vitali mit seinem typisch übertriebenen Mienenspiel. „Kein Wunder konntest du nicht Luftgitarre spielen!“ Er sah Justin an, als wäre er ein Waisenkind aus einem Entwicklungsland, das die selbstverständlichsten Errungenschaften der modernen Welt entbehren musste und dringend Hilfe brauchte. Vivien lachte, während Justin nur verwirrt schaute. Erik bemerkte, dass seine Mundwinkel sich ebenfalls zu einem Schmunzeln verzogen hatten. „Es kann ja nicht jeder deinen Musikgeschmack haben.“, grummelte Serena. „Warum nicht?“, fragte Vitali, als verstehe er nicht, was den Rest der Menschheit daran hindern sollte. Serena schlug sich gegen die Stirn, Ariane dagegen wirkte amüsiert. „Deine Hobbies.“, leitete Vivien wieder zur Fortsetzung von Justins Antwort über. „Äh, ja.“, sagte Justin und wirkte nicht gerade glücklich darüber, noch länger über sich selbst reden zu müssen. „Ähm. In meiner Freizeit helfe ich meistens meinen Eltern im Laden und bei der Ernte, also ist das eigentlich das, womit ich die meiste Zeit verbringe.“, gestand er. „Und irgendwie tue ich das auch ziemlich gern.“ Verlegen fasste er sich kurz an den Kopf. „Früher habe ich mich auch gerne handwerklich betätigt. Was wir eben so im Werkunterricht gelernt haben.“, fügte er an, offensichtlich weil er fürchtete, es wirke unnormal, dass er die Arbeit im Laden seiner Eltern als Hobby nannte. Kurz pausierte er, ehe er weitersprach. „Meine Lieblingsfarbe ist Grün. Und ich denke, ich würde gerne mal in die USA. Ja, und ähm, spontan hätte ich auf die Frage, was ich nicht mag, wohl geantwortet: andere enttäuschen.“ Unsicher blickte Justin auf. Vitali schlug Erik auf die Schulter und lachte dreckig. „Da hast du ja voll abgelost!“ Erik sah ihn mürrisch an. „Entschuldigung.“, sagte Justin kleinlaut. „Das ist kein Grund, sich zu entschuldigen!“, tadelte Erik ihn barsch und sah erneut auf seine Liste. Er hatte Justin vorgeworfen, ihn – Erik – nur oberflächlich zu sehen und gar nicht zu kennen. Dabei wusste er selbst überhaupt nichts über Justin. Viviens Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Du kannst jetzt die Rückseite vorlesen.“ Mit wenig Optimismus tat er wie geheißen. „Ich denke, Justins Stärke ist, dass er meistens ruhig bleibt.“ Er erinnerte sich daran, wie Justin die Ruhe bewahrt hatte, als sie Serena ohnmächtig auf der Mädchentoilette gefunden hatten. „Außerdem ist er immer bemüht, das Richtige zu tun.“ Er bemerkte, dass Justin zaghaft in seine Richtung sah und atmete kurz aus. „Wenn Justin eine Pflanze wäre, dann wäre er wahrscheinlich ein Tannenbaum.“ Die anderen – mit Ausnahme von Vivien – starrten ihn an. „Nicht wegen den Nadeln.“, antwortete Erik den ungläubigen Gesichtern. Er zögerte kurz. „Ihr kennt doch das Weihnachtslied Oh Tannenbaum. Justin ist … irgendwie so. Verlässlich und beständig.“ „Oh ja!“, frohlockte Vivien begeistert und konnte sich nicht davon abhalten, in die Hände zu klatschen. „Und, was denkst du, wäre er für ein Tier?“ „Ein Elefant.“ Vitali prustete los. Wahrscheinlich dachte er bei einem Elefanten sofort an Trampeligkeit. Daher rang sich Erik zu einer Erklärung durch. „Ein Elefant ist stark und zuverlässig, er hat ein gutes Gedächtnis und wirkt ruhig und in sich gekehrt.“ „Ich finde, das passt wunderbar zu Justin!“, stimmte Vivien zu. „Und welche Eigenschaft bewunderst du am meisten an ihm?“ Erik antwortete nicht sofort. Schließlich verkündete er: „Seine Ehrlichkeit.“   Justin zuckte bei dem Wort zusammen, während Erik weitersprach. „Er verstellt sich nie. Er ist einfach wie er ist und … auch wenn er sich für etwas schämt, sagt er die Wahrheit anstatt etwas zu erfinden, nur um besser dazustehen.“ Justin schluckte sein schlechtes Gewissen hinunter. Dass gerade Erik ihn ehrlich nannte, der einzige Mensch, den er je belogen hatte, war bitter. Aber er durfte sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ein schlechtes Gewissen half Erik auch nicht weiter. Zumindest schien Erik ihn nicht ganz zu verabscheuen entgegen seiner Befürchtung. „Das ist voll schön!“, jauchzte Vivien und kicherte. „Du magst Justin sehr, nicht?“ Bei der Unterstellung verzog Erik keine Miene. Justin machte sich klein. Nachdem, was eben geschehen war, fürchtete er, das Gegenteil sei der Fall. Ein entnervtes Stöhnen erklang. „Wie sollte man ihn nicht mögen?“ Justin horchte auf und sah in Eriks Richtung, dieser wich jedoch seinem Blick aus. Sollte das heißen, dass er ihn doch nicht verabscheute? Der Gedanke wurde von der plötzlichen Körpernähe zu Vivien unterbrochen. Sie hatte sich jäh gegen ihn gelehnt und strahlte ihn so bezaubernd an, als wolle sie ihm dadurch sagen, dass sie der gleichen Meinung wie Erik war. Das machte Justin verlegen. „Du bist dran!“ Jäh wurde ihm klar, dass er nun seine Gedanken über Vivien mitteilen musste. Fahrig sah er auf sein Blatt Papier und wurde rot, während er hastig die Worte sprach. „Vivien… Vivien sieht am liebsten Liebeskomödien und hört gerne Popmusik. Sie liest gerne Abenteuerromane. Und äh, sie spielt gerne mit ihren Geschwistern und ist Pfadfinderin. Ihre Lieblingsfarbe ist Gelb. Ähm, bei dem, wo sie gerne hingehen würde, war ich mir nicht sicher. Ich habe einfach irgendwas hingeschrieben. Vielleicht Paris? Und irgendwie fällt mir überhaupt nichts ein, was sie nicht mag. Irgendwie sieht sie an allem immer etwas Positives.“ Während dem Sprechen war er noch röter geworden und hatte den Kopf immer weiter eingezogen. Vivien kicherte. „Ich hätte dich über jemand anderen schreiben lassen sollen.“ Justin verstand nicht. „Du weißt zu viel über mich.“, sagte sie und lächelte glücklich. „Ich kann eigentlich nur noch ergänzen. Ich schaue nämlich auch gerne Abenteuerfilme und lese auch Fantasyromane. Am besten, wenn es auch romantisch ist. Was das Reiseziel angeht. Ich würde sehr gerne mal nach Irland, Australien oder Neuseeland. Aber mit dir würde ich überall hingehen!“, lachte sie und griff nach seiner Hand, woraufhin er zusammenzuckte und puterrot wurde. Er wusste nicht, ob sie aus Rücksicht auf seine Nerven wieder losließ. „Ah, es gibt etwas, was ich nicht mag!“, fiel ihr ein. „Wenn andere traurig sind!“ In diesem Moment fiel Justin ein, was sie auch nicht mochte. „… allein sein.“, flüsterte er leise und erinnerte sich an die Angst, die die Allpträume Vivien gezeigt hatten. Vivien stockte. Sie hatte sicher als einzige seine Worte verstanden. Eine kurze Pause entstand, in der sie sich sammeln musste. Vielleicht hätte er das nicht sagen sollen. Dann verlieh sie ihrer Stimme wieder den vertraut lebenslustigen Klang. „Gut, jetzt musst du die Rückseite vorlesen.“ Das hatte Justin fast vergessen. Mit ungeschickten Bewegungen drehte er das Blatt um. „Viviens Stärke ist, andere aufzuheitern. Wenn sie eine Blume wäre…“, er unterbrach sich. „Ich dachte an ein Gänseblümchen.“ Er wusste nicht, ob das beleidigend war. „Gänseblümchen haben irgendwie etwas Aufmunterndes, Liebes an sich und sie stehen nie allein.“ Lautstark mischte sich Vitali ein. „Und sie sind winzig!“, lachte er. Vivien stimmte in das Lachen mit ein. Justin fand das nicht lustig. Er setzte fort. „Äh, ja und wenn du ein Tier wärst, dann wärst du ein Schmetterling.“ Unwillkürlich musste er an Ewigkeit denken. „Ist sie nicht eher ein Eichhörnchen?“, warf Vitali ein. „Sie ist genauso hektisch und klein und frech!“ Er untermalte seine Worte mit entsprechender Gestik. Vivien lachte auf. „Und der Teufel ist ein Eichhörnchen!“, fügte Vitali hinzu, Vivien dabei schelmisch angrinsend. Auf den Kommentar hin, änderte sich Viviens Lachen zu dem einer Hexe, während Justin Vitali einen geradezu beleidigten Blick zuwarf. Die Gleichsetzung Viviens mit dem Teufel gefiel ihm ganz und gar nicht. Er räusperte sich und setzte fort. „Die Eigenschaft, die ich am meisten an ihr bewundere, ist ihr Optimismus. Egal, was passiert, sie lässt sich nicht unterkriegen und verliert nicht die Hoffnung. Das finde ich wirklich bemerkenswert.“ Seine Stimme war zum Schluss hin immer weicher geworden. Vivien kicherte glückselig und schmiegte sich an seinen Arm. Das trieb ihm abermals die Röte ins Gesicht. Sachte entfernte sie sich wieder von ihm und sah ihn einen weiteren Moment lang so inniglich an, als wären sie ganz allein. Ihr Blick war zu verzaubernd, als dass er ihn ausgehalten hätte. Verlegen wich er ihm aus und versuchte seinen heftigen Herzschlag zu beruhigen. „Dann bin ich wohl dran.“, hörte er Vivien sagen und konnte aus ihrer Stimmlage erkennen, dass ihr Fokus nicht länger auf ihm lag. Er drehte sich ihr zu.    Vivien nahm den Zettel von ihrem Schoß zur Hand. „Ariane! Ariane sieht sehr gerne Historienfilme und hört Soul und Hip Hop. Außerdem mag sie Historische Romane und in ihrer Freizeit macht sie alles, was irgendwie mit Geschichte zusammenhängt. Ihre Lieblingsfarbe ist Orange und sie würde gerne mal nach Spanien. Was sie auf den Tod nicht ausstehen kann, ist Oberflächlichkeit!“ Vivien sah Ariane mit großen Augen an. Sie wusste bereits, dass sie mit vielem daneben gelegen hatte, aber das sollte dazu beitragen, dass die anderen sich nicht zu viele Sorgen darüber machten, etwas ‚Falsches‘ vermutet zu haben. Lächelnd bezog Ariane Stellung. „Historische Romane sind schön, aber oft sind mir Sachbücher über die Epoche lieber. Es frustriert mich zu sehr aus den Augen einer Figur zu erleben, wie gering Frauen damals geschätzt wurden. Daher lese ich lieber Thriller, in denen historische Motive und Symbolik aufgegriffen werden. Auch wenn die Frauenfiguren leider oft ziemlich flach sind. Und was Filme angeht: Ich liebe Abenteuerfilme, in denen Ausgrabungen vorkommen, wie in Die Mumie.“ Vivien erfreute sich an Arianes Begeisterung. In diesen Momenten wirkte Ariane deutlich weniger darauf bedacht, besonders erwachsen und reif zu wirken. „Und deine Hobbies?“ „Da würde ich noch Lesen ergänzen.“, antwortete Ariane. „Was das Reiseziel angeht: Am liebsten würde ich nach Ägypten und die Pyramiden sehen!“ Sie strahlte bei den Worten übers ganze Gesicht. Möglichst unauffällig schmulte Vivien zu Erik. Wie erwartet war angesichts Arianes Fröhlichkeit ein Lächeln auf seinen Lippen erschienen. „Okay, dann komme ich jetzt zur Rückseite.“, verkündete Vivien. „Eine von Arianes Stärke ist, dass sie willensstark ist und dickköpfig.“ Ariane reagierte pikiert. „Ich bin nicht dickköpfig!“ Vivien unterdrückte es zu prusten. Auf Arianes unterhaltsame Reaktionen war definitiv Verlass. „Dann nennen wir es eben beharrlich.“, antwortete sie lächelnd. Arianes Schmollmund nach wusste sie nicht, ob das besser war. Erik gab ein unterdrücktes Lachen von sich, woraufhin Ariane ihm einen verstimmten Blick zuwarf. Vivien grinste in sich hinein, während Erik sofort wieder sein Pokerface aufgesetzt hatte und erklärte: „Sie meint, du lässt dich nicht von der Meinung anderer aufhalten.“ Vivien nickte zustimmend. Offensichtlich schämte Ariane sich nun, dass sie ihr etwas anderes unterstellt hatte. „Danke.“, sagte sie leise. Wirklich niedlich. Verständlich, dass Erik es genauso genoss, Ariane aufzuziehen wie sie. Vivien sprach weiter. „Wenn du eine Pflanze wärst, wärst du eine orangefarbene Lilie! Edel und stolz!“, verkündete sie. „Und als Tier wärst du ein Goldfisch.“ Prompt machte Vitali mit dem Mund einen Fisch nach. Ariane warf ein Sofakissen nach ihm. Er lachte bloß. „Du meinst, ich bin ein Zierfisch?“, wollte sie getroffen von Vivien wissen. Vivien machte große Augen. „Dein Element ist doch Wasser und ein Goldfisch ist so schön orange. Und sie bewegen sich so graziös.“ „In Asien sind Goldfische Glückssymbole.“, ergänzte Erik. Dass er Ariane beschwichtigen wollte, war ja so süß! Viviens Shipper-Herz ging auf. Ariane nickte. „Entschuldigung. Ich nörgle nicht mehr.“ „Ist ja auch nur noch ein Punkt.“, merkte Vitali amüsiert an. Vivien kicherte. „Die Eigenschaft, die ich am meisten an dir bewundere ist, dass du dich immer wieder hinterfragst und über dich hinauswächst.“ Es war Ariane anzusehen, dass sie sich über diese Aussage sehr freute. Vivien genoss den Moment. „Jetzt bist du dran.“ „Danke.“, sagte Ariane gerührt und begann ihre Runde.   „Serenas Lieblings-Filmgenre ist Fantasy. Ihr Musikgeschmack ähm alternativer Rock? Lieblingslektüre auch Fantasy. Ihr Hobby ist Geschichten schreiben. Ihre Lieblingsfarbe ist Rot. Sie würde gerne mal nach Japan und sie mag kein Fleisch.“ Ariane ging davon aus, dass sie nicht zu falsch gelegen hatte und sah zu Serena, um deren Verbesserung zu hören. Doch zu ihrer Überraschung meldete sich Vivien zu Wort. „Darf ich korrigieren?“, fragte sie erwartungsvoll in Serenas Richtung. Serena zog ihre Augenbrauen skeptisch zusammen, ließ Vivien aber dennoch gewähren. „Serena liebt vor allem Zeichentrick und da natürlich Filme und Serien mit magischen Elementen! Und sie hört gerne J-Pop, aber auch Pop Punk. Und neben dem Schreiben zeichnet sie auch gerne. Außerdem mag sie nicht nur Rot sondern auch Pink und zudem hasst sie Sport.“ Das klang plausibel. Wie Vivien sah Ariane zu Serena, diese wirkte ungläubig. „Ich hab doch gesagt, ich kenne dich!“, rief Vivien begeistert. Serena entgegnete nichts. Offenbar hatte sie keine Grundlage, um Vivien zu widersprechen, sonst hätte sie sich die Gelegenheit Widerworte zu geben, sicher nicht entgehen lassen. Vivien war wirklich eine gute Beobachterin, stellte Ariane fest. Vivien wandte sich an sie. „Jetzt kannst du weitermachen.“ Ariane nickte. „Serenas große Stärke ist mit Vitali zu streiten.“ Bei dem Ablenkungsmanöver auf dem Jahrmarkt war das auf jeden Fall sehr beeindruckend gewesen. Viviens lautstarkes Lachen und Serenas Miene machten Ariane klar, dass sie besser etwas anderes gewählt hätte. Zum Glück ergriff Erik das Wort. „Das nennt man Flirten.“ Okay, das war nicht hilfreich… „Schwachsinn!“, keifte Serena. Auch Vitali gab seinen Senf dazu. „Quatsch, im Flirten ist sie echt mies.“ Ariane fürchtete, dass diese Diskussion zu Problemen führen könnte. Serenas Stimme überschlug sich. „Du weißt überhaupt nicht, wie ich im Flirten bin!!!“ Zu spät. „Wenn du gut darin wärst, hätte ich das sicher mal mitbekommen.“, meinte Vitali überzeugt. Nahm er etwa an, dass Serena mit irgendwem flirten würde, während er daneben stand? Das war doch eher unwahrscheinlich. Vor allem bei Serena. Serena grollte. „Wenn ich flirten würde, würdest du es ganz sicher nicht mitbekommen!“ Eriks Stimme erhob sich erneut, doch leider goss er nur noch mehr Öl ins Feuer. „Stimmt, er würde es absolut nicht checken.“ „So war das nicht –“ Serenas Kommentar wurde von Vitalis Stimme übertönt. „Häää? Wieso soll ich das nicht checken?!“, rief er empört. „Frag Ariane.“, antwortete Erik mit provokativem Augenaufschlag in ihre Richtung. „Sie hat mehr Ahnung davon, aus welchen Gründen man es nicht checkt Dieser – „Vielleicht weil man davon genervt ist.“, konterte sie abweisend. Erik blieb gelassen. „Ich glaube nicht, dass das Vitalis Problem ist.“ Über seine gönnerhafte Art konnte sie nur die Augen verdrehen. „Wovon labert ihr?“, verlangte Vitali zu erfahren. Plötzlich schrie Serena sie an: „Mach endlich weiter!“ Angesichts Serenas wutentbrannter Miene tat Ariane eilig wie geheißen. Das war definitiv besser als dieses Gespräch weiterzuführen. „Wenn du eine Pflanze wärst, wärst du eine Rose.“, versuchte sie Serena wieder gnädig zu stimmen. Vitali machte ihr einen Strich durch die Rechnung. „Mit vielen Dornen!“ Serena drohte augenblicklich, ihm an die Gurgel zu gehen. Ariane fragte sich, ob er schlicht nicht sah, dass Serena kurz vorm Austicken war oder ob er es genau darauf anlegte. Vitali redete einfach weiter. „Und als Tier wäre sie ein Einhorn!“ Ariane horchte auf und kontrollierte Serenas Reaktion. Da in Serenas Zimmer ein paar Einhornbilder hingen, klang das nach etwas, über das sie sich freute. Und tatsächlich wirkte Serena geschmeichelt. Bis Vitali fortfuhr.  „Wirkt unschuldig und sanftmütig, aber wenn du näher kommst, versucht es dich aufzuspießen.“ Wieso?, schrie Ariane innerlich. Serenas ballte die Hände zu Fäusten. Dann erschien ein grimmiges Lächeln auf ihrem Gesicht. „Und du wärst ein Drache.“ Damit hatte Ariane nun nicht gerechnet, genauso wenig wie Vitali. Begeisterung trat auf seine Züge. „Spuckt nichts als heiße Luft.“, sagte Serena. Prompt zeugte Vitalis Gesichtsausdruck von Verstimmung. Sie musste das schnellstens unterbrechen! „Ich dachte bei Serena eher an eine Katze!“, stieß sie mit etwas zu hoher Stimme aus. Vitali nickte. „Ja, wenn man ihr zu nahe kommt, fährt sie ihre Krallen aus.“ Ariane gab es auf. Sie machte sich einfach auf den nächsten Streit gefasst. Erik dagegen schien die Situation zu amüsieren. „Du hast also versucht, ihr zu nahe zu kommen?“ Vitalis Gesichtszüge zuckten. „Mann! Bei ihr ist alles schon zu nah!“ Eriks Augenbrauen hoben sich provokativ. „Also würdest du ihr gerne näher kommen.“ „Nein!“, schrie Vitali hilflos schrill. „Aber du wolltest doch eben noch, dass sie mit dir flirtet.“, beharrte Erik. Vitali stockte und antwortete nicht. Ariane war von dieser Wendung äußerst überrascht und überprüfte Serenas Reaktion. War Serena etwa ernsthaft verlegen wegen dieser Behauptung? Bisher hatte Ariane es für unvorstellbar gehalten, dass sich Serena von einem möglichen Interesse Vitalis geschmeichelt fühlen könnte. Oder war ihr das einfach unangenehm? Sie schien sich jedenfalls immer unwohler zu fühlen. „Was bewunderst du an Serena?“, unterbrach Viviens Stimme übertrieben laut das Schweigen und Arianes Überlegungen. Hastig sprang Ariane auf den Zug auf. Ablenken war sinnvoller als auf den nächsten Streit zwischen Serena und Vitali zu warten. „Ähm, ich bewundere ihren Durchsetzungswillen, ihr Durchhaltevermögen und ihre Kreativität. Sie schreibt ja ein Buch. Das finde ich sehr beeindruckend.“ Ariane atmete auf und drehte sich zu Serena. „Du bist dran.“   Serena wusste nicht, ob sie sich irgendwie bedanken sollte. Was Ariane zum Schluss gesagt hatte… Das hatte sie sehr gerührt. Dass irgendwer etwas an ihr bewundern sollte, und dann auch noch Ariane… Auf diese Idee wäre sie nie gekommen. Sie wusste nicht, wie sie ihre Dankbarkeit in Worte fassen sollte. Außerdem schien es der falsche Zeitpunkt zu sein, schließlich warteten die anderen doch darauf, dass es weiterging. Scheu blickte sie auf ihren Zettel und versuchte sich wieder zu sammeln, bevor sie schließlich anfing vorzulesen. „Vitali schaut am liebsten Actionfilme und bescheuerte Komödien. Er hört am liebsten Rock und Punk-Pop, Hauptsache viele Gitarren. Bücher liest er nicht, er schaut lieber Filme oder liest Spielemagazine. Sein Hobby ist seine Spielekonsole. Seine Lieblingsfarbe ist Blau, aber bei seinen T-Shirts mag er alle schrillen Farben. Und am liebsten würde er irgendwohin, wo man Spiele designt.“ Vitali starrte sie ausdruckslos an. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. „Serena kennt dich wirklich gut, nicht wahr?“, rief Vivien grinsend. Zu spät erkannte Serena ihren Fehler. „Tu ich nicht!“, widersprach sie in viel zu schrillem Tonfall und schalt sich, dass sie nicht etwas hingeschrieben hatte, von dem sie wusste, dass es nicht stimmte. Das war so peinlich! Vivien ließ nicht locker und forderte Vitali zu einem Statement auf. „Aber du hattest mit allem Recht. Nicht wahr?“ Vitali wich Viviens Blick aus. Seine Stimme sollte wohl desinteressiert klingen. „Sie ist ja auch meine Beschützer-Partnerin.“ Irgendwie fühlte sich das an, als wäre sie dadurch berechtigt, so viel über ihn zu wissen. Viviens teuflisches Grinsen war aus ihrer Stimme herauszuhören. „Du hast ihn richtig gern, nicht wahr?“ Warum musste sie das - „Hab ich nicht!“, kreischte Serena lautstark. „Ich …“ Sie wusste sich nicht zu helfen. „Ich kann ihn gar nicht leiden.“ Im gleichen Moment schlug ihr Vitalis wütend-beleidigte Miene entgegen. Augenblicklich bereute sie ihre übereilten Worte. Sie hatte ja nicht wirklich gemeint, dass sie ihn nicht leiden konnte! Beschämt senkte sie den Blick. „Mach weiter.“, forderte Vivien sie auf. Serena seufzte innerlich und las auf ihrem Blatt, dass sie bei Vitalis Stärken ‚Unsinn reden‘ hingeschrieben hatte. Nachdem sie ihn eben schon beleidigt hatte, wollte sie das nun nicht nochmals tun. Auch die Pflanze war weniger vorteilhaft gewählt. Auf dem Blatt stand: Klette. Sie würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen. „Serena?“, fragte Vivien. „Ja.“, brummte sie und versuchte zu improvisieren. „Seine Stärke ist, …“ Ihr kam ihr Kennenlernen in den Sinn, als er zu ihr gerannt gekommen war. „…dass er mutig ist. Er denkt nicht darüber nach, bevor er jemandem hilft, er tut es einfach, auch wenn er sich dadurch in Gefahr begibt.“ Das Gleiche hatte er im Labyrinth getan, als sich die Wände aufeinander zu bewegt hatten. Allgemein schien er immer bereit, sein Leben für andere zu riskieren. Selbst für sie. „Er spielt gerne den Helden und denkt dabei überhaupt nicht an sich.“ Ihre Stimme wurde immer leiser. „Er ist echt ein Idiot…“ „Wieso bin ich deshalb ein Idiot!“, fauchte Vitali. Eriks Stimme erklang. „Hast du verstanden, dass sie dich gerade gelobt hat?“ Vitalis Grimasse nach zu urteilen, hielt er das für unmöglich. Sie konnte es ihm nicht mal verdenken, schließlich war sie sonst immer gemein zu ihm. „Du bist ein Idiot, weil du dich in Gefahr begibst, um anderen zu helfen!“, schimpfte sie. Vitali gab ein Grollen von sich und schwieg übelgelaunt, wobei er sie mit wütend-eingeschnapptem Gesichtsausdruck anstierte. Wieso war er jetzt - Serena versuchte sich auf ihr Blatt zu konzentrieren und verfluchte sich, dass sie es einfach nicht hinbekam, etwas anderes zu machen als Vitali zu beleidigen. Verdammt, was für eine Pflanze konnte er denn sein? Ihr fiel weder eine Blume noch ein Baum ein und ein Unkraut zu nennen, war sicher schon aus Prinzip beleidigend. Außerdem hatte sie keine Ahnung von Pflanzen! „Wenn Vitali eine Pflanze wäre, dann wäre er…“, setzte sie an. „Gras! Gras freut jeden und -“ „Willst du mich verarschen?“, rief Vitali. „Verflucht!“, kreischte Serena. „Ich versuche hier nett zu sein, du Vollidiot!“ „Was ist daran nett, wenn ich Gras bin?“ „Schönes, grünes Gras! Was wärst du denn lieber?!“, „Ne Stechpalme oder ne Distel oder ein Kaktus.“ Serena konnte es nicht fassen. All diese Pflanzen hätte sie als absolut beleidigend empfunden. Vitali redete weiter. „Auf jeden Fall kein langweiliges Gras.“ „Nur weil du mich auf die Palme bringst, bist du noch lange keine Palme! Und eine Distel und ein Kaktus sind einfach nur stachelig und zu gar nichts zu gebrauchen! Gras ist viel besser! Gras ist wichtig!“ „Gras wird einfach nur niedergetrampelt!“ „Gras ist für die meisten Tiere lebensnotwendig!“ „Jetzt willst du mich auch noch an Tiere verfüttern!“ „Dann sei doch ein Kaktus!“, schrie sie resigniert. Unerwartet kam Erik ihr zu Hilfe. „Gras ist widerstandsfähig, langlebig und genügsam. Und jeder mag es.“ Vitali starrte ihn an, dann verzog sich sein Gesicht, fast als wäre er enttäuscht. „Das hat sie bestimmt nicht gemeint.“, murrte er. „Doch hab ich, du Vollidiot!“, schrie sie. Vitali schien das immer noch anzuzweifeln. Serena stöhnte und fuhr fort. „Wenn du ein Tier wärst, wärst du ein Spatz.“ „Ein Spatz? Warum bin ich nichts Großes, Gewaltiges, wie ein Rhinozeros!“, fragte Vitali. „Das wäre ja wohl total beleidigend, wenn ich dich ein Rhinozeros nennen würde!“, rief sie. „Wieso?“ „Na weil…“ Serena fehlten die Worte. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Du bist ein Spatz. Du machst genauso viel Lärm und bist hektisch und ungeduldig und –“ „Süß.“, rief Vivien. Serena drehte sich mit unwilligem Gesichtsausdruck in ihre Richtung. „Ein Spatz ist doch süß.“, rechtfertigte Vivien sich unschuldig. Serena schwieg. „Sogar sehr süß. Wie sie sich plustern und so.“, sprach Vivien weiter. „Du magst Vögel, nicht wahr?“ Da sie Wellensittiche als Haustiere hatte, konnte sie das wohl nicht abstreiten. Sie wartete nur darauf, dass Vivien laut das Fazit verkündete, dass sie also Vitali mochte. Dergleichen geschah nicht. Reichlich verwirrt wartete Serena, aber Vivien schien tatsächlich nicht vorzuhaben, ihre Befürchtung in die Tat umzusetzen. Serena stöhnte leise und war froh, dass sie beim letzten Punkt angekommen war. „Die Eigenschaft, die ich am meisten an Vitali bewundere, ist, dass er einem nie lange wütend ist, egal was man macht.“ „Hey, es ist nicht egal, was man macht!“, beschwerte sich Vitali. Vivien mischte sich ein. „Du meinst, es ist wichtig, wer es macht.“ Sie grinste. „Ja.“, stimmte Vitali überzeugt zu. Serenas Gesichtszüge entgleisten. Erik schnaubte belustigt. „Also würdest du Serena alles verzeihen.“ Vitali verzog den Mund, seine Stimme schrumpfte zusammen. „Nicht alles.“ Das… das… „Du bist dran!“, rief Serena aufgewühlt, um das Gespräch zu unterbrechen.   Der Themenwechsel versetzte Vitali sofort in einer anderen Stimmung. Mit heroischer Begeisterung rief er „Ha-haa!“ aus, als würde er in eine Schlacht ziehen. Dass die Aufmerksamkeit aller nun auf ihn gerichtet war, musste er schließlich ausnutzen! „Erik steht auf Agentenfilme, deshalb stellt er sich auch mit ‚Donner, Erik Donner‘ vor.“ Er spielte dies nach. „Sein Musikgeschmack ist Hip Hop. Und seine Lieblingslektüre ist unser Wirtschaftsschulbuch. Da steht er nämlich total drauf!“ Er grinste über seinen eigenen Witz, denn seine Witze waren ohnehin immer die Besten. „Sein liebstes Hobby ist sich im Spiegel Anschauen, während er seine Muckis trainiert.“ Er untermalte die Aussage mit einer entsprechenden Bewegung seines Arms und kontrollierte, ob Erik darauf so amüsiert lächelte wie sonst, wenn er dumme Scherze riss. „Dunkelblau ist seine Lieblingsfarbe und am liebsten würde er mal an den Nordpol, weil er dann zur Abwechslung mal nicht cooler als seine ganze Umgebung wäre.“ Erneut grinste er Erik kurz zu und fuhr fort. „Und was er gar nicht abkann sind Tussis.“ Vergnügt wandte er sich an Erik. „Hab ich Recht oder hab ich Recht?“ Erik schüttelte amüsiert den Kopf. Vitali war überzeugt, dass das in Eriks Sprache ein großes Lob war. Das typisch gönnerhafte Funkeln trat in Eriks Augen. „Ich schaue keine Agentenfilme, ich bin von Natur aus geheimnisvoll und cool. Mit allem anderen hattest du natürlich Recht.“ Er grinste breit. „Hab ich’s doch gewusst!“, triumphierte Vitali. „Hab ich gewonnen oder was!“ „Erst soll Erik die richtigen Antworten nennen.“, meinte Ariane, die mal wieder viel zu ernst an die Sache ranging. „Das hat alles gestimmt!“, erwiderte Vitali, um sie etwas aus der Reserve zu locken. Ariane bedachte ihn nur mit einem gestrengen Blick – als wären sie bei einem Test und nicht bei einem albernen Spiel, das sich Vivien ausgedacht hatte. Wieso musste sie immer den strengen Oberlehrer raushängen lassen, sobald es um Erik ging? Sie wandte sich nun direkt an Erik, wohl weil sie sich keine vernünftige Antwort mehr von ihm – Vitali – erhoffte. Und damit lag sie definitiv richtig!. „Was für Filme siehst du gerne?“ Erik wurde wieder ernst und antwortete nicht sofort. „Ich habe da keine Präferenzen.“ „Aber du schaust doch sicher nicht alles gleich gerne an.“, beharrte Ariane. Merkte sie denn nicht, dass sie gerade die Stimmung killte? „Ich bin kein Filmefan.“ „Und Bücher?“, fragte Ariane weiter. „Sachbücher.“ „Aus welchem Bereich?“ „Verschieden.“ Vitali warf Ariane einen vielsagenden Blick zu, um ihr klarzumachen, dass sie diese Fragen lassen sollte. Doch sie war zu sehr auf Erik fixiert, um seine Hilfe auch nur zu bemerken! Mann, es war doch offensichtlich, dass Erik nichts Persönliches von sich offenbaren wollte!   Ariane wartete vergeblich und sah sie gezwungen, zur nächsten Frage überzugehen. „Hobbies?“ „Sport und Lesen.“ „Welcher Sport?“ „Verschieden. Kraftsport und Kampfsport. Das wechselt.“ Irgendwie kam es Ariane so vor, als würde er den Fragen ausweichen wollen. „Und du würdest gerne an den Nordpol?“, hakte sie nach. „Ich habe mir noch nie darüber Gedanken gemacht, wo ich hin will.“, sagte er.. „Noch nie?“ Erik antwortete nicht darauf. Sein Blick war Antwort genug. Ariane ließ es auf sich beruhen und sah die letzte Frage an, wagte es aber nicht sie zu stellen. Irgendwie ging sie davon aus, dass die Antwort darauf, was er nicht mochte, heißen würde: Dumme Menschen. Und sie wollte nicht einen Streit über diese Antwort vom Zaun brechen. „Du kannst jetzt weitermachen.“, sagte sie daher zu Vitali.   Gott sei Dank! Vitali atmete auf. So nett Arianes Interesse gemeint war, sie war echt nicht gut darin, Eriks Privatsphäre zu respektieren. Das hieß, er musste schnellstmöglich wieder die Stimmung heben! Und dazu setzte er sämtliche mimischen und gestischen Kniffe ein, die er parat hatte. „Eriks Stärke ist Coolsein.“ Er betonte das Wort, als würde er das Geräusch eines sich öffnenden Kühlraums in einem Hollywoodfilm nachmachen. „Und wenn er eine Pflanze wäre, wäre er eine fleischfressende Pflanze. So eine, die Fliegen frisst.“ Seine Hand machte Bewegungen, die das Auf und Zu eines Mauls darstellen sollten. „Als Tier wäre er ein Pfau. Wie er so herumstolziert.“ Bei dem letzten Wort hob er die Nase in die Höhe und wippte mit dem Kopf. „Ist ja echt schmeichelhaft.“, kommentierte Erik halbamüsiert. „Jepp.“, sagte Vitali. „Bloß bei der Eigenschaft, die ich am meisten an dir bewundere, konnte ich mich nicht entscheiden zwischen deiner Kohle und dem Umstand, dass dir die ganzen Tussis hinterher rennen.“ „Kannst du beides gerne haben.“, sagte Erik trocken. Vitali ließ sich davon nicht beirren. „Soll ich dir meine Kontonummer sagen, oder gibst du mir das Geld bar?“ Doch offenbar hatte er den falschen Witz gemacht. „Es ist nicht mein Geld.“, antwortete Erik grimmig. Tiny mischte sich ein. „Das sind überhaupt keine Charaktereigenschaften!“, beanstandete sie. „Natürlich sind das Charaktereigenschaften!“, behauptete Vitali. „Charaktereigenschaften sind, dass Erik intelligent und tiefsinnig ist, nicht redet, ohne zu denken, und weiß, wie man sich benimmt, im Gegensatz zu dir!“ „Wieso sollte ich das bewundern?!“, schimpfte Vitali pikiert über ihre Strafpredigt. „Das ist einfach nur langweilig! Schau ihn dir doch mal an. Mister Perfect. Es ist doch nicht bewundernswert, perfekt zu sein!“ „Natürlich ist das bewundernswert!“, giftete Serena. „Man kann ja wohl nicht die Fehler an jemandem bewundern!“ „Hä?“, rief Vitali. „Na klar! An Ariane bewundere ich, dass sie nach außen so normal und angepasst wirkt, aber in Wahrheit voll der durchgeknallte Geschichts- und Feminismus-Nerd ist.“   Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, da Ariane die Bezeichnung offensichtlich wenig schmeichelhaft fand. Vitali fuhr ungerührt fort. „An Justin, dass er sich bei Kleinigkeiten knallrot anläuft, obwohl er sonst so reif und erwachsen ist.“ Justin zog vor Scham den Kopf ein. „An Vivien, dass sie sich ständig komplett irre und aufdringlich aufführt und einem damit tierisch auf die Nerven geht, aber sie in Wirklichkeit ein teuflisches Genie ist, das immer das Gute will.“ Vivien lachte los. Ihr schien die Beschreibung zu gefallen. Vitali drehte sich zu Serena. „Und bei dir, dass du ne brutale Irre mit nem Disney-Schaden bist, bei der man nie weiß, ob sie einen im nächsten Moment umbringt oder losheult.“ Es war wirklich beeindruckend, wie Vitali bei jedem den wunden Punkt treffen konnte, ohne das auch nur mitzubekommen. Erik war sprachlos. „Das ist nicht ‚bewundern‘!“, keifte Serena aufgebracht. „Hä? Natürlich.“, widersprach Vitali. Serenas Stimme überschlug sich. „‘Bewundern‘ heißt, dass du selbst diese Eigenschaften gerne hättest!“ Vitali starrte sie völlig verständnislos an. „Wieso sollte ich die Eigenschaften von jemand anderem haben wollen?“ Serena fehlten die Worte. Erik grinste. Vivien klinkte sich ein. „Und gibt es nichts, was du an Erik ähnlich interessant findest?“   Vitali hätte nun gerne ‚seine Gedächtnisausfälle‘ geantwortet, aber aus gegebenem Anlass wäre das nicht gut gekommen. Seit Erik als Bedroher vor ihnen aufgetaucht war, hatten sie selbst das Rollenspiel nicht mehr erwähnt,. „Dass er sich aufführt wie ne Diva und genauso schnell beleidigt ist wie Serena, obwohl er sonst immer so männlich und cool tut.“, verkündete er.   Vitalis Bescheuertheit war für Erik immer wieder beeindruckend. Sie wirkte einfach so abstrus, dass er nicht anders konnte, als mit Neugier und Faszination auf dieses ihm fremdartige Phänomen zu reagieren. „Wieso bewunderst du die Schwächen von Leuten?“, fragte er. Vitali schaute ihn an, als wäre das offensichtlich. „Komische Leute sind einfach lustiger!“ Erik wusste nicht, ob er sich jetzt beleidigt fühlen sollte. Vitali führte weiter aus: „Ist doch voll doof mit Leuten abzuhängen, die langweilig sind.“ Erik unterließ es, Vitali darauf hinzuweisen, dass die Eigenschaften, die er offensichtlich als ‚interessant‘ klassifizierte, von normalen Menschen als nervige, seltsame Macken angesehen wurden. Etwas, das man allerhöchstens tolerierte, aber beim besten Willen nicht bewundernswert fand. Vivien kicherte. „Ist das nicht süß?“ „Das ist wohl eher bescheuert.“, blaffte Serena. Vivien Stimmlage wurde ungewohnt sacht. „Ich hab gedacht, Leute mögen mich wegen dieser Sachen nicht, aber …“ Das Strahlen kam zurück in ihr Gesicht. „Dass Vitali sie mag, macht mich glücklich.“ „Er mag diese Eigenschaften nicht, er findet sie nur lustig!“, widersprach Serena. „Aber das heißt doch, er findet sie nicht störend.“, meinte Vivien. Serena biss die Zähne zusammen. Alles, was Vitali über sie aufgezählt hatte, ihre Tendenz, schnell in Tränen auszubrechen, ihre Schwäche für Disneyfilme und dass sie oft ohne Grund gemein war, waren Dinge, für die sie sich offenkundig schämte. „Er wäre ja wohl ein Idiot, wenn er das wirklich gut finden würde!“, schimpfte sie. „Damit beruhigt er wahrscheinlich nur sein eigenes Ego, weil er sich dann nicht mehr wie der größte Trottel fühlen muss.“ Erik gab Vitali nicht die Gelegenheit darauf zu reagieren. „Tun wir das nicht alle?“, fragte er ernst. Er genoss Vitalis Gesellschaft besonders, weil es ihm so vorkam, als könne er sich vor ihm niemals blamieren. Vielleicht war das boshaft. Aber es hatte etwas Beruhigendes, wenn man jemandem nichts beweisen musste.   Serena konnte dem nicht widersprechen, schließlich fühlte sie sich selbst besser, wenn Vitali wieder irgendeinen Mist machte oder Dinge die sie verunsicherten, als selbstverständlich hinnahm. Dennoch passte es ihr nicht, dass Vitali das gleiche bei ihr empfinden sollte. Sie wollte niemandem das Gefühl geben, dass er schlauer oder besser war als sie. Das fühlte sich schrecklich an! „Das ist ja wohl Schadenfreude.“, murrte sie. Ariane meldete sich zu Wort. „Ich denke, wenn man einfach so sein kann, wie man ist, weil der andere auch Fehler hat – Das lässt einen weniger unsicher sein. Das hat nichts mit Schadenfreude zu tun, sondern mit Vertrauen.“ Serena schaute reichlich kritisch. „Du meinst, wenn jemand perfekt ist, kann man ihm nicht vertrauen?“ „Erstens ist niemand perfekt und zweitens geht es nicht darum, dass derjenige besonders viele Fehler hat.“, antwortete Ariane. Serena sah nicht überzeugt aus. Ariane drehte sich hilfesuchend in die Richtung von Vivien und Justin. „Wisst ihr was ich meine?“ Justin nickte. „Es geht darum, dass dir der andere das Gefühl gibt, du darfst so sein wie du bist und er dich genau so richtig findet.“   Auf die Worte hin zogen sich Eriks Augenbrauen zusammen. Justin hatte ihm zuvor gesagt, dass er so gut war wie er war. Er hatte das als Beleidigung aufgefasst, schlicht und einfach, weil er nur eine Rolle spielte. Dabei hatte er nicht begriffen, was Justin ihm tatsächlich hatte sagen wollen: Dass er ihn so nahm wie er war. Ganz egal, was er ihm zeigte… Vivien verkündete: „Dann versprechen wir jetzt einander, dass wir immer so sind wie wir sind, egal wie peinlich das ist!“ Serenas Stimme drohte ins Schrille abzudriften. „Was ist denn das für ein bescheuertes Versprechen?!“ „Du findest das bescheuert?“, fragte Vivien unschuldig. „Natürlich. Man kann doch nicht –“, Serena unterbrach sich. „So ist man höchstens bei der Familie.“ Vivien rief begeistert: „Aber wir sind doch jetzt auch wie Familie!“ Erik wusste nicht, ob es Absicht war, aber sie sah dabei in seine Richtung. Es war komisch, sie diese Worte sagen zu hören. Freundschaft ist etwas für gute Zeiten, rief er sich ins Gedächtnis. Doch Vivien schien die schmalzigen Albernheiten, die sie von sich gab, tatsächlich zu glauben. Sie sprach weiter. „Versprechen wir uns, dass wir einander immer so nehmen, wie wir sind und zueinander halten?“ Erik sah sich gezwungen, das Wort zu ergreifen. „Ich halte nichts von leeren Versprechungen.“ Entgegen seiner Annahme reagierte Vivien nicht mit ihrem Schmollmund, mit dem sie Justin allzu leicht umstimmen konnte, stattdessen lächelte sie zustimmend. „Du hast Recht!“ Sie klatschte auf ihre typische Art in die Hände.  „Wir brauchen nichts versprechen! Wir machen es einfach!“ Erik nahm mit leichter Besorgnis wahr, dass er Viviens Behauptung einfach so hinnahm, als wäre sie eine Wahrheit. Ihr Lächeln war aufrichtig und echt. Kapitel 110: Ein neues Drehbuch ------------------------------- Ein neues Drehbuch   „Im Allgemeinen sind die Bösen die besseren Rollen. Da kann man sich ausleben.“ (Mario Adorf, dt. Schauspieler)   Um neun Uhr abends hatte Frau Funke Serena abgeholt und dabei direkt noch Vitali, Ariane und ihn nach Hause gefahren. In Gedanken versunken, schloss Erik die Tür auf. Seit dem Gespräch mit den fünfen, konnte er nicht umhin, sich in Überlegungen zu ergehen. Über Freundschaft im Allgemeinen, über die Beziehungen von Menschen. Er betrat den Flur und schaltete das Licht an. Je größer die Distanz zu einem Menschen, umso besser. Nach diesem Motto hatte er gelebt. Und diesem Motto war er noch immer treu. Dennoch konnte er Viviens Sichtweise nicht einfach als unsinnig abtun. Das machte ihn nachdenklich. Er konnte nicht zu den fünfen gehören, gleichzeitig hatte er jedoch keine Lust, sich von ihnen zu trennen. Das war seltsam und gleichzeitig war es logisch. Er hatte schließlich keine schlechten Zeiten momentan. Wenn diese kommen sollten, würde er automatisch auf ihre Anwesenheit verzichten. Jemand trat aus dem Wohnzimmer in die Diele. Rosa. Dabei hatte er gehofft, sie wäre schon abgereist, wenn er nach Hause kam. „Da bist du ja!“, jauchzte Rosa, kam auf ihn zugestürmt und umarmte ihn. Da Erik davon ausging, dass Gegenwehr die ganze Prozedur nur verlängert hätte, ließ er es widerstandslos, wenn auch zutiefst widerwillig, über sich ergehen. „Ich muss mich doch noch von dir verabschieden!“ Derweil traten aus dem Wohnzimmer zwei weitere Personen. Dass sein Vater und seine Mutter aus dem gleichen Raum kamen, hatte etwas Unheimliches. Erik wusste nicht, wie lange das schon nicht mehr vorgekommen war. Immerhin hatten die beiden sogar getrennte Schlafzimmer. Endlich entfernte sich Rosa wieder von ihm und ging dazu über, seine Mutter in die Arme zu schließen. „Vielen herzlichen Dank für die Gastfreundschaft!“ „Du bist jederzeit willkommen.“ Die emotionslose, kalte Stimme seiner Mutter gab den Worten einen wenig glaubhaften Klang. Rosa jedoch schien ihre Schwester gut genug zu kennen, um sich daraus nichts zu machen. Sie lief zur Kommode, zog ihren leuchtendroten Mantel an und nahm schließlich ihren Autoschlüssel zur Hand. Zu Eriks Vater gedreht, hob sie bloß die Hand. „Tschüss!“ Anstatt sich jedoch wie erwartet einfach von ihm abzuwenden, blieb sie noch einen Augenblick stehen. „Du musst dich unbedingt besser um Erik kümmern! Er glaubt, du liebst ihn nicht.“ Eiswasser. Schock. Ertrinken. Sein Vater schien auf Rosas Worte nicht zu reagieren, keine einzige Regung in seinem Gesicht. Da war nur der Ausdruck von Verachtung, den er Arianes Vater gegenüber gezeigt hatte. Aber etwas schien hinter seinen grauen Augen zu lodern. Eriks Atmung wurde unregelmäßig, als würde ihn allein die Ahnung von dem, was hinter der Fassade seines Vaters ablief, zum Zusammenbrechen zwingen. Und doch konnte er den Blick nicht vom Gesicht seines Vaters abwenden, als wolle er all die Leiden, die er als Kind schon ertragen hatte, noch einmal aufleben lassen. Bilder der Vergangenheit kamen in ihm hoch. Rosa hatte sich derweil abgewandt und lief geradewegs auf Erik zu. Sie legte ihm eine Hand mitfühlend auf die Schulter. Er konnte seinen Blick nicht von seinem Vater abwenden. „Mach’s gut.“ Erik glaubte, sie wolle ihn verhöhnen. Er hörte, wie sie die Haustür öffnete. Die Kälte von draußen strömte herein, aber Erik fühlte es nicht. Sein Körpergefühl hatte sich in dem Moment verflüchtigt, als Rosa den Satz zu seinem Vater gesagt hatte. Noch einmal rief Rosas quietschfidele Stimme ein Tschüss, dann entfernten sich Schritte. Erik hörte wie seine Mutter zu der offenen Tür trat. Noch immer starrte er seinen Vater an. Er musste sich wegdrehen, er durfte nicht zeigen, dass er so fühlte. Er hatte es ihr nicht gesagt! Von draußen drangen Motorengeräusche. Die Luft war kalt. Erik starrte seinen Vater an. Das Motorengeräusch verklang. Der Ton der Tür, die ins Schloss fiel. Die Kälte ließ nach. In seinen Augenwinkeln sah er, dass seine Mutter sich in Richtung Wohnzimmer entfernte, ihn alleine ließ. Fast hätte er losgeweint wie früher. Er stand alleine vor seinem Vater. Etwas ging in dem Gesicht seines Vaters vor, das Erik noch nie gesehen hatte. Als würde das kalte Leuchten in den Augen seines Vaters gedimmt. Als wäre das, was er eben noch mit so starker Intensität bedacht hatte, abhanden gekommen, als stünde nichts mehr vor ihm, das es zu betrachten gab. Ohne Zorn, ohne gewollte Distanz, einfach als wäre er plötzlich von einem bösen Zauber belegt worden, der Erik unsichtbar für seine Augen machte, ging er ebenfalls ins Wohnzimmer zurück.  Erik stand reglos da und konnte nicht begreifen. Er sah die Garderobe, sah an sich herab und zog mit seltsamen Bewegungen seine Jacke aus, lief zur Garderobe und nahm einen Bügel. Das Geräusch, das seine Jacke und der Bügel dabei erzeugten, dröhnte in seinen Ohren und brachte sein Inneres zum Zucken. Er zitterte und versteckte seine Arme vor seinem eigenen Blick, wie um die Tatsache vor sich selbst zu vertuschen. Er atmete durch den Mund, wandte sich von der Garderobe ab zur Treppe. Er stürzte die erste Hälfte der Treppe hinauf, blieb auf dem ersten Treppenabsatz stehen, starrte hinauf. Viel zu klein für dieses riesige Haus. Er. Als wolle es ihn verschlingen. Erik lief die restlichen Stufen nach oben, wusste nicht, wozu er das tat. Konnte nicht mehr. Öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Alles war ein Meer aus Leere und Grau.   Ewigkeit schreckte aus ihrem Schlaf auf und hörte ihren eigenen hektischen Atem. Unsicher wandten sich ihre Augen nach links und nach rechts. Sie spürte keine Schatthen. Schwerfällig setzte sie sich auf. Vereinen und ihre Geschwister schliefen, ihre tiefen, leisen Atemzüge waren zu vernehmen. Ewigkeit dagegen rang noch immer nach Atem. Sie wandte sich zum Fenster um, aber der Himmel war heute bedeckt, sodass sie den Mond nicht sehen konnte, genauso wenig wie die Sterne. Etwas Unbekanntes ließ sie frösteln. Hastig zog sie die Puppendecke, die sie von Ellen bekommen hatte, fester um sich. Sie fürchtete sich davor, die Augen wieder zu schließen und umschlang ihre Beine mit ihren Armen und bettete ihr Gesicht auf ihre Knie, um sich selbst Halt zu geben. So saß sie da und harrte aus, in der Hoffnung, das seltsame Gefühl möge schnell von ihr ablassen.   Grauen-Eminenz packte den Jungen bei den Schultern, in einem Versuch, ihn vorm Zusammenbrechen zu bewahren. Der Schwarzhaarige sah schrecklich aus, völlig verstört, wie ein Tier auf der Flucht. Grauen-Eminenz hatte sein Auftauchen sofort gespürt, ein Ziehen in seinem Körper, als würden seine Gedärme sich verkrampfen. Dass der Junge das Schatthenreich überhaupt betreten konnte, lag vermutlich daran, dass  diese ominöse Wunde, das Gift von damals konserviert hatte und dadurch eine energetische Verbindung zu ihm als Meister dieses Reiches vorgaukelte, die den Zutritt autorisierte. Wie er allerdings das Portal überhaupt hatte finden können, war Grauen-Eminenz schleierhaft. Doch das war gerade seine geringste Sorge. Er hatte keine Ahnung, was mit dem Burschen passiert war. Er wirkte halb betäubt, als würde er ihn gar nicht wahrnehmen. In diesem Zustand war er aus dem Zimmer gestürzt gekommen, das Grauen-Eminenz für ihn eingerichtet hatte – zum zweiten Mal eingerichtet!, nachdem der Rotzbengel den Raum das letzte Mal völlig zerlegt hatte! Es war grotesk, denjenigen, der bei seinem letzten Besuch alles zertrümmert und eine beängstigende Aggressivität an den Tag gelegt hatte, nun so gebrochen zu sehen. War das wirklich noch die gleiche Person? Grauen-Eminenz stockte für einen Moment. Zögerlich lehnte er sich näher zu dem Jungen und sprach in vorsichtigem Ton. „Erik…?“ Bei dem Klang des Namens riss der Junge den Kopf hoch und stierte ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an. Als hätte Grauen-Eminenz mit seiner Anrede unwissentlich eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, ging plötzlich etwas im Gesicht des Jungen vor sich. Die Angst und Verwirrung wichen aus seinen Zügen und machten mehr und mehr einer abweisenden Härte Platz. Mit jäh wiedergewonnener Kraft schlug er Grauen-Eminenz‘ Arme beiseite und funkelte ihn an. Seine Stimme war dunkel und unheilverkündend. „Ich bin Secret.“   Samstag. Die fünf hatten den Vormittag mit Training verbracht. Ewigkeit war heute sogar erstaunlich sanft mit ihnen umgegangen. Ihr Ertüchtigungsprogramm hatte bloß den Kräfteeinsatz, ein Ausweichtraining und das halbstündige Üben ihrer individuellen Fähigkeiten umfasst. Sie waren dennoch erschöpft. Endlich durften sie ihr Hauptquartier verlassen. Während sie von dem Schleichpfad auf den Kiesweg des Parks traten, ergriff Vivien das Wort. „Heute ist Martinsumzug!“ „Und?“, fragte Vitali desinteressiert. Am Samstag vor dem elften November, dem Martinstag, fand in Entschaithal traditionell ein Festumzug statt. Ein als Sankt Martin verkleideter Mann mit rotem Mantel führte hoch zu Ross den Zug von singenden Kindern mit Laternen an. Begleitet wurde das Spektakel von einer Musikkapelle, die Martinslieder anstimmte. „Ewigkeit hat noch nie an einem teilgenommen. Meine Geschwister haben ihr davon erzählt und sie möchte dorthin. Weil es doch ein Lichterfest ist und sie leuchtet! Und sie würde sich sicher riesig freuen, wenn wir alle sie begleiten!“ Ewigkeit nickte eifrig. „Äh?!‘“, machte Vitali. „Ganz sicher nicht! Das ist für Kleinkinder! Ich lauf doch nicht mit nem Haufen Kinder rum!“ Ewigkeit sah ihn mit großen feuchten Kulleraugen an. „Vergiss es!“ „Wenn es für Kleinkinder ist, passt du doch hin.“, meinte Serena provokativ. „Wer liest Mangas?“, gab Vitali zurück. Serena warf ihm einen bösen Blick zu. Ariane ging über die Streitereien hinweg. „Ich war schon ewig nicht mehr auf einem Sankt-Martins-Umzug.“ „Ja, weil du kein Kind mehr bist.“, kommentierte Vitali. „Du meinst mit Laternen?“, fragte Justin Vivien. Er war sich sicher, dass seine alte Laterne längst im Müll gelandet war. „Wie du magst. Wir können auch ohne mitsingen. Ewigkeit ist ja unser Licht.“, kicherte Vivien. Fröhlich klingelnd schwirrte Ewigkeit um die fünf. „Ich geh auf keinen Fall mit.“, nörgelte Vitali und machte den Ansatz, noch mehr zu sagen. Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Der schrille Ton ihres Beschützerinstinkts jagte durch ihre Schädel. Ihnen blieb nicht die Zeit zu reagieren. Von links, von der Wiese stürmte ein Schatthen auf sie zu. Gerade noch im letzten Moment setzte Ariane ihren Schutzschild ein. Die Bestie knallte mit voller Wucht dagegen, der Schild hielt. Justin hob den Arm, um den Schatthen zu beschießen, dieser wich geschickt aus. Vivien wollte ihm Beistand leisten, doch schon verwandelte sich der Schatthen in einen schwarzen Fleck und huschte über den Boden. Wie automatisch wichen die fünf näher zu der Baumgruppe zu ihrer Rechten. Etwas stürzte sich auf sie. Als bestünde der Schutzschild nur aus Luft, glitt der Angreifer hindurch, landete hinter Ariane und Vitali und hatte im gleichen Atemzug seine Arme um die Schultern der beiden gelegt. „Lange nicht gesehen.“ Geschockt drehten sich die anderen drei zu dem Angreifer, den sie wie Ariane und Vitali bereits an der Stimme erkannt hatten. Keiner von ihnen wagte es, einen Ton von sich zu geben. Der Schatthen nutzte die Ablenkung zu seinem Vorteil, materialisierte sich und warf sich gegen den Schutzschild. Ariane zuckte unter dem Aufprall zusammen. Justin zögerte eine Sekunde, unsicher, ob es sinnvoll war, Secret den Rücken zuzukehren, dann drehte er sich wieder in die Richtung des Schatthens und wollte seine Kräfte einsetzen, als Secrets Stimme ihn innehalten ließ. Er gab ein tadelndes Geräusch von sich, als sei Justin ein ungezogener Junge und ließ dabei nicht von Ariane und Vitali ab. „Wenn du willst, dass den beiden hier nichts passiert, solltest du das besser lassen.“ Sich schwer beherrschend, senkte Justin seinen Arm und drehte sich wieder zu Secret um. Aus Arianes Augen sprach Entsetzen, während Vitalis Gesicht wutverzerrt war. Da Secret ihn berührte, konnte er nicht teleportieren, ohne den Bedroher automatisch mitzunehmen. Und Secret schien genau das beabsichtigt zu haben. Sein hämisches Grinsen schlug Justin und Vivien entgegen, ehe es bei Serenas Anblick noch schadenfroher wurde. Wenn sie ihn paralysierte, während er sich hinter Ariane und Vitali versteckte, würde sie auch Ariane treffen, die einzige, die die Paralyse wieder aufheben konnte. „Was willst du?“, fragte Justin langsam und vorsichtig. „Begrüßt man so einen alten Freund?“, fragte Secret höhnisch. „Freunde greifen einander nicht an!“, brauste Serena auf. Secret grinste über die Maßen amüsiert, als habe Serena sich mit diesem Satz ins eigene Fleisch geschnitten und als würde er den Anblick genießen. Automatisch zog Serena ihre Schultern hoch wie zum Schutz. Es schien, als würde Secret ihr mit diesem Grinsen all die Male vorhalten, in denen sie sich gegen ihre Freunde gewandt hatte. Wieder und wieder prallte der Schatthen derweil gegen den Schutzschild, sodass Ariane von der Anstrengung, die sie das Aufrechterhalten kostete, schwer zu atmen begann. „Ariane, lös das Schild auf!“, befahl Justin. „Du willst doch nicht, dass uns der Schatthen kriegt.“, meinte Secret mit verschlagenem Lächeln. „Es verursacht ihr Schmerzen, wenn er gegen den Schild rennt.“, antwortete Justin so ruhig wie möglich. Allein seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Ach.“, machte Secret in gespieltem Mitleid. „Desire nimmt das sicher zu gerne auf sich für ihren Secret.“ Er lehnte sich zu ihrem Ohr. „Sieh es als Buße dafür, dass du mich im Schatthenreich zurückgelassen hast.“ Justin sah, wie das Leben aus Ariane zu weichen schien. Ihre Augen wirkten für eine Sekunde vollkommen leer. „Sie hat dich nicht zurückgelassen!“, brüllte Justin so laut wie noch nie in seinem Leben. Ein kehliges Lachen erklang. „Das hat sie mir aber anders erzählt.“ Secret grinste teuflisch. „Lass sie los!“, kreischte Serena schrill. „Also wirklich. Man könnte ja fast meinen, ihr hättet Angst, ich könnte euch was tun.“ Er sah zu Vitali, der ihn feindselig anfunkelte. Plötzlich riss er seinen Kopf wieder zu den anderen. „Haltet eure Motte fern, wenn ihr nicht wollt, dass ich sie zerquetsche!“ Ewigkeit hatte gerade den Ansatz dazu gemacht, Secret zu attackieren, und hielt abrupt inne. „Ariane, lös den Schutzschild auf.“, sagte Justin erneut. Ariane reagierte nicht, sie verzog nur das Gesicht in stummer Pein, während der Schatthen weiter gegen die Barriere ankämpfte. Secret höhnte. „Braves Mädchen.“ Ariane drehte ihm ihr Gesicht zu. Ihre Augen blitzten mörderisch. Doch Secret schien dies nur anzustacheln. Sein Grinsen wurde noch breiter, als habe er sie endlich da, wo er sie haben wollte. „Wir müssen uns kurz verabschieden. Desire, Change und ich teleportieren mal kurz da vorne in den Waldweg, damit ihr euch um den Schatthen kümmern könnt.“ Vitali stierte Secret an, als würde er den Teufel tun, seine Befehle zu befolgen. Die anhaltenden Attacken des Schatthens setzten Ariane jedoch immer mehr zu. Lange würde sie das nicht mehr aushalten. „Tu es.“, befahl Justin. Vitali gaffte ihn ungläubig an. „Wir kommen alleine zurecht.“, versicherte Justin. „Du kannst sie nicht mit ihm gehen lassen!“, kreischte Serena aufgeregt. „Tu es!“, wiederholte Justin, während Ariane unter einem erneuten Aufprall fast zusammengesackt wäre. Vitali teleportierte.   Vitali, Ariane und Secret tauchten auf dem Waldweg wieder auf, den Secret genannt hatte. Im gleichen Moment ließ er von den beiden ab, worauf sie von ihm wegschreckten. Wie angewurzelt blieben sie stehen, als befürchteten sie, dass Secret sie bei der kleinsten Bewegung angreifen würde. Secret verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf leicht schief und grinste, als warte er darauf, was sie als nächstes tun wollten. Tatsächlich besaßen weder Ariane noch Vitali Fähigkeiten, die ihnen in einem Kampf gegen Secret von großem Nutzen waren. „Offenbar zieht ihr es vor, mein gutes Aussehen zu bewundern, statt euren Freunden zu Hilfe zu eilen. Das kann ich natürlich verstehen. Auch wenn es nicht wirklich heldenhaft ist.“ Vitali biss die Zähne zusammen, weil er diesem Großmaul zu gerne eine reingehauen hätte, hätte er gewusst wie. Dann spürte er, wie Ariane seine Hand ergriff, und drehte sich in ihre Richtung. Arianes Blick war auf Secret fixiert, der aussah, als hätte er einen Heidenspaß. Einen weiteren Moment zögerten sie. Wenn sie Secret aus den Augen ließen, griff er sie vielleicht erneut aus dem Hinterhalt an. Andererseits hatten sie ihm ohnehin nichts entgegenzusetzen. Was sollten sie tun? Secret hob die Augenbrauen, wie um sie zu fragen, wie lange sie noch überlegen wollten. Vitali setzte seine Kräfte ein.   Secret lächelte selbstzufrieden und schlenderte in aller Seelenruhe zu dem Portal, das für die Beschützer offenbar nicht sichtbar gewesen war. Gut zu wissen. Kurz überlegte er, ob es nicht eine Verschwendung war, jetzt schon zu gehen und den Kampf zwischen den Beschützern und dem Schatthen zu verpassen. Aber Schatthen waren dumm. Wie interessant konnte so ein Kampf schon sein? Außerdem durfte ein guter Bösewicht es bei seinem ersten Auftritt nicht übertreiben. Er musste schließlich undurchsichtig und geheimnisvoll wirken. Wieder nahm ein breites Grinsen seine Züge ein. Vergnügt trat er durch das Portal.   Ariane und Vitali erschienen bei den anderen. Serena, Justin und Vivien standen weit voneinander entfernt, als habe der Schatthen sie auseinander getrieben oder als hätten sie sich absichtlich aufgeteilt. Auf die Schnelle konnten Ariane und Vitali das nicht ausmachen. Allerdings wirkte besonders Serena nicht gerade, als würde alles nach Plan verlaufen. Auf den ersten Blick war der Schatthen nicht zu entdecken. Allein die Blicke der anderen, die auf den Boden fixiert waren, verrieten, dass die Bestie noch nicht besiegt war, sondern ihre Schattenform angenommen hatte. Schneller als ihm das Auge folgen konnte, hatte der Schatthen sich wieder materialisiert und stürzte sich auf die von Panik befallene Serena. Im gleichen Moment knallte Vitali mit voller Wucht gegen Serenas Seite und riss sie damit zu Boden. Er hatte sich ohne Verzögerung zu ihr teleportiert. Sofort wurde er gelähmt.   Die Paralyseattacke traf nicht nur Change sondern auch den Schatthen. Ehe die Bestie jedoch auf Serena und Vitali fallen konnte, wurde sie von Vivien und Justin bereits aufgelöst. Die anderen kamen zu den am Boden Liegenden gerannt. Serena atmete hysterisch und schien nicht begriffen zu haben, dass nicht der Schatthen sie mitgerissen hatte und auf ihr gelandet war. „Es ist Vitali.“, sagte Vivien ruhig, als müsse sie Serena aus einer Schockstarre befreien. Mit geweiteten Augen wagte es Serena daraufhin, sich zu bewegen und erkannte, dass es sich bei dem Gewicht, das auf ihr lastete, tatsächlich um ihren Beschützerpartner handelte, der sich jedoch nicht regte. Sie stieß einen unwillkürlichen Schluchzer aus, weil sie für einen Moment glaubte, der Schatthen habe ihn verwundet oder Schlimmeres. Ariane war bereits dabei, ihn von der Paralyse zu befreien. Vitali stieß einen Fluch aus und stieß sich ab, um von Serena wegzukommen. Er ließ sich wieder auf den Boden fallen. „Ich dachte, ich bin tot!“ Serena fing jäh an in weitere Schluchzer auszubrechen. Vivien war sofort zur Stelle und nahm sie in ihre Arme. „Alles okay bei euch?“, erkundigte sich Justin bei Ariane und Vitali. Ariane konnte sich zu keiner Antwort durchringen. Justin wartete auch nicht darauf. „Wo ist Secret?“ „Keine Ahnung.“, antwortete Vitali genervt. „Wo ist der Schatthen?“ „Serena hat ihn paralysiert und wir haben ihn aufgelöst. Ganz nach Plan.“, eröffnete ihm Vivien. „Es war wahrscheinlich, dass er auf denjenigen losgehen würde, der die meiste Angst hat.“ „Hättet ihr auch vorher sagen können.“, maulte Vitali. Er schaute zu Serena, die immer noch weinte. „Was ist eigentlich dein Problem!“, schrie er sie an. „Du hast mich schon wieder paralysiert und ich heul auch nicht, oder?“ Ariane schluckte. „Vielleicht weint sie ja nicht deshalb.“ Vivien strich Serena nochmals tröstend über den Kopf. Serena entfernte sich aber bereits wieder von ihr und setzte sich auf. Sie hatte keine Lust, den Grund für ihren emotionalen Ausbruch zu erklären. Aber wenn sie daran dachte, dass Vitali nichts passiert war, wollte sie schon wieder losweinen. Das lag sicher an dem Schock. In Schocksituationen war man eben nicht ganz zurechnungsfähig. „Ist Secret noch in der Nähe?“, verlangte Justin zu erfahren. Ohne aufzublicken gab Ariane gestisch zu verstehen, dass sie es nicht wusste. Vitali stieß einen weiteren Fluch aus. Sie waren wieder da, wo sie vor einer Woche schon gewesen waren. Ewigkeit landete geknickt auf Justins Schulter. Vivien stand wieder auf und holte das Handy aus ihrer Jackentasche. Sie wählte eine Nummer aus und hielt sich das Handy ans Ohr. „Was tust du?“, wollte Ariane wissen. „Ich rufe Erik an.“ Ariane hatte nicht die Kraft, darauf zu reagieren. Der Unglaube zeichnete sich nur noch schwach auf ihrem Gesicht ab. „Wenn er wieder er selbst ist, ruft er zurück.“, meinte Vivien wie selbstverständlich. „Wieso glaubst du, dass er wieder normal wird?“ Arianes Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren schrill. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist er jetzt langfristig Secret oder aber das ist eine Dr. Jekyll – Mr. Hyde Geschichte und er verwandelt sich immer wieder zurück.“, antwortete Vivien. „Das ist überhaupt keine Geschichte! Das ist die Realität!“, schrie Ariane aufgelöst. „Du weißt, wie sie das gemeint hat.“, sagte Justin sachte. Ariane senkte das Haupt. „Heute war anders als das letzte Mal. Das ist ein anderer Secret.“, mutmaßte Vivien. „Wow!“, spottete Vitali. „Er hat nicht versucht, uns eigenhändig zu töten, sondern hat es einem Schatthen überlassen. Ein echter Fortschritt!“ Serena sah zu Vivien auf. „Was hast du vor?“ Es klang nicht argwöhnisch, sondern als sei sie bereit alles zu tun, was Vivien von ihr verlangte. Vivien schenkte ihr ein dankbares Lächeln. „Wir hatten lange genug Zeit uns auf alles vorzubereiten.“, sagte sie. „Lange genug Zeit? Bist du irre?“, stieß Ariane fassungslos aus. „Es war klar, dass Secret wieder auftauchen würde, deshalb habe ich einen Notfallplan entwickelt.“, klärte Vivien sie auf. „Warum hast du uns darüber nichts gesagt!“, warf Ariane ihr vor. Ein trauriges Lächeln erschien auf Viviens Lippen. „Weil du glücklich warst.“ Ariane verkrampfte ihre Kiefer, weil sie nicht wusste, was sie darauf entgegnen sollte. Sie war wütend auf Serena gewesen, als sie sie an die Gefahr, die von Erik ausging, erinnert hatte. Und nun war sie wütend auf Vivien, weil sie es nicht getan hatte. „Was soll das bringen?“, fragte sie desillusioniert. „Willst du lieber hier sitzen und dich in Selbstmitleid suhlen?“, gab Serena zurück und stand auf. „Wir werden alles tun, um Erik zu helfen, ist das klar!“ Ariane war empört, dass sie sich das ausgerechnet von Serena sagen lassen musste. Als wüsste sie das nicht selbst! „Wir könnten ihm einfach eins überbraten.“, meinte Vitali und erhob sich ebenfalls. „Vielleicht kommt er dann wieder zu sich.“ „Wenn wir ihm so nahe kommen würden.“, entgegnete Ariane bitter. „Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte sie Vivien. „Ganz einfach.“ Vivien begann zu erklären.   Grauen-Eminenz war wütend, sehr wütend sogar. Da hatte er diesem unverschämten Bengel gestattet, im Schatthenreich zu bleiben, und was kam dabei heraus? Kaum war er kurz weg, fehlte ein Schatthen! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Weder hatte er dem Rotzbengel erlaubt, in seiner Abwesenheit mit den Schatthen zu spielen, noch überhaupt in ihre Nähe zu kommen! Nirgends war auch nur das geringste Überbleibsel des Schatthens zu finden. Was zum Teufel hatte der Junge angerichtet! Hatte er den Schatthen etwa einfach aus dem Schatthenreich entkommen lassen? Er würde ihn umbringen! Das war das Problem, wenn Leute davon ausgingen, dass man sie nicht tötete! – Und damit auch noch richtig lagen! Den Schatthen konnte man zur Strafe einfach die Glieder abtrennen und danach eben wieder anbringen, das ging bei Menschen leider nicht. Und andere Folterarten sorgten leider auch für bleibende Schäden. Wie ging man bloß mit Menschen um, wenn man sie nicht einfach quälen konnte, um sie zu konditionieren? Grauen-Eminenz stürmte in Secrets Zimmer. Er wusste, dass der Junge sich dort aufhielt. So viel Kontrolle hatte er wenigstens noch über sein eigenes Reich. Gerade im Begriff loszuschreien, erkannte er, dass der Junge in seinem Bett lag und schlief. Nicht dass das Grauen-Eminenz davon abgehalten hätte, ihn anzuschreien und aus dem Schlaf zu reißen. Was den Schatthenmeister stutzen ließ, war die Kleidung des Jungen. Zuvor hatte er eine graue Uniform getragen, nun lag er in normaler Straßenkleidung da. Grauen-Eminenz ging nicht davon aus, dass er sich mal kurz umgezogen hatte. Er hatte die Verwandlung der Beschützer auf seinen Videobändern mehrfach in Augenschein genommen und wusste daher, dass ihre Kleidung einfach auftauchte und dann wieder verschwand. Es war davon auszugehen, dass es sich bei Secret genauso verhielt. Das hieß, Secret hatte sich zurückverwandelt. Im Gegensatz zu den Beschützern schien sich Secret aber an seine Identität als Erik nicht erinnern zu können, solange er sich im verwandelten Zustand befand. Der Junge hatte ein echtes Psycho-Problem. Aber er würde ganz sicher nicht die Rechnung für einen Seelendoktor zahlen! Wo waren die Erziehungsberechtigten?! Ob der Junge nun wieder sein Bewusstsein als Erik wiedererlangt hatte, war leicht zu kontrollieren. Kapitel 111: Normal ist, was du draus machst -------------------------------------------- Normal ist, was du draus machst   „Wir werden einen Weg finden, und wenn wir keinen finden, dann bauen wir einen.“ (Werbespruch der Sabadello technologie GmbH)    Die fünf befanden sich zusammen mit Ewigkeit in einem Kaufhaus in der Spielwarenabteilung. Vivien hatte ein Gespräch darüber angefangen, mit was sie in der Kindheit am liebsten gespielt hatten. Nach anfänglichem Zögern, hatten sich Serena und Vitali dazu hinreißen lassen, laute Diskussionen darüber zu führen, während Ewigkeit heiter um sie herumschwirrte. Alles wirkte, als würden sie einfach nur eine gute Zeit miteinander verbringen. Mehr als einmal lachte Vivien. Ariane konnte nicht lachen. Dass es sinnvoll war, dass sie nicht zu sich nach Hause gingen, damit ihre Familien nicht in eine etwaige weitere Begegnung mit Secret hineingezogen wurden, war ja noch logisch gewesen. Dass sie Secret nicht auf ihr Hauptquartier aufmerksam machen wollten, auch. Selbst dass es sinnvoll war, nicht die ganze Zeit in der Kälte zu warten, gestand sie ein. Aber dass die anderen, insbesondere Serena, Vitali und Vivien, sich hier ausgelassen amüsierten, war ihr unbegreiflich. Missmutig starrte sie auf eines der Regale, auf dem irgendwelche fernsteuerbaren Bagger und Sportwagen standen. Was, wenn Erik nicht anrief? Was, wenn er nicht mehr zu Erik wurde? Was sollten sie dann tun? Was konnten sie tun? Die Gedanken machten sie wahnsinnig. Vivien trat zu ihr und sah sie fragend an, als könne sie nicht verstehen, warum Ariane nicht genauso ausgelassen war wie Serena und Vitali. Dabei sah Justin auch nicht gerade so aus, als würde er vor Freude gleich Luftsprünge machen. Dennoch hatte er sich im Gegensatz zu Ariane nicht von der Gruppe abgesetzt und antwortete stets, wenn er angesprochen wurde. Ariane seufzte nur als Antwort auf Viviens ungeäußerte Frage und sprach es schließlich laut aus. „Das ist unangebracht.“ „Was?“ „Das wir uns hier vergnügen, während wir überhaupt nicht wissen, was mit Erik ist!“, sagte sie erregt. „Und was sollen wir stattdessen tun?“ Ariane drehte ihren Kopf zur Seite. Sie fand es nicht gerecht, dass Vivien ihr diese Frage stellte. Ihr war durchaus bewusst, dass sie selbst keine Lösung hatte. Aber das hier erschien ihr einfach falsch und taktlos, als würden sie sich auf Eriks Kosten amüsieren. Schlussendlich war sie wohl einfach frustriert. Wie hätte sie sich auch erlauben können, unbekümmert zu sein, während Erik leiden musste? Sie wollte sich vor Vivien nicht rechtfertigen. Plötzlich erklang das Lied ‚I’m sexy and I know it‘ aus Viviens Richtung. Prompt hatte Vivien ihr Handy zur Hand und nahm den Anruf entgegen. „Hallo!“, begrüßte sie den Anrufer fröhlich. Im gleichen Moment hatten sich die anderen um sie versammelt. Ariane getraute sich nicht zu fragen, ob es sich bei dem Anrufer um Erik handelte. Von Viviens sorglos heiteren Worten konnte sie jedenfalls nicht darauf schließen und die Ungewissheit brachte sie fast um. „Kein Problem.“, sagte Vivien. Pause. „Achja. Warte mal kurz. Ich schalte dich auf Lautsprecher.“ Der Anrufer sagte nichts. „Also, ich wollte fragen, ob du uns auf den Martinsumzug begleiten willst. Die anderen kommen auch alle mit.“, sagte Vivien. Bei den nächsten Worten riss Ariane die Hände vor den Mund. „Martinsumzug?“, fragte Eriks Stimme skeptisch. „Ist das euer Ernst?“ „Das hab ich auch zu ihr gesagt!“, rief Vitali in den Hörer. „Die anderen sind auch bei dir?“, fragte Eriks Stimme aus dem Lautsprecher. „Jupp, wir sind zusammen im Kaufhaus. Dich hab ich nicht erreicht.“, antwortete Vivien. Eriks Stimme klang gedrückt. „Ja.“ „Geht’s dir nicht gut?“ Vom anderen Ende kam kurz kein Laut. „Erik?“ „Nein, alles okay.“ „Dann ist ja gut. Ich begleite meine Geschwister sowieso auf den Umzug und ich dachte, es wäre lustiger, wenn wir alle zusammen dort wären.“ Wieder kurzes Schweigen. Vivien redete weiter. „Der Umzug beginnt bei der Grundschule. Wir könnten dich bei dir zu Hause abholen. Ariane kommt auch!“ Ariane wurde von dem Satz kurz aus ihrer Lethargie gerissen. Entnervt verzog sie das Gesicht. Sie empfand es allgemein als lästig, dass Vivien überall potentielle Pärchen bilden musste und auch sie und Erik zu einem erklärt hatte. Als wären sie unreife Kinder, die nichts mit Personen des anderen Geschlechts unternehmen konnten, ohne dass es gleich Gerüchte über irgendwelche Liebesbeziehungen gab. Angesichts der momentanen Situation war das jedoch nicht mehr nur störend, sondern völlig daneben. Egal wie lustig Vivien das finden mochte. Hier ging es um Erik! Und überhaupt hatte Ariane Verhalten dieser Art schon in der Grundschule verabscheut. Sie hatte sich damals nicht mal mit einem Jungen unterhalten können, ohne gleich von den anderen Mädchen gefragt zu werden, ob sie in ihn verknallt war! Das Problem hatte spätestens in der Mittelstufe eine andere Richtung genommen. Die Jungs hatten irgendwann angefangen, sie nicht mehr wie ihresgleichen zu behandeln, sondern wie ein ‚Mädchen‘. Als wäre das eine Krankheit, die bedeutete, dass sie zu einem fremdartigen Wesen mutiert war. Eines, über das man sich entweder lustig machte oder dessen Zuneigung es zu erringen galt. Bis heute fand sie das kindisch und unreif! Umso froher war sie, dass sie bei Vitali und Justin keinen Gedanken an diesen Unsinn verschwenden musste. Zugegeben, ihr Verhältnis zu Erik war nicht ganz so unkompliziert. Da er ihr Verhalten bei der ersten Begegnung als Anmache fehlgedeutet hatte, hatte sie sich anschließend darum bemüht, ihm nicht erneut Anlass zu solch kindischen Fehlurteilen zu geben. Vermutlich lag Viviens Irrglaube, Erik habe romantisches Interesse an ihr, an einem völligen Missverständnis seiner boshaften Neigung, sie zu triezen und sich Wortgefechte mit ihr zu liefern. Vivien hielt das wohl für eine Art Annäherungsversuch – ein extrem plumper und wenig geistreicher. Wie konnte irgendjemand nur glauben, dass das Gegenüber ein solches Verhalten als Ausdruck von Zuneigung verstehen könnte? Man war doch wohl besonders nett zu demjenigen, den man mochte, wenn man nicht völlig falsch gepolt war. Aber Vivien glaubte ja auch felsenfest, dass Serena und Vitali ein hübsches Paar abgeben würden. Zum Glück wusste sie, dass Eriks Verhalten – wenn es auch nicht auf den umgänglichsten Charakter hindeutete – zumindest nicht dazu gedacht war, ihr zu imponieren und sie zu erobern. Erik behandelte sie immer intellektuell ebenbürtig, nicht als wäre sie Beute. Außerdem war er niemand, der Freundlichkeit und Respekt heuchelte, nicht mal wenn die Höflichkeit es gebot… Seine Stimme ertönte. „Um wie viel Uhr?“   Vitali hetzte die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Ariane und Serena hatte er angewiesen vor dem Haus zu warten, damit sie ja nicht seiner Mutter über den Weg laufen konnten. Sie hatten sich im Stadtzentrum von Vivien und Justin getrennt und den Bus zu Vitali nach Hause genommen, weil er seine Powerbank holen musste. Sein Handyakku war mal wieder leer und da keiner von ihnen vorhersagen konnte, wie das Treffen mit Erik verlaufen würde, waren sie auf jedes Mittel, das eine Verbindung zwischen ihnen herstellen konnte, angewiesen. Als Vitali die Tür zu seinem Zimmer aufriss, wäre er fast in seine Mutter und seinen kleinen Bruder Viktor hineingerannt. „Vitali!“, tadelte sie. „Warum hast du‘s jetzt schon wieder so eilig?“ Er lief an seiner Mutter vorbei und versuchte, von ihr in keine ellenlange Diskussion verstrickt zu werden. „Ich hol nur die Powerbank.“ „Und wo willst du hin?“ Dieser Antwort wäre er gerne entgangen. „Die anderen wollen auf den Umzug.“, nuschelte er. „Was? Sprich gefälligst lauter!“ „Wir gehen zum Umzug.“, grummelte er. „Zum Martinsumzug?“, fragte seine Mutter ungläubig. Vitali tat so, als hätte er die Frage nicht gehört, hatte seine Powerbank in seiner Tasche verstaut und wollte sich schnellstmöglich wieder aus dem Staub machen, als seine Mutter sich ihm auch schon in den Weg stellte. „Das ist ja wunderbar! Dann kannst du doch Vicki mitnehmen!“ „Was?“ Er hatte sich wohl verhört! „Er geht auch auf den Martinsumzug.“, erklärte seine Mutter, während sein Bruder stumm daneben stand. Das durfte nicht wahr sein. „Was hat das mit mir zu tun?“, schimpfte Vitali. Er konnte seiner Mutter ansehen, dass sie gleich explodieren würde, wenn er nicht sofort tat, was sie von ihm verlangte. „Er ist viel zu alt für so was!“, versuchte er sich rauszuwinden. „In seinem Alter geht man nicht mehr mit ner Laterne rumlaufen!“ „Deshalb trägt er dieses Mal auch eine Fackel.“, blaffte seine Mutter. „Maaam, das kannst du nicht machen!“ „Du nimmst deinen Bruder mit oder du bleibst hier!“, bellte seine Mutter ihren unumstößlichen Richterspruch. Vitali gab einen tiefen Laut völliger Entnervtheit und Wut von sich, warf Vicki einen wütenden Blick zu und stapfte dann mit brodelndem Zorn im Bauch aus dem Zimmer.   Justin und Vivien waren derweil auf dem Weg, Viviens Geschwister abzuholen. Sie hatten Ewigkeit bereits vorgeschickt, um Kai und Ellen in die Umstände einzuweihen und darüber aufzuklären, wie sie sich verhalten sollten, falls es gefährlich wurde. Es war jetzt kurz nach sechzehn Uhr und das Tageslicht ging langsam in ein gräuliches Zwielicht über. Justin hielt den ganzen Plan für viel zu leichtsinnig. Viviens Geschwister in Gefahr zu bringen, obwohl sie nicht wussten, wann Erik sich das nächste Mal verwandelte – falls er wirklich wieder er selbst war und nicht am Telefon nur geschauspielert hatte – war einfach unverantwortlich! Überhaupt ging es nicht an, dass sie Erik auch noch in die Nähe von zahllosen Kindern brachten, die er allesamt als Druckmittel verwenden konnte. Es wäre angebracht gewesen, sich alleine mit Erik zu treffen. Das hier war ihr Problem und sie durften auf keinen Fall jemand anderen mit hineinziehen. Das hatte er schon die ganze Zeit gedacht, aber Vivien hatte so überzeugt geklungen, so unumstößlich hatte sie ihren Plan dargestellt, dass er all seine Einwände heruntergeschluckt hatte. Es reichte. Justin blieb stehen. Vivien bemerkte es und drehte sich zu ihm um. „Das ist falsch.“, sagte er mit fester Stimme. „Unnötig andere Menschen in Gefahr zu bringen. Das ist – Das bringt überhaupt nichts. Wozu?“ „Weil es normal sein soll.“, antwortete Vivien fast tonlos. „Wenn viele Menschen um uns herum sind, wird die Atmosphäre nicht so angespannt sein.“ Sie klang nicht so fröhlich wie sonst. Ihre ungewohnte Stimmlage ließ ihre Worte fast belehrend wirken. „Dafür bringen wir Menschen in Gefahr?“, fragte er errregt. „Das ist keine gute Idee. Es ist als würden wir eine tickende Zeitbombe in die Mitte von Kindern bringen. Es ist falsch.“ Stumm senkte Justin den Kopf und hing weiter seinen Gedanken nach. Er atmete aus, hob kurz den Blick und erschrak. Im Dämmerlicht konnte er deutlich erkennen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. „Vivien?“ Sie reagierte nicht. Er glaubte, einen erstickten Laut aus ihrer Richtung zu hören. „Was ist los?“, fragte er besorgt. Einen weiteren Moment stand sie regungslos da, dann brach ihre Stimme in schrillen Ton aus ihr hervor: „Ich weiß selbst, dass ich alles falsch mache!“ Justin sah sie einen Moment verständnislos an. „Wovon -“ „Ob dies oder jenes, es wird so oder so nichts!“, kreischte sie. So hatte Justin sie noch nie erlebt. Sie wirkte ganz anders als sonst, klang beängstigend vorwurfsvoll, als wolle sie ihn dafür beschimpfen, dass er ihre Einfälle kritisierte.   Justin biss die Zähne zusammen. Die ganze momentane Handlungsweise des Teams war nicht etwa etwas, auf das sie sich alle gemeinsam geeinigt hatten, sondern ging allein auf Viviens Planung zurück, an der sie allesamt nicht beteiligt gewesen waren. Sie führten aus, was Vivien ohne sie entschieden hatte. Obwohl keiner mit ihrer Idee einverstanden gewesen war, hatten alle geschwiegen und hatten Vivien ihren Willen gelassen. Er hatte nicht vor, damit fortzufahren. Auch wenn es Vivien verletzte. Die Verantwortung, die er zu tragen hatte, war bedeutender als die Gefühle eines einzelnen zu schonen.   Vivien war fertig mit den Nerven. Sie konnte einfach nicht mehr. Mit geballten Fäusten wandte sie sich von ihm ab und lief weiter. Sie hörte Justin ihr folgen. Allein der Laut seiner Schritte machte sie wahnsinnig! Abrupt blieb sie stehen und wirbelte herum. „Mach es doch allein!“, kreischte sie in einer unmenschlich klingenden Tonlage. Vivien kam ihr eigenes Verhalten wie die Aufführung eines Melodrams vor. Sie wusste, dass ihre Aufgewühltheit nichts mit Justin zu tun hatte, aber sie hatte das letzte Quentchen Selbstbeherrschung längst aufgebraucht. Ihre Nerven waren völlig überreizt. Justin sah so erschrocken aus, als hätte sie sich vor seinen Augen in ein Monster verwandelt. Angesichts dessen konnte sie das emotionale Chaos nicht länger unterdrücken. Alle konnten immer sagen, dass sie davonlaufen wollten, alle, nur sie nicht!! Sie musste immer lächeln und mutig sein und durfte nicht verzweifeln! Bei dem Gedanken daran, atmete sie Schluchzer aus. Alles, was sie bis jetzt zurückgehalten hatte, brach sich mit einem Mal Bahn. All der Druck, die Verantwortung. Sie wollte die anderen beschützen, aber – „Ich kann nicht mehr.“, schluchzte sie. Justin sah sie an, leidend stand er da, als drohe die Last der Situation ihn zu zerbrechen. Vivien schniefte und begriff, dass sie beide ihre Überforderung aneinander ausgelassen hatten. Sie überwand die Distanz zwischen ihnen und warf sich in seine Arme.   Viviens warme Berührung, dass sie ihn noch festhielt, sich an ihm festhielt, obwohl er eben noch geglaubt hatte, sie wolle ihn von sich stoßen, brachte die grausame Erkenntnis mit sich, dass er wütend auf sie hatte sein wollen. Er hatte ihr zig Vorwürfe gemacht, weil – weil sie immer alles so gut wegsteckte, weil sie immer lächelte und total herzlos war. Das hatte er geglaubt… Vivien schien immer so grausam zu sein, wie jemand, der die Realität der anderen Menschen nicht sehen konnte. Wie sonst konnte sie gute Laune verbreiten, nachdem so etwas geschehen war? Justin legte seine Arme um sie und schämte sich. Er hatte sie so sehen wollen, weil das einfacher war als die Realität zu akzeptieren. So hatte er ihr die Schuld geben können. Vivien war warmherzig und mitfühlend und er hatte das einfach verdrängt, weil … – weil er es gewöhnt war, der einzige zu sein, der an andere dachte. Sein ganzes Leben lang hatte er die Verantwortung alleine getragen, hatte sie alleine tragen müssen. Und gleichzeitig hatte er sich etwas darauf eingebildet. Tränen traten in Justins Augen, als er es endlich begriff. Auch sie hatte alles mit sich allein ausmachen wollen. Er schlang seine Arme noch fester um sie. Sie waren nicht mehr allein.   Vitali kam mit einer Grabesmiene aus seiner Haustür und hatte zur Überraschung von Serena und Ariane einen kleinen Jungen von ungefähr elf Jahren im Schlepptau. Dieser hielt eine noch nicht angezündete Fackel in der Rechten. „Fragt nicht.“, knurrte Vitali und nahm sein Handy mitsamt Powerbank zur Hand. Wen auch immer er anrief – höchstwahrscheinlich Vivien – war kurz darauf am Hörer. „Hi, hier gibt es ein Problem.“ Serena hörte, wie Vitali seinem Gesprächspartner erklärte, dass er dazu verdonnert worden war, seinen kleinen Bruder mitzunehmen. Während Vitali weiterredete, blickte Serena zu dem Jungen. Er hatte den Kopf eingezogen, als würde er sich schämen oder extrem verschüchtert sein. Mit Ausnahme davon glaubte sie eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Brüdern erkennen zu können, auch wenn sie nicht an einem bestimmten Merkmal festzumachen war. Vickis Haare waren dunkler als die Vitalis. Da ihm in seinem jungen Alter noch einige Wachstumsschübe bevorstanden, war er einen ganzen Kopf kleiner als Serena. Sein Gesicht wirkte weich, aber weniger feminin als das von Vitali auf dem Kinderfoto, das Frau Luft ihnen gezeigt hatte. Aber auf diesem war Vitali schließlich auch deutlich jünger gewesen. Dennoch ging sie davon aus, dass Vickis Züge irgendwann weniger androgyn aussehen würden als Vitalis. In Anbetracht seiner ängstlichen Haltung hielt Serena es für angebracht, Vicki das Gefühl zu geben, dass er keine Belastung war, und wandte sich in Arianes Richtung. So etwas gehörte schließlich zu Arianes Kompetenzen. Ariane war immer freundlich und verstand sich mit jedem. Daher war es nur logisch, dass sie sich um die Angelegenheit kümmern sollte. Ariane schien jedoch andere Dinge im Kopf zu haben und würdigte den Jungen keines Blickes. Na toll. Serena seufzte in sich hinein. Sie war es schon lange nicht mehr gewöhnt, zu irgendwem freundlich zu sein. Freundlichsein hatte ihr immer nur Ärger bereitet. Wenn man gemein war, gab es wenigstens einen Grund dafür, dass man gehasst wurde. Dennoch riss sie sich jetzt zusammen und richtete das Wort an den Jungen. „Du bist Vicki, nicht?“, fragte sie zögerlich. Der Junge sah verängstigt auf. Serena kam sich komisch vor. „Dein Bruder hat von dir erzählt.“ Eigentlich stimmte das nicht ganz. Allerdings konnte sie sich noch allzu gut an die Situation erinnern, als Vitali den Namen seines Bruders von sich gegeben hatte, als sie versucht hatte, ihn zu wecken. Damals war sie davon ausgegangen, dass es ein Mädchenname war, und war vor Eifersucht komplett ausgetickt. Bei der Erinnerung kam die Scham erneut über sie. Der Junge machte ein Gesicht, als hätte Serenas Satz ihn noch mehr eingeschüchtert. Sie konnte das nicht wirklich nachvollziehen. „Ähm, wie alt bist du eigentlich?“ Sie wusste wirklich nicht, was sie mit ihm reden sollte. „Elf.“ „Dann bist du in welcher Klasse?“ „Sechste.“ „Ah.“ Serena überlegte, ob sie ihn nun nach der Schulart fragen sollte. „Tut mir leid.“ Verwundert sah sie den Jungen an, der die Schultern noch weiter nach oben gezogen hatte. Sie konnte Vitali im Hintergrund schimpfen hören. „Das… ist schon okay.“, sagte sie stockend. Der Klang von Vitalis aufgebrachter Stimme verleitete sie zu weiteren Worten. Ihre Stimme nahm ihren üblich entnervten Klang an. „Vitali ist ein Idiot, der regt sich über alles auf.“ Mit einem Mal hob der Junge den Kopf, doch zu Serenas Überraschung schlug ihr nun leiser Trotz und Unzufriedenheit entgegen, als hätte sie etwas Falsches gesagt. Sie wusste wirklich nicht, was das zu bedeuten hatte. Vitali stöhnte tief. Offenbar hatte Vivien keine Lust gehabt, sich sein Gemeckere noch weiter anzuhören und hatte das Telefonat beendet. Er steckte das Handy weg und sah dann mit vor der Brust verschränkten Armen in ihre Richtung. Wieder stöhnte er. „Krieg dich wieder ein.“, sagte Serena ruppig und trat dann von Vicki weg. Mal wieder hatte sie sich ganz umsonst bemüht, freundlich zu sein. Ihr Gesicht verzog sich missmutig. Sie mochte den Jungen nicht! Ihr Blick senkte sich. Sie kam sich reichlich dämlich vor. „Was heißt hier, ich soll mich einkriegen! Ich bin immer der Idiot von meiner Mutter!“, schimpfte Vitali. Serena fehlte die Lust, ihn zu beleidigen und sparte es sich. „Viviens Geschwister sind auch dabei.“ „Ja, aber die –“ Vitalis Augen wanderten zu Vicki. Serena verstand. Viviens Geschwister waren eingeweiht. Sie wussten, dass sie Beschützer waren. Sie senkte die Stimme. „Dann sag halt, dass er nicht mit kann.“ Vitali antwortete ebenfalls im Flüsterton. „Geht nicht, sonst lässt sie mich auch nicht gehen.“ „Dann teleportier dich raus.“ „Würd ich ja, aber sie ist wie ein Gefängniswärter, sie würde es merken.“ „Ich dachte, sie müsste dann deinen Bruder auf den Umzug begleiten.“, wandte Serena ein. Das hatte sie bei dem Telefonat aufgeschnappt. Vitali seufzte und sah äußerst unzufrieden aus, fast als wolle er nicht zugeben, dass er … Sie überlegte. Seinen Bruder nicht enttäuschen wollte? Irgendwie hätte das zu ihm gepasst. Vitali war so ein Trottel. Viel gutmütiger als er zeigte… Wieder sah er zu Vicki und seufzte abermals. Dann wurde er wieder laut und deutete auf seinen Bruder. „Hey! Du machst genau was ich sage, wenn ich es sage, ist das klar?!“ Der Junge stand mit einem mal stramm da und nickte überzeugt. Serena konnte nicht fassen, wie schnell dieses Gör sich gewandelt hatte. Sie würde nie wieder versuchen zu irgendwem freundlich zu sein! „Also, das sind Ariane und Serena.“, stellte Vitali vor. „Das ist Viktor.“ Vicki starrte Serena an, als habe die Nennung ihres Namens ein jähes Erkennen bewirkt, als handle es sich bei ihr um ein Naturphänomen. Das brachte Serena gewaltig auf die Palme. Als was zum Henker galt sie im Hause Luft?! Beleidigt drehte sie sich weg und fühlte sich völlig deplatziert. Die plötzliche Überzeugung, dass ihr Name bei Vitali und seiner Familie als das Pseudonym für die größte Schreckschraube aller Zeiten benutzt wurde, wirkte wie eine Geröllmoräne, die jegliche Selbstsicherheit in ihr unter sich begrub. „Wir treffen uns noch mit ein paar anderen.“, informierte Vitali seinen Bruder. Er trat neben sie und wollte loslaufen, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. „Was ist jetzt?“, flüsterte er ihr mit deutlichem Widerwillen in der Stimme zu. „Nichts.“, machte sie.   Er hasste es, wenn sie ‚Nichts‘ sagte. Das war die schlimmste Antwort, die sie im Allgemeinen gab! Er stieß einen völlig entkräfteten Laut aus. „Haben wir nicht schon genug Probleme?“ „Ich weiß nicht, wovon du redest.“, gab Serena harsch zurück. „Es reicht schon, wenn Ariane einen auf apathisch macht. Wenn du wieder irgendein Psychoproblem hast, dann sag’s, bevor du mich wieder paralysierst oder sonst was machst.“ Serenas Mund hatte sich automatisch zu einem trotzigen Schmollmund verzogen. „Schluck‘s runter oder spuck‘s aus.“, forderte Vitali. „Ich hab echt keinen Nerv für so was.“ „Ich vermisse Erik!“, stieß Serena provokativ hervor. Prompt wurde Vitalis Gesicht zur Grimasse. „Dann geh doch zu ihm!“ „Tu ich auch!“ Ariane sprach in beängstigendem Tonfall „Wenn es Erik ist.“ und nahm den beiden damit jeglichen Wind für weitere Streitereien aus den Segeln. Vitali sah Serena an, um Hilfe im Umgang mit Ariane zu suchen, doch leider wusste auch Serena nicht, wie sie ihre Freundin trösten sollten. Stattdessen einigten sie sich stumm darauf, ihre Streitigkeiten bleiben zu lassen, bis es Ariane besser ging. Kapitel 112: Laternenfest ------------------------- Laternenfest   „Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten.“ (Anonym)   Als sie wieder zusammenfanden, um gemeinsam Erik abzuholen, machte Vivien Vicki freudestrahlend mit ihren Geschwistern bekannt. Er starrte sie daraufhin an, als sei sie eine seltsame Erscheinung, ehe er geradezu zwanghaft den Blick senkte. Vitali fragte sich, ob das daran lag, dass sie ein Mädchen war, an ihrer geringen Körpergröße oder an ihrer zu großen Oberweite. Umgehend wollte Vivien loslegen, ihnen ihren Plan zu erläutern. Vitali riss die Arme halb in die Höhe und verwies mit seinen Augen vielsagend auf seinen Bruder, um Vivien zu stoppen. „Hast du es ihm noch nicht erklärt?“, fragte sie überrascht. Mit einem angestrengten Blick bemühte er sich abermals, sie zum Schweigen zu bringen. „Er kann Ewigkeit sowieso sehen.“ „Hä?“, machte Vitali. Wenn Ewigkeit bei ihm gewesen war, hatte sein Bruder nie irgendwelche Anzeichen davon gezeigt. „Quatsch.“ Vivien wandte sich an Vicki. „Kannst du sehen, wer auf meiner Schulter steht?“ Sie deutete auf Ewigkeit, die unschuldig blinzelte. Sein Bruder starrte Vivien entsetzt an, als würde sie ihn in die Enge treiben. Das… das konnte doch nicht. „Er hat sie noch nie gesehen!“, schimpfte Vitali. „Er ist ein Kind.“, erinnerte Vivien. „Aber eines, das nicht an so was glaubt!“, rief Vitali – und stockte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sich Vicki früher immer mehr für irgendwelche Fabelwesen interessiert als für Roboter, Dinosaurier oder Raumschiffe. Vitali hatte ihm das erst austreiben müssen, aus Sorge heraus, dass Vicki dadurch Probleme mit seinen Altersgenossen bekommen und in der Hackordnung ganz unten landen könnte. Als Vicki daraufhin angefangen hatte, sich für all das zu begeistern, was Vitali mochte, hatte er sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Misstrauisch blickte er auf seinen kleinen Bruder. Dieser zog ein Gesicht, als fürchtete er, Vitali würde ein peinliches Geheimnis von ihm entdecken. Die Erkenntnis traf ihn. „Oh Mann.“ Er stöhnte und schalt sich, dass er das nicht vorher begriffen hatte. „Wenn du das Mama sagst, bist du tot.“ Vicki schien das nicht zu verstehen. Ewigkeit schwebte von Viviens Schulter auf ihn zu. Ihre Freude über weitere Leute, die sie sehen konnten, war immer groß. „Hallo!“ Vicki schreckte zurück und starrte sie aus aufgerissenen Augen an. Hilfesuchend sah Ewigkeit zu Vitali. Er stieß die Luft aus. „Die ist echt.“, brummte er. Vicki sah ängstlich zu ihm auf. „Guck so.“, knarzte er. „Ja, ich hab gesagt, es gibt keine Elfen und Feen. Aber die da ist echt. Also … mach keine Szene.“ Unsicher wandte sich Vicki an die anderen, die um ihn herum standen. Viviens kleine Schwester Ellen stellte ihm vor: „Das ist Ewigkeit.“ Vicki schaute zurück zu ihm. Vitali versuchte seinem Blick auszuweichen. „Oh Mann.“ Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Er bedeutete Ewigkeit auf seiner Hand zu landen und hielt diese dann Vicki hin. Vorsichtig beugte er sich zu ihm und sprach in möglichst grimmig männlicher Tonlage. „Das ist Ewigkeit.“, wiederholte er Ellens Worte. „Sie ist ähm…“ „Unser Gleichgewichtsbegleiter!“, half Vivien ihm prompt aus. Vitali verzog fassungslos das Gesicht. „Alter! Nicht mal ich weiß, was das heißen soll!“ Sicher hatte Vivien diesen Begriff gerade erfunden. Dabei war er derjenige, der hier die Bezeichnungen erfand! Er konzentrierte sich wieder darauf, Ewigkeit mit Vicki bekannt zu machen. „Sie ist so ne Art …“ „Heldenhelfer!“, rief Vivien. Vitali verdrehte die Augen, denn was jetzt kommen würde, war alles andere als einfach. „Wir sind Helden.“, erklärte Vivien ohne Umschweife. Vicki zog die Augenbrauen in purem Zweifel zusammen. Er sah aus, als würde er den Verstand der Umstehenden in Frage stellen. Vitali seufzte. „Das ist alles etwas kompliziert.“ „Warum hast du ihm auch vorher nichts gesagt?“, fragte Vivien allen Ernstes. Vitali grummelte. „Frag doch mal die anderen, ob sie ihren Geschwistern davon erzählt haben.“ Justin verzog das Gesicht. Offenbar war allein die Vorstellung, seinem großen Bruder davon zu erzählen, zu viel für ihn. „Ganz sicher nicht.“, gab auch Serena von sich. Vitali richtete das Wort wieder an Vivien. „Als hättest du’s deiner Mutter erzählt.“ Sie blinzelte unbekümmert. „Ich hab’s ihr erzählt.“ Nicht nur er starrte sie daraufhin an. „Sie hat gelacht.“ Vivien lächelte unbekümmert. Serenas aufgebrachte Stimme erklang. „Wenn ich das meiner Mutter erzählen würde und sie würde mir glauben, dürfte ich nie mehr aus dem Haus!“ Da hatte sie wohl Recht. Ariane teilte ebenfalls ihre Überlegungen. „Ich würde es höchstens meinem Vater sagen und er würde sich dann viel zu viele Sorgen deswegen machen.“ Justin wirkte geradezu bekümmert. „Ich möchte meinen Eltern keinen Kummer bereiten.“ Vitali wandte sich irritiert an ihn. „Glaubst du echt, die würden dir glauben?“ Justins Mund verformte sich. „Deshalb würden sie sich ja Sorgen machen. Sie würden sich sicher fragen, was sie falsch gemacht haben, dass ich solche Geschichten erzähle.“ Er seufzte. „Meine Ma würde bloß sagen, ich soll aufhören, solchen Stuss zu reden.“, entgegnete Vitali abgebrüht. Vivien kam zum eigentlichen Thema zurück. „Das heißt dann wohl, dass Vicki auch nichts von Erik weiß.“ Vitali untermalte seine Worte mit ausdrucksstarkem Tonhöhenwechsel. „Du meinst, dass er auf dem Martinsumzug eventuell versuchen wird, uns umzubringen? Nein, davon hab ich nichts erwähnt.“ Ewigkeit war derweil wieder von seiner Hand geschwebt. Vicki machte auf seine Worte hin ein ziemlich verstörtes Gesicht. „Willst du es ihm erklären?“, fragte Vivien. Vitali hatte so gar keine Lust darauf. „Erik hat nen Vollschaden und versucht manchmal, uns umzubringen.“ „So versteht er das ganz sicher nicht!“, schimpfte Ariane und fühlte sich offenbar dazu berufen, eine bessere Erklärung zu liefern. Gut, dann musste er das nicht machen. „Erik steht unter dem Bann des Schatthenmeisters, unseres Feindes, und wir wissen nicht, wann der ihn das nächste Mal kontrolliert.“ „Er wird nicht vom Schatthenmeister kontrolliert.“, beanstandete Vitali. „Das ist nicht Erik.“, versetzte Ariane bestimmt. „Sieht aber verdammt stark nach ihm aus!“, erwiderte er. „Du weißt selbst, dass er sich danach nicht daran erinnern kann!“, rief Ariane. „Das war das letzte Mal!“, stellte er klar. „Da hat Justin seine Erinnerungen gelöscht. Vielleicht kann er sich diesmal dran erinnern!“ Ariane stockte. Diese Möglichkeit hatte sie anscheinend noch gar nicht bedacht. „Wie auch immer, wir sollten ihn demnächst abholen.“, erinnerte Serena. Vicki starrte sie an. „Was ist?“, fragte Serena barsch. Zaghaft brachte Vicki Worte hervor. „Wieso holt ihr ihn ab, wenn er euch töten will?“ „Er will uns nicht töten.“, stieß Ariane aus und fügte kleinlauter an. „Nur sein … anderes Ich.“ „Von dem wir nicht wissen, wann es wieder auftaucht.“, ergänzte Vitali sarkastisch. Vicki sah sie beide reichlich zweiflerisch an. Viviens kleiner Bruder Kai kam ihnen zur Hilfe. „Wenn er in ihrer Nähe ist, kann er sie nicht aus dem Hinterhalt angreifen.“ Vicki schien das dennoch für eine Schnapsidee zu halten. „Und was bringt das?“ Plötzliche Stille kehrte ein. Wenn Erik ab jetzt immer wieder zu Secret werden würde, dann würde dieser eine Abend überhaupt nichts ausmachen. Schließlich hatten sie keine Ahnung, wie sie die Verwandlung aufhalten konnten. Vicki sprach weiter. „Was ist der Plan?“ „Wir gehen auf den Martinsumzug!“, rief Ellen. Vicki machte den Eindruck, als warte er auf eine andere Antwort und zwar von einer erwachseneren Person.   Ariane ließ den Kopf hängen. Die Fragen von Vitalis Bruder waren schmerzhaft und verdeutlichten nochmals ihre ausweglose Situation. Sie waren völlig machtlos gegenüber dem, was mit Erik vorging! Viviens Stimme erklang in gleichmütigem Tonfall. „Wir können ihm nicht helfen.“ Ariane riss den Kopf hoch und starrte sie an. Dass ausgerechnet Vivien es auch noch laut aussprach, war – war – Sie wusste nicht, wie sie das nennen sollte. „Und warum trefft ihr euch dann mit ihm?“, wandte Vitalis Bruder ein. „Wäre es nicht besser, wenn ihr euch auf einen Angriff vorbereitet?“, „Weil wir Freunde sind.“, antwortete Vivien lächelnd. „Auch wenn Erik zu unserem Feind wird, ist er trotzdem unser Freund.“ Vickis Miene machte deutlich, dass das für ihn keinen Sinn ergab. Wie auch? Ariane erhob die Stimme. „Wir werden etwas unternehmen, damit er wieder er selbst wird!“ „Wir wissen nicht was.“, gab Justin zu bedenken. „Dann werden wir einfach verschiedene Sachen ausprobieren.“, rief sie erregt. „Irgendetwas wird funktionieren!“ Justin unterbrach sie in ruhigem Ton. „Egal was wir tun, Erik wird wieder zu Secret werden und das wird sich in nächster Zeit nicht ändern.“ Ariane wollte widersprechen, aber ihr fehlten die Argumente gegen diese Behauptung. Sie wollte das einfach nicht wahrhaben! „Es wird nicht mehr wie vorher.“, sagte Justin eindringlich, als fordere er sie dazu auf, sich damit abzufinden. „Und was sollen wir jetzt tun?“ Sie klang in ihren eigenen Ohren zu laut und hilflos. „Wieso sagst du das so, als würde er nie wieder normal werden?!“ Vivien ergriff das Wort. „Unsere größte Sorge sollte jetzt nicht sein, wie wir ihn retten können.“ „Was könnte wichtiger sein!“, schrie Ariane aufgebracht. „Ob wir damit leben können.“ „Was meinst du?“, forderte sie zu wissen. Vivien sah ihr in die Augen. „Können wir wirklich weiterhin mit Erik befreundet sein? Hält jeder von uns das aus? Egal wie viel wir uns bemühen, Erik wird uns wieder angreifen und uns wieder wehtun. Kann man das wirklich schlucken und Erik nicht dafür hassen?“ Sofort meinte Vitali. „Ich hau ihm einfach jedes Mal eine rein, wenn er Erik ist.“ „Nicht hilfreich!“, mäkelte Ariane mit grimmigem Blick. „Ey, soll ich’s toll finden, dass er uns ständig vermöbelt und dann so tut, als wüsste er nichts?“, gab Vitali zurück. „Er tut nicht nur so.“, erwiderte Ariane bestimmt. „Scheißegal. Ich hab trotzdem blaue Flecken! Und ihm tut das nicht mal leid.“ „Würdest du’s ihm lieber sagen?“, fragte sie ungläubig. „Dann wüsste er es wenigstens.“, meinte Vitali geradezu schmollend. Serena mischte sich ein. „Dass er uns angreift, ohne es kontrollieren zu können. Wunderbar! Das wird ihn sicher aufbauen!“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Was glaubt ihr, wie lange er sich verwandeln kann, ohne dass er das merkt?“, konterte Vitali. „Muss ihm doch irgendwann komisch vorkommen, wenn er ständig Gedächtnislücken hat.“ Justin schaltete sich zwischen. „Wir wissen noch überhaupt nicht, wie sich das alles entwickeln wird. Wenn es soweit ist, werden wir uns darüber Gedanken machen.“ „Wenn wir ihm sagen, dass er für uns gefährlich ist, dann wird er sich von uns fernhalten!“, warf Serena empört ein und ging über Justins Versuch, die Diskussion zu beenden, einfach hinweg. Vivien nickte. „An Secrets Auftauchen würde das nichts ändern.“ „Erik hat keine Kontrolle darüber.“, sagte Ariane nochmals.   Justin sah nachdenklich vor sich hin und fragte sich, ob das wirklich so stimmte. Der Schatthenmeister hatte gesagt, dass es nicht seine Absicht war, dass Secret sie angriff und dass er mit Secrets Erscheinen nichts zu tun hatte. Vielleicht gab es etwas in Erik, das ihn dazu brachte, sie anzugreifen, etwas wie ein unterschwelliger Groll auf sie. „Ey, ich kann echt nicht, die ganze Zeit so tun, als wäre er ein anderer Mensch!“, brachte Vitali vor. „Genau!“, stimmte Vivien überraschenderweise zu. „Auch als Secret ist er Erik.“ „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst.“, wandte Ariane ein. „Secret ist – Das ist nicht Erik!“ „Also kannst du es nicht akzeptieren, dass er so ist?“, fragte Vivien in ruhiger Tonlage. „Nein!“ rief Ariane. „Erik ist nicht Secret. Das ist alles nur ein Fehler, den wir beheben müssen!“ Mitleid zeichnete sich auf Viviens Zügen ab. „Wenn du das denkst, wird es sehr schwer für dich werden.“ Ariane forderte mit ihrer Mimik zu erfahren, was Vivien damit sagen wollte. „Er ist und bleibt Erik.“, sagte Vivien. Ariane weigerte sich augenscheinlich das zu glauben, widersprach Vivien aber nicht nochmals. Vivien wendete sich an Vitali. „Kannst du ihn trotzdem so akzeptieren?“ Vitali gab ein Grollen von sich. „Ja, verdammt!“ Erneut gab er ein wütendes Geräusch von sich. „Immer dieser Scheiß! Eine, die ständig versucht mich umzubringen, hat mir echt schon gereicht! Warum bin ich mit lauter Geisteskranken befreundet?!!!“   Serena schoss einen finsteren Blick auf Vitali ab. Schließlich erinnerte sie sich wenigstens an das, was sie tat! Allerdings musste sie eingestehen, dass sie nicht gerade besonders gut darin war, sich zu entschuldigen. Dafür ließ sie es zu, dass Vitali ihr ihre Fehler immer und immer wieder unter die Nase rieb, ohne dass sie ihn dafür erdrosselte.   Ariane indes schwieg. Vielleicht mochte es das Beste für Vitali sein, wenn er Erik und Secret als eine Person sah, aber sie würde den Teufel tun und Secrets Taten Erik anlasten. Secret war ein Fehler. Und sie würde alles dafür tun, ihn so schnell wie möglich zu beseitigen.     ***     Vivien begrüßte ihn so überschwänglich wie eh und je, als sie sich unweit von seinem Haus trafen, und stellte ihn sofort ihren Geschwistern und Vitalis Bruder vor. Erik war sich nicht sicher, wie er mit den unbekannten Gesichtern umgehen sollte. Kinder waren ihm suspekt. Er entschied, sein übliches Erik-Donner-Verhalten an den Tag zu legen und gelassen zu bleiben – auch wenn die Kleinen ihn seltsam aufmerksam musterten, als würden sie auf irgendetwas warten. Vitalis Bruder sah sogar aus, als mache er sich darauf gefasst, gleich von ihm attackiert zu werden. Aber bei Vitalis Familie wunderte ihn nichts mehr. Zumindest lenkte ihn die Anwesenheit der anderen von den Grübeleien ab, die sein Erwachen ausgelöst hatte. Noch nie hatte er so lange geschlafen. Und von seinen Träumen waren ihm nur vage Gefühle geblieben, wie ein Nachgeschmack. Er musste etwas Erfreuliches geträumt haben, an das er sich jedoch nicht erinnerte. „Die hab ich selbst gemacht.“, sagte Viviens Schwester Ellen ganz stolz und streckte ihm ihre rosafarbene Laterne hin, auf der eine Ballerina und Sterne abgebildet waren. „Schön.“, sagte Erik nach kurzem Zögern. Er wusste nicht recht, ob die Geste bedeutete, dass er die Laterne entgegennehmen sollte. Machten Kinder das nicht manchmal? Woher sollte er das wissen! Für ihn waren Kinder herzlose, geistig minderbemittelte Geschöpfe, denen es egal war, wenn sie jemand anderem wehtaten oder es erst gar nicht begriffen, weil sie so in ihrer eigenen Welt gefangen waren. Eigentlich nicht viel anders als Teenager und Erwachsene. Nur dass das Verhalten der Erwachsenen weit vorhersehbarer war als das von Kindern. „Hast du auch schon mal eine Laterne gebastelt?“, fragte Ellen. „Äh, nein. Ich war nie auf dem Laternenlauf.“ „Hä?“, rief Vitali ungläubig. „Nicht mal als Kind?“ Als Kind nicht auf den Umzug zu gehen, schien für ihn genauso seltsam wie als Erwachsener hinzugehen. „Es ist ein Martinsumzug.“, erinnerte Erik. „Meine Eltern sind Atheisten.“ „Aber das ist doch kein Grund.“, sagte Ariane, als verstünde sie nicht, wie das zuging. „Bei uns sind immer auch muslimische und andersgläubige Kinder mitgelaufen.“ Erik gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er über die Angelegenheit nicht weiter diskutieren wollte. Ariane verstummte und wirkte mit einem Mal wieder so seltsam bedrückt wie schon zuvor. Erik hatte gerade nicht die Kapazitäten, um sie davon abzulenken. Die Diskussion hatte ihn daran erinnert, dass seine Eltern einfach nur keine Zeit gehabt hatten, ihn auf den Umzug zu begleiten und gemeint hatten, dass das Fest ohnehin nutzlos sei. Mit fünf Jahren hatte er unbedingt zum Umzug gehen wollen, aber wenn sein Vater sagte, etwas sei sinnlos, dann hatte er natürlich Recht. Zumindest hatte Erik das damals gedacht und daher angefangen, selbst diese Meinung zu vertreten. Plötzlich hob Vivien ihm einen Laternenstab vor die Nase. „Dann ist heute dein erstes Mal!“, sagte sie freudig und gab ihm zu verstehen, dass er die Laterne ergreifen sollte, die zuvor noch ihr Bruder in Händen gehalten hatte. Erik sah sie zweiflerisch an. „Nur solange bis wir bei der Grundschule sind.“, meinte Vivien mit großen Kulleraugen. Mit noch immer reichlich skeptischem Gesichtsausdruck betrachtete Erik die Laterne in verschiedenen Blautönen, die Vivien ihm hinhielt und dann die, die Ellen gebastelt hatte. „Ich will die Rosane.“ Ellen schaute überrascht. „Wenn das okay ist.“, fügte Erik hastig an. Die Kleine lächelte und reichte ihm ihre Laterne. Erik nahm sie entgegen und warf Ariane einen Seitenblick zu, den sie augenscheinlich nicht deuten konnte.   Während sie sich auf den Weg zur Grundschule machten und Vivien mit ihren Geschwistern ein Martinslied anstimmte, zu dem sie auch Vicki einlud, wandte sich Erik erneut an Ariane und lächelte provokativ. Dieses Lächeln erinnerte Ariane ungewollt an das Grinsen, das Secret ihr am Mittag gezeigt hatte. Sie schämte sich, dass sie daran denken musste, konnte es aber nicht abstellen. In gedämpfter Lautstärke sprach er sie an. „Ist doch gar nicht so schwer, Rosa zu tragen.“ Die Belustigung war aus seiner Stimme herauszuhören. Ariane drehte ihren Kopf in seine Richtung und antwortete mit einem vielsagenden Augenaufschlag. „Willst du es nicht auch mal versuchen?“ Er hob auffordernd die Augenbrauen. Ariane, die just ihre Selbstsicherheit wiedergewonnen hatte, antwortete nonchalant. „Es steht dir so viel besser.“ Erik wandte sich wieder nach vorne. „Da hast du allerdings Recht.“ Ariane konnte ein Grinsen nicht vermeiden. Erik ließ ihr einen weiteren Seitenblick zukommen und lächelte. Arianes Brustkorb fühlte sich jäh seltsam eng an. Sie wusste nicht, ob es allein an der übergroßen Freude lag, dass er wieder er selbst war. Sein Lächeln hatte ihr Inneres mit zu vielen Emotionen erfüllt, als dass sie dort Platz gefunden hätten. Irgendwie bereitete ihr das Kummer.   Der Schulhof war bereits vollgestopft mit Kindern, die in Begleitung eines, seltener beider, Erziehungsberechtigten waren und bunte Laternen in Händen hielten. Manche der Laternen sahen selbstgebastelt, andere gekauft aus. Ein paar ältere Kinder trugen auch Fackeln wie Vitalis Bruder. Es war befremdlich zwischen all den Kindern und ihren Verwandten zu stehen. Nicht dass Erik sich geschämt hätte. Er schämte sich nie. Selbst wenn er Ellens Laterne noch gehalten hätte, hätte ihm das nichts ausgemacht. Aber ohne einen richtigen Anlass in diesem Trupp mitzulaufen, war irgendwie seltsam. Er sah zu Serena, die links neben ihm in einer Reihe mit Ariane, Vitali und dessen Bruder stand, und erkannte, dass es ihr ähnlich erging, denn sie blickte sich reichlich unsicher um. Viviens Stimme unterbrach seinen Gedankengang. „Willst du Ellens Hand halten?“, fragte sie ihn von vorne. Mit Justin und ihren Geschwistern stand sie in der Reihe vor ihm. Die vier wirkten fast wie eine Familie, wie Justin und Vivien die beiden Kleinen so zwischen sich an den Händen hielten. Doch offenbar hatte Vivien sich eingebildet, er könne sich rechts außen, wo er stand, abseits fühlen. „Lass mal.“, sagte Erik knapp. Er hätte so oder so die Idylle nicht stören wollen. Lächelnd wandte Vivien sich um und ergriff wieder Ellens Rechte. Sein Blick wanderte zu Vitali. Er uns sein Bruder befanden sich an der linken Außenseite, damit die entzündete Fackel niemanden gefährdete. Ariane hatte den Platz zwischen Serena und Vitali eingenommen, wohl um etwaige Streitereien zu verhindern. Erik war es schleierhaft, warum sie nicht begriff, was es mit den Auseinandersetzungen der beiden auf sich hatte. Aber sie schien ja allgemein bei diesem Thema deutlich unbedarfter als ihr scharfer Verstand es vermuten ließ. Er drehte sich zu Serena. „Fühlst du dich unwohl?“ Serena zuckte mit den Schultern. In diesem Moment fing eine Marschkapelle an zu spielen. Am Anfang des Trupps kam Bewegung in die Gruppe und die Kinder und einige Erwachsene stimmten den Gesang zu der gespielten Melodie an. Weiter vorne konnte Erik nun auch einen Reiter auf einem Pferd entdecken. Vor allem der rote Umhang war auffällig, der an ein Superheldencape erinnerte. Der Zug setzte sich in Bewegung. Mit der Masse mitlaufend, sah Erik nochmals zu Vitali hinüber. Das Image eines verantwortungsbewussten großen Bruders wollte auf den ersten Blick nicht recht zu Vitali passen. Deshalb war es umso amüsanter ihn in Gegenwart seines Bruders zu erleben. Vorhin hatte Vitali ihm genau erklärt, wie er die Fackel halten sollte. Auch wenn er dabei ein strenges Gesicht gezogen hatte, schien es ihm nicht halb so unangenehm zu sein, sich um seinen Bruder zu kümmern, wie er vorgab. Erik hatte vielmehr den Eindruck, dass Vitali wirklich etwas für seinen Bruder übrig hatte, ja geradezu stolz auf ihn war. Umgekehrt schien der Junge zu Vitali aufzusehen wie zu einem Vorbild. Erik hatte sich nie die Frage gestellt, wie es wohl war, Geschwister zu haben. Auch Cousins und Kusinen hatte er keine. Seine einzige Tante war Rosa. Allgemein war Erik außerhalb von schulischen und außerschulischen Verpflichtungen nicht so häufig mit anderen Kindern zusammengekommen. Er hatte es stets vorgezogen, andere Menschen auf Abstand zu halten. Jedenfalls nach seinen Erfahrungen in der Grundschule. Auch auf dem Jungeninternat hatte er keinen näheren Kontakt zu seinen Klassenkameraden gehabt. Die einzige Ausnahme hatte der Junge gebildet, mit dem er das Zimmer von der fünften bis zur achten Klasse geteilt hatte. Er wusste allerdings nicht, ob er das als Freundschaft bezeichnen konnte. Sein Zimmergenosse von damals, Jannik, hatte ihn zwar eindeutig als Freund betitelt, aber Erik hatte sich stets zurückgezogen und so wenig wie möglich von sich preisgegeben. Dagegen hatte Jannik ihm so ziemlich alles von sich erzählt, wohl weil er in ihm seinen einzigen Freund gesehen hatte. Die anderen Internatsschüler hatten Jannik geschnitten, da er aus für die Internatsverhältnisse ärmlichen Verhältnissen stammte. Nach der achten hatte er das Internat sogar verlassen müssen, da seine Eltern die Gebühren nicht mehr zahlen konnten. Damals hatte Erik nur gedacht, dass sie Jannik damit eher einen Gefallen taten, schließlich war Jannik kein besonders guter Schüler gewesen und hatte nicht wirklich auf das altehrwürdige Internat voller aufgeblasener Elite-Söhne gepasst. Dennoch hatte Jannik nur noch geweint, nachdem ihm diese Entscheidung mitgeteilt worden war. Erik hatte das damals nicht verstanden. Er hatte auch nicht nachgefragt. Wenn Jannik geweint hatte, hatte er so getan, als würde er es nicht sehen. Das hatte er für das Beste gehalten. Schließlich bedeutete Weinen Schwachsein. Das hatte er früh genug in seinem Leben gelernt. Nachdem Jannik die Schule verlassen hatte, hatte Erik sich in eine andere Richtung entwickelt. Er hatte sich zwar schon in der sechsten Klasse eine kühle Distanziertheit antrainiert, die zu seiner ohnehin wortkargen Art passte, auch war er durch einen Wachstumsschub in der Siebten und die Kampfsportarten, die er im Internat gemacht hatte, nicht länger klein und schmächtig gewesen, doch die Arroganz hatte er erst nach Janniks Wechsel für sich entdeckt. Zuvor war er nie auf die Idee gekommen, dass selbstgefällige Arroganz eine so hervorragende Waffe abgeben konnte, wenn jemand einem dumm kam. Es war seltsam, sich an damals zu erinnern und zu bemerken, wie viel sich seitdem verändert hatte. In der zehnten Klasse hatte er sich stark gefühlt, überlegen. In dem Glauben dadurch seinem Vater nun endlich gewachsen zu sein, hatte er selbst entschieden das Internat zu verlassen. Irgendwie kam ihm seine eigene Selbstüberschätzung jetzt lachhaft vor. Und trotzdem bereute er es nicht. Er war stolz auf das, was seither geschehen war. Er war nicht mehr der kleine Junge von damals. Erik griff nach Serenas Hand. Überrascht, fast erschrocken, blickte sie zu ihm auf. Er gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie die Kette fortsetzen sollte. Doch erst als er ihr mit einem freundlichen Nicken versicherte, dass das in Ordnung ging, nahm sie Arianes Hand. Auch diese wunderte sich. Ein Lächeln von ihm genügte allerdings und dieselbe Muskelregung nahm ihr Gesicht ein. Als sie dagegen Vitalis Hand ergreifen wollte, schaute er, als wäre sie verrückt geworden, ehe sie ihm andeutete, dass der Vorschlag von Erik kam. „Du bist voll peinlich!“, schrie Vitali über die Musik hinweg zu ihm rüber, wie es eben seine Art war, wenn er emotional mit etwas nicht sofort umgehen konnte. Erik lachte bloß. Kapitel 113: Das etwas andere Training -------------------------------------- Das etwas andere Training   „Entdecke die Möglichkeiten“ (IKEA Slogan)   Aus Sicherheitsgründen war entschieden worden, dass Serena und Ariane von nun an den Bus nach Hause nehmen sollten, um nicht alleine mit Erik zu sein. Als Begründung dafür wurde Serenas Kälteempfindlichkeit vorgeschoben. Und Erik schien dies als Rechtfertigung zu akzeptieren. Auf Arianes Frage hin, ob er dann nicht auch den Bus nehmen wolle, antwortete er ausweichend. Den Rest der Woche begleitete er sie nicht. Die Busse seien ihm zu voll, entgegnete er auf Arianes nochmalige Nachfrage. Ariane konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er unterschwellig wusste, dass sie ihm aus dem Weg gingen, und er deshalb nicht mitfuhr.   Am Mittwochnachmittag saß Erik vor seinem Computer und widmete sich einer Recherche. Obgleich er soziale Netzwerke zum größten Schwachsinn aller Zeiten rechnete – diesen Titel teilten sie mit zahllosen anderen Errungenschaften und Ideen der Menschheitsgeschichte, die Erik für das Produkt dummer Menschen für dumme Menschen hielt – dennoch saß er jetzt hier und stand kurz davor, sich anzumelden. Er konnte nicht fassen, dass er das wirklich tat. Ein fanatischer Facebook-Gegner war er nicht, auch wenn er den selbst gewählten Freitod des Datenschutzes äußerst fragwürdig fand. Wie konnten Leute, nur jeden Schwachsinn auf ihre Profile schreiben? Allerdings hatte diese Transparenz auch Vorteile. Vielleicht hatte er eine masochistische Ader entwickelt, er wusste es nicht, aber er wollte wissen, ob Ariane mit diesem Kellner-Verschnitt von Finsters Geburtstagsfeier in Kontakt stand. Er hatte keine Lust, sie direkt danach zu fragen, zumal dieser Typ das letzte Mal Anlass zu einem üblen Streit gegeben hatte. Es war ihm egal, ob Ariane mit diesem Typ in Kontakt stand! Ging ihn doch nichts an. Aber er war ein Mensch, der Informationen nicht ungesichtet ließ, wenn sie so leicht zu erhalten waren. Das wäre Verschwendung gewesen. Nachdem er sich angemeldet hatte, schaute er auf Arianes Seite. Allerdings wurde ihm ihre Timeline nicht angezeigt, dazu musste er über Facebook mit ihr befreundet sein. Daher klickte er darauf, ihr eine Freunschaftsanfrage zu senden. So ein Unsinn. In der Zwischenzeit sah er sich die Liste ihrer vermeintlichen Freunde an. Allein die Zahl war absurd. Lauter fremde Gesichter schlugen ihm entgegen. Von den vier anderen waren wohl allein Vivien und Vitali auch bei Facebook, und Vitali hatte nicht mal ein Profilfoto. Das konnte Erik nicht bemängeln, schließlich hatte er ebenfalls darauf verzichtet. Er hatte keine Lust, dass ihn irgendwelche Leute anschrieben und das war unausweichlich, wenn er ein Foto von sich hochlud. Beim Scrollen entdeckte er schließlich das Bild und den Namen des Kellner-Verschnitts. Ein Klick darauf und die Profilseite von diesem Moritz wurde angezeigt. Natürlich spielte er auf seinem Profilfoto Gitarre. Beim Anblick dieses Abschaums verkrampfte sich Eriks Kiefer. An jenem Abend war es Arianes Reaktion auf die schmierige Art dieses Darstellers gewesen, die ihn aufgeregt hatte. Nun war das anders. Dieser Typ kam ihm wie eine Symbiose all derjenigen vor, die ihn während der Grundschulzeit verprügelt hatten. Mit Ariane hatte das nichts mehr zu tun. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass er das gleiche Gefühl verspürte wie damals. Weitab von der Überlegenheit, die ihn heute ausmachte. Jenseits der Überzeugung, jeden in seine Schranken weisen zu können, der es wagte, sich mit ihm anzulegen. Sein Stolz hatte ihm damals in der Seele gebrannt und die Wunden, die ihm zugefügt worden waren, noch mehr schmerzen lassen, weil sie für ihn nicht einfache Verletzungen gewesen waren,  sondern Zeichen seiner Schwäche. Als wäre er zu unfähig, das Potenzial, das in ihm steckte, zu nutzen. Denn wenn er ein Donner war, dann hatte er es doch in sich, dann war er doch geboren, um zu siegen! Daran hatte er ganz fest geglaubt. Nur – so hatte er damals gedacht – konnte er es der Welt nicht beweisen. Niemand würde es je sehen können. Hatte sich daran etwas geändert?   Die ganze Woche über kam es zu keinen weiteren Zwischenfällen. Erik verhielt sich normal, aber sie hatten gelernt, dass das kein Garant dafür war, dass er sich nicht in Secret verwandelte. Obgleich sie sich der Gefahr bewusst waren, kamen sie erst am Wochenende wieder zu einem gemeinsamen Training. Allerdings machte Serenas Mutter ihnen einen Strich durch die Rechnung. Sie hatte darauf bestanden, dass Serena sich mit ihren Freunden bei ihnen zu Hause traf, und Serena war keine überzeugende Ausrede eingefallen, die ihre Mutter von dieser Forderung abgebracht hätte. Notgedrungen hatten die fünf daher entschieden, ihr Training bei Serena abzuhalten. Zumindest kamen sie damit durch, sich in Serenas Zimmer zu verziehen, auch wenn Serenas Mutter zahlreiche Argumente dagegen vorbrachte: Das Zimmer war schließlich zu klein für so viele Leute und bot nicht genügend Sitzgelegenheiten etc. Aber ihr Training in einem anderen Raum abzuhalten, wo jederzeit jemand hereinplatzen konnte, war unmöglich. „Ich hasse deine Mutter.“, grummelte Vitali, nachdem sie endlich in Serenas Zimmer hatten flüchten können. „Halt’s Maul.“, pflaumte Serena ihn an. „Echt, sie macht immer nur Probleme!“, setzte Vitali fort. „Deine Mutter ist auch viel besser!“, schimpfte Serena sarkastisch. „Hab ich nicht behauptet.“ Serena zog ein säuerliches Gesicht. „Ihr hättet auch einfach alleine trainieren können.“, murrte sie. „Passt doch.“, meinte Vivien gelassen. „Wir können doch eh nicht ins Hauptquartier.“ „Hä? Wieso?“, fragte Vitali. „Na, weil Secret es sonst entdeckt.“, meinte Vivien. „Letztes Mal ist er ganz in der Nähe aufgetaucht. Und es wäre doch nicht so toll, wenn er in unserem Geheimversteck auf uns warten würde, oder?“ Vitali verzog das Gesicht. Vivien lächelte. „Außerdem bringt uns Lauftraining bei Secret sowieso nicht viel, schließlich kann er Telekinese.“ Ariane schaute besorgt. „Du meinst, es ist egal, wie weit jemand von ihm entfernt ist?“ „Hm.“, machte Vivien. „So gesehen wäre Lauftraining vielleicht doch ganz gut.“ Serena verkniff sich zu sagen, dass sie ganz froh darüber war, diesen Teil des Trainings ausfallen zu lassen. „Das Wichtigste ist, dass ich endlich lerne, den Schutzschild undurchlässig zu machen.“, verkündete Ariane. „Wenn er nicht mehr an uns herankommt, stellt er keine Gefahr mehr dar.“ Vitali schaute zweiflerisch. „Denkst du nicht, dass er sich dann irgendwen aus unserer Familie oder ne sonstige Geisel schnappt?“ Darüber hatte Ariane nicht nachgedacht. Justin nickte. „Trotzdem wäre ein Schutzschild, der Secret abhält, nützlich.“ Ewigkeit schwirrte zwischen den Beschützern herum und war davon, dass die fünf sie überhaupt nicht nach ihrem Plan fragten, gar nicht begeistert. Sie fühlte sich ignoriert. „Ich weiß nur nicht, wie ich es schaffen soll, dass der Schild undurchlässig wird.“, gestand Ariane. „Hey!“, rief Ewigkeit, um endlich etwas Aufmerksamkeit zu bekommen, und zog einen Schmollmund. Die Beschützer gafften sie an. „Das ist doch Training.“, schmollte sie und wollte damit wohl andeuten, dass das die Zeit war, in der sie das Sagen hatte. „Ewigkeit, das ist wirklich wichtig.“, sagte Ariane. Ewigkeit schaute noch beleidigter. „Hast du eine Idee?“, fragte Justin. Prompt fing die Kleine zu strahlen an. „Wenn ihr mit Vereinens Fähigkeit eure Kräfte miteinander teilt, ist der unheimliche Junge nicht darauf vorbereitet!“, verkündete Ewigkeit stolz. Die Beschützer wirkten nicht überzeugt, weshalb sich Ewigkeit zu einer ausführlicheren Erläuterung gezwungen sah. „Das letzte Mal konnte der Junge Schicksal davon abhalten, ihre Paralyse einzusetzen, indem er sich hinter Wunsch versteckt hat.“, erinnerte sie. „Wenn nicht nur Wunsch die Paralyse aufheben könnte, hätte es das Problem nicht gegeben. Und wenn nicht nur Schicksal paralysieren könnte, dann müsste er mehre Angreifer auf einmal in Schach halten.“ „Aber wenn wir alle paralysieren können, besteht die Gefahr, dass wir uns alle gegenseitig treffen.“, wandte Justin ein. „Aber wir könnten jeweils einer weiteren Person die Kraft geben.“, meinte Vivien begeistert. „Stellt euch vor, Secret verwendet Ariane nochmals als Schild, aber dieses Mal kann sie selbst paralysieren!“ Das war tatsächlich eine Möglichkeit, Secret davon abzuhalten, die gleiche Technik erneut einzusetzen. „Aber wir wissen nicht, wann er uns wieder angreift.“, wandte Ariane ein. „Das heißt, wir müssten die Kräfte immer wieder aufeinander übertragen. Und wenn es drauf ankommt, ist die Wirkung der Übertragung vielleicht schon wieder verflogen.“ „Es ist trotzdem besser als nichts.“, entgegnete Justin. „Und Verändern und ich können ihn ablenken!“, rief Ewigkeit. „Wir“ Sie teleportierte schneller als das Auge folgen konnte und tauchte an einer anderen Stelle auf. „können“ Erneut switchte sie. „ihn“ Schon war sie hinter den fünfen. „verwirren!“ Nun stand sie wieder vor ihnen. Vitali konnte nicht fassen, wie schnell sie den Standort hintereinander wechseln konnte. „Okay, dann übertrage ich Ariane die Paralyse und Justin die Läuterung.“, schlug Vivien vor. „Ich bin euer Versuchskaninchen, während Vitali das Teleportieren übt.“ Vitali verzog das Gesicht, entsetzt darüber, dass Vivien sich dafür freiwillig meldete. „Dann erklärt Serena Ariane, wie man paralysiert und Ariane Justin wie man läutert.“, schloss Vivien. „Und was mache ich, wenn sie es dann können?“, wollte Serena wissen. „Du kannst mich als Versuchskaninchen ablösen.“, antwortete Vivien lächelnd. „Super Idee!“, rief Vitali. „Dann weiß sie mal wie das ist!“ Serena warf ihm einen bösen Blick zu und Vitali ging automatisch in Deckung aus Angst, sie hätte mittlerweile gelernt, ihn mit einem Blick zu paralysieren. Justin hatte einen anderen Vorschlag. „Ich denke, es wäre sinnvoller, wenn Serena dann übt, mit Vitali zu teleportieren. Die beiden könnten Secret so angreifen.“ Außerdem hatte Justin Bedenken, welche unerwünschten Folgen eine Paralyse auf Serena haben würde. Nicht dass sie sich erneut in irgendeiner Seelenwelt wiederfanden. „So machen wir das!“, sagte Ewigkeit. Offensichtlich hatte sie den Anspruch, das letzte Wort in dieser Sache zu haben.   Sowohl Justin als auch Ariane hatten Schwierigkeiten, die fremden Fähigkeiten anzuwenden. Besonders die Paralyse wollte Ariane nicht gelingen. „Wie machst du das?“, fragte Ariane mit in Falten gelegter Stirn. Sie saß in einer Reihe mit Serena und Justin. Ihnen gegenüber saß Vivien. Serena war sichtlich irritiert. „Einfach so.“ Sie demonstrierte ihre Fähigkeit an Vivien, die prompt regungslos verharrte. Justin ging daraufhin dazu über, die Läuterung auszuprobieren. „Wie so?“, wollte Ariane wissen. „Was denkst du dabei?“ „Ich denke gar nichts. Es kommt einfach.“ „Aber du musst doch dabei irgendetwas fühlen.“ Serena dachte nach. „Es ist so ein Zusammenziehen.“ Sie überlegte nochmals. „Als würdest du deine Muskeln anspannen. Nur dass du dein Inneres anspannst. Irgendwie. Du verkrampfst dich.“ Ariane machte nicht den Eindruck, als würde ihr das weiterhelfen. „Okay, ich versuch’s noch mal.“, sagte sie. Justin meldete sich vorsichtig. „Ähm, Ariane, könntest du hier helfen?“ „Du lässt einfach los, als würdest du im Wasser treiben, als würde es aus dir fließen. Ganz sanft und ruhig und beruhigend.“ Justin versuchte es nochmals. Keine Reaktion. Ariane demonstrierte es ihm nochmals. Vivien schreckte aus der Paralyse auf und kicherte. „Das ist so lustig!“ Vitali, der mit Ewigkeit gerade wieder hinter ihr aufgetaucht war, nachdem er in ihrer Begleitung in sein Zimmer zu Hause teleportiert war, fragte ungläubig: „Du findest das lustig? Bist du krank?!“ Vivien kicherte. „Nicht die Paralyse. Serena und Ariane. Ihre Kräfte sind genau umgekehrt.“ „Ist doch logisch, sonst würden sie sich ja nicht gegenseitig aufheben.“, meinte Vitali, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt. „Ihr meint, Serena macht genau das Gegenteil von mir?“, fragte Ariane. Sie stellte sich vor, wie sich alles in ihr verkrampfte, als wäre sie in einem Gefängnis. „Das ist ja grauenvoll!“ „Allerdings.“, stimmte Serena ihr zu. Wenn Ariane das Gegenteil von ihr tat, dann – völlig bloß und ungeschützt zu sein, war eine grauenhafte Vorstellung! Da konnte man sich ja gleich selbst ein Messer in die Brust rammen. „Ihr könntet mir doch Tinys Kräfte geben, dann muss ich sie beim Teleportieren nicht mitschleppen.“, schlug Vitali vor und warf Serena dann einen Blick zu, dem nicht schwer zu entnehmen war, dass er die Situation mehr dafür nutzen wollte, sich für all die Male, in denen sie ihn paralysiert hatte, zu rächen. Entsprechend hielt Justin das für gar keine gute Idee. „Auch wenn du das übst, wirst du nicht so gut darin sein wie Serena.“, antwortete er. „Und wenn mich Serena paralysiert, während wir teleportieren? Macht sie doch ständig.“, maulte Vitali. Justin konnte das leider nicht widerlegen. „Vereinen kann die Kräfte besser annehmen.“, erinnerte Ewigkeit. „Stimmt, vielleicht wäre es besser, wenn du die Paralyse und die Läuterung übernimmst.“, stimmte Justin an Vivien gewandt zu. „Damit würde Secret aber eher rechnen.“, meinte Vivien. „Ewigkeits ursprünglicher Vorschlag ist sehr clever. Secret wird sicher wieder versuchen, Ariane als Schild zu verwenden. Aber ich kann trotzdem erst mal die Läuterung übernehmen.“ Justin stand auf, um den Platz mit Vivien zu tauschen. Auch Vivien erhob sich. „Justin, während der Paralyse kann man immer noch denken und alles hören und sehen. Vielleicht kannst du währenddessen auch deine Telepathie verwenden. Du könntest es mal probieren.“ Justin nickte. „Ich bin dann mal weg.“, sagte Vitali und war verschwunden. Ewigkeit tat es ihm nach. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Die vier erstarrten, als Serenas Mutter einen Schritt in den Raum machte und ein Tablett mit süßen Teilchen in Händen hielt. „Ich hab euch hier – Wieso sitzt ihr auf dem Boden?“ Sie kamen nicht dazu eine Antwort zu geben, weil Vitali in diesem Augenblick unweit vor Serenas Mutter auftauchte. Reflexartig riss Serena ihre Arme vor und hatte ihre Kräfte auf ihre Mutter angewendet, noch ehe sie es begriffen hatte. Das Tablett rutschte aus Frau Funkes Händen und sie brach in sich zusammen. Serena ließ einen leisen Schrei los, sprang auf und warf sich aufgelöst zu ihrer am Boden liegenden Mutter. Trockengebäck säumte den Boden. „Ganz ruhig, du hast sie nur in Schlaf versetzt.“, versuchte Justin sie zu beschwichtigen, nachdem er sich selbst zu Frau Funke gekniet hatte. Serena schluchzte hilflos. „Was soll ich bloß tun?“ „Du kannst sie schlecht einfach aufwecken.“, meinte Vitali. „Das ist alles deine Schuld!“, kreischte Serena. „Ey, ich hab sie doch nicht K.O. geschlagen!“, blaffte Vitali. Ariane überlegte laut. „Sie wird es auf jeden Fall seltsam finden, wenn sie am Boden aufwacht.“ „Und sie misstraut euch sowieso.“, erwähnte Ewigkeit. Serena war überrascht, dass ausgerechnet Ewigkeit das wusste. „Das ist egal.“, antwortete Justin. „Wir sollten sie nicht noch länger hier liegen lassen.“ Ariane gab zu bedenken: „Wird sie nicht Angst bekommen, dass sie irgendein gesundheitliches Problem hat, wenn sie einfach umkippt?“ Serena starrte auf ihre Mutter. „Wir müssen es löschen.“ „Was?“, fragte Ariane. „Wir müssen die Erinnerung löschen. Sie darf sich nicht daran erinnern, dass sie Vitali gesehen hat. Wir tun einfach so, als wäre das nie passiert!“, entschied Serena bestimmt. Justin wollte ihr das ausreden. „Serena, das ist –“ „Tu es einfach!“, befahl Serena. Justin biss die Zähne zusammen. Vivien, die hinter ihm stand, legte ihre Hand ermutigend auf seinen Oberarm. „Du schaffst das.“ Justin schluckte und versuchte, seine Fähigkeit einzusetzen. Nach zwei Versuchen gelang es ihm. „Bis wohin soll ich es löschen?“ „Bis vor die Tür.“, schlug Ariane vor. „Dann hat sie nicht gesehen, dass Vitali nicht im Raum war.“ „Nein.“ Serena stand auf und schloss ihre Zimmertür. Zum Glück saß der Rest ihrer Familie im Erdgeschoss vor dem Fernseher und schaute das Formel 1 Qualifying. „Lösch es bis da, wo sie ins Zimmer kommt. Wir richten sie wieder auf und lösen dann erst den Schlaf.“ Vitali widersprach. „Dann muss sie jemand halten. Das funktioniert nicht.“ „Wenn ich ihre Muskulatur paralysiere, funktioniert es vielleicht.“, meinte Serena. „Dann muss Ariane sie trotzdem berühren, um sie zu läutern.“, beanstandete Vitali. Serena legte die Hände an den Kopf, machte ein paar Schritte wie ein Tiger im Käfig und gab ein seltsam hilfloses Geräusch von sich. Das Erinnerungslöschen war auch nicht die ideale Lösung, schließlich konnten sie nicht einfach eine andere Erinnerung einbauen. Serenas Augen wurden groß. Sie stürzte wieder zu ihrer schlafenden Mutter. „Vielleicht kann ich die Erinnerung ändern!“ „Dann liegt sie immer noch hier am Boden.“, sagte Vitali trocken. Damit hatte er Recht. Serena war am Verzweifeln. Sie hob ihren Kopf und sah zu Vitali. „Du kannst doch Dinge schweben lassen! Dann kannst du sie aufrichten!“ „Läutern.“, erinnerte Vitali. Serena stieß ein Geräusch des Unwillens aus. Vitali stöhnte. „Wo ist das Schlafzimmer?“ Serena verstand nicht. „Ich kann sie ins Schlafzimmer teleportieren. Wenn sie eh schon schläft.“ Vivien stimmte zu. „Wenn sie dort zu sich kommt, denkt sie vielleicht, dass sie sich nur kurz hingelegt hat.“ Serena zögerte kurz, dann stand sie auf und öffnete wieder ihre Zimmertür. „Ewigkeit, pass auf, dass keiner meiner Familie hier hoch kommt.“ Ewigkeit nickte und verschwand. Serena führte Vitali ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Dort angekommen krabbelte er ungeniert auf das Bett. „Was machst du da?“, fuhr sie ihn an. „Ich kann sie ja schlecht auf den Boden legen.“ Serena verstummte. Vitali suchte nach der richtigen Stelle, stand dann wieder vom Bett auf und ging mit Serena zurück in ihr Zimmer. Sie mussten Frau Funke erst in eine geeignete Position bringen. Vitali kniete sich dann an ihre Seite, legte ihr etwas zögerlich die Hände auf und teleportierte. Serena lief daraufhin zurück ins Schlafzimmer, um zu kontrollieren, ob es geklappt hatte. Stolz strahlte Vitali sie an und krabbelte dann vom Bett. Frau Funke lag inmitten des Doppelbetts und schlief. Serena seufzte lautlos.   „Glaubt ihr, Serenas Mutter wacht überhaupt von sich aus wieder auf?“, fragte Ariane Vivien und Justin. In diesem Moment traten Serena und Vitali wieder ins Zimmer. „Wir sollten erst mal die Unordnung hier beseitigen, ehe wir uns darüber Gedanken machen.“, meinte Justin und sammelte das am Boden liegende Gebäck auf. „Wenn meine Ma das Gebäck im Mülleimer findet, wird sie stinksauer sein.“, sagte Serena kleinlaut. „Sollen wir das etwa noch essen?“, fragte Vitali ungläubig. „Das hab ich nicht gesagt.“, maunzte Serena. „Dann wirf es halt direkt in die Tonne.“, meinte Vitali. „Und wenn mich jemand von meiner Familie sieht?“ Vitalis Augenlider senkten sich zur Hälfte. Wollte sie ihn veräppeln? Er stöhnte und nahm Justin das zerkrümelte Gebäck ab. Er stand auf. „Wo ist die Mülltonne?” Serena saß auf dem Boden und sah nur verdattert zu ihm auf. „Wo die Mülltonne ist.“, wiederholte Vitali langsam, in entnervtem Tonfall. „Was hast du denn vor?“, wollte Serena wissen. „Was wohl!“ „Wenn meine Familie sieht, wie du Gebäck wegwirfst –“ „Dann teleportier ich mich halt.“ „Wenn dich draußen jemand sieht.“ „Ihr könntet es im Garten verbuddeln!“, rief Vivien. Die anderen starrten sie an. „Das wäre sicher lustig.“, rechtfertigte sie den Vorschlag. „Wir packen das Gebäck einfach in eine Tüte und ich nehme es mit und werfe es zu Hause weg.“, sagte Justin, der von den komplizierten Plänen der anderen etwas irritiert war. Serena nahm dazu eine kleine Einkaufstüte, die noch in ihrem Zimmer lag. Ariane kam auf ihren ursprünglichen Gedanken zurück. „Soll ich Serenas Mutter nicht besser läutern?“ Vivien hatte einen anderen Vorschlag. „Zuerst soll Ewigkeit einfach versuchen, sie zu wecken.“ Ewigkeit erklärte sich sofort dazu bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Die fünf blieben derweil in Serenas Zimmer und warteten nervös auf das Ergebnis von Ewigkeits Bemühungen. „Irgendwie ist das verrückt, oder?“, äußerte sich Ariane. Die anderen warteten darauf, dass sie sich erklärte. „Wir machen ein Theater, als wären wir von Schatthen angegriffen worden.“ „Naja, Serena hat ihre Mutter halber gekillt.“, erwiderte Vitali. „Hab ich nicht.“, gab Serena wütend zurück. Dann verzog sich ihr Gesicht in Sorge. Justin wandte sich tadelnd an Vitali. „Du solltest ihr nicht solche Ideen in den Kopf setzen.“ „Du meinst, sie macht das sonst wirklich?“, fragte Vitali in gespieltem Entsetzen. „Sie glaubt es sonst.“, entgegnete Justin. „Ja gut, war ja nur’n Scherz.“, gab Vitali von sich und wirkte beleidigt, dass Justin auf seinen Witz gar nicht eingegangen war. Ewigkeit erschien wieder bei ihnen. „Und?“, fragte Vivien. „Mission erfüllt!“, rief Ewigkeit freudig. Vitali hakte nach: „Das heißt, sie ist wieder aufgewacht, richtig?“ Bei Ewigkeit konnte man sich nie sicher sein. Das Schmetterlingsmädchen nickte. „Eins sag ich dir, wir trainieren nie wieder bei dir!“, verkündete Vitali. Serena stimmte dem voll und ganz zu. Kapitel 114: Unerwarteter Besuch -------------------------------- Unerwarteter Besuch   „Jemanden zu kennen, heißt noch lange nicht, zu wissen, wer er ist.“ (Stefan Wittlin)   Eine weitere Woche verging ohne besondere Vorkommnisse. Erik zeigte keine Anzeichen einer nochmaligen Verwandlung. Allerdings wussten sie auch nicht, woran sie einen bevorstehenden Ausbruch Secrets erkennen sollten. Beide Male war der Bedroher einfach vor ihrer Nase aufgetaucht, während sich Erik in ihrer Gegenwart stets wie er selbst benahm. Vielleicht wäre die beste Möglichkeit, Secret unter Verschluss zu halten, gewesen, einfach ständig in Eriks Nähe zu bleiben, aber das war natürlich  nicht umsetzbar. Aus Sicherheitsgründen hatte Justin selbst Ewigkeits freiwillige Meldung, über Erik zu wachen, abgelehnt.   Die fünf hatten ausgemacht, freitags zu besprechen, wo sie ihr nächstes Training abhalten wollten. Vitali hatte zwar vorgeschlagen, dass sie sich einfach in ihr Hauptquartier hinein und wieder hinaus teleportieren sollten – so würde Secret nicht wissen, wo es sich befand – aber die Entscheidung darüber war vertagt worden. Als Ariane an diesem Freitagnachmittag zu Hause ankam, hörte sie ihre Mutter aus dem Esszimmer ihr etwas zurufen. Sie zog ihre Jacke aus und lief ihr entgegen. „Bist du schon da?“ „Ja.“ Ihre Mutter saß im Esszimmer am Laptop. Ariane ahnte, was das zu bedeuten hatte. Am Wochenende zuvor hatte ihre Mutter angekündigt, sich jetzt, da der ganze Umzug gemeistert war, ernsthaft um eine Stelle bei einem Friseursalon zu bemühen. Übersetzt hieß das: ihr Vater und sie würden sich um die Bewerbungsunterlagen ihrer Mutter kümmern müssen. So gut ihre Mutter als Friseuse auch sein mochte, ihre Bewerbungen waren eine Katastrophe. Als sie sich das letzte Mal vor drei Jahren für eine Stelle beworben hatte, hatte sie wie ein Kind herumgenörgelt, als Ariane und ihr Vater sie auf die ganzen Fehler hingewiesen hatten: „Ich bin Friseuse und keine Tippse!“, hatte sie gemäkelt. Das bedeutete also, dass ihre Mutter nur darauf gewartet hatte, dass sie endlich heimkam. Ariane unterdrückte ein Seufzen. „Ich zieh mich nur schnell um, dann helfe ich dir.“ „Oh, das brauchst du nicht.“, meinte ihre Mutter, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Wenn man ihre Mutter nicht kannte, hätte man ihr das wohl tatsächlich abgekauft. Ariane jedoch wusste, dass sie in Kürze halb verzweifelt an ihrer Tür klopfen und ihre Hilfe erflehen würde, als würde gleich die Welt untergehen. Zumindest wurde man für jede Hilfe von ihr mit heißem Kakao oder selbst gemachtem Pudding verwöhnt, einer Massage oder was man sonst gerne hatte. Und sie lobte einen immer, als wäre man ein Genie. Ariane hatte ihrer Mutter daher früher immer gerne geholfen, bis sie die Aussage ihrer Mutter – bei Männern müsse man nur die Jungfer in Nöten spielen, ihnen das Gefühl geben, sie seien die großen Helden, und sie ein bisschen anhimmeln – auf diese Situationen übertragen und begriffen hatte, dass ihre Mutter genau diese Technik bei ihr und ihrem Vater anwandte. „Ich bin gleich wieder da und helfe dir.“, wiederholte Ariane. „Aber du brauchst dir wirklich keine Umstände machen.“, antwortete ihre Mutter. Ariane unterdrückte ein Stöhnen. Sie hasste es, dass ihre Mutter nicht einfach Klartext reden konnte. Sie verließ den Raum und ging die Treppe hinauf. Manchmal war ihre Mutter wirklich nicht einfach. Allerdings sagte ihre Mutter das umgekehrt über sie. Arianes Sichtweise, dass das Geschlecht keine Rolle spielen sollte, konnte ihre Mutter absolut nicht nachvollziehen. Sie redete dagegen etwas von den Waffen einer Frau und dass man als Frau Macht über die Männer ausüben könne etc. Ariane nervte dieses Gerede. Als wären Frauen irgendwelche Verführerinnen, die die dummen Männer um den Finger wickelten! Sie hoffte wirklich, dass Männer nicht so waren. Ihr Vater versicherte ihr zwar immer, dass es Männern auf den Charakter ankam, aber – Bei einem Blick auf ihre Mutter… Nicht dass ihre Mutter einen schlechten Charakter gehabt hätte! Ihre Mutter war ein wundervoller Mensch! Sie liebte ihre Mutter. Trotzdem erschien die Aussage ihres Vaters ein wenig … fragwürdig. Zumindest waren ihre Eltern sehr glücklich miteinander. Noch immer führten sie sich auf wie frisch Verliebte. Allerdings schob ihre Mutter das auf den geschickten Einsatz ihrer Weiblichkeit. Nach solchen Reden verging Ariane stets der Gedanke, sich jemals zu verlieben. Daraufhin bekam sie von ihrer Mutter immer zu hören, sie würde ihr Potential vergeuden – sprich ihre Schönheit – und sich das Leben nur selbst schwer machen, es gäbe schließlich keinen Prinzen! Das war noch so ein Satz, den Ariane hasste. Sie wollte gar keinen Prinzen oder Verehrer, egal welchen Geschlechts! Sie wollte einfach sie selbst sein! Und vor allem wollte sie sich für keinen Menschen auf der Welt verbiegen müssen. Aber der Meinung ihrer Mutter nach, war man ja man selbst, wenn man eine Beziehung führte. Man brachte nur den Mann dazu, nicht mehr er selbst zu sein. Ariane riss sich jedes Mal zusammen, ihr daraufhin nicht zu entgegen, dass es einfacher und sinnvoller war, sich einen Hund zu halten. In ihrem Zimmer angekommen merkte sie, dass sie Hunger hatte. Sie war es gewöhnt, sich selbst um ihr Essen zu kümmern, weil normalerweise sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter arbeiten waren, wenn sie heimkam. Aber wie sie ihre Mutter kannte, würde sie ihr den Platz am Laptop überlassen, sobald sie runterkam, und ihr dafür ihre Leibspeise kochen. Gar kein so schlechter Deal. Gerade war sie dabei, sich umzuziehen, als sie es an der Haustür klingeln hörte. Sie zog ihre Jogginghose an und wollte gerade nach einem Oberteil greifen, als sie ihre Mutter rufen hörte. „Ariane! Erik!“ Ariane glaubte, sich verhört zu haben. Eben hatten sie sich doch erst verabschiedet! Gut, Erik hatte sie beim Abschied wegen dem Geschenk für Viviens anstehenden Geburtstag nächste Woche angesprochen und sie hatte ihm geantwortet, sie würden das später besprechen. Aber sie hatte damit gemeint, dass sie später telefonieren würden! Sie sah auf ihre Armbanduhr. Er musste von der Schule direkt zu ihr gelaufen sein. Für einen Moment konnte sie ein kurzes Gefühl der Freude nicht unterdrücken. Es war das erste Mal, dass Erik zu ihr kam und nachdem sie fast zwei Wochen nicht mehr alleine mit ihm gesprochen hatte, war es nun einmal so: Sie freute sich. „Warte!“, rief sie zurück und suchte eilig nach einem Oberteil. Sollte sie das türkisfarbene Sweatshirt nehmen oder ein T-Shirt mit Jäckchen. Sie war schließlich zu Hause, also sollte es leger wirken. Aber sie wollte auch nicht abgehalftert aussehen. Worüber machte sie sich da eigentlich Gedanken? Ihr Blick fiel auf das rosafarbene T-Shirt, das er ihr auf dem Jahrmarkt geschenkt hatte. Wenn sie es trug, würde Erik das bestimmt kommentieren, so wie er es immer tat. Ihre Mundwinkel hoben sich. Vielleicht würde er sich freuen. Aber sicher würde er sie aufziehen. Sie stockte in der Bewegung. Dann griff sie nach ihrem roten langärmligen Jäckchen, streifte es sich über und zog den Reißverschluss zu. Ihre Klamotten ließ sie auf ihrem Bett liegen und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Sie hörte ihre Mutter in der Diele mit Erik reden. Arianes Gesicht verzog sich leicht. Seine Stimme klang so spitzbübisch, als würde er mit ihrer Mutter flirten. Sie verabscheute es, wenn er sich so anhörte. Leicht verstimmt lief sie die Treppe hinunter. „Ah, da ist sie ja.“, kommentierte ihre Mutter. Sie und Erik standen vor der Haustür. Als Erik sie erblickte, grinste er anzüglich. Im gleichen Moment blieb Ariane wie angewurzelt stehen. Sie wollte sich am Treppengeländer festhalten, aber sie konnte sich nicht rühren. Das war nicht Eriks Lächeln. Als er ihren Gesichtsausdruck wahrnahm, wurde sein Grinsen noch breiter und seine Augen funkelten mit boshafter Freude. „Mama…“, brachte Ariane hervor. Noch immer stand sie wie erstarrt da. Wie sollte sie ihrer Mutter klar machen, dass sie sich schnellstmöglich von ihm entfernen sollte, ohne dass Secret es mitbekam und sie dann womöglich attackierte? „Schon verstanden.“, sagte ihre Mutter lächelnd. „Ihr könnt in Arianes Zimmer gehen.“ Ariane glaubte, sich verhört zu haben. Das war wirklich das Letzte, was sie jetzt von ihrer Mutter hören wollte! Sie konnte ihre Teenager-Tochter doch nicht allein mit einem Jungen auf ihr Zimmer gehen lassen! Wie verantwortungslos war sie eigentlich! Aber was wäre die Alternative? Sie durfte ihre Mutter auf keinen Fall noch länger in der Nähe von Secret lassen. „Viel Spaß.“, flötete ihre Mutter und wollte sich entfernen. Ariane konnte nicht anders, als sie entsetzt anzusehen, doch ihre Mutter hatte sich schon von ihr abgewendet. Secrets spöttisch-amüsierte Stimme erklang. „Es wäre ihr lieber, nicht ganz alleine mit mir zu sein.“ Er sah zu Ariane herauf und lächelte verschlagen. Ihre Mutter drehte sich daraufhin ebenfalls zu ihr, mit weit erhobenen Augenbrauen. Ihr Mienenspiel sagte alles. Sie konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum ihre Tochter mit diesem Jungen nicht allein sein wollte! Was hatte sie als Mutter nur falsch gemacht? ‚Der Typ ist pures Eye Candy! Sei nicht so schüchtern, Süße! Ob er anständig ist? Sieh ihn dir doch mal an! Wer würde wollen, dass er‘s ist?!‘ Für einen Moment hätte Ariane fast angefangen zu weinen. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wandelte sich zu Resignation. „Ihr könnt gerne ins Wohnzimmer sitzen. Ich bin direkt nebenan.“ Mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen. Secret grinste Ariane an, als würde alles nach Plan verlaufen, und warf dann ihrer Mutter einen Blick nach. „Nein.“, stieß Ariane hektisch aus. Ihre Mutter blieb abermals stehen und sah sie verwirrt an. „Es… Es ist besser, wenn wir dich in Ruhe arbeiten lassen.“, presste Ariane hervor. „Wie du meinst.“, sagte ihre Mutter, hob die Arme und verschwand hinter einer Tür. Secret trat auf die Treppe. Ariane wich zurück. „Du solltest die anderen rufen.“, sagte er, ohne sie anzusehen und schob sich einfach an ihr vorbei in den ersten Stock. Ariane rief in Gedanken Ewigkeit herbei und lief Secret nach. Sie versuchte, wenigstens etwas Empörung in sich selbst zu finden, jenseits des Schreckens. „Du hast kein Recht –“ Secret drehte sich gönnerhaft zu ihr um. „Tu doch nicht so, als würde mich das interessieren.“ Er bemerkte, dass Ewigkeit neben Ariane aufgetaucht war, und winkte ihr zu. „Sag Verändern Bescheid. Er kann Wunsch hier abholen.“, meinte er zu Ewigkeit. Dann lief er zielgenau auf Arianes Zimmer zu und öffnete die Tür. Woher hatte er wissen können, welches Zimmer ihres war? Er blieb vor der geöffneten Tür stehen und sah nochmals zu Ariane und Ewigkeit. „Wollt ihr noch viel Zeit damit verschwenden, mich anzustarren?“ Er trat in das Zimmer. Ewigkeit suchte Arianes Blick, wohl weil sie nicht wusste, ob sie der Anweisung des Bedrohers Folge leisten sollte. Ariane wusste es auch nicht. War es richtig, genau das zu tun, was Secret wollte? Aber was half es, wenn sie sich widersetzten? „Hol Verändern.“, sagte sie. Im gleichen Moment war Ewigkeit verschwunden. Ariane verharrte, wo sie stand. Solange Secret in ihrem Zimmer war, war sie außerhalb der Reichweite seiner Telekinese. Plötzlich hörte sie den Klang von Spieluhren. Unsicher, ob sie die richtige Entscheidung traf, trat sie näher, um durch die geöffnete Tür in ihr Zimmer zu sehen. Secret hatte das Regal mit ihrer Spieluhrensammlung entdeckt und nichts Besseres zu tun, als jede einzelne aufzuziehen und spielen zu lassen, was ein furchtbares Tohuwabohu an Klängen ergab. Okay, wenn das eine böse Tat sein sollte, wirkte sie ziemlich… ungewöhnlich. Er stand noch immer vor dem Regal, mit dem Rücken zu ihr. „Du hast ziemlich viele von diesen Dingern.“ Ariane wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Mit ihm zu sprechen, erschien ihr grotesk. Secret wandte sich zu ihrem Bett. Angesichts der darauf verteilten Kleidungsstücke, sah er kurz zu ihr, „Du entschuldigst.“, und legte sie kurzerhand zur Seite, um auf ihrem Bett Platz zu nehmen. Er lehnte sich ungeniert nach hinten. „Willst du es dir nicht bequem machen bis Change da ist?“ Ariane fiel auf, dass er seine Bedroherkleidung nicht trug. Natürlich nicht. Ansonsten hätte sie ihn ja keine Sekunde für Erik gehalten und ihre Mutter wäre über den seltsamen Aufzug verwundert gewesen. Er hatte dieselbe Kleidung an wie in der Schule: Weiße Sneakers, eine dunkelgraue Jeans, ein weißes Langarm-Poloshirt, auf dessen Brust Wappen gestickt waren, darüber seine schwarze Lederjacke. Direkt unter dem Regal mit den Spieluhren hatte er Eriks Kuriertasche abgelegt. Arianes Augen verweilten einen Moment auf ihr. Ewigkeit tauchte erneut neben ihr auf, sah sich kurz um und verschwand wieder. Im nächsten Moment erschien Vitali neben Ariane, ergriff ihre Hand und teleportierte. Sie landeten im Trainingsbereich ihres Hauptquartiers. „Alles okay?“, fragte Vitali. Ariane nickte. „Meine Mutter ist noch dort.“ „Soll ich sie etwa herholen?“ Ariane wusste nicht, was jetzt zu tun war. „Bring mich zurück.“ Vitali starrte sie an, als hätte sie einen Vollschaden. „Hol du die anderen und komm dann zu mir. Solange ich dort bin, wird Secret nicht auf meine Mutter losgehen. Ich weiß nicht, was er vorhat, aber er wollte, dass Ewigkeit dich holt.“ Vitali sah sie einen Moment an. Dann stöhnte er genervt. „Wozu hab ich dich überhaupt geholt?“ Ariane drückte seine Hand. „Danke, Vitali.“ Innerhalb eines Augenzwinkerns standen sie erneut in ihrem Zimmer. Sie spürte noch, wie Vitali ihre Hand los ließ, ehe er verschwand. Secret hatte es sich derweil auf ihrem Bett bequem gemacht und spielte mit einer der Spieluhren. Er würdigte sie keines Blickes. Hatte er überhaupt bemerkt, dass sie wieder da war?  Oder dass sie fort gewesen war? Secret betätigte die Mechanik der Spieluhr. Die Melodie ‚Memory‘ aus dem Musical Cats erklang – Erinnerung. Wie er, auf ihrem Bett liegend, so fasziniert zusah, wie die Kätzchen auf der Spieluhr sich zu der Musik drehten, als suche er darin etwas Verlorenes… Ariane trat einen Schritt näher. Er sah noch immer nicht in ihre Richtung. „Was – ist mit dir passiert, nachdem…“, Ariane brach ab. „Erinnerst du dich an das Schatthenreich?“ Abrupt brach die Melodie ab. Secret hatte den Stift, der das Spiel anhielt, hineingedrückt. Er sah in Arianes Richtung. Sein Gesichtsausdruck war nicht länger spöttisch-amüsiert. Er sah sie einfach nur stumm an. „Secret…“ Mit einem Ruck setzte er sich auf, legte die Spieluhr beiseite und blickte sie nun düster an, als habe er etwas dagegen, dass sie ihn beim Namen nannte. Er biss die Zähne zusammen. Dann wandte er den Blick ab. „Wo bleiben die anderen?“, sagte er, wie um das Thema zu wechseln. „Du … erinnerst dich nicht.“ Secrets Brüllen. Der Knall der zerschellenden Spieluhr, die gegen die Wand hinter ihr geschleudert wurde. „WO BLEIBEN DIE ANDEREN??!!“   Vitali hatte Serena, Vivien und Justin ins Hauptquartier geschafft. „Wir müssen sofort zu ihr!“, schrie Serena. „Ewigkeit passt auf sie auf.“, versuchte Vivien sie zu beruhigen. Sie hatten die Kleine zu ihr geschickt, sobald sie alle im Hauptquartier versammelt waren. „Was soll das bringen?“ „Wir wissen nicht, was Secret vorhat.“, gab Justin zu bedenken. „Das ist so oder so eine Falle.“, antwortete Serena. „Wir haben keine Zeit!“ Justin zog ein ernstes Gesicht. Er dachte kurz nach. Vivien ergriff das Wort. „Secret will, dass wir zu ihm kommen. Vielleicht hat er uns etwas zu sagen.“ „Oder er will uns einfach vermöbeln.“, entgegnete Vitali. „Wir müssen gehen!“, drängte Serena.   Ariane war erstarrt. Secret atmete heftig, dann stand er auf, wie um sich selbst zu beruhigen. Er schien an ihr vorbeigehen zu wollen, Ariane rührte sich nicht, dann blieb er neben ihr stehen. „Du weißt nichts, gar nichts über mich!“, knurrte er. Ariane regte sich nicht. Es waren die gleichen Worte, die sie ihm gesagt hatte, damals auf der Halloweenparty. Ewigkeit erschien. Secret wandte sich in ihre Richtung, dann atmete er geräuschvoll aus, als würde er dadurch Druck ablassen. Nochmals atmete er ein und aus, fuhr sich durchs Haar und lief um Ariane herum zurück zum Bett. Er setzte sich wieder und sah mit Absicht nicht in Arianes Richtung. Ariane wollte auf der Stelle hier weg. Wieso hatte sie Vitali bloß gesagt, er solle sie zurückbringen? Ewigkeit schwebte in ihr Blickfeld, wie um sie zu trösten. Sie wollte Ewigkeit sagen, dass die anderen nicht kommen durften, dass sie ihre Mutter holen sollten und dann sie. Sie durften nicht auf Secrets Wünsche eingehen, aber sie konnte nicht mit ihr sprechen, ohne dass Secret es hörte. In diesem Moment erschienen auch schon die anderen zwischen ihr und Secret. Sie waren in ihre Beschützerkleidung gehüllt. Sofort löste sich Unite aus der Reihe und kam zu ihr. „Das hat reichlich lange gedauert.“, beschwerte sich Secret. „Du könntest nächstes Mal nen Termin ausmachen, dann ging’s schneller.“, gab Change zurück. „Wo wäre da der Spaß?“, entgegnete Secret und grinste. Change machte ein wütendes Gesicht. „Was willst du?“, forderte Destiny in brüskem Ton zu wissen. Secret zuckte mit den Achseln. „Such dir was aus.“ Darauf wusste Destiny beim besten Willen nichts zu sagen. Unite kam hinter den anderen hervor und strahlte Secret an. „Er hat uns vermisst!“ Secrets Gesicht verzog sich. „Deshalb bist du doch hier. Oder nicht?“, fragte Unite lächelnd. Er schien kurz zu zögern. Den Moment nutzte Unite zu einem weiteren Angriff. „Wir haben dich auch vermisst!“ Destiny und Change warfen ihr einen ungläubigen Blick zu. Überrascht erkannte Trust, dass Secret mit einem Mal tatsächlich ins Wanken geriet. Er wusste offensichtlich nicht, wie er auf Unites offene, heitere Art reagieren sollte. Unite löste sich aus ihrer Reihe, ohne es mit den anderen abzusprechen und setzte sich einfach neben Secret, als wäre nichts dabei. Die anderen dagegen standen wie unter Strom und fürchteten Secrets Reaktion. Unite lächelte ihn von der Seite an, während Secret sie anstierte, als wäre sie eine Außerirdische. Unite kicherte. Weiterhin war Secret nicht in der Lage zu agieren und die anderen beobachteten das seltsame Gefecht regungslos. „Wir haben dich lieb!“ Secret sprang vom Bett auf wie ein aufgescheuchtes Tier und fixierte weiterhin Unite. Er wirkte völlig aus dem Konzept gebracht, als wisse er nicht mehr, wie jetzt zu handeln war. Er blickte zu den anderen, wie um wenigstens von ihnen etwas Feindseligkeit zu erhaschen. Dann wurde sein Blick wieder ernst. Er wandte sich mit erhobenem Haupt zu Unite. Verächtlich blickte er auf sie herab. „Du weißt doch gar nicht, was das bedeutet.“ Unite lachte. Secrets Hände ballten sich zu Fäusten. Ohnmächtige Wut zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Ariane konnte nicht begreifen, wie Unite es schaffte, noch immer zu lächeln, das alles mit einem Lachen abzutun, während sie allein beim Anblick Secrets an ihre Grenzen stieß. Unite stand ebenfalls vom Bett auf. „Willst du unser Hauptquartier sehen?“ Die anderen gafften sie an. Unite streckte Secret ihre Hand entgegen. Secret ergriff ihre Hand und zog sie grob zu sich. Er beugte sich zu ihr vor und zischte ihr zu: „Wenn du mir euer Versteck zeigst, kann ich euch jederzeit angreifen.“ Unite lächelte ihn an, als halte sie das für eine großartige Idee. „Wenn du willst.“ Sie streckte Change ihre andere Hand hin. „Bist du jetzt total durchgeknallt?“, fragte Change. Die anderen waren zu entsetzt und überrumpelt, um irgendwas zu sagen. Unite zog einen Schmollmund. „Secret will mit uns trainieren!“ Dann hob sie die Augenbrauen, wie um ihre Aussage zu unterstreichen. Trust begriff. Wenn sie sich in ihr Hauptquartier teleportierten, wusste Secret nicht, wo es sich befand. Im Inneren gab es keine Hinweise darauf. Und in ihrem Hauptquartier waren sie allein. Kein Außenstehender konnte verletzt werden. „Gehen wir.“, sagte er. Change starrte ihn entsetzt an. „Echt jetzt?“ Trust wandte sich an Ariane. „Willst du hier bleiben?“ Er ging davon aus, dass ihre Nerven schon genug gelitten hatten. Ariane sah ihn kurz sprachlos an, offenbar war sie sich selbst über die Antwort nicht im Klaren. „Wenn du nachkommen willst, schick uns Ewigkeit.“, entschied er. Destiny sah zu Ariane, als könne sie nicht glauben, dass sie zurückbleiben wollte. „Keiner wird zurückgelassen.“, sagte sie bestimmt und nahm Arianes Hand. Ariane sah sie wortlos an. „Also los!“, rief Unite. Kapitel 115: Willkommen im Team ------------------------------- Willkommen im Team   „Die Welt braucht sehr viel Liebe, sonst wird sie kalt und leer. So viele denken nur an sich, sind herzlos und gemein, doch immer mehr bemühen sich, zueinander nett zu sein. Lasst uns Freunde sein, keiner schafft es ganz allein.“ (aus dem Lied Bärchi-Herz-Verein aus Die Glücksbärchis – Der Film)   „Tadaaa!“, rief Unite, als sie in ihrem Aufenthaltsraum ankamen. „Hier ist unsere tolle Couch und hier ist unser Lernbereich, den wir nie benutzen, und da drüben ist“ Sie fuhr damit fort, Secret alles zu beschreiben. „Wo sind wir?“, fragte Secret, völlig desinteressiert an Unites Ausführungen. Er sah sich suchend nach einem Hinweis um, wo sie sich hier genau befanden. „Unser Hauptquartier!“, verkündete Unite. Secret sah sie kalt an. „Und wie soll ich normalerweise hierherkommen?“ In seinem Blick lag die klare Drohung, dass er nur hier war, um sich eine weitere Möglichkeit zu beschaffen, sie aus dem Hinterhalt anzugreifen. Die Anspannung der anderen verschlimmerte sich. Unites Einfall, Secret ins Hauptquartier zu bringen, brachte nur umso größere Gefahren mit sich. Sie hätten ihn anderswo hinbringen sollen und einfach behaupten, dass dort ihr Hauptquartier war. Aber auf die Schnelle war ihnen natürlich kein passender Ort eingefallen. „Oh, das ist kein Problem.“, antwortete Unite. „Du rufst einfach Ewigkeit und dann bringt dich Change her.“ „Einen Weg ohne eure Hilfe.“ Unite kicherte vergnügt. „Du kannst ja einen finden.“ Secrets Gesicht verzog sich. Unites Verhalten war ihm eindeutig zuwider. Unite jedoch ging darauf nicht ein. „Komm, ich zeig dir die Zimmer.“ Sie eilte voraus. Secret warf den anderen einen argwöhnischen Blick zu und gab ihnen zu verstehen, dass sie nicht einmal daran denken sollten, ihn hinterrücks anzugreifen. Er bewegte sich nicht vom Fleck, ehe Destiny und Change vorausgingen. Ewigkeit, Trust und Ariane folgten. Als Unite ihm beschrieb, dass eines der Zimmer für ihn bereitstand, verzog Secret keine Miene, als wäre ihr Geschwätz ohnehin nichts anderes als ein großes Ablenkungsmanöver. Unite lotste sie also weiter zum Trainingsraum. „Hier trainieren wir!“ Secret schnaubte verächtlich und warf den Beschützern einen abschätzigen Blick zu, als wäre es für die fünf ohnehin Zeitverschwendung irgendetwas zu trainieren. Trust sah, dass Change sich aufgrund von Secrets abfälligen Verhaltens nur schwer davon abhalten konnte, ihm die Meinung zu sagen. Unite jedoch ging kichernd über Secrets Provokation hinweg. „Vielleicht kannst du uns ja noch was beibringen.“ Secret verging das Lächeln. Dann hob er seine Hand zum Angriff. Die anderen zuckten zusammen. „Äh-äh.“, machte Unite mit erhobenem Zeigefinger. „Du musst dich erst verwandeln!“ Sie klang wie eine Mutter, die ihr Kind zum Händewaschen aufforderte. Und Secrets Antwort bestand in einem ebenso unwilligen Gesichtsausdruck wie man es von einem trotzigen Kind hätte erwarten können. Die anderen konnten es nicht fassen. Als hätte er die Gedanken der anderen erraten, drehte sich Secret prompt zu ihnen und warf Ariane einen finsteren Blick zu, der sie zusammenfahren ließ. Erst dann begriff sie. Auch sie war nicht verwandelt. Ariane biss die Zähne zusammen. Dass sie seiner unausgesprochenen Forderung Folge leisten sollte, behagte ihr nicht, aber ihr blieb in dieser Situation wohl nichts anderes übrig. Was auch immer Unite vorhatte, offenbar war nicht geplant, dass sie sich mit Secret anlegten. Ariane begegnete Secrets Blick mit entschlossener Miene und rief dann ihr Wappen herbei. Im gleichen Moment wurde sie in ihre Beschützerkleidung gehüllt. Herausfordernd reckte Desire ihr Kinn, wie um Secret das Signal zu geben, dass er nun an der Reihe war. Wieder schnaubte Secret. Ohne Vorwarnung zog sich eine graue Düsternis um ihn herum zusammen. Die Beschützer zuckten zurück, um von den dunkelblauen Blitzen, die plötzlich um ihn zuckten, nicht getroffen zu werden. Ewigkeit flüchtete in eine andere Ecke des Raumes. Für eine Sekunde glaubte, Desire die Wunde an Secrets Arm erkennen zu können. Dann stand er in seiner grauen Bedroherkleidung da. Von der Wunde war nichts mehr zu sehen. Secret machte eine ausladende Armgestik und fegte die vor ihm stehenden Beschützer von den Füßen. Allein Unite neben ihm blieb von dem Angriff verschont. „Lasst uns trainieren.“, sagte Secret mit einem Grinsen im Gesicht. Im gleichen Atemzug hatte er seine Telekinese auf Unite angewendet und hievte sie in die Höhe. Sie gab einen überraschten Laut von sich. „Lass sie runter!“, forderte Trust entschieden. Das Grinsen auf Secrets Gesicht wurde noch breiter. „Bring mich dazu.“ Unite begann plötzlich laut zu lachen. „Los, rettet mich!“, kicherte sie, als würde es sich um ein Spiel handeln. Die anderen waren verwirrt. War das Ernst oder tatsächlich nur ein Spiel? Was ging hier vor? Destiny ergriff Changes Hand. Sofort teleportierten sie hinter Secret. Doch ehe Destiny ihre Paralyse einsetzen konnte, beförderte Secret Unite mit einer Armbewegung schützend vor sich. Im gleichen Moment stürzte sich Trust von hinten auf Secret. „Lass sie runter.“, forderte er. Secret klang gelangweilt. „Sie ist eh zu schwer.“ Er setzte Unite langsam auf dem Boden ab. In der gleichen Sekunde packte er Trusts Arm und verdrehte ihn, sodass er sich aus seinem Griff winden und ihn von sich stoßen konnte. Augenblicklich nahm er eine Position ein, in der er beide Seiten attackieren konnte. Unite lachte erneut. Sie rappelte sich auf und hüpfte an Secrets Seite. Offenbar war er sich auch nicht ganz sicher, was sie vorhatte, denn er attackierte sie nicht. „Darf ich mit dir zusammen kämpfen?“, fragte sie freudig. Skeptisch zog Secret eine Augenbraue hoch. Dann wandte er sich wieder den anderen zu. „Von mir aus.“ „Oh, oh...“, machte Unite, als hätte sie eine dringenden Frage. „Darf ich auch deine Kräfte benutzen?“ Secret warf ihr einen Blick zu, der eindeutig sagte, dass er mit der Frage nichts anzufangen wusste. Unite hielt ihm ihre Hand hin. „Teilst du deine Kräfte mit mir?“ Secret schien darüber nachdenken zu müssen. Sollte die Beschützerin es auf seine Kräfte abgesehen haben, hatte sie schlechte Karten. Selbst wenn sie die gleichen Fähigkeiten anwenden würde, könnte sie ihn nicht besiegen. Davon war er überzeugt. Er ließ seinen linken Arm sinken und streckte Unite seine Hand entgegen. Erst in diesem Moment begriffen die anderen, dass Secret das Ganze wohl tatsächlich als Training ansah und er sie nicht wirklich angriff. War Unite dabei, sein Vertrauen zu gewinnen? „Sollen wir dann nicht drei gegen drei kämpfen?“, fragte Desire zögerlich. Secret gab ein Geräusch des Spottes von sich. Es war nicht schwer zu erraten, dass er damit sagen wollte, dass sie selbst zu fünft keine Chance gegen ihn hatten. Trust schluckte und versuchte das Gefühl der akuten Bedrohung, das für ihn noch immer von Secret ausging, hinunterzuschlucken. „Pass auf, dass du die anderen nicht verletzt, du kannst mit seinen Kräften nicht umgehen.“, sagte er laut und deutlich zu Unite. Er hoffte, dass die Aussage ankam. Er wusste, dass es ein Fehler war, Secret irgendetwas verbieten zu wollen. Daher war das die einzige Möglichkeit ihn vielleicht darauf zu stoßen. Aber konnte man davon ausgehen, dass das wirkte? Vielleicht spielte Secret auch jetzt nur mit ihnen und würde im nächsten Moment wieder ernstmachen.  Er musste Vertrauen haben. Wenn Unite glaubte, dass sie Secret auf diese Weise zu einem von ihnen machen konnten, dann musste er sie dabei unterstützen. Er würde nicht noch einmal an ihr zweifeln und sie so im Stich lassen. Das hatte er sich geschworen. „Ha.“, machte Secret. „Ohne Verletzte wird Begierde doch langweilig.“ Er grinste teuflisch. Desire musste sich schwer zusammenreißen, um ihn nicht anzufahren, dass ihr Name nicht Begierde war! Und auch nicht Verlangen! Dass sie darüber hinaus nur dazu da sein sollte, um die Verletzten zu heilen, ärgerte sie ungemein. Ausgerechnet Change wandte ein: „Wäre es dann nicht besser, wenn wir zwei Leute hätten, die uns heilen können, anstatt zwei Leute, die uns verletzen?“ „Teleportier dich schneller, dann wirst du nicht verletzt.“, schimpfte Destiny. „Du hast gut reden, du wirst ja bloß mit teleportiert. Lern du lieber mal deine Paralyse selbst aufzulösen.“, gab Change zurück. „Pass auf, sonst paralysiere ich dich!“ „Tust du doch sowieso ständig!“ Secret wandte sich an Unite. „Tun sie das immer?“ „Immer.“, bestätigte Unite. „Ist das nicht nervig?“ Sie strahlte. „Eigentlich ist es ziemlich amüsant.“ Desire widersprach. „Es ist nervig.“ Trust meldete sich in ungewohntem Ton zu Wort. „Könntet ihr sie nicht mit der Telekinese auseinanderhalten, bevor sie sich was antun?“ Secret beschwerte sich: „Jetzt soll ich auch noch Samariter spielen?“ „Klappe!“, schimpfte Destiny. „Wir hören alles, was ihr sagt!“ „Ja, wollten wir nicht trainieren?“, maulte Change. Secret spottete. „Bist du so scharf drauf, verprügelt zu werden?“ „Ja, ist er.“, antwortete Destiny an seiner Stelle. „Hey, das darf ich doch wohl noch selbst entscheiden!“, beanstandete Change. „Wolltest du ihm etwa sagen, dass du nicht von ihm verprügelt werden willst?“ Change verzog das Gesicht. „Ich hätte es anders formuliert.“ Secret lachte leise. Sofort waren alle Blicke auf ihn gerichtet. „Was glotzt ihr so!“, beschwerte er sich. Desire murmelte eine Antwort. „Es ist nur komisch, dich lachen zu hören, wenn du gerade niemandem wehtust.“ „Ich kann gerne wieder damit anfangen.“, erwiderte Secret, offenbar pikiert. Unite rief: „Ich will mitmachen!“ Secret verdrehte die Augen und reichte ihr nochmals die Hand. Begeistert ergriff Unite seine Linke und begann ihre Kräfte einzusetzen. Ein grässlicher Schrei ließ die Beschützer zusammenfahren.   Von Secrets Arm aus schoss etwas durch Unites Körper. Von ihren gequälten Schreien eingehüllt, musste Trust mit ansehen, wie ihr Körper unter Schmerzen einknickte. Vor Schock konnte er sich nicht regen, stand hilflos dabei, während Unite sich die Seele aus dem Leib schrie. Er hörte Destiny schreien: „Lass sie los!“ Dann blitzte auch schon ein grelles Licht vor Secret auf, sodass er endlich von Unite abließ und zurücktaumelte. Im gleichen Moment löste sich Trust aus seiner Starre und rannte zu Unite. Er bettete sie in seine Arme und brüllte nach Desire. Diese schien sich nicht rühren zu können und starrte entsetzt auf Secret. Erneut rief er ihren Namen. Desire stürzte daraufhin an seine Seite, ihre Hände zitterten und Trust war sich unsicher, ob sie in diesem Zustand ihre Kräfte einsetzen konnte. Gleichzeitig hörte er Secret brüllen. „Komm nicht näher!“ Trust blickte auf. Secret wandte sich zu Change um, während er die Rechte benutzte, um Destiny zu drohen. „Bring mich hier weg, sonst töte ich euch!“ Change reagierte nicht sofort. „Los!“ Changes Gesicht verzog sich in Rage. „Du Scheißkerl!“ Destiny schrie dazwischen. „Change!“ Sie schien Secret anzusprechen. „Es war nicht deine Schuld!“ „Los!“, brüllte Secret umso lauter und fordernder. Change setzte sich in Bewegung, wurde aber von Destinys Ruf aufgehalten. „Es war nicht seine Schuld!“ Im gleichen Moment wurde Destiny von Secrets Kräften brutal zur Seite geschleudert. „Ich bring sie um!“, donnerte er. Change biss die Zähne zusammen, trat an Secrets Seite und hielt ihm die Hand entgegen. „In den Park.“, befahl Secret.   Als Destiny wieder auf die Beine kam, waren Change und Secret bereits verschwunden. Sie eilte zu Trust. „Du hättest ihn nicht gehen lassen dürfen!“ Trust reagierte ungehalten. „Hätte ich noch mehr von euch von ihm verletzen lassen sollen!“ „Hört auf!“, rief Desire, offenbar weil sie durch den Streit ihre Kräfte noch schlechter unter Kontrolle hatte. Unite war immer noch nicht fähig zu sprechen. Im gleichen Moment tauchte Change wieder auf. „Wo ist er?“, forderte Destiny zu wissen. „Ist doch völlig egal!“, fuhr Change sie an. Destiny wurde laut. „Jetzt war alles umsonst, was Unite getan hat!“, hielt sie ihm vor. „Bist du total bescheuert!“, schrie Change. „Er hätte dich umgebracht!“ „Hätte er nicht.“, entgegnete Destiny überzeugt. Changes Wut wuchs an. „Kapierst du, dass er mit einer Handbewegung dein Genick brechen könnte!“ „Das kann jeder!“ „Aber nicht unabsichtlich!!!“ Destiny stockte. Erst jetzt erkannte sie die heftige Aufregung, die aus Changes ganzer Erscheinung sprach. Der Bereich um seine Augen hatte eine purpurne Farbe angenommen. Er hatte wirklich Angst gehabt. „Unite.“, sagte Desire. Unite versuchte sich aufzusetzen und stützte sich dann auf ihre Arme. Sie rang sich ein Lächeln ab. „Alles in Ordnung. Mein Fehler.“ „Nichts ist in Ordnung!“, sagte Trust streng. Unite blieb gelassen. „Ich hätte wissen müssen, was passiert. Ich hab ja schon mal versucht, ihn anzuzapfen und es hat nicht funktioniert. Nächstes Mal –“ „Es wird kein nächstes Mal geben!“ Mit durchdringendem Blick fixierte Trust sie. „Wir werden uns von nun an von ihm fernhalten.“ Unite versuchte es mit einem Lächeln. „Trust, das ist –“ „Nein!“, unterbrach er sie grob. „Ich werde nicht zulassen, dass ihr euch in Gefahr bringt.“ Destiny mischte sich ein. „Sollen wir jetzt die Schule wechseln und unsere Telefonnummern ändern oder besser gleich wegziehen?“, spottete sie. „Du weißt genau, dass das an Secrets Angriffen nichts ändert! Er braucht uns.“ Trust sah sie unerbittlich an. „Ist er wichtiger als jeder einzelne von uns?“ Unite wollte etwas entgegnen, doch Trust ließ es nicht zu. „Sieh dir Change an und dann sag ihm ins Gesicht, dass es völlig egal ist, wie er sich fühlt. Hauptsache, Erik geht es gut.“, forderte er von Unite. Unite hielt inne und sah zu Change auf. Sie bemerkte erst jetzt, wie völlig fertig er aussah. Nun endlich fand Desire ihre Stimme wieder. „Das stimmt nicht! Wir haben einander versprochen, dass wir Erik nicht im Stich lassen. Das heißt nicht, dass er wichtiger ist als jeder von uns. Ich würde Change genauso beschützen. Und wir haben Destiny genauso beschützt. Die Frage ist viel eher, ob er weniger wichtig ist als jeder von uns!“ Trust brüllte: „Ja!“ Die anderen fuhren zusammen. „Er ist unwichtiger! Weil er nicht zu uns gehört! Weil er bereit ist, uns zu töten!“ „Das war ich doch auch.“, rief Destiny dazwischen. „Ich hätte euch auch getötet!“ Change wurde laut. „Du bist nicht Secret!“ Unite drehte sich zu Trust um und sah ihn mit verletzlichem Blick an „Würdest du die gleiche Entscheidung treffen, wenn es um mich ginge?“, Trust schaute ernst. Sein Gesichtsausdruck änderte sich kurz. Bitteres Leid zeichnete sich auf seinen Zügen ab, ehe sie wieder hart wurden. „Ja.“ „Ich würde dich nie allein lassen!“, rief Unite. „Und wenn du mich umbringen würdest!“ „Denkst du nicht, dass es schlimmer für mich wäre, dich umzubringen, als von dir allein gelassen zu werden?“, plädierte Trust eindringlich. „Vielleicht würdest du erst deshalb durchdrehen!“, wandte sie entschieden ein. „Dadurch würde ich doch alles schlimmer machen!“ „Unite.“, sagte Trust streng. „Würdest du mich dafür hassen, dass ich dich beschützen will?“, verlangte sie zu wissen. Trusts Gesicht wurde ausdruckslos. „Ich würde mich hassen.“ „Dann sorge ich einfach dafür, dass du mich nicht umbringst!“, verkündete sie entschieden. Trust stöhnte und schloss die Augen. In diesem Moment bemerkte er, was die ganze Zeit fehlte – der leise Glöckchenklang von Ewigkeit. Er sprang auf die Beine und suchte die Gegend ab. „Wo ist Ewigkeit?“   Er wollte weg. Nur noch weg von diesem Albtraum. Das kleine Etwas, er hatte es fast getötet. Es hatte nicht verschwinden wollen! Ihn nicht alleine lassen wollen! Bis er ausgerastet war. Es war so winzig, aber er hatte seine ganze Kraft eingesetzt, ehe er sich hatte losreißen können und seine Wut an den umstehenden Bäumen abreagiert hatte. Dann war er weggerannt. Er wollte sich bloß noch ins Schatthenreich retten. Hektisch atmend trat er durch das Portal in einen Zwischenraum, der wohl dazu vorgesehen war, Schatthen nach draußen zu schleusen. Er hatte Unites Schreie noch im Ohr. Der reglose Körper Ewigkeits. Er wollte sich verstecken. Er rannte aus dem Raum. Der Gang war kaum beleuchtet, düster und eng. Seine Schritte wurden schneller, dem Ende des Ganges entgegen. Plötzlich schien sich die Umgebung zu krümmen. Die Wände, die Türen, waren nicht länger solide, der Gang wurde breiter und wieder schmaler, als befände er sich in einer Wahnvorstellung. Secret eilte weiter. Jäh schwanden die Wände und er stand auf einem nunmehr freien Platz. Der Boden schien sich zu heben und abzuebben unter seinen Füßen. Nur für einen kurzen Augenblick. Er blieb stehen. Nicht länger konnte er ein Ziel ausmachen. Eine tief dunkle Stimme erklang und ein grauer Mann trat aus einer Finsternis, die vorher nicht einmal sichtbar gewesen war. „Du!“ Ehe Secret noch agieren konnte, wurde er von einer ungeheuren Last bäuchlings zu Boden geschleudert. „Was glaubst du, wer du bist?“ Grauen-Eminenz‘ Stimme klang anders als sonst, bedrohlich. Secret hörte, dass Grauen-Eminenz sich ihm näherte, durch sein zu Boden gepresstes Gesicht konnte er ihn nicht sehen. Dann spürte er Grauen-Eminenz‘ Atem an seinem Ohr. Er flüsterte. „Wenn du es noch einmal wagen solltest, einen Schatthen zu stehlen.“ Der Druck auf Secrets Körper nahm für einen Moment so stark zu, dass er einen kurzen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. „Merk dir das.“ Schritte entfernten sich. Instinktiv wusste er, dass die Umgebung wieder in ihren vorigen Zustand übergegangen war. Er hörte, wie Grauen-Eminenz durch die Zwischentür den Gang verließ. Noch immer konnte er sich nicht rühren.   Dieser dumme Bengel! Er hoffte, dass der Junge jetzt endlich kapiert hatte, dass das hier kein großer Spielplatz war! Grauen-Eminenz hielt an und wandte sich nochmals um. Ach! Er hatte extra darauf geachtet, dass der Druck gleichmäßig auf den Körper verteilt war. Es war also unwahrscheinlich, dass er dem Burschen irgendwas gebrochen hatte. Ansonsten hätte er ihn ja jetzt auch noch verarzten müssen! Das wäre äußerst kontraproduktiv gewesen und hätte seine Mühen, als harter Herrscher dazustehen, wieder zunichte gemacht. Er konnte nicht fassen, dass er zu solchen Mitteln greifen musste. War seine sonstige Erscheinung etwa nicht respekteinflößend genug? Er erinnerte sich an die Reaktion seiner Auserwählten, als sie ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatten: Sie hatten ihn kein bisschen furchteinflößend gefunden. Vielleicht sollte er etwas an seinem Aussehen ändern… Als hätte er Zeit für solchen Unfug! Ob es wohl Schönheitssalons für Schatthenmeister gab? Und müssten die dann nicht eher Hässlichkeitssalons heißen? Naja, Schönheit lag ja im Auge des Betrachters. Er hatte seinen Weg fortgesetzt, hatte eine Abkürzung durch eine Verknüpfung innerhalb seines Reichs gewählt, und war in seinem Arbeitszimmer angekommen. Auf dem Tisch lag das Kuvert vom Pandämonium, wegen dem er überhaupt hergekommen war. War ja nicht so, als hätte er den Weg wegen dem unverschämten Bengel gemacht. Auch wenn es praktisch gewesen war, dass er jetzt gerade im Schatthenreich aufgetaucht war. Der Bursche hatte längst mal gemaßregelt werden müssen. Zurück zu dem Umschlag. Es handelte sich um einen neuen Auftrag. Schon wieder! Dabei war er schon froh gewesen, diesen dämlichen Bericht zum Einsatz der Allpträume endlich vom Tisch zu haben. Seufzend setzte er sich hin und öffnete das Kuvert. Er stockte nochmals und rief ein Blickfenster auf, das den Gang zeigte, in dem er den Jungen attackiert hatte. Er ging davon aus, dass der Bursche nun wieder einen seiner Wutausbrüche haben würde wie üblich. Doch er lag immer noch da. Grauen-Eminenz war sich sicher, dass er das Druckfeld längst aufgelöst hatte. Dem Jungen war doch nichts zugestoßen? Ach was. Verdammt, er war doch hier kein Krankenpfleger und auch kein Kindermädchen! Er wollte das Blickfenster schließen, entschied sich dann aber doch dagegen. Nur für den Fall, dass der Junge noch länger so liegenbleiben sollte. Vielleicht wollte das Balg ja auch nur testen, wie er reagierte, ob er Schwäche zeigen und ihm zu Hilfe eilen würde. Genau! Das war eine sehr geschickte Taktik. Er durfte nicht unvorsichtig werden, nur weil es sich um sein Versuchskaninchen handelte. Der Junge war schließlich komplett geisteskrank, dem durfte man nicht vertrauen. Irgendwann würde er es mit diesem Burschen noch an den Nerven kriegen. Kurz bevor Secret durch das Portal gekommen war, hatte er sogar plötzlich schlimme Rückenschmerzen gehabt. Das war eindeutig besorgniserregend. Wurde er etwa alt? Zum Glück beherrschte er die Selbstheilung so gut. Er schloss das Blickfenster und zog die Unterlagen aus dem Kuvert.   Ewigkeit teleportierte sich zurück zu den Beschützern. Sie war erst jetzt wieder dazu fähig. Nach der Attacke des Bedrohers hatte sie sich eine Zeit lang nicht bewegen können, ehe eine angenehme Ruhe ihre Schmerzen gelindert hatte. Bei dem Angriff des Jungen hätte sie umkommen können, das wusste sie. Aber vielleicht konnte sie ja gar nicht sterben. „Ewigkeit!“, schrie Trust noch einmal, ehe er sie vor sich entdeckte. „Alles okay?“, fragte Unite. Ewigkeit zögerte. „Er wollte nicht, dass ich ihm folge.“ „Du hättest es erst gar nicht versuchen sollen!“, schimpfte Trust. „Er hätte dir sonst was antun können!“ „Aber… Ich kann doch sonst nichts tun.“, rechtfertigte sich Ewigkeit. „Ich bin doch euer Gleichgewichtsbegleiter!“ „Diese Sache ist viel zu gefährlich.“, antwortete Trust. Ewigkeit senkte den Kopf. „Er… sah traurig aus.“ Trust atmete geräuschvoll aus. Es herrschte kurzes Schweigen, dann wandte er sich an die anderen. „Dass eins klar ist, wir werden nicht noch mal versuchen, Secret auf unsere Seite zu ziehen.“ Unite wollte Einspruch erheben, doch Trust gab ihr nicht die Zeit dazu. „Secret ist unser Feind. Was auch immer seine Beweggründe sind, so wie die Dinge momentan stehen, wird er sich nicht zur Vernunft bringen lassen. Wir können nichts für ihn tun.“ „Man kann immer –“ Wieder wurde Unite von ihm unterbrochen. „Secret spielt nur mit uns. Er taucht auf, um uns Angst einzujagen, er möchte, dass wir nach seiner Pfeife tanzen. Wenn wir nicht tun, was er sagt, oder die Dinge sonstwie nicht laufen, wie er es geplant hat, reagiert er mit Gewalt.“ Desire erinnerte sich an Secrets Reaktion, als sie ihn auf seine Erinnerungen angesprochen hatte. Er hatte ihre Spieluhr zerschmettert und darauf gepocht, dass endlich geschah, was er befohlen hatte. „Wie ein jähzorniges Kind.“, murmelte sie. „Dem gehört der Hintern versohlt!“, schimpfte Change. Trust beendete die Diskussion. „Heute Abend wird trainiert.“   Die heißen, brennenden Tränen des Zorns und des verletzten Stolzes waren versiegt. Er hatte geweint wie ein kleiner Junge, so wütend war er gewesen. Secret schämte sich nicht. Tränen waren nur ein weiterer Weg seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Und das war es, was er sich nicht nehmen ließ. Er raffte sich auf und hatte einen tödlichen Blick aufgesetzt. Seine Rache würde fürchterlich sein. Kapitel 116: Zusammenhalt ------------------------- Zusammenhalt   „Zuhause ist da, wo deine Freunde sind. Hier ist die Liebe umsonst.“ (aus dem Lied Zuhause von Adel Tawil feat. Matisyahu)   Justin stand in seinem Zimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern hatte er zugezogen, als Ewigkeit ihn informiert hatte, dass Vitali ihn in der nächsten Sekunde abholen würde. Allerdings bezweifelte er, dass – hätte jemand Vitalis Erscheinen und das Wegteleportieren tatsächlich gesehen – derjenige es für mehr als ein Hirngespinst gehalten hätte. Während er die Gardinen wieder aufzog, fühlte er seine völlige Entkräftung. Seine Glieder fühlten sich schwer an, besonders aber sein Kopf, als würde jeder Gedanke darin Tonnen wiegen. Keiner von ihnen hatte noch ein Wort gesagt, während Vitali sie nach Hause gebracht hatte… Das plötzliche Klingeln der Haustür ließ Justin aufhorchen. Seine Eltern waren sicher noch im Geschäft. Was Gary betraf: der ging nur an die Tür, wenn man sturmklingelte. Also machte Justin sich auf den Weg nach unten. Allein seine angewöhnte Pflichttreue brachte ihn dazu, auf das Klingeln zu reagieren. Er kannte es nicht anders und glaubte, auch gar nicht anders handeln zu können. Jede Abweichung von seinem antrainierten Verhalten hätte seine Position gefährdet. Er war der brave, rechtschaffene und stets verlässliche Sohn, darauf war er stolz. Nie würde er davon ablassen. Allein die Vorstellung, einen so erschreckenden Schritt wie Secret zu gehen, verstörte ihn. „Hallo?“, fragte er durch die Tür hindurch. „Ich bin’s!“ Viviens Stimme.   Das Bedürfnis, nein, der Drang oder eher das Verlangen, mit Justin zu reden, hatte sie fast umgebracht. Okay, das war natürlich übertrieben. So schnell würde sie ganz sicher nicht sterben. Aber es hatte ihr ganz leichte Schmerzen bereitet, so ein Unwohlsein oder eine Unruhe, wenn man etwas ganz dringend tun muss und will und es aber nicht sofort umsetzen kann, sondern auf den richtigen Moment warten muss. Sie hatte gewusst, dass es nicht möglich war, in dieser Situation im Hauptquartier mit Trust zu diskutieren und dass er auf kein einziges Wort eingegangen wäre. Diese plötzlichen Anfälle von Distanziertheit hatte sie schon zuvor bei ihm erlebt und hielt sie für eine Art Schutzmechanismus, mit dem er sich selbst aufrechthielt. Aber in letzter Zeit fühlte sie sich immer öfter ausgesperrt. Manchmal schien er sie anzusehen wie eine Fremde. Schlimmer noch, er sah sie an wie Erwachsene, die hinter ihrer übertrieben heiteren Art nichts anderes erkennen mochten als geistige Beschränktheit, als lebe sie in einer farbenfrohen Traumwelt ohne jedes Leid. Sie wusste, was diese Leute dachten: Die brutale Realität würde zwangsläufig dafür sorgen, dass ihre Träume zerschellten und sie mit Schmerzen auf dem harten Boden der Tatsachen aufprallte. Und dann würde sie zerbrechen, genauso wie all die desillusionierten Menschen vor ihr. Sie hatte gelernt mit diesen Blicken umzugehen und nicht infiziert zu werden von dem Grau, das in den Augen dieser Menschen lungerte, dieser Menschen, deren Leid nur gelindert wurde, indem sie sich immer wieder des unverbrüchlichen Trosts vergewisserten, dass ihr Verlust großer Ideale und Träume nicht auf ein Versagen von ihrer Seite hindeutete, sondern auf ein universales Gesetz der Realität zurückzuführen war, dass man im Leben nur scheitern konnte. Die einen früher, die anderen später. Justin öffnete die Haustür und sah sie überrascht an, dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen. „Was ist?“ Seinem Tonfall nach zu urteilen schien er sich darauf gefasst zu machen, dass eine schlechte Nachricht folgte. Seine fehlende Freude über ihr Auftauchen pikierte sie automatisch. obgleich sie sich der Unsinnigkeit dieses Empfindens sofort bewusst war. Sie besann sich wieder auf ihr Vorhaben, senkte bewusst den Blick und gab ihrer Stimme einen sachten, verletzlichen Ton. „Möchtest du nicht mit mir reden?“ Zwar hätte sie gerne überprüft, wie Justin auf ihren Auftritt reagierte, doch musste sie den Blick noch gesenkt halten, um den nötigen Effekt zu erzielen. Normalerweise wurde Justin weich, wenn man Schwäche zeigte, das wusste sie. Sie hatte nie vorgehabt, sich mit ihm zu streiten, doch hätte die Diskussion angehalten, wäre es unausweichlich genau dazu gekommen. Und mit höchster Wahrscheinlichkeit, wäre sie dann ausfallend geworden. Nicht wie Serena, die demjenigen dann Beleidigungen und Verletzendes an den Kopf warf, um ihn in einem Versuch des Selbstschutzes von sich zu stoßen. Vivien hätte Justin Vorhaltungen gemacht, weil er einfach alleine Entscheidungen treffen wollte. Sie konnte sich selbst zusammenreimen, dass Justin in der Stimmung, in der er sich befunden hatte, ihr mit genauso harten Worten geantwortet hätte. Nicht dass sie ein Problem damit hatte, sich mit anderen zu streiten. Eigentlich fand sie Streitigkeiten zuweilen notwendig und klärend, aber sie kannte Justin. Für ihn war ein Streit nicht einfach eine Meinungsverschiedenheit, die man beilegte. Es verletzte ihn. Wenn er sich innerlich noch mehr verhärtete, würde er dann irgendwann gar nicht mehr zurück können? Würde er dann für immer in diesem Zustand bleiben, in dieser Distanziertheit? „Was meinst du?“, fragte er. Seine Stimme klang nicht besorgt wie sonst, wenn sie die Schüchterne spielte, sondern schlicht erschöpft. Vivien blickte wieder auf. Sie musste kurz die Zähne zusammenbeißen, um stark zu sein. „Du bist doch mein Partner.“ Nun endlich trat Verwunderung auf Justins Züge. Normalerweise sprachen sie nur von Destiny und Change als Partner, da Desire, Trust und sie ein Dreierteam bildeten. Doch es dauerte weniger als eine Sekunde, ehe die Skepsis wieder sein Gesicht einnahm. Vivien sprach weiter. „In dieser Situation ist es wichtig, dass wir beide uns einig sind, weil wir die anderen sonst nur durcheinanderbringen.“ Okay, das klang vielleicht als wären sie die Eltern der anderen, aber sie fand es durchaus passend. Kurz schüttelte es sie. Die Luft war kalt, aber Justin schien sie nicht hineinbitten zu wollen. Er sah sie nicht einmal mehr an. Daher blieb ihr nichts anderes übrig als weiterzureden, doch schlich sich ein Ton in ihre Stimme, den sie nicht beabsichtigt hatte. „Manchmal… da siehst du mich an, als wäre ich – Als würde ich dich manipulieren wollen, damit du tust, was ich sage!“ Die Worte – die Erkenntis ihrer Befürchtung – ließen sie schlucken. Dann bemerkte sie, wie Justins Unterkieferknochen kurz hervortrat. Das Zeichen, dass sie richtig gelegen hatte: Er sah alles, was ihn von seinem Entschluss abbringen wollte, als Feind an. „Du verschließt dich immer mehr. Du verletzt dich selbst, damit wir anderen nicht verletzt werden!“ Auf ihre Worte hin trat Entschiedenheit in Justins braune Augen. Standfest stierte er ihr ins Gesicht. „Wenn ich damit die anderen davor bewahren kann, zu zerbrechen.“ Vivien wusste, dass es nichts half, ihm jetzt zu widersprechen. Sie tat einen Atemzug. „Du wirst mehr und mehr wie Secret.“ Über diese Aussage entrüstet starrte Trust sie an, als würde er an ihrem Verstand zweifeln, wenn sie eine solch unhaltbare Behauptung aufstellte. „Der Secret, den wir im Schatthenreich getroffen haben.“, präzisierte sie. „Es ist als würdest du vergessen, wer du bist.“ Jetzt sah Justin genervt aus. Er schloss kurz die Augen und stöhnte. „Vivien, es ist ja nett, dass du dir Sorgen machst, aber das ist völlig unnötig.“ Wieder diese Härte in der Stimme. „Schließ mich nicht aus!“, stieß sie ungewollt ängstlich hervor. Justin fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, als müsse er sich überlegen, wie er einem kleinen Kind klarmachte, dass es ihn in Ruhe lassen sollte. Dann wurde sein Blick regelrecht mitleidig. „Vivien.“ Selbst der Ton seiner Stimme klang als wäre er mit einem Mal furchtbar erwachsen. „Hör zu. Du möchtest immer allen helfen und willst dass alle glücklich sind, aber das geht nun mal nicht, verstehst du?“ Jäh entdeckte sie in seinem Gesicht wieder einen Hauch der Verletzlichkeit, die ihr so vertraut war. Noch war er nicht völlig in seiner behelfsmäßigen Stärke verlorengegangen! Noch litt er selbst unter seinen Worten. Sie zog daraus neuen Mut. Ihr Blick wurde entschieden und streng, ihr Stimmvolumen schwoll an und sprühte vor Willensstärke und Überzeugungskraft. „Solange man daran glaubt, kann man alles erreichen!“ Unerschütterlich war ihr Wille. Er würde vergeblich versuchen sie niederzustarren. Sie würde niemals klein beigeben, egal wie oft und entschieden ihr jeder sagte, dass es unmöglich war! Seine Reaktion kam plötzlich und traf sie unvorbereitet. So unvermutet hatte er seine Arme um ihre Schultern gelegt, dass sie regungslos stehenblieb.   Justin hielt sie fest, hielt sich an ihr fest. Seine Stärke war schlagartig in sich zusammengebrochen angesichts ihrer Stärke, die – wenn auch nicht beständiger – doch sehr viel strahlender und mindestens genauso beharrlich wirkte. Er hörte sie sagen: „Es tut mir leid.“ Ihre Stimme klang gepresst. Anders als sonst, fast als wäre sie den Tränen nahe. „Ich hätte dir nie sagen sollen, dass du der Anführer bist. Du bist nicht der Anführer, du bist ein Mitglied in unserem Team! Wenn wir einen Anführer brauchen, dann mache ich das, klar?“ Es kam wieder etwas mehr Energie in ihre Stimme, aber sie klang noch immer verletzlich. „Du kannst mein Assistent sein. Ich kann alles schaffen, wenn du zu mir hältst. Ich werde der beste Anführer aller Zeiten, das verspreche ich dir!“ Justin hörte ihren Wortschwall, der so voller rastlosem Eifer klang, als müsse sie ihm eilig das Richtige sagen. Sie hörte sich an wie er vor nicht allzu langer Zeit, am Anfang ihres Beschützerdaseins, als er nicht gewusst hatte, wie er sich ihr gegenüber geben sollte und was sie von ihm hielt. Das ließ ihn lächeln. In seinen Armen verkündete Vivien: „Ich bin vielleicht klein und ich mag vielleicht nicht so aussehen, aber ich bin sehr stark!“ Er fragte sich kurz, woher er eigentlich den unsinnigen Mut nahm, sie zu umarmen und noch immer in Armen zu halten. Aber er würde sie nicht loslassen, nicht jetzt.   Vivien hielt still, ihr Herz pochte, sie erwiderte die Umarmung nicht. Dass er sie dennoch festhielt, war das Schönste, das sie sich in diesem Moment vorstellen konnte. Und ihr wurde klar, dass sie nicht halb so stark und unerschütterlich war wie sie angenommen hatte und wie sie vorgab zu sein. Doch auf ganz andere Weise war sie viel stärker, als sie je für möglich gehalten hatte.   Vitali lag ausgestreckt auf seinem Bett und seufzte an einem fort. Er wollte, dass dieser Mist endlich aufhörte. Das Schreien seiner Mutter, das aus dem Erdgeschoss drang, ließ ihn aufstöhnen. Er setzte sich auf und brüllte durch seine Zimmertür. „Was ist denn?“ „Telefon!“ Genervt stand Vitali auf und verließ den Raum. Er musste erst die Treppe hinunterlaufen, wo seine Mutter ihm schon das Schnurlostelefon hinhielt. Vitali nahm es entgegen und begrüßte den Anrufer mit wenig Elan. „Hallo?“ „Hi.“ Arianes Stimme. Vitali brauchte einen Moment, ehe er weitersprach. Nun in weniger genervtem Ton. „Wie geht’s dir?“ „Den Umständen entsprechend.“ „Hm.“ „Vitali, ich hab ein Problem.“ Vitali seufzte und lief die Treppe wieder hinauf. „Bin ich die Seelsorge?“ Von der anderen Leitung kam keine Antwort. Vitali stöhnte. „War nicht so gemeint.“, versuchte er seine groben Worte rückgängig zu machen. „Was gibt’s denn?“ „Ich…“ Er hörte sie ausatmen. „Ah ja, sehr aufschlussreich.“, kommentierte er. „Jetzt warte doch mal.“, beschwerte sich Ariane. Vitali trat wieder in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Mann! Wieso denkt eigentlich immer jeder, dass ich alles so super wegstecke!“ Wieder Schweigen auf der anderen Seite. „Es … tut mir leid.“, sagte Ariane kleinlaut. „Mir auch.“ „Ich hätte dich nicht anrufen sollen.“ Vitali stöhnte erneut. „Lasst mich doch einfach in Ruhe!“ „Tut mir leid. Wiederhören.“ „Hey!“, rief Vitali. „Warum hast du angerufen?“ Zögern. „Das hat sich erledigt. Vergiss es einfach.“ Ein Grollen entwich Vitali. „Spuck’s aus!“ Ariane seufzte. „Secret hat Eriks Tasche bei mir liegen lassen.“ „Großartig!“, stieß Vitali sarkastisch aus. „Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.“ „Lass sie einfach liegen.“ Ariane antwortete nicht. „Verdammt! Bin ich hier der Kurierdienst!“, schrie er in den Hörer. „Ich hab doch gar nicht gesagt, dass –“ „Darum hast du doch angerufen!“ Ariane schwieg. Vitali fluchte. „Tut mir leid.“, sagte Ariane leise. „Nein.“, entgegnete Vitali. „Erik sollte es leid tun.“   Ariane wartete in ihrem Zimmer darauf, dass Vitali erschien. Die Scherben der Spieluhr säumten noch immer den Boden und Ariane wunderte sich, dass ihre Mutter den Lärm anscheinend gar nicht bemerkt hatte. Vielleicht hatte sie statt zu arbeiten wieder Videos mit ihren Noise Cancelling Kopfhörern geschaut. Vor ihrem Anruf bei Vitali hätte sie vielleicht kurz zu ihr runtergehen sollen. Aber nachdem sie Eriks Tasche auf dem Boden hatte liegen sehen, hatte sie keine Ruhe mehr gehabt. Vitali tauchte mitten im Zimmer auf und sah alles andere als wohlgemut aus. Ariane spürte sofort wieder ein schlechtes Gewissen. Sie wollte Vitali nicht mit dieser Aufgabe belästigen, aber ihr war keine andere Lösung eingefallen. Vivien und Justin hatte sie nicht fragen wollen, was nun zu tun war. Justin war eben schon so verstockt gewesen und Vivien – Vivien hätte das Ganze nur noch verkompliziert, weil ihr sicher irgendein toller Plan eingefallen wäre, wie man die Tasche nun nutzen konnte. Ariane wollte aber keine großartigen Pläne. Sie wollte nur, dass die Tasche nicht bei ihr herumlag. „Tut mir leid.“, entschuldigte sie sich nochmals. „Hör auf, das zu sagen.“, grollte Vitali und seufzte. Schweigend standen sie sich gegenüber. Vitali ergriff das Wort. „Ewigkeit muss schauen, ob sein Zimmer leer ist. Nicht dass Secret dort hockt.“ Ariane nickte und rief in Gedanken Ewigkeits Namen.  Die Kleine erschien ohne Verzögerung vor ihnen und Ariane erklärte ihr die Situation. Ewigkeit hörte zunächst zu, machte dann aber ein Gesicht, als würde sie ständig mit den Gedanken abschweifen. Dann verschwand sie ohne ein Wort. Ariane war darüber verwundert. Normalerweise nickte Ewigkeit mindestens, ehe sie einer Bitte Folge leistete. Noch häufiger sagte sie etwas wie Jawohl! oder Aye aye! oder salutierte einfach. Sie und Vitali warteten. „Wieso braucht die so lange?“, nörgelte Vitali. Ihr Wegbleiben beunruhigte Ariane, doch ehe sie sich zu viele Sorgen machen konnte, erschien Ewigkeit wieder. „Schicksal will mit.“, verkündete sie. „Hä! Warum hast du’s ihr gesagt!“, entfuhr es Vitali. Ewigkeit zog ein unglückliches Gesicht, als begreife sie nicht, was sie nun schon wieder falsch gemacht hatte. „Sie hat dich gerufen.“, vermutete Ariane. Das war also der Grund für Ewigkeits abschweifenden Gesichtsausdruck gewesen. Wahrscheinlich war Ewigkeit vorher bei Serena gewesen und Serena hatte ihr plötzliches Verschwinden sofort als Anzeichen dafür gesehen, dass irgendetwas vor sich ging. Ewigkeit nickte. „Ich brauch sie nicht!“, schimpfte Vitali. Wieder verschwand Ewigkeit. Vitali fluchte. „Verdammt! Das braucht sie ihr doch nicht sagen! Diese –“ Arianes Handy klingelte. Wie sie schon erwartet hatte, handelte es sich bei dem Anrufer um Serena. Ariane nahm ab. „Seid ihr irre!“, schrie Serenas Stimme. „Vitali geht auf keinen Fall allein!“ Ariane brauchte das Handy nicht extra auf Lautsprecher zu stellen, damit Vitali jedes Wort hören konnte. „Du kannst mich mal!“, schrie Vitali in den Hörer. Ariane sah ihn streng an. „Meine Mutter ist immer noch unten.“ „Sie schreit doch.“, maulte Vitali mit Verweis auf das Handy. Ariane wandte sich wieder ihrem Mobiltelefon zu. „Er bringt nur Eriks Tasche in sein Zimmer.“ Vorsichtshalber hielt sie das Handy sofort wieder von sich weg, um von Serenas Antwort nicht taub zu werden. Doch es kam keine Antwort. Verwundert hielt sich Ariane das Handy wieder ans Ohr. „Serena?“ „Wenn er mich nicht dabei haben will, soll er halt gehen.“ Ihre Stimme klang eindeutig beleidigt. Ariane versicherte eilig: „Nein, nein,  es ist nicht so, dass er dich nicht dabei haben will.“ Dann hörte sie wie die Verbindung abbrach. „Was ist?“, forderte Vitali zu wissen, als sie ihr Handy vom Ohr nahm. „Sie ist …“ Sie brach kurz ab. „beleidigt, dass du sie nicht mitnehmen willst.“ „Die spinnt doch! Wenn sie unbedingt zu Erik will, dann soll sie gefälligst zu Fuß gehen!“ Er verzog eingeschnappt den Mund. „Sie wollte mit dir mitgehen.“, meinte Ariane. „Na und?“ „Sie wollte nicht, dass du alleine gehst.“, versuchte Ariane es verständlicher zu machen. „Du kannst dich gegen Secret nicht wehren.“ „Ich kann teleportieren!“ „Ich weiß.“, sagte Ariane. Vitali stöhnte entnervt. „Willst du nicht mit ihr reden?“, fragte Ariane. „Die stört mich bloß!“ Ariane zuckte mit den Schultern, das war schließlich Vitalis Entscheidung. Er stieß ein Grollen aus und hielt ihr seine Hand hin. „Gib schon her.“ Sie reichte ihm ihr Handy. „Wählen.“, forderte er. Ariane tat wie geheißen, schaltete auf Lautsprecher und gab es Vitali zurück. Sobald das Tuten aufhörte, laberte Vitali los, ehe noch ein Wort von Serena kommen konnte. „Ich bin viel schneller ohne dich! Mit dir ist das viel zu gefährlich!“ „Entschuldige, dass ich so eine Gefahr bin!“, drang Serenas Stimme aus dem Mobiltelefon. Vitali setzte zu einer Erklärung an. „Ich kann dich nur teleportieren, wenn ich dich berühre. Wenn er uns auseinander reißt, dann sitzt du dort fest, du Dummkopf!“ Von der anderen Seite war nichts mehr zu hören. Endlich sagte Serena: „Ich mag es trotzdem nicht, dass du ohne Rückendeckung dorthin gehst, Ich kann wenigstens paralysieren.“ „Ja, und wahrscheinlich würdest du mich paralysieren!“, spottete er. „Dann geh halt allein!“, meinte Serena pikiert. „Mach ich!“ Erneute Pause. Dann klang Serenas Stimme leiser und verletzt, fast vorwurfsvoll. „Ich dachte, wir wären ein Team.“ Vitali stockte. „Aber wir sind doch auch ein Team.“, versicherte Ariane. „Deshalb will Vitali dich nicht in Gefahr bringen.“ Serenas Antwort kam nach weiterem Zögern. „Und wer passt auf ihn auf?“ „Ich kann auf mich selbst aufpassen!“, rief Vitali. Anschließend wurde er etwas kleinlauter. „Kannst du mir nicht einfach vertrauen?“ Keine Antwort. „Vielen Dank auch!“, schimpfte Vitali. „Natürlich vertraue ich dir, Dummkopf!“, schrie es aus dem Handy. Ariane konnte nicht fassen, dass Serena das wirklich laut ausgesprochen hatte. Vitali schien dem jedoch keine größere Bedeutung beizumessen. „Du brauchst mich nicht beleidigen!“, beschwerte er sich. „Du hast mich die ganze Zeit beleidigt!“, gab Serenas Stimme lautstark zurück. „Ja, weil du mir nichts zutraust!“ „Du Vollidiot! Ich hab mir Sorgen um dich gemacht!“ Vitalis Gesicht verzog sich. Er antwortete erst nicht. Dann atmete er geräuschvoll aus. „Ich pass auf mich auf.“ „Das will ich auch hoffen!“ Nun wurde Vitali wieder laut. „Mann, du klingst wie meine Mutter!“ „Irgendwer muss ja auf dich aufpassen, du Trottel!“ „Du kannst mich mal!“ Serena antwortete in gemäßigtem Ton. „Nimm Ewigkeit mit.“ Auch Vitalis Lautstärke schrumpfte zusammen. „Mach ich.“ Ein Tschüss, dann gab Vitali Ariane das Handy zurück. Irgendwie war Ariane über den Wortwechsel der beiden überrascht. Trotz all der Beleidigungen und Vorwürfe hatte die Interaktion zum Schluss hin geradezu fürsorglich gewirkt. Im gleichen Moment stand Ewigkeit wieder im Raum. Vitali kommentierte dies mit einem „Los geht‘s.“   Secret war aus dem Schatthenreich in das Zimmer auf der anderen Seite des Portals geflüchtet, in dem er schon einmal zu sich gekommen war. Zum ersten Mal hatte er den Drang verspürt, herauszufinden, was sich jenseits dieses Raums befand. Bisher hatte ihn diese Umgebung abgeschreckt. Sie war auf langweilig alltägliche Weise unheimlich. Wie etwas, dessen Enge auf ihn abzufärben drohte, wenn er sich zu lange darin aufhielt. Heute hatte er keine solchen Gedanken. Er hatte den Raum verlassen und war als erstes die große, pompöse Treppe hinunter ins Erdgeschoss gelaufen. Die Präsenz eines anderen Menschen hatte er nicht gespürt, aber sein sechster Sinn war nicht immer so zuverlässig. Es sei denn es handelte sich um eine Gefahr. Die altehrwürdige Eingangstür hatte er aufgeschlossen, nur um einen kurzen Blick nach draußen zu werfen und sie dann wieder zu schließen. Zum wieder Abschließen hatte er keine Lust gehabt. Anschließend war sein Blick durch die verschiedenen Räume links von der Eingangstür geschweift. Durch jeden war er hindurchgegangen, ehe er sich den Räumen auf der rechten Seite gewidmet hatte. Er stand gerade in der riesigen Küche, als er es spürte. Jemand war in diesem Haus. Im nächsten Moment wusste er, dass es ein Beschützer war. Es handelte sich um keine Mutmaßung, sondern eine Information, die ihm augenblicklich zugänglich wurde, ohne dass er darüber nachdenken musste. Und der einzige Beschützer, der einfach so auftauchen konnte, war Change. Secret stand still. Er wusste nicht genau, wo sich der Beschützer aufhielt und erst recht nicht, was dieser plante. Was wollte er hier? Was war das überhaupt für ein Haus? Wieso kannte der Beschützer es? Wussten die Beschützer etwa immer, wo er sich aufhielt? Unsinn, solche Fähigkeiten besaßen sie nicht, sonst wären sie bei seinen Angriffen nicht jedes Mal so überrascht gewesen. Oder spielten sie etwa mit ihm? Was für ein seltsames Spiel sollte das sein, bei dem sie ihn verstört ansahen? Aber er hatte auch den Schatthenmeister unterschätzt. Die Präsenz des Beschützers verschwand. Hatte er sich das nur eingebildet? Sie war nur für Sekunden spürbar gewesen. Das ergab doch keinen Sinn. Secret verließ die Küche und lief vorsichtig die Treppe hinauf in den ersten Stock. Er wusste nicht, ob der Beschützer wirklich verschwunden war oder ob er bloß seine Anwesenheit nicht mehr spüren konnte. Wer konnte schon sagen, welche Fähigkeiten die Beschützer noch besaßen, von denen sie ihm nichts erzählt hatten. Konnte er ihren Worten überhaupt Glauben schenken? Vielleicht war er auch nur eine Figur in einem übergroßen Intrigenspiel. Ein offener Angriff wäre zu einfach. Das war nicht ihr Stil. Sie würden ihn nicht attackieren. Secret sah sich um. Er hatte das Gefühl, dass der Beschützer über ihm gewesen war, ja, war sich sicher, dass er sich in einem der Räume des ersten Stocks befunden hatte. Aber in welchem? Vielleicht war er seiner Spur gefolgt. Secret ging zurück zu dem Zimmer, aus dem er gekommen war. Er zögerte. Keine Präsenz war zu spüren. Er stellte sich rechts neben die Tür und legte seine Linke auf die Klinke, um mit der Rechten direkt attackieren zu können, wenn nötig. Den Kraftaufwand, den es bedurft hätte, die Tür mit seinen Kräften aus den Angeln zu reißen, wollte er sich sparen. Mit einem Ruck zog er die Tür auf und hielt seinen rechten Arm sofort wie eine Schusswaffe in den Raum. Leer. Zwar war kein Mensch zu sehen, doch Secret fiel sofort die Tasche auf, die nun mitten im Raum lag. Es war die gleiche Tasche, die er umgehabt hatte, als er zu sich gekommen war. Secret betrachtete sie von fern, dann trat er einige Schritte näher, sich nochmals nach allen Seiten umblickend. Er kniete sich hin, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Es handelte sich um eine dunkelgraue Kuriertasche aus festem Textilstoff. Er öffnete den Gurtverschluss und kontrollierte das Innere. Ein schmaler Ordner, Schulbücher und ein Schreibblock. In der vorderen Reißverschlusstasche fand er einen Geldbeutel. Er durchsuchte auch diesen und zog einen Personalausweis hervor. Das Bild eines schwarzhaarigen Jungen starrte ihm entgegen. Secrets Augenbrauen zogen sich zusammen. Der Name neben dem Foto lautete: Donner, Erik. Er glaubte, den Vornamen aus dem Mund der Frau gehört zu haben, die ihm bei Desire die Tür geöffnet hatte. Secret stand auf und lief mit dem Ausweis in der Hand zu dem Waschbecken in der hinteren Ecke des Raums, über dem sich ein Spiegel befand. Er betrachtete die Züge, die der Spiegel ihm zeigte, und sah wieder auf den Ausweis in seiner Linken. Kapitel 117: Selbsthilfegruppe ------------------------------ Selbsthilfegruppe   „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.“ (Oscar Wilde)   „Ewigkeit?“, flüsterte Vivien von ihrem Bett aus. Sie war gerade erst vom nächtlichen Training zurückgekehrt und ihre Geschwister schliefen bereits. Das Schmetterlingsmädchen – eine sacht leuchtende Gestalt in der Dunkelheit des Raums – schwebte zu ihr. Mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett sitzend, sah Vivien die Kleine an, ohne sofort das Wort zu ergreifen. Ewigkeit hatte das Training geleitet. Doch anstatt sich auf Techniken gegen Secret zu konzentrieren, hatte sie die fünf stupide Lauf- und Ausweichübungen machen lassen. Auf Einwände, die besonders häufig von Change geäußert worden waren, war Ewigkeit erst gar nicht eingegangen und hatte nur umso lauter ihre Befehle gerufen, bis Change es aufgegeben hatte. Destiny war erstaunlich ruhig geblieben. Was Ewigkeit bezweckt hatte, konnte sich Vivien denken. Sie hatte die Gedankenspirale, in der sich jeder von ihnen drehte, unterbrechen oder sie zumindest nicht noch weiter ankurbeln wollen, denn die Sache mit Secret trieb langsam aber sicher einen Keil zwischen die Beschützer. Viviens Blick war noch immer auf Ewigkeits sanftes Leuchten in der Dunkelheit gerichtet. Von weiter weg hätte man sie für ein Irrlicht halten können, eine verlorene Seele. „Hast du dich in letzter Zeit übergangen gefühlt?“, fragte sie. Ewigkeit legte den Kopf schief, als wäre sie ein niedliches Tierjunges. „Dachtest du, die anderen würden dir nicht zuhören oder etwas von dir erwarten, das du nicht leisten kannst?“, präzisierte Vivien. Ewigkeit zog ein nachdenkliches Gesicht. Schließlich antwortete sie: „Ich weiß nicht.“ Sie pausierte nochmals und sah zu ihr auf. „Ich bin sehr klein.“ Vivien lächelte gerührt. „Du machst das sehr gut.“, versicherte sie und schluckte. Vielleicht hätte sie diese Worte ja selbst gerne gesagt bekommen. Sofort setzte sie wieder einen optimistischeren Gesichtsausdruck auf. „Du bist ein toller Gleichgewichtsbegleiter!“ Ewigkeit freute sich. Viviens Blick schweifte kurz in die Dunkelheit. Sie musste etwas unternehmen.   Für den nächsten Tag waren die fünf erneut zum Training verabredet, auch wenn sie nicht länger wussten, was das helfen sollte. Als sie das Hauptquartier betraten, lief Vivien unerwartet auf den Tisch zu, den sie eigentlich nie benutzten, da sie meistens auf der Couch saßen. Die Stühle, die um den Tisch standen, zog sie einen nach dem anderen weiter in die Mitte des Raumes und stellte sie in einem Kreis auf. „Was tust du da?“, fragte Vitali skeptisch. Vivien antwortete nicht, sondern fuhr fort, mit den Stühlen einen Kreis zu bilden. Vitali beschwerte sich: „Warum werde ich derzeit ständig ignoriert?“ „Hast du was gesagt?“, fragte Ariane künstlich überrascht. Vitali sah sie missmutig an. Ariane lachte und legte ihm die Hand beschwichtigend auf die Schulter. „War nur ein Scherz.“ „Helft lieber Vivien, anstatt dumme Witze zu reißen.“, fauchte Serena. Weder Vitali noch Ariane begriffen, warum sie jetzt schon wieder so schlechte Laune hatte. Eben hatte sie noch nicht so gereizt gewirkt. – Eben hatte Ariane Vitali auch noch nicht berührt… „Ihr müsst euch noch verwandeln!“, rief Vivien, als die anderen anfangen wollten, ihr zur Hand zu gehen. Sie folgten ihrer Aufforderung, während Vivien weitere Stühle verrückte. „Tataa!“, rief sie schließlich und deutete auf den großen Sitzkreis. „Wir sollen uns setzen?“, vermutete Desire. Vivien nickte, blieb selbst aber stehen. Da die anderen es mittlerweile gewöhnt waren, dass Vivien bei Befehlen außen vor stand, setzten sie sich kurzerhand, ohne Viviens Rolle zu hinterfragen. Die Stühle waren in einem Abstand zueinander aufgestellt, der großzügig genug war, um die Sicht auf alle Beteiligten gleichzeitig zu gewähren, und klein genug, um Nähe herzustellen. Change verschränkte die Arme vor der Brust. „Und jetzt?“ Vivien verwandelte sich in Unite. „Jetzt reden wir.“ „Worüber?“, wollte Change wissen. „Über die Situation!“, rief Ewigkeit freudig und schwirrte schon wieder weiter. Im Ton tiefster Entnervtheit schimpfte Change: „Das haben wir doch schon hundertmal gemacht!“ Unite blieb gelassen. „Und hattest du das Gefühl, dass man dir zugehört hat?“, Changes Gesicht verzog sich. „Nee.“ Desire, rechts neben ihm, ergriff das Wort und bemühte sich um einen neutralen Tonfall. „Wir haben eben unterschiedliche Meinungen.“ „Das kann man wohl sagen!“, pflichtete Change ihr bei. Unite sah ihn verwundert an. „Also willst du nicht, dass man dir zuhört?“ Change beäugte sie misstrauisch, als wittere er eine Finte. Unite zuckte schlicht mit den Schultern. „Eigentlich wollte ich, dass du alles sagen darfst, ohne dass dich jemand unterbricht. Aber wenn es keiner hören will.“ „Hey!“, rief Change empört. „Niemand hat gesagt, dass wir es nicht hören wollen.“, beanstandete Desire. „Es ist nur die Frage, ob uns das weiterbringt.“ Unite drehte sich zu Change. „Hast du gehört, deine Meinung bringt uns nicht weiter.“ Change verzog wütend das Gesicht. „So hab ich das nicht gemeint!“, verteidigte sich Desire. „Dreh mir nicht das Wort im Mund herum!“, beschwerte sie sich bei Unite. „Heißt das, du willst Changes Meinung hören?“, hakte Unite nach. „Natürlich.“, sagte Desire und ärgerte sich, dass es ihr nicht gelang, aus Unites Falle zu entkommen. Sie musste so oder so tun, was sie geplant hatte. „Wunderbar!“, rief Unite und ließ sich daraufhin auf den Stuhl zwischen Destiny und Change plumpsen. Noch einmal blickte sie in die Runde. „Also sind alle damit einverstanden, dass jeder sich aussprechen darf, ohne unterbrochen zu werden?“ Keiner wagte Widerworte. „In Ordnung!“ Vergnügt wandte Unite sich an Change, der ein wenig entfernt rechts von ihr saß und strahlte ihn an. „Schieß los.“   Change wirkte überrumpelt, als wisse er zum ersten Mal nicht, was er sagen sollte, oder wäre es einfach nicht gewöhnt, dass jemand ihm wirklich zuhörte. Unite überraschte das nicht weiter, schließlich überließ er die ernsten Gespräche meist den anderen und spielte lieber denjenigen, der das Ganze mit leichtherzigen Kommentaren auflockerte. So wie sie immer so tat, als würde ihr nichts nahe gehen. Sie gab ihm eine Hilfestellung: „Was geht in dir vor, wenn du ‘Secret‘ hörst?“ „Ich hasse ihn.“ Unite nickte langsam, doch Change machte keine Anstalten fortzufahren. „Ist das alles?“ „Ich will ihn umbringen.“ Sie lächelte schelmisch. „Und wieso tust du’s nicht?“ Change stierte sie an, als wäre sie jetzt komplett übergeschnappt. „Ich mein ja nicht wirklich umbringen!“ „Was dann?“ Er begann herumzudrucksen. „Äh, na, ihn verprügeln oder so, ihm so richtig eins reinwürgen! „Und warum verprügelst du ihn nicht?“ Changes Mund verformte sich. „Würd ich ja gern.“ Unite unterband ein Grinsen. Natürlich wollte Change nicht laut aussprechen, dass er das aufgrund von Secrets Kräften nicht in die Tat umsetzen konnte. „Warum schlägst du nicht Erik?“ Changes Tonfall ging in die Höhe. „Weil ihr gesagt habt, das darf ich nicht!“ Wieder nickte sie verständnisvoll. „Und wie fühlt sich das an, wenn man dir das verbietet?“ Seine Miene wurde übellaunig. „Es kotzt mich an.“ „Warum?“ „Weil es euch völlig schnurz ist, wie`s mir geht!“ Jäh brach Desires Stimme in das Gespräch ein: „Das stimmt nicht!“ Unite brauchte sich nicht darum zu kümmern, denn schon war Ewigkeit vor Desires Gesicht aufgetaucht. „Es wird nicht unterbrochen!“ Hastig stellte Unite Change die nächste Frage. „Warum ist uns egal, wie es dir geht?“ Wieder wollte Desire dazwischenrufen. Trust, der rechts neben ihr saß, beugte sich zu ihr und flüsterte ihr zu. „Lass sie machen.“ Unite bekam es nur am Rande mit, denn im gleichen Moment ertönte Changes Antwort, in lautstarker Erregung ausgestoßen. „Weil euch Secret wichtiger ist als ich!“ Es war nicht nötig, sich zu den anderen zu drehen, um den Schock wahrzunehmen, der die Totenstille durchwob.  Als bereue er die überstürzten Worte, zog Change geradezu beschämt den Kopf ein und blickte zu Boden. Unite bemühte sich, ihrer Stimme einen möglichst sachten Klang zu verleihen. „Woran erkennst du das?“, Nicht nur Changes Haltung, auch seine Stimme war zusammengeschrumpft. „Weil es immer nur um Secret geht und ich immer nur Befehle ausführen muss. Aber das ist allen egal.“, knarzte er. Offenbar war er der Meinung, dass weitere Wahrheiten es nun auch nicht mehr schlimmer machten. Unite legte eine Kunstpause ein, um Changes Worte auf die anderen wirken zu lassen. „Wie würdest du dir wünschen, behandelt zu werden?“, fragte sie weiter. Change schlug die Augen nieder und brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin. Unite wartete, aber was auch immer Change gesagt hatte, er sprach es nicht nochmals aus. Daraufhin senkte sie ihre Lautstärke. „Wärst du lieber an Secrets Stelle?“ Change sah nicht auf, hielt sich kurz zurück. Dann rang er sich schließlich zu einer Antwort durch. „Ja.“   Desire wäre fast von ihrem Stuhl aufgesprungen, hätte Trust nicht geistesgegenwärtig nach ihrer Schulter gegriffen. Sie tauschte einen stummen Blick mit ihm aus. Trusts braune Augen mahnten sie, Ruhe zu bewahren. Mit ihrem Gesichtsausdruck versuchte sie zu protestieren. Schließlich konnte das nicht Changes Ernst sein! Wie konnte er nur – Trusts Blick bekam mehr Nachdruck. Desire stieß die Luft aus und zwang sich, weiter dem Gespräch zu lauschen. Unite hatte gerade nach dem Warum gefragt, auch wenn es für Desire keine vernünftige Erklärung für eine so absurde Aussage geben konnte! Zumindest schien auch Change das langsam aufzugehen, denn er zögerte. Vielleicht hatte er begriffen, wie kindisch und unreif seine Behauptung gewesen war! Doch als er schließlich sprach, brachten seine Worte Desire ins Wanken. „Weil er machen kann, was er will, und ihr mögt ihn trotzdem.“ Im Gegensatz zu Desire wirkte Unite nicht schockiert, sie stellte bereits die nächste Frage. Ihre Stimme klang weich und sanft: „Glaubst du, bei dir wäre das anders?“ „Ja.“, antwortete er zerknirscht, die Augen noch immer auf den Boden fixiert. Eine Pause entstand, in der Desire sehen konnte, wie Changes Unterkiefer sich bewegte, wohl weil er damit haderte, die nächsten Worte auszusprechen. Unite ließ ihm Zeit. „Ich werde immer geschimpft, wenn ich was mache, das euch nicht passt, und wie ein dummes Kind behandelt. Als wäre ich ein Vollidiot. Aber Erik ist ja ach so intelligent! Ich bin für alle immer der Trottel. Für Tiny und für euch alle.“ Desire musste schlucken. Change hatte nicht einfach wie ein beleidigtes Kind geklungen. Er schien wirklich verletzt zu sein. Als weiterhin niemand etwas sagte, stöhnte Change lang, als wolle er damit vertuschen, überhaupt gesprochen zu haben. Vielleicht bereute er es, so ehrlich gewesen zu sein. Noch immer sagte keiner etwas. Vorsichtig lugte Change daraufhin auf und sah Unite unsicher an, als fürchte er, etwas kaputtgemacht zu haben. Unite lächelte. „Geht‘s dir besser?“ Changes Augenbrauen und Mundwinkel verformten sich. „Wieso sollte es mir besser gehen?“ Unite lächelte noch immer zuversichtlich. „Weil wir dir zugehört haben.“ Change sah sie an und schien erst in diesem Moment wirklich zu begreifen, dass keiner von ihnen ihn beschimpfte. „Weiß nicht.“ „Also mir geht‘s besser.“, sagte Unite freundlich. „Weil ich jetzt besser verstehe, was in dir vorgeht. Und wenn du dich wieder fühlst, als würdest du wie ein Idiot behandelt werden, dann sag es direkt.“ Change verzog das Gesicht. „Das kann ich nicht immer so sagen.“ „Warum nicht?“ „Weil es in manchen Situationen unangebracht ist! Da geht es eben nicht um mich! Da muss ich machen, was richtig ist, auch wenn es mir nicht gefällt.“, gab er kund. „Ich kann ja nicht rumplärren, dass ich mich schlecht behandelt fühle, während Secret uns angreift.“   Unite musste kurz grinsen, weil Changes Antwort einfach so niedlich war. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem habt ihr auch genug Probleme damit. Ist ja nicht so, als wäre es für euch so einfach.“ Unite fühlte eine Welle der Zuneigung in sich aufsteigen. Mit seinen Worten hatte Change deutlich bewiesen, was sie längst gewusst hatte: Er war weder unreif noch egoistisch. Er wollte nur ernstgenommen werden. „Noch etwas?“ Change dachte kurz nach, dann wurde er laut und deutete mit dem Finger auf Destiny. „Es kotzt mich an, dass Tiny immer mich annervt! Ich hab ihr gar nichts getan!“ Er zog einen Schmollmund. „Zu euch ist sie nie so!“ Lieblich lächelnd entgegnete Unite: „Ich dachte, du magst es, dass du der einzige für sie bist.“ Changes Miene verzog sich unansehnlich angesichts der unangenehmen Mehrdeutigkeit ihrer Aussage. Eine übereinstimmende Veränderung ging auch in Destinys Gesicht vor. Sie hatte jedoch das Glück, dass Change zu sehr damit beschäftigt war, seine eigene Verlegenheit niederzuringen, um in ihre Richtung zu sehen. Unite lächelte. „Noch was?“ So schnell wie sie gekommen war, war Changes Verlegenheit auch wieder verschwunden und hatte dem Suchen nach sonstigen Eröffnungen Platz gemacht. Change grübelte und grübelte. Er wollte wohl den Moment nicht ungenützt verstreichen lassen, in dem ihm mal alle zuhörten, ohne ihn zu unterbrechen. „Ich hasse es, dass… ähm…“ Er suchte noch angestrengt nach etwas, dann änderte er die Richtung seiner Gedanken. „Wieso bin ich eigentlich nie der Anführer?“ „Würdest du gerne der Anführer sein?“, fragte Unite. „Ja!“ „Und die Verantwortung übernehmen?“ Change zog die Nase kraus. Das war Antwort genug. „Man könnte mich trotzdem mal wie einen Helden behandeln!“, maulte er. Destiny verdrehte die Augen. „Und wie behandelt man Helden?“, wollte Unite wissen. Change nahm die Beantwortung dieser Frage sichtlich ernst. „Man sagt: Oh, das hast du toll gemacht, Change! Du bist der Beste! Und so was.“ „Okay.“ Unite nickte. „Fertig?“ Wieder überlegte er. „Wenn mir später noch was einfällt, -“ „Kannst du es gerne sagen.“, antwortete sie und kicherte. Dann hielt sie ihm beide Hände mit erhobenem Daumen hin und rief mit überschwänglicher Stimme: „Das hast du toll gemacht, Change! Du bist der Beste!“ Anstatt sich veralbert vorzukommen, wirkte Change über ihre Geste hocherfreut. Endlich hatte mal jemand verstanden, was er brauchte. Zufrieden wandte Unite sich daraufhin an Desire und machte eine Bewegung mit der Hand in ihre Richtung. „Jetzt.“   Desire hielt kurz inne. Die ganzen Einwände, die ihr zuvor gekommen waren, waren mit einem Mal bedeutungslos geworden. Sie hatte verstanden, dass Changes Worte überhaupt nichts über Erik aussagen wollten, sondern nur dazu dienten, seine eigene Situation und seine eigenen Probleme anzusprechen. Sie hatte ihm Unrecht getan, aber der Streit am Tag zuvor und ihre Meinungsverschiedenheiten seit Secret zum zweiten Mal aufgetaucht war, hatten sie von Change entfernt und nicht nur von ihm. Desire seufzte und spürte dieses imaginäre, entsetzlich schwere Gewicht auf ihr lasten. „Was soll ich sagen?“ Unite übernahm erneut die Rolle des Interviewers: „Wie fühlst du dich wegen der Sache mit Secret?“ „Schlecht.“, antwortete Desire knapp. Unite schien sich damit nicht abspeisen lassen zu wollen. Wieder tat Desire einen langen Atemzug. „Ich habe ein schlechtes Gewissen gegenüber Erik.“ „Hä?“, rief Change ungläubig dazwischen. „Keine Zwischenrufe!“, erinnerte Ewigkeit, die direkt vor seiner Nase auftauchte. Change machte den Eindruck, darauf etwas entgegnen zu wollen, unterließ es dann aber. Durch die Unterbrechung aus dem Konzept gebracht, schwieg Desire. „Ein schlechtes Gewissen?“, wiederholte Unite. Desire schluckte und wollte im ersten Moment nicht weitersprechen, aus Furcht, es könnten sich Tränen in ihren Augen bilden. Aber es war Change gegenüber nicht fair, wenn sie nicht aussprach, was in ihr vorging, wo er so offen gewesen war. Also rang sie sich zu der Wahrheit durch oder dazu, was sie gerade als Wahrheit empfand. „Egal, was ich mache, es scheint alles nur schlimmer zu werden und ich habe den Eindruck, dass wir schuld daran sind. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir anders gehandelt hätten. Vielleicht wäre er dann nicht zu einem Bedroher geworden. Vielleicht hätten wir ihm das alles ersparen können. Ich fühle mich, als hätte ich ihn enttäuscht.“ „Wen?“, hakte Unite nach, als wisse sie nicht, wovon Desire sprach. Desire konnte nicht fassen, dass sie ihr so eine dumme Frage stellte, nachdem sie ihr gerade ihr Herz ausgeschüttet hatte! Es kam ihr fast schon wie eine Beleidigung vor, als würde Unite sie überhaupt nicht ernst nehmen. Empörung stieg in ihr auf. Unites Gesicht blieb freundlich, ihre Augenbrauen hoben sich auffordernd. Wen? Wen hast du enttäuscht? Es hatte wie eine selten dämliche Frage geklungen. Aber ohne ihr Zutun schien Desires Verstand nun etwas anderes darin zu erkennen und zu begreifen, was Unite gemeint hatte. Unwillkürlich fügten sich die Gedankenfetzen zu einem Ganzen zusammen. Sie hatte noch immer Schuldgefühle Secret gegenüber, dem Jungen, den sie im Schatthenreich zurückgelassen hatte. Wie sehr hätte sie sich gewünscht, ihn wenigstens jetzt beschützen zu können. Aber wieder hatte sie versagt. Sie kam sich wie ein riesiger Versager vor! Unite ließ ihr Zeit, mit dieser Erkenntnis umzugehen. Automatisch machte sich Desire klein. „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“ Unite beeilte sich nicht mit ihrer Antwort. „Du bist nicht allein.“ Kurz sah Desire auf und senkte dann wieder den Blick. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ihr viel mehr Wert darauf legt, dass es uns gut geht.“ „Was!“, schrie Change. „Das ist doch –“ „Change.“, mahnte Trust. „Sie hat das gleiche Recht zu sprechen wie du.“ Change schaute unzufrieden. „Sie fühlt sich genauso missverstanden wie du.“, ergänzte Trust. Daraufhin gab Change Ruhe. Unite schenkte Trust ein dankbares Lächeln und wandte sich dann wieder Desire zu. „Wieso denkst du das?“ Desire zögerte. Changes abermalige Unterbrechung hatte sie wieder daran erinnert, dass es vielleicht nicht das Beste war, wirklich all das auszusprechen, was ihr im Kopf herumspukte. „Desire?“ Sie wollte nicht noch mehr von sich preisgeben. Unite beugte sich etwas vor, wie um ihr näher zu sein. „Es ist okay.“ Desire war sich da nicht so sicher. Unite zog sich wieder zurück und lehnte sich nach hinten. „Also wir legen mehr wert darauf, dass es uns gut geht.“ „So hab ich das nicht –“, begann Desire und seufzte. „Es geht nur die ganze Zeit darum, wie wir die Wahrheit vor ihm geheimhalten. Es geht darum, wie wir –“ Wieder ein Seufzen. Unite erlöste sie von dem Druck, darauf näher einzugehen. „Wie möchtest du handeln? Ganz unabhängig von uns.“ Desire wägte ab, ob dieser Frage zu trauen war. Als Unite ihr mit einer Kopfbewegung Mut zu machen versuchte, gab sie schließlich nach. „Ich möchte Erik die Wahrheit sagen. Ich möchte, dass er weiß, dass wir für ihn da sind. Ich möchte für ihn da sein.“ „Und warum tust du das nicht?“ Desire starrte sie an, doch Unite meinte ihre Frage offensichtlich ernst. Daraufhin packte sie Empörung. „Weil es so entschieden wurde.“ „Und was macht das mit dir?“ „Was?“, stieß Desire aus. „Wie fühlst du dich, wenn dir das verboten wird?“ „Wütend!“, rief Desire. „Ich bin wütend, weil ich einfach tue, was ihr sagt. Dabei halte ich es für falsch! Ich bin wütend, dass –“ Abrupt brach sie ab, riss die Hände ans Gesicht und fürchtete, in Tränen auszubrechen. Unites Stimme klang wissend und gefasst, als wäre ihr längst bekannt, was ihre Reaktion hervorgerufen hatte. „Du kannst es ruhig aussprechen.“ Desire machte sich noch kleiner. Unite drängte sie nicht. Schließlich krümmte sie sich nach vorn, das Gesicht auf ihren Schoß gerichtet. „Ich bin wütend, weil ich denke, …“ Ihre Hände krampften sich um die Sitzfläche des Stuhls. „…ihr seid an allem schuld.“ Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Sie konnte den anderen nicht mehr in die Augen sehen. Sie wollte gar nicht wissen, wie sie sie jetzt anschauen mussten. In besänftigendem Ton sprach Unite sie an. „Das ist okay.“ „Ist es nicht!“, widersprach sie mit gebrochener Stimme und riss ihren Blick zu Unite auf. „Das ist überhaupt nicht okay!“ „Es ist normal, dass du das fühlst.“, versicherte Unite nochmals. „Nein.“, japste sie. „Nur weil du weißt, dass wir unsere Gründe haben, heißt das nicht, dass du das nicht trotzdem so empfindest.“ „Aber es ist unfair.“ „Aber es ist trotzdem wahr, oder?“, sagte Unite. „Wir sind schuld an Eriks Verwandlung.“ Geschockt blickte Desire auf und konnte nichts sagen. „Es ist unsere Schuld.“, wiederholte Unite. Jäh trat das Gespräch mit Erik zurück in Desires Gedächtnis. Wie er sie geschimpft hatte, dass er für sich selbst entscheiden könne und sie sich nicht anmaßen solle, über ihn zu bestimmen. „Sind wir nicht schuld?“, fragte sie. „Sag du es mir.“, antwortete Unite. „Aber – Wir hätten – Das –“ Desire seufzte. Sie hatten weder die Verwandlung verursacht, noch hatten sie ihre Pflicht, ihn zu beschützen vernachlässigt. Sie hatten ihn nur betrogen. Das war ihre einzige Schuld. „Wir sind Lügner.“, stellte sie fest. „Das waren wir von Anfang an.“, stimmte Unite zu. Desire erinnerte sich, dass Unite Erik mit dem Rollenspiel die Möglichkeit gab, selbst auf die Wahrheit zu stoßen. Dennoch schien ihr das nicht genug. „Es ist falsch, Menschen zu belügen.“ „Ja.“ „Sollten wir dann nicht ehrlich ihm gegenüber sein?“ Unite sah sie überrascht an. „Wieso fragst du mich?“ Desire begriff, dass sie schon wieder versucht hatte, Unites Meinung einzuholen. „Ich kann das ja nicht alleine entscheiden.“, verteidigte sie sich. „Warum nicht?“, entgegnete Unite unschuldig. „Na, weil – Ich kann euch nicht verraten.“ „Und dafür verrätst du Secret?“ Desire brauste auf: „Du weißt genau, dass ich das nicht tue!“ Sie fasste sich an die Stirn. Unite antwortete in sanftem Ton. „Du willst niemanden verraten.“ „Das hilft gar nichts.“, sagte sie bitter. „Wann warst du nicht da, als er dich gebraucht hätte?“ Verständnislos sah sie Unite an. „Wann hast du keine Rücksicht auf ihn genommen?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Wann hättest du ihn beschützen müssen?“ Leise sprach sie es aus. „Immer.“ „Und kannst du das?“ Desire deutete ein Kopfschütteln an. „Und hast du wenigstens dein Möglichstes getan?“ Sie zögerte, für einen Moment unfähig, es sich einzugestehen. Unite ließ ihr die Zeit, ihre widerstreitenden Gefühle zu verarbeiten. „Hast du ihn im Stich gelassen?“ Desire schloss die Augen und schüttelte schließlich den Kopf. „Noch etwas?“ Sie sah auf. „Ich will nicht mehr lügen müssen.“ Unite nickte. Einen Augenblick lang war sie in Gedanken versunken. „Gib mir eine Woche.“, bat sie. „Dann darfst du es ihm sagen.“ „Echt jetzt?“, rief Change. „Desire wird es tun.“, legte Unite fest. „Allein.“ Destiny meldete sich lautstark zu Wort. „Und wenn er austickt? Wir können Desire nicht –“ „Ich habe eine Woche gesagt.“, unterbrach Unite sie. „Bis dahin wissen wir mehr.“ Ungläubig sah Desire sie an. „Ist das wirklich dein Ernst?“ Unite nickte. „Du hast dich lange genug gequält.“ Desire stockte. Unite tat das für sie, nicht für Erik. Hieß das, Unite hielt es immer noch für keine gute Idee, ihm die Wahrheit zu sagen? Angesichts Unites Lächeln ließ Desire den Gedanken fahren und fühlte augenblicklich, wie ein unendlich schweres Gewicht von ihren Schultern abfiel. Sie musste schlucken und hoffte, nicht in Tränen auszubrechen. Das alles hatte sie so sehr belastet, all diese Lügen. Und allein die Aussicht darauf, diese Farce zu beenden, erleichterte sie so sehr, dass sie gar nicht mitbekam, welchen ernsten Blick Trust Unite zuwarf. „Möchtest du weitermachen?“, fragte Unite Trust. Ihr war sein Gesichtsausdruck nicht entgangen.   Trust durchbohrte Unite weiterhin mit diesem ernsten Blick. „Ich halte es für keine gute Idee, dass du Entscheidungen triffst, ohne die anderen zu fragen.“ Desire meldete sich zu Wort. „Letztes Mal war Unite die einzige, die dagegen war, dass –“ „Nicht unterbrechen.“, ermahnte Ewigkeit. Desire starrte sie an. Die Kleine begriff wohl überhaupt nicht, dass Trust Unite gerade angegriffen hatte! „Sprich weiter.“, bat Unite. Dass Unite das sagte, war Desire unbegreiflich, dennoch hielt sie sich zurück. Trust atmete aus. „Du weißt genau –“ Er stoppte. Sein Ton wurde hart und nüchtern. „Ich habe manchmal den Eindruck, dass du Entscheidungen alleine triffst oder dich über gemeinsame Entscheidungen hinwegsetzt, ohne uns darüber zu informieren. Als würden für dich andere Gesetze gelten und nur wir müssten uns an unsere Abmachungen halten.“ Desire konnte nicht fassen, dass ausgerechnet Trust Unite etwas Derartiges vorwarf! Sie konnte sich kaum davon abhalten, dazu etwas zu sagen. Unite schwieg. Trust ließ sich davon nicht beirren. Die Partie um seine Augen verkrampfte sich. „Du willst immer, dass wir ein Team sind, aber du hältst dich selbst nicht daran! Du zauberst irgendwelche Pläne aus deiner Trickkiste, ohne dass du uns darüber Bescheid sagst. Du klärst uns über deine Pläne nicht auf und verhältst dich, als wäre alles ein großes Spiel. Alles ist für dich positiv und du denkst nicht darüber nach, dass du uns andere dadurch ausschließt!“ Unite sagte nichts, nur ihr Gesichtsausdruck war ein anderer als die Male zuvor. Doch Trust war noch nicht am Ende angelangt. „Du gehst viel zu große Risiken ein und denkst nicht darüber nach, wie es für uns ist, wenn du dich in Gefahr bringst. Du scheinst dich selbst nicht als Teil des Teams zu sehen, sondern als über dem Team stehend, denn für dich gelten nicht die gleichen Regeln.“ Unite wirkte wie eingefroren. Sie reagierte nicht auf die Worte. In Trusts Gesicht zeichnete sich Schmerz ab.   Er stierte sie an, wollte sie zu einer Antwort zwingen. Aber das konnte er nicht. Es würde ihr ja doch wieder gelingen, sich aus der Situation herauszuwinden. Wie immer. Und er fühlte sich verraten. Unite war es egal, ob sie ihn verletzte! Für sie war er nichts weiter als ein Spielball.   Destinys Stimme brach in die Stille ein. „Ewigkeit! Darf ich sprechen?“ Ewigkeit schien von der Frage überfordert und blickte zu Unite. Da diese kaum reagierte, offenbar völlig damit ausgelastet, mühsam beherrscht ihre Maskerade aufrechtzuhalten, wartete Destiny nicht länger und begann zu reden: „Das hier ist nicht, worum es geht!“, rief sie entschieden. Sie drehte sich wütend zu Trust links neben ihr. Ihr Gesichtsausdruck wurde abweisend. „Du solltest sagen, wie du dich bezüglich der Situation mit Secret fühlst. Stattdessen schlägst du um dich wie ein kleines Kind, weil du dich von Unite verletzt fühlst!“ Trust stockte. Auf seinen Gesichtsausdruck hin, musste Destiny die Zähne zusammenbeißen. „ „Du hast immer gesagt, dass man sich so nicht verhält. Du hast mir das beigebracht! Aber jetzt…“ Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Ihre Stimme wurde schneidend „Jetzt bist du nicht besser als Secret und ich!“ Entsetzen legte sich auf Trusts Gesichtzüge. Destiny konnte ihn nicht länger ansehen, sie nahm die Hände von ihrem Schoß. Ein bitterer Unterton schlich sich in ihre Stimme. „Du willst alles unter Kontrolle haben. Aber wir haben nichts unter Kontrolle, wenn es um Secret geht. Gibst du deshalb Unite die Schuld?“ Sie reckte das Kinn nach vorne und wurde vehementer. „Unite tut alles, um uns zu schützen. Sie nimmt alle Verantwortung auf sich.“ Wütend blitzten ihre Augen. „Weil keiner von uns sie übernehmen will!“ Destiny schnappte nach Atem und stieß dann langsam die Luft aus. Ihr Gesichtsausdruck entkrampfte sich. Wieder in gefasstem Ton stellte sie Trust erneut die Eingangsfrage. „Wie fühlst du dich wegen der Situation mit Secret?“   Trust brachte kein Wort hervor. Die Erkenntnis, dass Destiny Recht hatte, war für einen Moment zu viel für ihn. Er konnte sie nicht mit seinem Selbstbild vereinbaren. Zu viel ging in seinem Kopf vor, zu viel war durch Destinys Worte in Aufruhr geraten. Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte, nicht einmal, was er eigentlich dachte und fühlte. Er brauchte Zeit.   Schweigend saßen die Beschützer da. Keiner wagte, einen Ton von sich zu geben. Selbst Ewigkeit hatte sich auf dem Boden niedergelassen, um keinen Glöckchen-Laut zu erzeugen. Nach einer Weile presste Trusts schwache Stimme hervor: „Überfordert.“ Destiny zögerte. Die Rolle der Fragenstellerin war neu für sie. „Warum?“, fragte sie vorsichtig. Trust holte Luft und atmete geräuschlos aus. „Weil ich der Anführer bin.“ Destiny bemerkte, dass Unite rechts neben ihr bei seinen Worten zusammengezuckt war, als würden sie sie schmerzen. Trust schüttelte den Kopf. „Das ist Unsinn. Aber –“ Er schluckte schwer. „Ich muss euch beschützen.“ Unerwartet klinkte sich Unite in das Gespräch ein, doch ihre Stimme klang fremd, belegt, fast leidend. „Weil wir es nicht können?“ Auf ihre Aussage hin griff Trust sich mit beiden Händen an den Kopf und beugte sich leicht nach vorn. Er schien mit sich zu ringen.   Desire befürchtete, es wäre zu viel, wenn sie nun auch noch auf Trust einredete, aber was er ihr gesagt hatte, als sie sich auf dem Jahrmarkt die Verantwortung für Erik aufgebürdet hatte, wollte aus ihr hervorbrechen. Deshalb wandte sie sich an Unite, in der Hoffnung, von ihr eine Rückmeldung zu bekommen. Unite war jedoch auf Trust fixiert und bemerkte ihren Blick nicht. Desire seufzte lautlos und wandte sich an Trust, der rechts von ihr saß. „Wir können niemanden beschützen. Nur uns selbst.“, gab sie seine Worte wieder. Ewigkeit hatte es offensichtlich aufgegeben, noch irgendwen zur Ordnung rufen zu wollen. Trust blickte auf und Ariane konnte seinem Gesichtsausdruck die stumme Frage entnehmen, wozu er dann ein Beschützer war. Der Schmerz in seinem Blick ging ihr nahe. „Alter, wovor willst du uns denn beschützen?“, rief Change hinein. „Wir sind keine kleinen Kinder. Mann! Du bist nicht unser großer Bruder!“ Er verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Trust senkte den Blick. Desire wollte Change erklären, dass Trust das nicht mit böser Absicht tat, aber sie zögerte. Change hatte eine sehr schroffe Art seine Anliegen los zu werden, aber er hatte ihr nur wenig vorher bewiesen, dass er nicht so geistlos vor sich hinredete wie es manchmal schien. Mit reichlich grummeliger Stimme fuhr Change fort. „Desire meint, sie muss Erik beschützen, du meinst, du musst uns beschützen. Ey, ihr habt doch alle nen Beschützer-Komplex!“ Desire verwarf die Hoffnung, dass Changes Gerede in eine hilfreiche Aussage münden würde. „Als könntest du dich nicht auf uns verlassen!“, sagte Change in halb verstimmter, halb beleidigter Tonlage. Trust sah getroffen auf und begegnete Changes Blick, der jetzt eindeutig beleidigt wirkte. Changes Gesicht verzog sich noch weiter, er sah Trust nicht länger an. „Wenn du meinst, wir sind nicht gut genug als deine Team-Mitglieder.“ Trust brach eilig in seine Worte ein. „Das meinte ich doch ga–“ „Dann vertrau uns gefälligst!“, schrie Change und verstärkte dann die Schranke, die er mit seinen Armen um sich aufgebaut hatte. „Das ist schließlich dein Name.“ Geknickt gestand Trust: „Ich wollte nicht, dass ihr mir nicht mehr vertrauen könnt.“ „Unsinn!“, schimpfte Change und gestikulierte wild. „Du bist mein bester Freund! Du und der Psycho. Natürlich vertraue ich dir!“ Scheu blickte Trust zu ihm. Grummelig setzte Change fort. „Du hast echt noch nicht kapiert, wie das läuft. Und ich dachte, nur Tiny steht ständig auf dem Schlauch.“ Er machte eine gönnerhafte Bewegung mit seiner Hand. „Team! Das heißt nicht, dass du uns alle beschützen musst, sondern dass wir alle dich beschützen!“ Trust sah immer noch eher verängstigt als zustimmend aus. „Kapiert?“, forderte Change zu wissen. Trust nickte demutsvoll. „Es tut mir leid.“ „Braucht es nicht.“, entgegnete Change grob. „Mach’s einfach nicht mehr. Und wenn du Probleme hast, dann redest du mit uns, klar?“ Trust zögerte. „Mit irgendeinem von uns.“, präzisierte Change. Nickend schnappte Trust nach Luft, als müsse er sich zusammenreißen. „Gut so.“, kommentierte Change. „Und wenn du noch mal meinst, du musst hier den Helden spielen, kriegst du eins auf die Nuss!“ Unite prustete los. „Ey!“, beschwerte sich Change, als Unite laut loslachte. Sie konnte sich kaum auf dem Stuhl halten und wollte gar nicht mehr aufhören. Groteskerweise schien Destiny davon angesteckt zu werden, denn sie grinste breit. Dass Change und Trust die Rollen getauscht zu haben schienen, war ja auch irgendwie drollig. Auch Desire musste lächeln. Schließlich hatte Unite sich wieder beruhigt und setzte eine etwas ernstere Miene auf. Sie lächelte Trust an. „Alles okay?“ Angesichts ihres Lächelns nickte Trust. „Danke.“ „Bah.“, machte Change, was wohl so viel wie ‚Nichts zu danken‘ bedeuten sollte und unterstrich seinen Laut mit einer wegwerfenden Bewegung. Trust lächelte daraufhin. Unite wandte sich zu Destiny, die zu ihrer Linken zwischen Trust und ihr saß. „Destiny?“ Diese schüttelte den Kopf und blickte Unite ernst an. „Es ist an der Zeit, dass du sprichst.“ Unites Lächeln erstarb jäh. Doch Destiny blieb unnachgiebig. „Du hast das alles nicht nur eingefädelt, um uns sprechen zu hören. Es ist an der Zeit, dass die anderen mal dir zuhören.“ Unite wirkte mit einem Mal nahezu verschüchtert, als würde Destinys Zug sie aus der Fassung bringen. Sie zog unwillkürlich ihre Arme näher an den Körper, ihre Schultern hoben sich leicht. Ihr Blick senkte sich.   Keiner der anderen stellte eine Frage, als gingen sie davon aus, dass sie genau wusste, was zu sagen war, als hätte sie es von langer Hand geplant. So wie sie immer scheinbar spontan mit irgendwelchen Einfällen ankam, die sie umsetzen sollten. Unite mochte es nicht, sich Gedanken darüber zu machen, was die anderen von ihr dachten. Grübeleien hatten ihr noch nie geholfen. Aber die Frage, welche Aussagen die anderen von ihr erwarteten, nahm ihr Denken trotzdem ein. Wenn sie nicht fröhlich war, wer dann? Und dabei wusste sie, dass das genau der gleiche Fehler war, den Trust begangen hatte. Doch allein das Wissen half nichts. Endlich brach Destinys Stimme in das Schweigen ein. „Wie fühlst du dich wegen der Situation mit Secret.“ Unite blickte wieder auf. Ihr Mund öffnete sich. Aber ihr Verstand wusste nicht, was er formulieren wollte. Sie schüttelte den Kopf, um das Chaos zu beseitigen und wieder klar denken zu können. „Ich weiß nicht, ob ich alles richtig mache.“ Sie musste schlucken. Keine Reaktion der anderen. Unite wusste, das war eine unsinnige Aussage. Was das Richtige war, konnte keiner von ihnen ahnen. Ein seltsam flaues Gefühl breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie schloss die Augen. Sie wollte nicht mehr sprechen. Und das kam ihr lächerlich vor, wo sie es doch von den anderen verlangt hatte. Wieder schüttelte sie ihren Kopf, um sich zur Vernunft zu rufen. „Ich weiß, ihr erwartet nicht, dass ich alles richtig mache.“ Sie bemühte sich um ein Lächeln. Aber sie spürte, dass es nicht überzeugend aussehen konnte. Destinys Stimme schnitt durch den Raum. „Doch, das erwarten wir.“ Die anderen starrten Destiny an. „Du musst immer die unermüdliche Optimistin sein und uns alle aufbauen. Egal wie verzweifelt alles ist, du lächelst. Es ist, als würdest du gar nicht kapieren, was in anderen vor sich geht!“, sprach Destiny aufgebracht, dann wurde ihr Ton sanft. „Das hab ich gedacht. Ich dachte, es macht dir Spaß und das alles ist nur ein großes Spiel für dich. Dabei bist du bloß ein so verdammter Gutmensch und meinst, alle glücklich machen zu müssen!“ Traurig sah sie zu Unite. „Ich hab mich nie gefragt, ob du glücklich bist.“ In Unites Augen bildeten sich Tränen. Sie schniefte und versuchte, sie zurückzuhalten. „Wir können es aushalten.“, sagte Destiny überzeugt. Unite begann zu beben. Sie senkte ihr Haupt tief, spürte, dass sie einem Gefühlsausbruch nahe war, aber kämpfte noch immer dagegen an. „Du bist nicht allein.“, flüsterte Destiny. Unites Schluchzen brach den Tränen Bahn. Sie konnte nicht mehr an sich halten und bekam nicht mit, wie Destiny den anderen mit einer Bewegung ihres Arms bedeutete, sich nicht zu nähern. Nach weiteren Schluchzern presste sie erstickte Worte hervor. „Ich habe solche Angst.“ Sie rang nach Atem. „Und ich schäme mich, weil ich nicht stark sein kann.“   Die anderen waren zu sehr von Unites Gefühlsausbruch ergriffen, um etwas zu sagen. Sie hatten Unite schon früher weinen sehen, aber das waren Momente gewesen, in denen ihnen allen danach zumute gewesen war. Dass Unite solche Gefühle bezüglich der Situation mit Secret gehegt hatte, ohne dass es von ihnen bemerkt worden war, bestürzte sie zu sehr, als dass sie es sofort hätten fassen können. Unite hatte immer nur gelächelt – unverwüstlich, sorgenfrei, heiter, als könne ihr nichts etwas anhaben. Ihnen wurde jetzt erst klar, dass es so einen Menschen nicht geben konnte. Nicht jemanden, der gleichzeitig sah, was sie fühlten, und doch ungerührt blieb angesichts all der Rückschläge. „Du darfst auch mal schwach sein.“, sagte Destiny sacht. Unite weinte noch lauter. Change, der rechts neben ihr saß, verwandelte sich für einen kurzen Moment zurück, um eine Packung Taschentücher aus seiner Jackentasche zu holen, und hielt sie Unite hin. Mit einem flüchtigen dankenden Lächeln nahm sie diese entgegen. Nachdem sie mehrfach ihre Nase geputzt hatte, wischte sie sich eine weitere Träne aus dem Auge und lächelte die anderen schüchtern an. „Willst du nicht noch was sagen?“, hakte Destiny nach. Unite schüttelte den Kopf, immer noch in leicht geduckter Haltung. Destinys Stimme wurde unzufrieden. „Unite, ich hab die ganze Zeit geredet!“ Unite nickte zaghaft, als verstünde sie, dass sie sich nicht darum drücken konnte. „Ich will nicht, dass ihr die Hoffnung aufgebt.“, sagte sie halblaut. „Aber ich weiß nicht, wie ich euch trösten soll. Ich habe Angst, dass ihr daran zweifelt, dass alles gut wird, wenn ich Schwäche zeige.“ Sie zog den Kopf noch weiter ein. „Wenn ich nicht…“ „Dann haben wir immer noch Ewigkeit.“, meinte Destiny trocken. „Die ist genauso hartnäckig wie du.“ Sofort kam das Schmetterlingsmädchen angeschwirrt und posierte in der Mitte der Beschützer, als hätte sie gerade eine Auszeichnung erhalten. Auf ihr Verhalten hin, gab Unite ein leises Geräusch von sich, das entfernt an den Ansatz eines Lachens erinnerte. Daraufhin landete Ewigkeit auf ihrem Schoß und sah stolz zu ihr auf. Destiny verkündete bestimmt: „Selbst wenn du an dir zweifelst, wir glauben an dich.“ Die übrigen nickten bestätigend. Gerührt schloss Unite die Augen. „Danke.“ „Wir müssen danken.“, antwortete Destiny. Desire ergriff das Wort. „Es tut mir leid.“, sagte sie beschämt zu Unite. „Ich war sauer auf dich, weil ich dachte, dass du gar nicht siehst, wie schlecht es Erik geht. Dabei sollte ich wissen, dass du…“ Sie hielt kurz inne „…du bist.“ Unite musste schmunzeln. Erleichtert seufzte sie auf. „Ich bin froh, euch zu haben.“ Ihr Blick glitt auf ihren Schoß zu Ewigkeit. „Euch alle.“ Das strahlende Gesicht Ewigkeits wurde noch durch die sachte Bewegung ihrer Flügel unterstrichen. Von der Seite wurde Unites Hand ergriffen. Sie hob den Blick zu Destiny. Diese sah ihr fest in die Augen, wie um ihr nochmals Mut zuzusprechen. Unite lächelte. „Du bist dran.“ Destiny ließ Unite wieder los und atmete geräuschvoll aus, als müsse sie Kraft sammeln für das Bevorstehende. „Nun ja, ich… Ich weiß, dass …“ Sie holte nochmals Luft und stieß die Worte dann in einem Atemzug aus. „Wenn ich nicht wäre, wäre es für euch leichter mit Secret.“ Die anderen starrten sie verwirrt an. „Ich hab euch schon so viele Probleme gemacht, wenn das alles nicht gewesen wäre, dann … dann würdet ihr euch vielleicht besser um Secret kümmern können.“ „Hä? Was hat’n das eine mit dem anderen zu tun?“, wandte Change ein. Destiny schwieg kurz. Sie setzte zu einer Antwort an. „Einfach weil ihr schon so viel wegen mir mitmachen musstet.“ „Ja. Und deshalb sind wir den Psycho-Scheiß auch schon gewöhnt.“, meinte Change. Destinys Augenbrauen zogen sich zusammen, sie nickte. „Deshalb…“, sie seufzte lautlos und stierte auf den Boden, „deshalb weiß ich auch, dass ihr das könnt. Wenn es jemand kann, dann ihr. Ihr werdet ihm helfen.“ „Wir“, verbesserte Change. Destiny sprach ihm nach, ohne den Blick zu heben: „Wir…“ Sie blickte auf und nickte. „Gemeinsam.“ Nochmals zögerte sie. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie streckte die rechte Hand aus und getraute sich nicht die anderen anzublicken. „Einer für alle!“ Zunächst perplex warfen die anderen einander verblüffte Blicke zu. Wie Destiny so dastand, den Kopf vor Scham eingezogen und dabei die Geste imitierend, die Change und Unite im Schatthenreich eingeführt hatten, bot sie einen denkwürdigen Anblick. Sie standen auf und gesellten ihre Hände zu der ihren. Eine nach der anderen. Sogar Ewigkeit kam herbei und setzte sich auf Destinys Unterarm. Geradezu verschüchtert sah Destiny auf, als sie die erste Berührung spürte und begegnete den entschlossenen Gesichtern der anderen. Unite schließlich vollendete den berühmten Spruch. „Und alle für einen!“, rief sie so überzeugt, dass die Beschützer fast zu spüren glaubten, wie der Ruf und ihre gemeinsame Geste ihnen neue Kraft schenkten. Denn wer dieser eine war, dessen Hand noch fehlte, wussten sie alle.   Kapitel 118: - 4. Band Gleichgewichts-Betrüger - [Beschützer und Bedroher] Außenseiter -------------------------------------------------------------------------------------- Außenseiter   „Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht.“ (Sprichwort)   Das Wochenende war viel zu schnell vergangen und auf dem Gebiet der Secret-Abwehr hatten sie im Training weiterhin keinen Durchbruch erreicht. Zumindest war die Stimmung im Team nach ihrer Aussprache wieder sehr viel erträglicher geworden. Doch immer wieder kamen die Zweifel bezüglich ihres Teilzeit-Freund-Teilzeit-Feinds wieder hoch. So auch an diesem Montagmorgen, an dem sich Vitali, müde wie er war, einem reuelosen Erik gegenübersah, der sich benahm, als wäre alles bestens. Dass er von Gedanken über die Situation verschont blieb, ärgerte Vitali. Er hätte sich gewünscht, wenigstens irgendeine Art Entschuldigung von ihm zu bekommen, aber ohne Erinnerung ging das natürlich nicht.   „Was ist?“, fragte Erik irritiert, während er seine Jacke auszog und sich dann auf seinen Stuhl neben Vitali setzte. „Was soll sein?“, grummelte dieser, ohne ihn anzusehen. „Du schaust wie sieben Tage Regenwetter.“ Vitali verzog bloß das Gesicht. Erik wartete, aber Vitali machte keine Anstalten, ihm zu antworten, so als wäre er wegen irgendetwas eingeschnappt. „Ist was mit Serena?“ Nun endlich drehte sich Vitali zu ihm. „Hä?“ Erik sah ihn forschend an. „Was soll denn mit ihr sein!“, schimpfte Vitali. „Sag du es mir.“, gab Erik zurück. „So ein Blödsinn!“ Vitali drehte sich wieder weg. Erik zog die Augenbrauen zusammen und durchbohrte Vitali mit einem argwöhnischen Blick. „Also ist was mit ihr.“ „Nein, es ist nichts mit ihr!“, brüllte Vitali aufgebracht. Erik wandte sich stöhnend ab. Er hörte Vitali neben sich lautstarke Grummelgeräusche ausstoßen. Es hatte keinen Zweck, Vitali nochmals darauf anzusprechen. Er würde sich aus anderer Quelle Informationen beschaffen.   In der Pause trat Erik zu Serenas und Arianes Tisch. Bildete er sich ein, dass Serena den Blick zu Vitali hinüber vermied? Sie selbst zu fragen, hielt er nicht für die beste Idee.  Er fixierte Ariane. „Kann ich kurz mit dir reden?“ Ariane schreckte auf verdächtige Weise zusammen. Ihr Kopf zuckte kurz nach rechts, als wolle sie sich hilfesuchend zu Vivien und Justin hinter ihr drehen. Erik fühlte sich jäh in seiner Vermutung bestätigt, dass irgendetwas vorgefallen war. Doch nun keimte der Verdacht in ihm, dass die anderen ihm etwas verheimlichen wollten. „Um was geht es denn?“, wandte Justin ein. „Das würde ich Ariane gerne alleine sagen.“, gab Erik provokativ zurück, um zu sehen, wie Justin darauf reagierte. Wenn sie Spielchen spielen wollten, das konnte er auch! „Die Pause ist gleich um.“, meinte Ariane. „Sie hat gerade erst angefangen.“, widersprach Erik, schließlich hatten sie an ihrer Schule immer anderthalbstündigen Unterricht und dann eine fünfzehnminütige Pause. „Aber wenn du nicht mit mir reden willst…“ Gekonnt wandte er sich ab und lief an Arianes und Serenas Tisch vorbei aus der Klassenzimmertür.   Im Gang tat er ein paar langsame Schritte. Er ging fest davon aus, dass Ariane ihm früher oder später folgen würde. Das tat sie immer. Wahrscheinlich würde sie sich jetzt mit den andern austauschen, was sie ihm erzählen dufte. Daher lehnte sich Erik unweit der Klassenzimmertür gegen die Wand, um eventuell etwas von dem Gespräch aufzuschnappen. Doch dafür war es auf dem Flur leider zu laut. Erik wartete. Ein paar Mädels, die an ihm vorbeiliefen, warfen ihm verstohlene Blicke zu, als wäre er ein Karpfen, den man sich für sein Hauptgericht aussuchen durfte. Der Gang bot wenig Privatsphäre, aber er war Erik Donner. Und als solcher war es seine Pflicht, sich mit verschränkten Armen lässig gegen die Wand gelehnt nie fehl am Platz zu fühlen. Die Menschen um ihn herum – nichts als gesichts- und belanglose Gestalten. Von der Treppe, die durch einen Glasbereich mit Tür von den Klassenräumen getrennt war, hörte er eine ihm nicht länger unbekannte Mädchenstimme quieken und er sah im Augenwinkel Amanda mit ihrer Schwester und deren Freundin die Treppe herunterkommen. Die drei schienen ihn zu bemerken, blieben vor der Treppe stehen und warfen sich in gekonnte Posen, die nicht sehr normal wirkten, sondern als würden sie ihre Figur in Szene setzen wollen. Dazu untermalten theatralische Gesten hohes Gekicher. Erik war kurz davor, die Augen zu verdrehen. Dann kam ihm der Gedanke, ob vielleicht wieder Amanda etwas mit der Situation zu tun hatte. Aber wieso hätte Vitali dann auf ihn sauer sein sollen? War er das überhaupt? Vielleicht hatte Vitali ja auch wegen etwas ganz anderem schlechte Laune. Doch warum wollten die anderen das vor ihm geheim halten? Erik stieß die Luft aus. Er machte sich wieder unnötig Gedanken. Ihm verging die Lust. Zumal Ariane immer noch nicht aufgetaucht war. Sie brauchte nicht denken, dass er ihr das so einfach nachsah! Aber wieder ins Klassenzimmer zurückzukehren, kam auch nicht in Frage. Da wäre er sich wie ein geschlagener Hund vorgekommen, der zurück zu seiner schäbigen Unterkunft getrottet kam. Gleichzeitig machte es ihn verrückt, hier im Gang irgendwie unter Beobachtung zu stehen. Er hasste das. „Erik?“ Arianes zaghafte Stimme. Sie stand in der Klassenzimmertür, als getraue sie sich nicht, herauszukommen. Erik nahm die bisher verschränkten Arme herunter und glitt von der Wand weg. Nach einem Blick in sein Gesicht schien Ariane ein wenig Mut zu fassen und trat einen Schritt von der Tür weg auf ihn zu. „Du weißt, wie sehr ich es hasse, zu warten.“, beschwerte er sich. Ariane entgegnete nichts, sie senkte nur kurz den Blick, als habe sie keine Kraft mehr.  Wieder stöhnte Erik. Brachte es wirklich etwas, Ariane auf die Situation anzusprechen? „Ich wollte dich nur was fragen.“, fing er schließlich weniger aggressiv an. Ariane blickte wieder auf. „Ist was passiert, das Vitali aufgeregt haben könnte?“ Ihr Gesicht war ungewohnt ausdruckslos. „Was ist?“, fragte er skeptisch. „Nichts.“, antwortete sie ausweichend. Erik zog die Augenbrauen zusammen. „Du bist eine echt miese Lügnerin.“ Nun trat Vehemenz in ihren Blick. „Ich bin keine Lügnerin!“ „Genau das ist dein Problem.“, kommentierte Erik. Sie empörte sich: „Seit wann ist es ein Problem, nicht lügen zu können?“ „Seit du versuchst, etwas vor mir geheimzuhalten.“ Sie hielt inne. „Also habe ich Recht.“, schlussfolgerte Erik. Ariane wandte den Blick ab. „Ich möchte dich nicht anlügen.“ „Und warum tust du’s dann?“ Sie schluckte, dann schien sie ablenken zu wollen. „Wie kommst du darauf?“ „Warum bist du sonst nicht gleich mit mir rausgegangen?“ Sie sah ihm nun wieder in die Augen. „Vielleicht weil du mir immer so seltsame Fragen stellst!“ „Wie du meinst.“, sagte er in düsterem Tonfall. Er hatte es satt, hingestellt zu werden, als wäre er paranoid. „Das mit Vitali…“, begann sie. Ihr Blick glitt erneut zu Boden. „Es hat nichts mit dir zu tun.“ „Ach, deshalb geht es mich nichts an!“, schimpfte Erik und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Ich bin ja auch nur bei euch geduldet, weil ich Secret bin!“ „Das ist nicht wahr!“, begehrte Ariane auf. „Ihr behandelt mich immer wie einen Außenseiter.“, warf Erik ihr vor. Ariane sah ihn getroffen an, seine Worte hatten sie wohl verletzt. Dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck und in die Verletztheit mischte sich Auflehnung. „Du hast ja keine Ahnung!“, fuhr sie ihn lautstark an, machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück ins Klassenzimmer.   Die heftige Aufgewühltheit in ihrem Inneren brandete an ihrem Herz auf wie eine stürmische See. Wie konnte Erik ihnen das nur vorwerfen! Nach allem was sie für ihn taten! Ganz gleich, ob er das wusste oder nicht. Sie hatte gerade keine Lust darüber selbstreflektiert nachzudenken. Das tat Erik ja auch nicht! „Was war denn?“, fragte Serena sie prompt, als sie mit erzürnter Miene das Klassenzimmer betrat. Ariane antwortete nicht, sondern setzte sich auf ihren Gangplatz neben Serena. Die Schulglocke läutete das Ende der Pause ein. Da trat auch schon Erik durch die Zimmertür, warf Ariane einen kurzen undeutbaren Blick zu und begab sich ebenfalls auf seinen Sitzplatz. „Ariane?“, versuchte es Serena erneut. „Ich will nicht darüber reden.“, sagte Ariane bloß, denn das wollte sie wirklich nicht. „Okaaay.“, sagte Serena gedehnt und kritisch klingend, beließ es aber dabei. Ohne dass Ariane etwas davon mitbekam, warf Serena einen kurzen fragenden Blick zu Vitali hinüber, der als Antwort nur das Gesicht verzog und mit den Schultern zuckte.   Die nächsten beiden Pausen sprachen Erik und Ariane weder miteinander noch mit den anderen. Als dann die Mittagspause bis zum Sportunterricht begann, packte Erik seine Sachen, zog seine Jacke an und verließ das Klassenzimmer, ohne auf die anderen zu warten. Vivien rief ihm noch hinterher, aber er reagierte nicht. Geradezu beleidigt meinte Vitali. „Soll er halt...“ Ariane stimmte ihm stumm zu. „Es ist vielleicht ganz gut, wenn Erik nicht ständig in unserer Nähe ist.“, sagte Justin. Als hätten die Worte Serena in Rage versetzt, erhob sie sich abrupt, packte ihre Jacke, ihren Rucksack und die Sporttasche und drängte sich an Ariane vorbei, um das Zimmer zu verlassen. „Serena!“, rief Justin. „Sie holt Erik.“, erklärte Vivien, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt. „Das ist gefährlich.“, mahnte Justin. Serena blieb vor ihrer Schulbank stehen und knallte ihre Hände auf die Tischplatte. „Ich bin gefährlich.“ Schon war sie aus der Tür. „Wo sie Recht hat…“, meinte Vitali mit einem bestätigenden Schulterzucken. „Das beruhigt mich gerade wenig.“, stieß Justin ernst aus. Vivien wandte sich an Ariane. „Was wollte er vorhin von dir?“ Ariane drehte sich zu ihr um und seufzte. Dann begann sie zu erzählen.   Serena eilte den Flur entlang, auf den Ausgang der Schule zu, aber nirgends entdeckte sie Erik. Sein Handy hatte er bestimmt noch lautlos gestellt und würde es deshalb nicht bemerken, wenn sie ihn anrief. Aber wie sollte sie ihn dann finden? Sie stand vor dem Eingang und hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, als sie ihn doch noch auf dem Gehweg entdeckte. Sie rannte los.   Erik hätte gerne gewusst, was er tun wollte. Unentschlossenheit war keine Eigenschaft, die zu ihm passte. Einfach die Straße überqueren und weiterlaufen. Das war immerhin besser als unschlüssig stehenzubleiben. Jäh vernahm er eilige Schritte hinter sich und drehte sich unwillkürlich um. Völlig außer Puste versuchte Serena ihn zu erreichen. . Verwundert beobachtete Erik, wie sie das letzte Stück zwischen ihnen hinter sich brachte. Anstatt gleich das Wort an ihn zu richten, rang sie erst mal nach Atem. „Was willst du?“, fragte er harscher als beabsichtigt. Noch immer nach Luft schnappend sah Serena leicht getroffen zu ihm auf. Er gab ihr Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. „Ich will nicht, dass du alleine bist.“, brachte Serena vor. Er zog die Augenbrauen zusammen, aber an Serenas Gesichtsausdruck änderte sich nichts. Einen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber. Keiner von ihnen schien zu wissen, was nun zu tun war oder was es noch zu sagen gegeben hätte. „Vielleicht will ich ja alleine sein.“, entgegnete Erik schließlich. „Willst du nicht.“, erwiderte Serena. Erik bemühte sich, so viel Skepsis wie möglich in seinen Blick zu legen, aber Serena stieg nicht darauf ein. Stattdessen drehte sie sich um, wie um nach den anderen Ausschau zu halten. „Du kannst ruhig zu ihnen gehen.“ Nun war Serena diejenige, die den skeptischen Blick aufsetzte. Erik drehte den Kopf in eine andere Richtung. „Wieso denkst du, dass ich zu euch gehöre?“ Nach einem Moment Bedenkzeit nahm Serenas Stimme einen ungewohnt selbstüberzeugten Klang an. „Das ist nicht einfach so. Dazu entscheidet man sich.“ Die Antwort überraschte Erik. Er seufzte und wandte sich erneut ab. Weitere Sekunden verstrichen. Die Situation war gerade zu viel für ihn. Er wusste nicht, ob er allein sein wollte oder nicht allein. Beides schien ihm in diesem Moment wenig erstrebenswert. „Ich will die anderen gerade nicht sehen.“ Serena wirkte im ersten Moment verunsichert. Dann nickte sie. „Und ich?“ „Deine Entscheidung.“, antwortete er in Anlehnung an ihre Worte.   Vitali schimpfte abwehrend. „Sorry, dass ich mich nicht so zusammenreißen kann wie ihr. Ihr sitzt ja nicht neben ihm!“ „Wir sollten endlich zu Serena.“, sagte Justin, ohne auf Vitalis Einwand einzugehen. Vivien hatte derweil ihr Handy zur Hand genommen. „Nicht nötig.“, sagte sie locker. „Sie geht mit Erik was essen.“ Sie steckte ihr Handy wieder weg. „Vivien.“, tadelte Justin in ernstem Ton. Frustriert setzte Ariane sich auf ihre Schulbank und seufzte. Vivien wandte sich aufmunternd an sie. „Wenn jemand Erik versteht, dann ist es Serena.“ Das verbesserte Arianes Stimmung gerade nicht wirklich. Zum ersten Mal war sie es leid, immer Partei für Erik zu ergreifen. Vitali scherzte: „Wenn die sich gegen uns verbünden, haben wir das böse Geschwisterpaar gegen uns.“ Vivien grinste belustigt.. Justin klang wenig amüsiert. „Und wenn er sie als Geisel nimmt, haben wir ein echtes Problem.“ Vivien drehte sich zu ihm und sah ihm fest in die Augen. „Vertraust du mir?“ „Ich vertraue Secret nicht.“, sagte Justin ausweichend. „Vertraust du mir?“, wiederholte Vivien. „Das hat nichts damit zu tun.“ „Doch hat es!“, beharrte Vivien und war dabei ungewohnt laut geworden. „Vivien, du kannst Erik nicht davon abhalten, Secret zu werden.“ Vivien hielt dagegen. „Er ist bisher nie zum Bedroher geworden, wenn einer von uns bei ihm war.“ „Dann wird es vielleicht das erste Mal.“, entgegnete Justin hart. Vivien sah Justin unzufrieden an. Er hatte ihr versprochen, dass sie an einem Strang ziehen würden, was Erik anging. Sie alle hatten sich zusammen dafür entschieden! Aber gerade schien allein Serena noch die Kraft zu haben, sich darum zu bemühen. Vivien konnte es den anderen ja nicht einmal verdenken. Sie waren einfach erschöpft und wollten nicht mehr Kindermädchen spielen. Sie wandte sich an Vitali. „Denkst du, Serena kann sich gegen Secret verteidigen?“ Vitali zuckte mit den Achseln. „Wenn er sie anfasst, ist er schon paralysiert.“ Triumphierend drehte sich Vivien zu Justin. „Er kann Telekinese,.“, antwortete Justin.  „Er muss sie nicht berühren.“ Lustlos kommentierte Ariane: „Aber sie die ganze Zeit telekinetisch festzuhalten, dürfte sich schwierig gestalten.“ Verdrossen stieß Justin die Luft aus. Vivien hätte ihm gerne gut zugesprochen, aber gerade war er wohl nicht erpicht darauf, von ihr getröstet zu werden. Wenn er so angespannt war, brauchte es immer erst einen Impuls, der ihn aus seiner Fixiertheit riss, aber in manchen Momenten ließ er das erst gar nicht zu. Gerade war so ein Moment. Und genau dann kam Vivien die Aufgabe, das Team zusammenzuhalten und für eine positive Stimmung zu sorgen, richtig anstrengend vor. „Ich bin kurz weg.“, sagte sie und wollte das Zimmer verlassen. „Vivien?“, fragte Justin mit überdeutlichem Argwohn in der Stimme. „Ich muss nur kurz für kleine Mädchen.“, erklärte sie, als müsse sie sich vor ihm rechtfertigen. Sie ließ die anderen hinter sich.   Die Mädchentoilette war um diese Uhrzeit ausnahmsweise leer. Es war die gleiche, in der sie Serena damals ohnmächtig vorgefunden hatten. Vivien ging hinüber zu dem Fenster neben den Kabinen und starrte auf den Schulhof. Manchmal beruhigte sie es, wenn sie sich einfach auf etwas im Außen konzentrieren konnte, aber dafür war sie innerlich gerade zu nervös. Sie rief Ewigkeit in Gedanken herbei. Prompt stand das Schmetterlingsmädchen auch schon vor ihr und lächelte sie an. Alleine jemanden lächeln zu sehen, hatte etwas Beschwichtigendes an sich. Wenigstens einer, der noch nicht am Ende seiner Kräfte angelangt war. Ewigkeit lächelte fleißig weiter und blieb in der Luft stehen, als warte sie auf Befehle. Aber Vivien starrte sie einfach nur an und ließ sich von ihrem Anblick und dem sachten Glöckchenklang besänftigen. Die Kleine stellte keine Fragen, sie blieb einfach stehen, auch als Vivien die Augen schloss, um die sanften Töne, die sie umhüllten, in sich aufzunehmen Es war so angenehm, dass Ewigkeit nichts von ihr erwartete oder sie aufforderte, ihre Probleme zu lösen oder alles in Ordnung zu bringen. „Du machst das sehr gut.“ Überrascht blickte sie auf. Ewigkeit lächelte. Viviens Gesicht verzog sich gerührt, auch wenn sie nicht davon ausging, dass die Kleine verstand, was sie gerade gesagt hatte. „Ich mache das auch sehr gut.“, sagte Ewigkeit und strahlte, als wäre sie ganz stolz auf sich. Vivien lachte und überlegte, ob sie das bei einer der Audios für Autogenes Training, die ihre Mutter sich manchmal anhörte, aufgeschnappt hatte. Sie konnte sich in diesem Moment nicht daran erinnern, dass sie selbst Ewigkeit diese Worte nur Tage zuvor gesagt hatte. „Ja.“, stimmte sie dann Ewigkeit zu. Die Kleine freute sich. Trotzdem konnte Vivien das Gefühl nicht abschütteln, besser sein zu müssen. Bisher hatte sie immer einen schlauen Plan im Petto gehabt und hatte es geschafft, die Situation zu ihren Gunsten zu ändern. Wann hatte sie angefangen, alles so persönlich zu nehmen? Ihr Blick glitt auf das Fenstersims. Vielleicht seit Justin ihr Vorwürfe machte. Vorher hatte er sie immer unterstützt. Jetzt kam sie sich oft alleine vor oder als würden Justin und sie gegeneinander arbeiten. Warum musste er denn nun immer gegen ihre Pläne sein? Was hatte sie denn falsch gemacht? Hatte sie ihm Grund gegeben, ihr zu misstrauen? Sie hatte gedacht, nachdem sie am Wochenende geredet hatten, würde alles wieder wie vorher werden. Aber dem war nicht so. Justin war vehement in seiner Meinung und sie hatte das Gefühl, dass dadurch der Konsens in der Gruppe verloren ging. Das Thema Erik und Secret war schon immer heikel gewesen, aber solange Justin hinter ihr gestanden hatte, hatten die anderen mitgezogen. Jetzt braute jeder sein eigenes Süppchen und niemand schien ihr mehr zuzuhören, als hätte sie ihre Position in der Gruppe verloren. Ein Klopfen an der Tür zur Mädchentoilette ließ sie aufschrecken. „Vivien?“ Sie lief zur Tür und stand nach dem Öffnen Justin gegenüber. Er wirkte etwas befangen, aber nicht so, wie sie es von ihm gewöhnt war. Nicht schüchtern oder unsicher. Eher als wäre ihm die Situation schlicht unangenehm. „Ich wollte nur – weil du so lange weg warst.“ Er schien Ewigkeit hinter ihr zu entdecken. „Ist was passiert?“, rief er aus. Vivien gelang es nicht, ihren Gesichtsausdruck zu kontrollieren. „Vivien?“ Sie schüttelte hastig den Kopf und schluckte. „Alles okay.“ Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd. „Was ist los?“ Vivien wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Sie schnappte nach Luft und schüttelte nur den Kopf, als wäre nichts. Sie wollte nicht wieder vor Justin weinen. Sie wusste, dass Tränen ihn immer dazu brachten, sie zu trösten. Gerade deshalb wollte sie es nicht. Zu weinen, um von ihm umarmt zu werden und den Justin von früher zu haben, war keine Option. Sie musste sich mit dem Hier und Jetzt auseinandersetzen und mit Justin, so wie er jetzt war. Aber jedes Mal, wenn sie das versuchte, wurde sie innerlich hart, so als würde sie sein Verhalten spiegeln und seine Härte annehmen. „Was ist los?“, wiederholte Justin, nun langsamer. Vivien setzte zu einem neuerlichen Versuch an. Nun kamen die Worte allmählich. „Ich – du – wie soll das“, sie atmete aus. „Das Team bricht auseinander, wenn wir uns nicht einig sind.“ Justin blickte ernst auf sie herab. Vivien bemühte sich weiterzusprechen. „Ich weiß nicht mehr, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll. Ich habe …“ Sie sah zu ihm auf. „Ich habe das Gefühl, dass du mir ständig Vorwürfe machst.“ Es bildeten sich Furchen auf Justins Stirn. Vivien wartete. Sie war erleichtert über den Schwall an Worten, denn ihr war erst beim Aussprechen bewusst geworden, was sie ihm hatte sagen wollen. Justin sah sie streng an. „Könntest du rauskommen? Dann können wir reden.“ Vivien wurde bewusst, dass sie noch immer in der Toilettentür stand. Justin wandte sich an Ewigkeit. „Lässt du uns kurz allein?“ Ewigkeit nickte und verschwand. Vivien trat aus dem Raum der Mädchentoilette. „Worüber willst du mit mir reden?“, fragte er sie. Nicht zärtlich wie früher, sondern gesetzt. „Ich weiß gerade nicht, wie ich mit dir reden soll.“, gestand Vivien. „Ich habe den Eindruck, was ich sage, ist immer falsch.“ „Wieso denkst du das?“ Vivien blickte auf. „Weil du mich so ansiehst.“ Er hatte diesen harten Blick. Er sagte nichts. „Ich habe den Eindruck, früher konnten wir über alles reden, aber jetzt …“ „Vivien, du hast nie mit mir geredet, du hast alles alleine entschieden.“, hielt Justin ihr vor. Vivien schluckte und zog den Kopf ein. „Denkst du das wirklich?“, presste sie hervor. „Du zauberst gerne irgendwelche Pläne hervor, von denen niemand etwas weiß.“ „Aber das hat doch immer funktioniert.“, sagte sie befremdet „Ja, aber…“ Sie sah ihn fragend an. Sein Gesichtsausdruck verlor an Härte. „Du bist sehr clever. Und du hast gute Ideen. Aber deine Einfälle sind sehr riskant. Nur weil bisher alles gut gegangen ist, heißt das nicht, dass es für immer gut geht.“ „Aber ich verstehe nicht, was es helfen soll, wenn wir die ganze Zeit Angst haben.“, wandte Vivien ein. „Angst macht uns handlungsunfähig.“ Justin entgegnete nichts. Sie sprach weiter. „Wenn wir alle zusammenhalten, dann –“ „Vivien, du kannst nicht von den anderen erwarten, dass sie immer nach deiner Pfeife tanzen.“, unterbrach Justin. „Sie haben auch Gefühle und können nicht immer so, wie du dir das vorstellst.“ Seine Worte trafen sie. Ihre Stimme wurde kleinlauter. „Wenn wir immer alles ausdiskutieren, kommt nichts dabei raus.“ „Trotzdem kannst du nicht über ihre Köpfe hinweg entscheiden.“ „Denkst du, ich habe jemals eine Entscheidung getroffen, die jemandem von uns geschadet hat?“, forderte Vivien zu wissen. „Du hast die Entscheidung getroffen, Erik nicht die Wahrheit zu sagen. Das war schwierig für Ariane.“ „Denkst du, ihm die Wahrheit zu sagen, wäre besser gewesen?“ Justin schüttelte den Kopf. „Nein. Ich war auch dagegen. Es geht darum, dass du nicht immer Entscheidungen treffen kannst, die für alle gut sind.“ Vivien zog einen Schmollmund. „Jetzt widersprichst du dir aber. Du sagst, ich kann nicht immer Entscheidungen treffen, die für alle gut sind, aber du sagst auch, dass ich nicht über die Köpfe der anderen hinweg entscheiden kann.“ Justin schaute irritiert. „Das ist kein Widerspruch.“ „Aber wenn jede Entscheidung immer die Gefahr birgt, dass nicht alle zufrieden sind, dann bringt es doch auch nichts, alle vorher zu fragen.“ „Dann hast du sie wenigstens gefragt.“, sagte Justin überzeugt. „Aber wenn ich entscheide, dann können sie wenigstens mir die Schuld geben und müssen nicht untereinander streiten!“ Justin starrte sie ungläubig an, als wäre es absolut absurd, was sie gerade von sich gab. „Früher standest du immer hinter mir, egal was ich entschieden habe.“ „Das war etwas anderes.“ Er wich ihrem Blick aus. „Damals haben dir alle vertraut.“ „Nein, haben sie nicht!“, widersprach Vivien. „Sie haben dir vertraut und deshalb haben sie getan, was ich gesagt habe.“ Er sah aus, als zweifle er an ihren Worten. Vivien setzte fort. „Alle vertrauen dir und wenn du mir nicht traust, tut es auch kein anderer.“ Nüchtern dementierte er. „Das stimmt nicht. Serena -“ In erregtem Ton fuhr sie ihm ins Wort. „Ich traue mir selbst nicht mehr, wenn du mir nicht traust!“ Justin stockte. Ihre Stimme klang emotional. „Ich weiß, dass das dumm ist und ich an mich glauben sollte, aber es ist so schwer, seit du mich so ansiehst.“ Sie deutete auf sein Gesicht. „Wenn ich mir etwas überlegt habe, dann wusste ich immer, dass du hinter mir stehst und mich unterstützt. Ich wusste, alles wird gut, weil du an meiner Seite bist. Aber jetzt… Ich komme mir so alleine vor! Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, damit alles gut wird.“ „Das ist nicht deine Aufgabe, Vivien.“ „Doch! Ich bin diejenige, die die Einfälle hat, die alle für verrückt halten, aber die dann doch funktionieren. Ich rede komisches Zeug, damit die anderen auf andere Gedanken kommen. Ich bin die, die immer fröhlich ist, selbst wenn alles schrecklich zu sein scheint. Das ist meine Aufgabe!“ Justins Augenbrauen senkten sich. „Du lastest dir zu viel auf.“ Vivien konnte nicht länger an sich halten. „Ich will diejenige sein, der du vertraust!“ An Justins Mimik änderte sich nichts. Vivien entzog sich seinem Blick und ballte die Hände zu Fäusten. „Wenn du mir nicht vertraust, dann lass es einfach.“ „Vivien, es geht nicht um Vertrauen.“ „Nein, es geht um Vereinen!“, rief sie heftig und ließ Justin stehen. Sie lief um die Ecke, weg von den Toiletten. Er folgte ihr nicht. Sie wollte nicht mit ihm streiten, sie wusste nur nicht, wie sie mit ihm reden sollte! Obwohl sie ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte, war er so distanziert geblieben. Vielleicht benahm sie sich einfach kindisch. Sie stoppte in der Bewegung. Jäh machte sie kehrt und eilte zurück. Justin stand noch an derselben Stelle. Er wirkte leicht verdutzt, dass sie plötzlich wieder zu ihm kam und drehte sich in ihre Richtung. Vivien lief kerzengerade auf ihn zu. Dann warf sie sich in seine Arme. „Du kannst mich wegdrücken, wenn du willst.“, presste sie hervor, während sie sich an ihn klammerte. Sie hatte Angst, dass er sie wirklich von sich schieben oder mit diesem Tonfall ihren Namen sagen würde, der so erwachsen klang und dem gegenüber sie sich zu einem Kleinkind degradiert fühlte. Schmerzhaft lange Sekunden reagierte Justin nicht, quälte sie mit seiner Gleichgültigkeit. Endlich legte er die Arme um sie und Vivien spürte, dass er sie an sich drückte. „Es tut mir leid, dass ich kindisch bin. Ich weiß nur nicht, was ich tun soll, wenn du nicht mehr zu mir hältst. Ich brauche dich!“ Justins Stimme klang gefestigt. „Du brauchst mich nicht.“ Sie grub ihre Finger in seinen Rücken. Sie wollte das nicht hören. Justin holte Luft. „Du hast Mut, Dinge auszuprobieren. Du bist… viel mutiger als ich.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich habe bloß Angst, dass das eines Tages schief geht. Verstehst du?“ Vivien löste sich ein Stück von ihm. „Was sollen wir denn jetzt tun?“ Justin sah sie stumm an. Dann schloss er die Augen. „Kannst du …“, er schluckte, „…mich noch einen Moment halten.“ Die letzten Worte hatte Vivien kaum gehört, so leise hatte er gesprochen. „Was?“ Justin getraute sich nicht, seine Bitte zu wiederholen. Glücklicherweise erschloss ihr Verstand zuletzt doch noch den Sinn seines Gesprochenen. Sie kam seinem Wunsch gerne nach. Keiner von ihnen sagte etwas. Schließlich trat Vivien wieder einen Schritt zurück und ergriff Justins Hand. „Wenn du bei mir bist, dann hab ich keine Angst.“ Sie sagte das so überzeugt, dass Justin ihr glaubte. Er drückte ihre Hand und hätte sich gewünscht, dass es ihm genauso gegangen wäre und er diese Angst hätte abschütteln können, aber sie blieb an ihm haften wie kalter Schweiß. Vivien hatte damals, als es um den Kampf gegen die Allpträume gegangen war, behauptet, das Gegenteil von Angst sei Vertrauen. Und vielleicht stimmte es, dass er nicht genug Vertrauen in Vivien hatte, obwohl sie ihm keinen Grund geliefert hatte, an ihr zu zweifeln. Er bedauerte seine Vorbehalte und konnte sie doch nicht abstellen. Er hatte Angst. Angst um die anderen, Angst vor dem, was noch passieren würde, Angst davor, zu versagen oder einen Fehler zu machen. Die Angst machte ihn tatsächlich handlungsunfähig. Und vielleicht war die Person, der er am meisten misstraute, weder Vivien noch Erik oder Secret, sondern er selbst. Viviens Stimme unterbrach seine Gedanken. „Du machst das sehr gut.“ Justin stockte. Dann senkte er den Blick. „Vielleicht nicht gut genug.“ Belustigt schnaubte Vivien. Ihr Verhalten verwirrte ihn. „Das hab ich auch gedacht, als Ewigkeit mir das gesagt hat.“, erklärte sie und wurde wieder ernster. „Können wir einfach unser Bestes geben?“ „Denkst du, das reicht?“ Vivien nickte. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Wenn du bei mir bist, schaffe ich alles.“ Justin war nicht so optimistisch, aber er fand ihre positive Einstellung beneidenswert. Schwach lächelte er sie an. „Vielleicht brauchen wir beide auch mehr Vertrauen zu den anderen.“ Vivien nickte hoffnungsvoll und begann zu strahlen. „Wir haben ein tolles Team!“ Kapitel 119: Ein tolles Team ---------------------------- Ein tolles Team   “Es ist wichtig für ein Team, sich nicht nur auf einen Spieler zu verlassen.” (Luis Suarez)   Vitali hatte sich auf seine Schulbank gesetzt, während Ariane sich seitlich auf ihrem Stuhl niedergelassen hatte. „Sorry.“, sagte er in die Stille, die aufgetreten war, nachdem auch Justin den Raum verlassen hatte. Davon aus ihren gedrückten Gedanken gerissen, blickte Ariane auf. Vitali gab seiner Stimme einen genervten Klang. „Ich weiß, ich hab Mist gebaut.“ Ariane schüttelte den Kopf. „Mach dir darüber keine Gedanken.“ Ihr Blick glitt wieder zu Boden. „Hm.“ Auch Vitali schaute in eine andere Richtung. Nach einem weiteren stillen Moment, setzte er fort, weiter ohne Ariane anzusehen. „Du magst das auch nicht.“ Ariane ging davon aus, dass er damit meinte, dass sie sich bisher immer darüber beschwert hatte, wenn er Erik Secrets Verhalten anlastete. Sie schwieg, weil sie nicht wusste, was sie darauf entgegnen sollte. Sie fand nicht einmal, dass Vitali etwas falsch gemacht hatte. Er war nun einmal sehr ehrlich, auch im Ausdruck seiner Gefühle. Bei Vitali hatte sie nie das Gefühl, sich auf einem Minenfeld zu bewegen. Ganz anders als bei Erik. „Ich weiß, ich muss mich besser zusammenreißen.“, sprach Vitali weiter. „Nein.“, sagte Ariane schließlich. Nun lugte Vitali zu ihr, vielleicht, um sie dazu zu bewegen, mehr zu sagen? „Du …“, sie stockte. „Ich mag es, dass du ehrlich bist.“ Vitali brummte unzufrieden. Die Sache ging ihm wohl doch näher als sie gedacht hatte. Ariane erkannte, dass sie aufhören musste, sich in ihrer kleinen Welt zu verstecken. Sie stand von ihrem Sitzplatz auf und trat vor Vitali. Er sah sie an wie ein geschlagener Hund. „Machst du dir Sorgen wegen Justin?“, fragte sie. Vitali zuckte mit den Schultern. „Er ist dir bestimmt nicht böse.“ Vitali hob vorsichtig den Blick und sie verstand, dass er sich auch wegen ihr Gedanken machte. Ariane seufzte. Sie setzte sich neben ihn auf den Tisch. „Weißt du, ich dachte immer, wir müssen Erik beschützen. Aber heute verstehe ich dich.“ Sie machte eine kurze Pause. „Es ist anstrengend, nie die Wahrheit sagen zu können und alles runterzuschlucken.“ „Hm…“, machte Vitali. „Wenn man die Wahrheit nicht kennt, ist auch Mist.“ Sie war überrascht, dass er Eriks Perspektive bedachte. Dann wurde sie wieder nachdenklich. „Würdest du es ihm sagen wollen?“ Vitalis lautstarke Antwort kam ohne Verzögerung. „Da dreht er ja durch!“ Ariane war etwas überrascht über die Heftigkeit, mit der er diese Aussage gemacht hatte. „Und was dann?“ „Hm.“ Wieder ließ sich Vitali Zeit mit seiner Antwort. „Keine Ahnung. Warten bis er wieder angreift?“ Ariane Seufzen wuchs zu einem ausgewachsenen Stöhnen heran. . Vitali wandte sich an sie. „Meinst du, Vivien hat ‘ne Idee?“ Sie schüttelte den Kopf. „Momentan nicht.“ „Aber sie hat doch immer ‘ne Idee.“ Ariane versuchte, sich zu überlegen, was Vivien planen könnte. „Sie hat beim letzten Mal gesagt, ich soll ihm die Wahrheit sagen.“, erinnerte sie sich. „Aber Justin war dagegen.“, fügte Vitali an. Ariane ließ den Kopf hängen. „Er ist überhaupt dagegen, wenn es um Secret geht.“ „Jo.“ Wieder seufzte Ariane. „Meinst du, wir schaffen das?“ „Keine Ahnung. Weiß ja nicht, worauf das rausläuft.“ Ariane dachte darüber nach. „Das ist eine gute Frage.“ „Wir müssen irgendwie an Secret rankommen.“, meinte Vitali. „Und dann?“ Vitalis Gesicht verzog sich. „Grmpf. Ich bin zwar nicht scharf drauf, aber… wenn er unser Feind bleibt, haben wir ein echtes Problem.“ Ariane konnte ihm nicht folgen. „Wovon sprichst du?“ „Was Vivien vorhatte, als sie ihn ins Hauptquartier gebracht hat.“, erklärte Vitali. Ariane drehte sich zu ihm. Vitali erklärte. „Secret Feind gleich Gefahr – und keine Wahrheit für Erik. Secret Nicht-Feind gleich keine Gefahr – und Wahrheit für Erik.“ Ariane musterte ihn von der Seite. „Wieso denkst du, dass wir ihm dann die Wahrheit sagen dürften?“ „Naja, ist doch weniger angsteinflößend.“ Ariane schaute fragend. Vitali setzte zu einer Erklärung an. „Also, wenn er einfach zu uns kommt, sobald er sich verwandelt, ist das doch weniger schlimm als wenn er irgendwas anstellt oder uns angreift und Erik nichts davon weiß. Oder?“ Ariane war über diesen Gedankengang ziemlich überrascht. „Ja, schon...“ Plötzlich begriff sie worauf Vitali hinauswollte. Ihre Stimme wurde jäh ungläubig. „Du meinst… Wir sollen uns mit Secret anfreunden?!“   Der American Diner war nicht weit entfernt von der Schule und durch die hohe Fensterfront konnte man gut nach draußen sehen. Serena und Erik saßen sich gegenüber. Erik hatte nicht viel gesagt und Serena hatte ihm seine Ruhe gelassen. Als er von seinem Getränk aufsah, erkannte er, dass ihr Blick hinaus auf die Straße gerichtet war. „Woran denkst du?“ Serena wandte sich ihm zu und lächelte sacht. Erik wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Worüber hast du dich mit Ariane gestritten?“, fragte sie. Davon noch mehr überrumpelt, war Erik dankbar, dass in diesem Moment ihre Bestellung gebracht wurde. Sie bedankten sich bei der Bedienung und begannen damit, ihre Burger zu verspeisen. Serena schien ihn nicht zu einer Antwort drängen zu wollen. Stattdessen widmete sie sich ihrem Veggie-Burger. Weitere Minuten vergingen, ohne dass einer von ihnen etwas sagte. „Es war etwas Dummes.“, gab Erik schließlich von sich. Serena sah auf. Als er nichts weiter sagte, nickte sie bloß. Dass sie offenbar nicht vorhatte, ihn zu einer Erklärung zu bewegen, ließ seine Anspannung nachlassen. Schließlich rang er sich zu weiteren Worten durch: „Ich habe gesagt, dass ihr mich nur bei euch duldet, weil ich Secret bin.“ Auf Serenas Gesicht deutete sich ein belustigtes Grinsen an. Erik kam sich etwas blöd vor. „Vielleicht wird Secret nur geduldet, weil er Erik ist.“, entgegnete sie. Er konnte dem Gedanken nicht folgen und Serena aß weiter. Nach einigen Bissen wandte sie wieder das Wort an ihn. „Heißt das, du willst nicht mehr Secret sein?“ Seine Stimme wurde rauh und abweisend. „Vielleicht will ich nicht euer Spiel spielen.“ „Also spielst du dein eigenes?“ Erik antwortete nicht darauf, sondern verspeiste den Rest seines Burgers. Er wischte sich die Hände an der Serviette ab. „Ich gehöre nicht zu euch.“, verkündete er entschieden. „Du oder Secret?“, fragte Serena. Erik sah sie streng an und verweigerte eine Antwort. Serena sah auf ihren Teller. „Für uns gehörst du dazu.“ „Der Secret, den ihr erschaffen habt.“, entgegnete Erik wütend. „Oder der, den du geschaffen hast.“, erwiderte sie ruhig. Sein Blick wurde hart und unerbittlich. „Ich habe nicht das Bedürfnis, Secret zu erschaffen.“ „Darum erschafft er sich selbst.“, schlussfolgerte sie unbeeindruckt. Erik schwieg. Plötzlich schien Serena der Mut zu verlassen. Mit einem Mal bedrückt, starrte sie auf die Tischplatte. „Was ist?“, fragte er in wenig mitfühlendem Tonfall. Serena antwortete erst nach einer Pause. „Vielleicht ist es doch eine dumme Idee.“ „Wovon redest du?“ Sie blickte zu ihm auf. „Dir die Wahrheit zu sagen.“ Erik stockte. „Nach dem Sportunterricht.“, sagte sie. „Welche Wahrheit?“ „Das weißt du.“ Ihm wurde flau im Magen. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ „Umso besser.“, sagte Serena und winkte die Bedienung zu sich. „Serena, ich bin nicht du.“ „Nein.“, stimmte sie zu und sah ihm fest in die Augen. „Aber Vivien und die anderen sind dieselben.“   Erik stand im Eingangsbereich der Schule. Serena hatte ihn gebeten, hier zu warten, weil sie mit den anderen zunächst alleine sprechen wollte. Die Wahrheit. Er versuchte sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen. Bestimmt hatte sie damit nichts Besonderes gemeint, eine belanglose Kleinigkeit, die sie ihm mitteilen wollte. Aber Serena hatte aufrichtig gewirkt, nicht als würde sie sich mit den anderen eine plausible Geschichte überlegen wollen. Wieso konnte er nicht davon ablassen, eine Wahrheit hinter all den offenen Fragen wittern zu wollen? Zumindest begann der Sportunterricht bald. Das würde ihn hoffentlich auf andere Gedanken bringen.   „Du willst was?“, fragte Justin ungläubig. Ohne Umschweife hatte Serena ihnen ihren Plan eröffnet, Erik nach dem Sportunterricht in ihr Geheimversteck zu bringen. Justin setzte zu einer Antwort an. „Das –“ Serena ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Das würde bedeuten, dass Secret unser Versteck kennt und uns jederzeit dort auflauern kann. Aber im Hauptquartier zieht er keine anderen Personen mit hinein und wir wären darauf vorbereitet.“ „Das kommt etwas plötzlich.“, beendete Justin seinen Satz in strengem Ton. Ariane klinkte sich ein. „Vitali hat vorhin etwas Ähnliches vorgeschlagen.“ „Hab ich gar nicht.“, widersprach Vitali. „Du hast gemeint, dass wir uns mit Secret anfreunden müssen.“, entgegnete Ariane. „Ey, wir können ihm nicht sagen, dass er zu Secret wird!“, meinte Vitali. „Das tun wir auch nicht!“, rief Serena. „Es geht darum, ihm zu sagen, dass das Rollenspiel echt ist.“ „Er wird Fragen stellen.“, hielt Justin entgegen. „Wir können ihm nicht einfach das eine erzählen und hoffen, dass das andere nicht zur Sprache kommt.“ Ariane war auf Serenas Seite. „Es wäre ein Anfang.“ Justin stieß die Luft geräuschvoll aus und brauchte einen Moment Bedenkzeit. Er sah Serena ernst an. „Bist du wirklich überzeugt davon?“ „Ja.“, sagte sie mit fester Stimme. Dann warf sie einen unsicheren Blick hinüber zu Vitali, als warte sie auf seine Reaktion.  Dieser verschränkte die Arme vor der Brust und wandte kurz den Blick ab. „Wenn Tiny sich das in den Kopf gesetzt hat.“ Lässig zuckte er mit den Schultern. „Schicksal lässt sich nicht aufhalten.“ Er grinste sie vielsagend an. Anstatt sich wie sonst über seine Wortspiele aufzuregen, lächelte Serena dankbar, Justin senkte das Haupt. „Ich weiß nicht, ob das das Richtige ist.“, gestand er. Vivien, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, sprang von ihrer Schulbank. „Dann werden wir es herausfinden!“ Sie streckte ihre Hand zu den anderen. „Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen!“ Ohne Zögern legten sie alle ihre Hände aufeinander. „Wenn‘s schief geht, war‘s Schicksal.“, meinte Vitali schelmisch. Serena warf ihm einen schmaläugigen Blick zu, doch ihr Mund verriet ihre wahren Emotionen. Vitali grinste und kassierte dafür einen spielerischen Klaps gegen seinen Oberarm. Er lachte.   Das Lachen verging Vitali jedoch, als Serena entschied, im Bus zur Sporthalle neben Erik zu sitzen. Grummelnd nahm er daraufhin bei Ariane Platz, die in dem Zweier vor Justin und Vivien saß, und schmollte vor sich hin. Ohne Vorwarnung erklang Viviens flötende Stimme, jedoch nicht von dem Sitz hinter ihm, sondern direkt in seinem Kopf. ♪ Du bist trotzdem ihr Liebling. Vitali war kurz irritiert. Normalerweise bediente sie sich nicht Justins Telepathie, dennoch ließ er sich darauf ein. ! Red keinen Müll., grollte er telepathisch. ♪ Aber sie hat dir doch selbst gesagt, dass du ihr wichtiger bist als Erik. Bei den Worten erinnerte er sich an das besagte Gespräch, nachdem Destiny seine Seelenwelt auf den Kopf gestellt hatte. Aber zu dem Zeitpunkt war er mit ihr alleine gewesen! ! Woher -! ♪ Sie hat das so laut geschrien, das war nicht zu überhören., meinte Viviens Stimme vergnügt. Vitali schickte ihr ein unzufriedenes Geräusch. Justins Gedankenstimme erklang. ○ Vivien. Wenn ich gewusst hätte, dass es um so etwas geht, hätte ich dir nicht erlaubt, meine Kräfte zu benutzen. Arianes Gedanken wurden zugeschaltet. *Unterhaltet ihr euch? ♪ Es geht gerade darum, dass Serena - ! Klappe!, schrie Vitali. * Ich verstehe nicht., sagte Arianes Stimme. ! Gut so!, meinte Vitali. * Wie soll ich das jetzt verstehen?, wollte Ariane pikiert wissen. Nüchtern erklärte Justin: ○ Vivien hat Vitali geärgert. *Gibt es gerade nicht Wichtigeres?, fragte Ariane hörbar empört.  Plötzlich ergoss sich eine Welle der Verlegenheit über Vitali und Ariane. ! Was war das?, schimpfte Vitali verstört. ♪ Was? ! Na dieses Gefühl! Was hast du gemacht? Wieder rollte eine Woge Scham über sie hinweg. ! Mann! Das ist voll unangenehm., kam es von Vitali, wobei seine eigene Gedankenstimme durch das Gefühl in Mitleidenschaft gezogen worden war. Nun tadelte auch Ariane: *Vivien, hör auf mit dem Unsinn. ♪ Darf ich trotzdem deine Hand halten? ! Halt die Klappe, Vivien!, schrie Vitali, begreifend, was das Gefühl ausgelöst hatte.     „Tut mir leid.“, sagte Vivien hastig und ließ umgehend Justins Hand los. Mittlerweile war sie es gewöhnt, manchmal ungewollt seine Gefühle von Scham zu empfangen. Schon wenn die Berührung ihrer Hände intensiver wurde. Dass sie über die Verbindung mit seinen Kräften diese an andere weiterleiten konnte, war ihr dagegen neu. Und bisher war sie davon ausgegangen, selbst in einem Gruppengespräch Gedanken direkt an ihn richten zu können. Offenbar war das nicht möglich. Justin riss seine Hand fort, als wolle er verhindern, dass sie ihn nochmals berühren konnte. Vivien schämte sich. Zum wiederholten Male stellte sie sich die Frage, ob es gar keine aufgeregte Nervosität war, die sie bei Justin spüren konnte, sondern es ihm schlicht unangenehm war, wenn sie Körperkontakt herstellte, den er gar nicht wollte. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen. Manchmal drohte sie zu vergessen, welche Gefühle ihre eigenen waren, wenn sie die von anderen aufnahm. Besonders wenn es sich um Unsicherheiten handelte. Diese vermischten sich nur allzu gern mit ihren eigenen Gedanken und machten sich dann in ihr breit. Betrübt starrte sie vor sich. Normalerweise überkam sie solche Schübe, indem sie etwas umso Mutigeres tat, aber sie konnte Justin gerade nicht noch mehr zumuten. Früher hatte sie schiere Freude empfunden, wenn sie Justin in Verlegenheit gebracht hatte. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie er sich dabei fühlte. Irgendwie war sie einfach davon ausgegangen, dass er sich über ihre offenkundige Zuneigung freute. Doch jetzt… Jedes Mal, wenn sie seine Emotionen aufnahm – meist unabsichtlich – dann fühlte sie Verlegenheit, Unsicherheit, Scham. Gefühle, die Justin im Gegensatz zu ihr ständig zu begleiten schienen. Je mehr sie dieses einnehmende Gefühl mit Gedanken nährte, desto länger hielt es an. Und je öfter sie es empfand, desto mehr hatte es sich eingebürgert. „Alles okay?“, fragte Justin neben ihr. Vivien merkte, dass ihre Atmung schwer geworden war. Sie fragte sich, wie Justin das aushielt. Ohne ihn anzusehen, nickte sie, spürte noch immer diese entsetzlich schweren Gefühle. Sie zuckte zusammen, so unverhofft legte sich seine große Hand wieder auf die ihre. Mit Herzklopfen sah sie zu ihm auf. Seine Gedankenstimme ertönte in ihrem Kopf. ○ Wir kriegen das hin. Dankbar nickte sie, woraufhin er ihre Hand drückte. Sie war unendlich froh darüber.   Sie standen vor einer heruntergekommenen kleinen Gartenlaube, die den Eindruck machte, sie könne jederzeit zusammenbrechen. Das schwindende Tageslicht ließ sie nicht gerade vertrauenserweckender erscheinen. Erik warf den fünfen einen abschätzigen Blick zu. „Was genau wollt ihr mir hier zeigen?“ Es war ihm mit einem Mal schleierhaft, wieso Serena am Telefon einen Riesenstreit mit ihrer Mutter auf sich genommen hatte, um mit zu dieser Bruchbude kommen zu dürfen. Vivien verkündete: „Du musst die Augen zu machen.“ Er konnte seinen Widerwillen nicht verhehlen. „Komm schon.“, bettelte Vivien. „Ich nehm dich auch an die Hand.“ Sie lächelte breit. Er stöhnte. Justin trat dazwischen. „Ich nehme dich bei der Hand.“ Das wiederum kam unerwartet. Dass Justin einen Besitzanspruch auf Vivien geltend machte, war bisher noch nie vorgekommen. Justin hielt ihm die Hand hin. „Ihr besteht darauf?“, fragte Erik mit rauer Stimme. Als Antwort wiederholte Justin die fordernde Geste mit seiner Hand. Vivien hatte derweil Justins Linke ergriffen. Widerwillig gab Erik ihrem Wunsch nach und schloss die Augen. Er fand es nervtötend, dass die anderen offenbar ein einstudiertes Einweihungsritual mit ihm durchspielten. Seine Hoffnung, sie würden ihm etwas Bedeutendes offenbaren wollen, verabschiedete sich. Allem Anschein nach hatten sie sich bloß wieder irgendeine hirnrissige Idee für ihr Rollenspiel ausgedacht, die sie ihm nun mitteilen wollten. Er fragte sich wirklich, warum er bei diesem Unsinn mitmachte. Abrupt entzog er Justin die Hand. „Das ist doch bescheuert.“, spie er aus. „Wenn ihr mir etwas zu sagen habt, dann tut es. Ansonsten können wir jetzt einfach nach Hause gehen.“ Justin sah ihn mit einer Ernsthaftigkeit an, die er nicht von ihm gewohnt war. Er sagte kein Wort. Erik tat einen tiefen Atemzug, überwand sich und reichte ein zweites Mal Justin die Hand.  Mit geschlossenen Augen ließ er sich die letzten paar Schritte zu der Bruchbude führen. Er hörte, wie die Tür sich knarzend öffnete. Weitere Schritte und er spürte die Türschwelle unter den Füßen. Dann änderte sich plötzlich etwas. Die kalte Luft wich einer angenehmen Raumtemperatur. Erik war irritiert. Wie konnte die zugige Gartenlaube das hergeben? Justin führte ihn weiter. Viviens Stimme erklang: „Die Augen erst aufmachen, wenn ich es sage.“ Er spürte weiter Justins Hand, dann blieb dieser stehen. Vivien rief: „Ewigkeit.“ Erik stöhnte innerlich auf. Wieso hatte er sich hierzu überreden lassen? Er kam sich wie ein Idiot vor. Vivien sprach weiter: „Es kann sein, dass er dich nicht sofort sieht.“ Erik stand kurz davor, vor Frustration aufzuschreien! Dann spürte er eine Hand vorsichtig seinen linken Oberarm berühren. Arianes sanfte Stimme. „Es könnte im ersten Moment etwas viel sein.“ Erik holte tief Luft, die er geräuschvoll ausstieß. „Kann ich jetzt die Augen aufmachen?“ Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren restlos entnervt. Vivien ließ ihn einen weiteren Moment warten.   Justin drehte sich leicht in Eriks Richtung. Über seinen Handkontakt hielt er Erik mit Vivien verbunden. Auf diese Weise war sichergestellt, dass Vivien nicht wieder von seiner Wunde attackiert wurde, er aber dennoch in ihrem Hauptquartier landete. Jetzt war es wichtig, diese Verbindung aufrechtzuerhalten, damit Erik Ewigkeit auch wirklich wahrnahm. Justin sah, dass Ariane sich wie abgesprochen so platziert hatte, dass sie umgehend ihre Heilkräfte auf Eriks linken Arm anwenden konnte. Dies war nötig, falls seine Wunde angesichts der Wahrheit wieder zu schmerzen begann. Vitali hatte sich derweil hinter Erik aufgestellt und blockierte die Ausgangstür, um Erik daran zu hindern, Hals über Kopf aus dem Hauptquartier zu stürmen. Neben Vitali stand Serena, die – falls er sich in Secret verwandelte – ihre Paralyse einsetzen sollte. Dann gab Vivien schließlich das Zeichen. „Jetzt.“ Kapitel 120: Erneuerung ----------------------- Erneuerung   „Die meisten Menschen haben vor einer Wahrheit mehr Angst als vor einer Lüge.“ (Ernst Ferstl)   Ein winziges hellblond gelocktes Kind in einem schimmernden Kleid mit durchsichtigen Schmetterlingsflügeln schwebte auf Augenhöhe nur wenige Schritte von ihm entfernt. Der sachte Klang von Glöckchen kam ihm entgegen. Erik blinzelte. Die Erscheinung blieb und hob ihr kleines Händchen lächelnd zum Gruß. Er riss seinen Blick zu Vivien. Diese strahlte begeistert. „Du siehst sie!“ Erik sah zurück nach oben. Das kleine Etwas stand noch immer an derselben Stelle in der Luft. Es lächelte fröhlich. Vitalis Stimme rief von hinten: „Vivien, verwandle dich.“ Vivien nickte und streckte ihre Hand in die Höhe. „Macht der Mondnebel -“ Serenas wütende Stimme: „Vivien!“ Vivien lachte ausgelassen. Dann erschien ein warmes, gelbes Licht über ihr und hüllte sie einen Moment ein. Es ging zu schnell, als dass er viel hätte erkennen können. Dann trug sie plötzlich eine seltsame Kostümierung. Von einem Moment auf den anderen. Blinzeln. Eine Bewegung seines Kopfes nach rechts und nach links. Keine Gartenlaube. Arianes Stimme neben ihm. Besorgt. „Erik.“ Sein Blick drehte sich langsam in ihre Richtung. Heftige Beunruhigung in ihren Zügen. Die Hand auf seinem Arm, Arianes Hand, packte ihn jäh. Arianes Gesicht drehte sich von ihm weg. „Er sollte sich setzen!“ Nun zog es – zog sie – an seinem Arm. Seine Beine bewegten sich nicht von der Stelle. Er spürte ein Drücken an seiner rechten Hand, als wäre sein Körper weit entfernt. Justins Stimme: „Ewigkeit, könntest du dich kurz zurückziehen?“ Ariane: „Er steht unter Schock.“ Vitali: „Was sollen wir machen?“ Justin in harschem Ton: „Unite, nein.“ Viviens Stimme, ruhig: „Erik ist schlau. Er wird das verarbeiten.“ An seine Rechte trat eine weitere Person. Serenas Stimme: „Ich hab dich gewarnt, dass es viel wird.“ Erik atmete einige Momente durch die Nase ein und durch den Mund aus, blinzelte, schloss die Augen und fürchtete, dass sich alles zu drehen anfangen würde, aber das tat es nicht. Dann wurde er in die rechte Wange gezwickt. „Du träumst nicht.“, sagte Vitali und drückte nochmals seine Wange. Serena gab Vitali einen Schlag gegen den Unterarm. „Hör auf damit.“ „Ich dachte, das würde helfen.“, meinte Vitali unschuldig. „Wie sollte das helfen!“, schimpfte Serena. „Du meinst, ich soll ihn hauen?“, antwortete Vitali. „Ich hau dich gleich!“, rief Serena. Vivien in ihrer seltsamen Kleidung trat direkt vor ihn. „Kann ich kurz dein Handy haben?“ Sie wartete. Augenblicke verstrichen. Dann drehte sie sich zu Ariane. „Kann ich deins haben?“ Ariane klang aufgebracht. „Vivien, ich mache mir wirklich Sorgen um ihn! Sieh doch, in welchem Zustand er ist!“ „Du wolltest ihm doch auch die Wahrheit sagen.“, entgegnete Vivien ungerührt. „Was hat das damit zu tun?“ Arianes Stimme wurde immer aufgeregter. Viviens Stimme dagegen klang sorglos.  „Vielleicht könntest du ihn ja wach küssen.“ „Vivien.“, tadelte Ariane. Vivien lachte. Erik schloss die Augen. Ariane: „Das ist nicht lustig.“ Vitali: „Was ist jetzt mit ihm?“ Serena: „Er braucht einfach etwas Zeit.“ All die Stimmen prasselten auf ihn ein. Er biss die Zähne zusammen, aber das aufgeregte Gerede hörte nicht auf, drang weiter unerbittlich auf ihn ein. „Still!“, brüllte er lautstark. Es herrschte jähes Schweigen. Einatmen, ausatmen, … Momente lang. „Lasst los!“, befahl er, da Ariane immer noch seinen Arm hielt und Justin seine Hand. Die fünf traten ein paar Schritte von ihm weg. Er fuhr sich durchs Haar und hielt sich den Kopf. Vivien wandte sich unbekümmert an ihn: „Brauchst du Wasser?“, Erik warf ihr einen bösen Blick zu. Sie zuckte unbedarft mit den Schultern. „Was zum Teufel geht hier vor?“, stieß er aus. Vivien deutete vielsagend auf ihre Kleidung, als würde das alles erklären. Er schüttelte den Kopf. Vivien nickte. Sein Kopfschütteln wurde langsamer. Viviens Nicken wurde langsamer. „Bitte sagt mir, dass ihr Drogen in meine Trinkflasche gemischt habt.“ Vivien schaute fragend zu Justin und Vitali. Dann schlug Vitali ihm grinsend auf den Rücken. „Aus dem Trip wachst du nie mehr auf.“ Er funkelte ihn wütend an. Vitali blieb davon unbeeindruckt. „Hock dich lieber auf die Couch. Wird länger dauern.“ Über Justins Kopf tauchte wieder das kleine Schmetterlingsmädchen auf. Ungläubig schüttelte Erik nochmals den Kopf.   Sie hatten Erik zwischen ihnen auf dem Sofa positioniert und sich ihrer Jacken und Taschen entledigt. „Hast du dich wieder eingekriegt?“, fragte Vitali von links außen. Eriks böser Blick war Antwort genug. Vivien, die zwischen Justin und Ariane zu Eriks Rechten saß, sah zu ihm, als beobachte sie jede seiner Reaktionen. Er versuchte es zu ignorieren. Vorsichtig fragte Ariane: „Wärst du jetzt lieber alleine?“ Erik atmete geräuschvoll aus. „Ich hab Kopfweh.“ Vitali gab seinen Senf dazu: „Kommt vielleicht von Ewigkeits Geklingel.“ Das Schmetterlingsmädchen, das vor ihnen herumschwebte, schaute schockiert. Serena, die links neben Erik saß, zwischen ihm und Vitali, konterte: „Das einzige, was nervt, bist du.“ Erik fasste sich erneut an den Kopf und seufzte. „Ihr wollt mir also erzählen, dass alles, was mit dem Rollenspiel zu tun hat, die Wahrheit war. Richtig?“ Vivien antwortete: „Nein, das mit dem Kondom und der Wette zwischen Vitali und Ariane war gelogen.“ „Vivien.“, sagte Ariane empört. Wieder rang Erik nach Atem. „Das heißt, ihr wurdet entführt, habt Superkräfte entwickelt und jetzt kämpft ihr gegen den Schatthenmeister. Ja?“ „In etwa.“, antwortete Vivien. Erik schluckte und sah kurz zu Justin, Vivien und Ariane. Dann starrte er vor sich. „Secret ist im Schatthenreich zurückgeblieben.“, murmelte er und pausierte. „Bin ich… Secret?“ Es kam keine direkte Reaktion von den anderen. Dann schwebte die seltsame Erscheinung in sein Sichtfeld und lächelte ihn freundlich an. „Und was zum Henker ist das?“, schrie er. „Und sagt ja nicht, das ist Ewigkeit! Was ist sie? Und wo kommt sie her? Was hat das alles zu bedeuten!“ Er stieß einen Schrei der Frustration aus. Vitalis Stimme blieb locker. „Willkommen im Club. – Au!“ Serena hatte ihm mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß in die Seite verpasst.   Ariane begann zu sprechen. „Wir haben Secret –“, sie stockte, „dich im Schatthenreich getroffen. Du wusstest nicht, wie du heißt oder wie du dorthin gekommen bist. Du hast uns geholfen, da rauszukommen. Aber dann haben uns die Schatthen eingekeilt und du –“ Sie brach ab. Justin fuhr an ihrer Stelle fort. „Du hast Ariane in letzter Minute mit deiner Telekinese durch das Portal geschleudert. Du selbst hast es nicht geschafft.“ Erik krümmte sich und schüttelte den Kopf. Justin setzte fort. „Wir wissen nicht, was dann mit dir passiert ist. Als wir dich in der Schule wiedergetroffen haben, wusstest du von nichts mehr.“ „Woher wisst ihr, dass ich das war?“, rief er lautstark. Die anderen sahen ihn nur stumm an. Für einen Moment wäre ihm der Gedanke, es habe sich um einen Klon gehandelt, weniger abstrus vorgekommen, als die Vorstellung, er habe einfach alles vergessen. „Die Wunde.“, sagte er dann. „Was ist das für eine Wunde?“ Justin antwortete. „Wir wissen es nicht genau. Du hattest sie schon, als wir dir im Schatthenreich begegnet sind. Du wusstest selbst nicht, wo sie herkam.“ Vivien fügte hinzu: „Der Schatthenmeister hat gemeint, dass du dich wohl gegen die Substanz gewehrt hast, die er dir injiziert hat, und sie dadurch entstanden ist.“ Erik sah mit finsterem Blick zu ihr. „Wann habt ihr mit dem Schatthenmeister gesprochen?“ Vivien lächelte. „Als wir zusammen gegen die Allpträume gekämpft haben.“ Vitali ergänzte. „Während du gepennt hast.“ Erik griff sich an die Stirn. Serena beugte sich zu ihm. „Wir sind für dich da.“ Erik ging nicht darauf ein. „Was ist mit den Ohnmachtsanfällen? Was ist da passiert?“, wollte er wissen. Justin erklärte: „Wir gehen davon aus, dass die Wunde auf die Nähe von Schatthen reagiert. Der Schmerz hat dich ohnmächtig werden lassen.“ Erik nickte verstehend. „Also noch mal. Ihr seid die Gleichgewichtsbeschützer.“ „Wir.“, korrigierte Ariane. „Erinnerst du dich an die Steintafeln auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH? Darauf stand eine Prophezeiung über uns.“ „Das ist jetzt nicht euer Ernst.“, sagte Erik abschätzig. „Seid ihr sicher, dass das auch nur im Entferntesten etwas mit euch zu tun hat?“ Vivien klang locker: „Der Schatthenmeister fand es wichtig genug, um dort Schatthen zu positionieren.“ Ariane fügte hinzu: „Ewigkeit ist uns auch in der Ausgrabungsstelle begegnet.“, „Und was sagt diese Prophezeiung?“, wollte Erik wissen.  „Nix, was irgendwer kapiert.“, meinte Vitali. „Der Schatthenmeister hat gesagt, er hätte uns aus Forschungszwecken entführt.“, informierte Vivien. Ariane vervollständigte: „Und dass er mit uns das gleiche vorhatte wie mit dir.“ „Das heißt, was auch immer er mit euch vorhatte, hat er bei mir schon gemacht.“, schlussfolgerte Erik. Sofort bereute Ariane ihre vorschnelle Enthüllung. „Das… wissen wir nicht.“ Serena ergriff das Wort. „Er kontrolliert dich nicht. Das hat er selbst gesagt.“ „Und ihr glaubt dem Schatthenmeister, weil?“ Justins Stimme nahm einen beruhigenden Klang an. „Wir hatten am Anfang genauso wenig Ahnung von dem, was hier vorgeht, wie du jetzt.“ Doch Erik wollte sich nicht beruhigen. „Und nun? Habt ihr jetzt mehr Ahnung? Versteht ihr jetzt irgendwas von dem, was hier vorgeht?“ Vitali antwortete nonchalant. „Man findet sich einfach damit ab. Bringt eh nichts, sich viele Gedanken drüber zu machen.“ Erik sah ihn kurz böse an. „Und jetzt? Was habt ihr vor?“ Statt zu antworten, warfen die anderen sich Blicke zu, die genauso planlos wirkten wie Erik es befürchtet hatte. Er wurde laut. „Wozu erzählt ihr mir davon, wenn ihr nicht irgendwas geplant habt?“ Vitali zog eine Grimasse. „Äh, wolltest du das nicht wissen?“ „Ganz ehrlich?“, fragte Erik. „Nein!“ Vitali stöhnte. „Ariane hat die ganze Zeit genörgelt, dass wir dir die Wahrheit sagen sollen.“ Ariane korrigierte: „Serena hat entschieden, dass wir es heute tun.“ Serena wandte sich an ihn. „Erinnerst du dich, als ich in der Schule ohnmächtig geworden bin?“ Erik machte ein Gesicht, als begreife er nicht, warum sie das nun ansprach. „Erinnerst du dich an deinen Traum?“, fragte Serena. Eriks Augenbrauen zogen sich zusammen. „Das war kein Traum. Du hast den anderen geholfen, mich zu retten.“ Erik schien angestrengt nachzudenken. Etwas wie Schmerz trat auf seine Stirn. Er bedeckte sein Gesicht erneut mit seiner Hand. Ariane versuchte, ihm gut zuzusprechen. „Es ist in Ordnung, wenn du dich nicht erinnerst.“ Für Momente sah er sie stumm an, doch sein Gesichtsausdruck wirkte, als würde ihm etwas schmerzlich bewusst werden. „Kann ich kurz mit dir alleine sprechen?“ Keiner der fünf antwortete. Zunächst war Erik irritiert aufgrund des seltsamen Schweigens, dann begriff er: „Ich darf nicht mit dir alleine sein...“ Er glaubte, Überraschung in den Gesichtern der anderen zu lesen. Seine Stimme wurde vehementer. „Das ist auch der Grund, warum du und Serena nicht mehr mit mir nach Hause lauft, oder?“ „So ist das nicht.“, widersprach Ariane. „Was ist es dann?“, fragte er fordernd. Sie schwieg. „Wieso habt ihr mir das alles erzählt?“, verlangte er lautstark zu erfahren. Serena antwortete in ruhigem Ton. „Weil du zu uns gehörst.“ Erik wurde noch aufgebrachter. „Das ist Schwachsinn! Ihr habt euch damit unnötig in Gefahr gebracht! Es wäre besser gewesen, mich da rauszuhalten!“ Ariane wollte widersprechen: „Aber –“ Er fuhr ihr ins Wort. „Nichts aber! Wieso habt ihr mir das sonst so lange vorenthalten, wenn ich nicht eine Gefahr bin? Ihr werft damit eure ganze bisherige Strategie über den Haufen!“ Vivien wandte sich unbeeindruckt an ihn. „Dafür haben wir ja jetzt dich.“, sagte sie freundlich. „Damit wir keine dummen Entscheidungen mehr treffen.“ „Dafür ist es etwas spät.“, sagte er schnippisch. Ariane stand auf. „Wir können im Trainingsraum reden.“ Erik sah sie unwillig an. „Du wolltest doch mit mir alleine reden.“, sagte sie und wich seinem Blick aus. Er schüttelte den Kopf, als hielte er sie für bescheuert. Sie ballte die Hände zu Fäusten und drehte sich hilfesuchend zu Justin. Dieser stieß daraufhin einen langen Seufzer aus und verkündete mit fester Stimme: „Wir warten hier.“ Erik starrte ungläubig zu ihm und deutete ein Kopfschütteln an. „Wieso jetzt?“ Arianes Augenbrauen zogen sich zusammen, als empfände sie Schuldgefühle. „Willst du nicht eigentlich fragen: Wieso nicht vorher?“ Er weigerte sich, ihr darauf zu antworten. Vivien beugte sich vor und deutete mit dem Finger auf Ariane. „Willst du sie noch lange so da stehen lassen? Ich glaube, sie kommt sich langsam blöd vor.“ Ariane warf ihr einen entrüsteten Blick zu. „Danke, Unite.“, empörte sie sich. Vivien strahlte „Gern geschehen.“ „Ihr seid alle geisteskrank.“, grollte Erik und erhob sich. Vivien grinste. „Wir geben uns die größte Mühe.“ Er stöhnte und bedeutete Ariane mit einer groben Bewegung voranzugehen.   Sie traten in den Bereich, in dem die Zimmer der Beschützer angelegt waren. Bisher hatten sie sie nie benutzt, aber zumindest waren sie da. Hier war das Licht gedimmt, ganz anders als im hell erleuchteten Gemeinschaftsraum oder in der Trainingshalle. „Ich weiß nicht mehr genau, welches für dich gedacht war. Aber Vivien hat damals für jeden ein Zimmer eingeplant.“, erklärte sie. „Was ist das hier überhaupt?“, fragte Erik. „Wo sind wir?“ „Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich dir das nicht so genau beantworten. Ewigkeit hat uns damals vor das Häuschen geführt und uns aufgefordert, uns unser perfektes Hauptquartier auszumalen. Und als wir hineingegangen sind, war es einfach da. So wie wir es uns ausgedacht hatten.“ „Das ist absurd.“ Ariane seufzte. „Man findet sich irgendwann damit ab. Hier geht es zum Trainingsraum.“ Plötzlich wurde sie an der Schulter gepackt. Ariane stieß erschrocken die Luft aus, fing sich wieder und drehte sich zu ihm um. Er hatte seine Hand direkt wieder zurückgezogen. „Wir müssen nicht noch weiter gehen.“, meinte er und sah zurück. Wollte er vielleicht nicht allzu weit von den anderen entfernt sein? Aus Sicherheitsgründen? Der Gedanke tat weh. Sie nickte. „Was wolltest du mit mir besprechen?“ Er schwieg. Sie wartete. Hier in dem schlecht beleuchteten Gang ihres Hauptquartiers alleine mit Erik zu stehen, war seltsam. Es wirkte so unwirklich, wie ein Traum. Und das Schweigen verstärkte diesen Eindruck noch zusätzlich. Die Stille war erdrückend. Wollte er, dass sie etwas sagte?   Erik zögerte. Irgendwie kam ihm der Moment gewichtiger vor, als ihm lieb war. Aber was er ihr zu sagen hatte, wollte er nicht vor den anderen zur Schau stellen. Und so wie es aussah, würde er ab nun keine Gelegenheit mehr haben, mit ihr alleine zu sprechen. Er seufzte. Arianes Stimme brach in die Stille ein, ehe er auch nur zu Worten angesetzt hatte. „Es tut mir leid!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Ich wollte dich nicht anlügen! Ich wollte nicht -“ „Hör auf!“, befahl er streng. Wie ein geschlagener Hund sah sie ihn an. Erik stöhnte und legte seinen Kopf in den Nacken. Auch wenn Vivien ihm damals bei der Begründung für Arianes Verhalten mitgeteilt hatte, dass es sich bei Secret um einen totgeglaubten Charakter handelte, war ihm erst jetzt wirklich bewusst geworden, was das für Ariane bedeutet hatte. Nochmals sah er sie an, biss die Zähne zusammen und zögerte nicht länger, tat, was er damals schon am ersten Schultag hätte tun sollen – wenn er irgendeine Erinnerung an all das gehabt hätte. Er zog sie in eine feste Umarmung. Wohl von der Plötzlichkeit überrascht, gab Ariane ein erschrockenes Geräusch von sich. „Du hast gedacht, ich wäre tot.“, sprach er seine Erkenntnis laut aus. Ein hohes Schluchzen, das so klang, als habe sie es unterdrücken wollen, entrang sich ihrer Kehle. Jäh erwiderte sie die Umarmung. Ihre Finger gruben sich in den Stoff seines Oberteils, genau wie damals. Er spürte, wie tonlose Schluchzer ihren Körper erbeben ließen. Entschieden ergriff er sie an ihren Oberarmen und schob sie sachte von sich, sah ihr fest in die Augen. „Was ich damals gesagt habe, was ich über dich gedacht habe…“ Er rang nochmals mit sich und fasste Mut. „Es tut mir leid.“ Das war es, was er ihr hatte sagen wollen. Was er ihr noch schuldig gewesen war. Mit großen fassungslosen Augen starrte sie ihn an. Er hatte nicht geglaubt, dass sie begriff, was diese Worte für ihn bedeuteten und wie schwer es ihm gefallen war, sie auszusprechen. Aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen schien sie sich dessen aus unerfindlichen Gründen bewusst zu sein. Sie kniff die Augen zu und zog den Kopf ein, als wäre der Moment zu viel für sie. Ihr Mund schnappte nach Luft. „Was ist?“, fragte er, weil ihre Reaktion ihn überforderte. Ein Geräusch, das halb traurig, halb ohnmächtig klang, leitete ihre Antwort ein. „Sich entschuldigen ist ein Zeichen von Schwäche.“ Erik riss sich von ihr los, taumelte zurück. Angst überkam ihn. „Das hast du gesagt, als wir im Schatthenreich waren.“ Er versuchte, sich wieder zu beruhigen. Das alles war entsetzlich unheimlich. Nach weiteren Atemzügen brachte er endlich wieder Worte hervor. „Was hab ich noch gesagt?“ Ariane brauchte einen Moment, um darauf zu antworten. „Secret war…“ Sie unterbrach sich. „Du … warst eher schweigsam. Du hast nicht viel geredet.“ Mit einem Blick forderte er sie dazu auf, fortzufahren. Sie tat ihm den Gefallen. „Du wusstest nicht, wer du bist, du hattest keinerlei Erinnerungen.“ Erik wartete. „Du warst eher kalt und emotionslos.“ Ihr Blick hob sich. „Manchmal bist du auch heute noch so, wenn …“ Sie sprach nicht weiter. „Was?“, forderte er zu wissen. „Wenn du nicht willst, dass man deine Gefühle sieht.“, eröffnete sie ihm. Seine Stimme wurde hart. „Ich will nie, dass man meine Gefühle sieht.“ Sie sah zu ihm auf, fast als hätten seine Worte sie verletzt. Dann zeichnete sich ein trauriges Lächeln auf ihren Zügen ab. Und irgendetwas an ihrem Blick machte ihm klar, dass seine Aussage nicht länger der Wahrheit entsprach. Er spannte seine Muskulatur an. „Noch was?“ „Du hast mich gerettet. Du hast mich damals im letzten Moment durch das Portal geschleudert. Aber du…“ Sie konnte nicht weiter reden, zog die Schultern an, ihre Stimme bebte leicht. „Es tut mir leid, dass ich dich alleine gelassen habe.“ „Ariane!“, rief er tadelnd. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sich nicht beruhigen. „Ich hab dich die ganze Zeit angelogen.“, wimmerte sie. Erik stieß langsam und resignierend die Luft aus. „Ich wollte die Wahrheit nicht hören.“ Wieder schüttelte sie den Kopf. Wut packte ihn. „Weißt du eigentlich, wie eifersüchtig ich auf Secret war!“, rief er aufgebracht. Ariane starrte ihn an. Beschämt wich sie dann seinem Blick aus. „Das brauchst du nicht.“ Normalerweise sprach sie nicht das Offensichtliche aus, daher wunderte ihn die Aussage. „Wie meinst du das?“ Ariane zögerte, sie sah ihn nicht an. „Auch wenn du nicht Secret wärst, …“ Ihre Worte trafen ihn. Er konnte nicht anders, als die Distanz zu überwinden und sie nochmals an sich zu ziehen. Einen Moment lang hielten sie einander fest. „Danke.“, flüsterte er. Er ließ sie los und brachte Abstand zwischen sich und sie. „Wir sollten die anderen nicht länger warten lassen.“ Ohne sie nochmals anzusehen, wollte er sich auf den Weg machen. „Erik.“ Ihre Stimme klang ängstlich und bewegte ihn dazu, sich wieder zu ihr umzudrehen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte leidend. „Ich will dich nicht noch mal verlieren.“ Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Das wirst du nicht.“ Auf seine Worte hin verzog sich ihr Antlitz, als könne sie mit den Gefühlen nicht umgehen, die seine Worte in ihr auslösten. Kurz hielt er inne, trat dann zu ihr und griff mit seiner Hand nach der ihren, sah ihr fest in die Augen. „Ich verspreche es.“ Ariane biss sich auf die Unterlippe und drückte seine Hand. Für einen Moment standen sie so da. Sie senkte den Blick. „Versprochen?“ In belehrendem Ton entgegnete er: „Wenn jemand etwas verspricht, gilt es als versprochen.“ Wie erwartet wirkte sie daraufhin pikiert. Gewinnend lächelte er sie an, doch noch immer schien sie im Bann ihrer Ängste zu stehen. Die Situation im Schatthenreich musste sie traumatisiert haben. „Es ist vorbei.“, versicherte er ihr, um ihr klarzumachen, dass das, wovor sie sich fürchtete, der Vergangenheit angehörte. „Ich bin hier.“ Zaghaft nickte sie und war abermals den Tränen nahe. Doch sie erneut zu umarmen erschien ihm wenig zielführend. „Sieh mich an.“, verlangte er. Sie hob den Blick und dass sie nicht wütend schaute, verdeutlichte ihm, wie verstörend sein Zurückbleiben im Schatthenreich für sie gewesen war. „Ich bin jetzt hier.“ Seine Stimme wurde sanfter. „Bei dir…“ Ein seltsames Gefühl ermächtigte sich seiner Brust. Er wehrte sich nicht dagegen. Sachte hob er ihre Hand, die er noch umfasst hielt, und machte sie darauf aufmerksam, dass sie seine Anwesenheit spüren konnte. „Ich bleibe bei dir.“ Als überprüfe sie in seinen Augen, ob er wirklich die Wahrheit sprach, behielt sie den direkten Augenkontakt bei. Schließlich nickte sie langsam. Erst nach einem weiteren Moment ließ sie seine Hand los.   „Was habt ihr gemacht?“, wollte Vitali prompt wissen, als Ariane und Erik zurückkamen. „Ich hab ein paar Dinge richtig gestellt.“, entgegnete Erik knapp.. „Hä?“, machte Vitali, doch Erik ignorierte ihn. Auch Ariane antwortete nicht, sondern nahm wieder Platz. Erik blieb stehen. „Serenas Mutter wird böse, wenn sie noch länger nicht nach Hause kommt.“ „Das ist schon okay.“, sagte Serena wenig überzeugend. „Vitali kann uns nach Hause bringen.“, meinte Vivien. „Dann geht es schneller.“ Erik senkte skeptisch die Augenbrauen. Vitali grinste breit. „Ich kann teleportieren.“ Erik schaute wie ein Auto. „Noch was!“, rief Vivien. „Ewigkeit übernachtet jeden Abend bei einem von uns. Sie könnte heute mit zu dir kommen. Dann kannst du sie besser kennenlernen!“ Eriks Begeisterung hielt sich in Grenzen. Kapitel 121: Farbe bekennen --------------------------- Farbe bekennen   „Die Aufrichtigkeit ist die verletzbare Form der Wahrheit. Sie wohnt gleich neben dem Herzen.“ (Aus Tibet)   Erik konnte nicht fassen, dass Vitali ihn tatsächlich teleportiert hatte. Er berührte die Einrichtung, nur um sicherzugehen, dass er nicht nur einer Wahnvorstellung erlag. Dann ließ er seine Tasche zu Boden gleiten und warf seine Jacke auf den Schreibtischstuhl. Hinter sich hörte er das leise Geräusch von zarten Glöckchen und drehte sich zu Ewigkeit um. Prompt machte sie einen Satz zurück. als habe sie sich vor seinem Gesichtsausdruck erschreckt. Sie zog die Schultern an. Er stöhnte. Ewigkeit stand wortlos in der Luft und ließ den Kopf hängen, als habe sie etwas falsch gemacht. „Kannst du auch reden?“, fragte Erik streng. Ewigkeit nickte eifrig. Erik zog eine seiner Augenbrauen skeptisch in die Höhe. Sie stand mit einem Mal stramm und salutierte. „Ja!“ Eriks Blick wurde nur noch ungläubiger und Ewigkeit machte einen traurigen Eindruck. „Hör zu, ich weiß nicht, wie ich mit dir umgehen soll, oder was du überhaupt bist.“ Ewigkeit nickte reumütig. „Also, was bist du?“ Sie sah ihn hilflos an. Erik verdrehte die Augen. „Ein Gleichgewichtsbegleiter.“, sagte sie zaghaft. „Und was ist das?“ „Ich helfe den Beschützern.“ „Aha.“, machte Erik wenig überzeugt. „Soweit ich verstanden habe, hast du von allem genau so wenig Ahnung wie die anderen. Große Hilfe.“ Ewigkeit ließ die Schultern hängen. Erik seufzte. „Was hast du davon?“ Sie schien die Frage nicht zu verstehen. „Wieso hilfst du ihnen?“ Ewigkeit legte ihren Kopf schief. „Verstehst du überhaupt, was ich sage?“ Ewigkeit nickte heftig. Dann stockte sie und schüttelte langsam den Kopf. Erik verzog das Gesicht. Jäh hellte sich ihre Miene auf. „Man isst, weil man Hunger hat.“ Das hatte Vitali ihr zu der Bedeutung des Wortes ‚Grund‘ erklärt, als sie sich im Kampf gegen die Allpträume mit dem Schatthenmeister zusammengetan hatten. Nun konnte Erik ihr nicht folgen. Ihre Lippen schürzten sich nachdenklich „Was, wenn man keinen Grund hat?“ „Jeder hat einen Grund.“, sagte Erik abfällig. Ewigkeit zog ein deprimiertes Gesicht. „Vielleicht kennst du den Grund einfach noch nicht.“, meinte er. „Oder nicht mehr.“ Sie lauschte aufmerksam. „Du hast einen Grund?“ Erik stockte. Er wich ihrem Blick aus, seine Muskulatur verspannte sich. Dann hörte er Ewigkeits Glöckchenklang näher kommen. Sie schwebte vor ihn und lächelte, als habe sie eine großartige Erkenntnis gewonnen. „Was?“, fragte er argwöhnisch. „Du hast keinen Grund, ich hab keinen Grund, kein Grund ist auch ein Grund!“ Sie lachte vergnügt. Etwas an ihrem begeisterten Lachen war auf fremdartige Weise ansteckend und verführte ihn zu einem verkniffenen Lächeln. Das Geräusch einer Vibration ertönte. Erik holte das Smartphone aus seiner Jackentasche. Eine Nachricht von Vivien. Sie hatte ihn in die Gruppe ‚Beschützer‘ aufgenommen:   Vergesst nicht meinen Geburtstag am Mittwoch! Nach der Schule im Café Reiter!   Obwohl Vivien am Samstag eine offizielle Feier bei sich zu Hause veranstalten wollte, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, auch am Tag ihres Geburtstags noch Zeit mit ihnen zu verbringen. Doch genau an diesem Tag war Erik nach der Schule bereits mit einem ehemaligen Klassenkameraden verabredet. Vivien hatte sich von dieser Eröffnung nicht entmutigen lassen, sondern kurzerhand entschlossen, dass sie alle mit ihm in das Café gingen, in dem sein Treffen stattfinden sollte. Ariane war das sichtlich peinlich gewesen. Sie hatte Vivien halblaut mitgeteilt, dass sie sich nicht einfach selbst einladen konnte. Vivien hatte gelächelt, als habe sie eine Generaleinladung von Erik, die ihr erlaubte, immer in seiner Nähe zu sein. Daraufhin hatte Ariane in normaler Lautstärke nachgesetzt, dass sich Eriks Freund über die Anwesenheit so vieler Fremder sicher nicht freuen würde! Erik wusste manchmal nicht, ob er Viviens Dreistigkeit bewundernswert oder flegelhaft finden sollte. Doch Arianes übertriebenes Drängen auf Höflichkeit und gute Manieren hatten ihn dazu verleitet, zu antworten, dass er seinen Bekannten fragen würde. Dass Ariane auch noch in den unpassendsten Situationen höflich blieb, trieb ihn in den Wahnsinn. Zu seiner Überraschung hatte Jannik ihm am Wochenende geantwortet, er freue sich darauf, seine Freunde kennenzulernen. Damit hatte Erik nicht gerechnet. Jannik war im Internat von den anderen Mitschülern geschnitten worden. Irgendwie war Erik davon ausgegangen, nach diesen Erfahrungen würde Jannik mit fremden Personen nicht so gut klarkommen. Wenn er sich richtig erinnerte, dann war er damals häufig von Jannik als sein einziger Freund betitelt worden. Obwohl Erik das nicht als Freundschaft bezeichnet hätte. Sie waren lediglich vier Jahre lang Zimmergenossen gewesen. Und das auch nur, weil die anderen Jungen sich geweigert hatten, mit Jannik – der aus einer nicht so wohlhabenden, angesehenen Familie stammte – das Zimmer zu teilen. Erik war das völlig egal gewesen. Jannik hatte sich damals stets bemüht, mit ihm befreundet zu sein, aber Erik hatte ihn auf Abstand gehalten. Im Nachhinein tat ihm das leid, schließlich hatte Jannik es nicht leicht gehabt. Vielleicht hatte er sich daher so schnell zu einem Treffen bereit erklärt, als Jannik sich unverhofft über Facebook bei ihm gemeldet hatte. Er lenkte seine Gedanken wieder auf Viviens Nachricht. Ewigkeit schwebte um ihn herum und begutachtete, wie er auf sein Handydisplay tippte. „Hast du schon mal was von Privatsphäre gehört?“, brummte Erik wenig freundlich. Ewigkeit sah ihn mit großen Augen an, als sei sie ganz interessiert, worum es sich dabei handelte. „Das heißt, man lässt Leuten Abstand.“ Die Kleine wirkte beeindruckt. Erik ließ ihr einen vielsagenden Blick zukommen. Aber Ewigkeit sah ihn nur weiterhin fasziniert an und lächelte fröhlich. Er hatte nie ein Haustier besessen, aber in etwa so stellte er sich das Verhalten eines treudoofen Hundes vor. „Ich bin eher der Katzenmensch.“ „Muskelkater?“, fragte Ewigkeit begeistert. Eriks Augenbrauen zogen sich zusammen. Daraufhin fielen Ewigkeits Mundwinkel wieder nach unten und sie schien ernsthaft damit beschäftigt, aus seinem Verhalten schlau zu werden. „Hör zu. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit dir umgehen soll und dir geht es offenbar nicht besser. Daher würde ich vorschlagen, dass du zu einem der anderen gehst.“ Ewigkeit schaute zutiefst unzufrieden und schüttelte entschieden den Kopf. „Meinetwegen. Dann mach halt irgendwas, aber lass mich in Ruhe.“ Ewigkeit nickte beflissen. Erik widmete sich wieder seinem Smartphone. Dann bemerkte er, dass Ewigkeit ihn noch immer anstarrte. Als er zu ihr aufsah, lächelte sie unschuldig und blinzelte. Er seufzte und begriff, dass er sich wohl oder übel mit der Anwesenheit dieses treudoofen Hundes abfinden musste.   „Kannst du dein Licht nicht etwas dunkler machen?“, beschwerte er sich. Ewigkeit hatte darauf bestanden, in unmittelbarer Nähe zu ihm auf seinem Nachttisch schlafen zu wollen, woraufhin er ihr reichlich unwillig einen warmen Pullover als Nachtlager und einen Schal als Decke hergerichtet hatte. Ewigkeit richtete sich auf und sah ihn getroffen an. „Tut mir leid.“ „Kannst du nicht weiter weg schlafen? Oder irgendwo, wo du niemanden störst?“ Die Kleine senkte ihr Haupt und regte sich nicht. Erik seufzte und sah dann zu ihr. „Was ist?“ Sie wirkte geknickt. „Du könntest dort drüben schlafen.“, schlug er vor und deutete auf den Schreibtisch auf der anderen Seite des Raums. Immer noch regte sie sich nicht. „Was ist denn?“ Er erkannte, dass sie zu Worten ansetzte, aber erneut abbrach. „Was auch immer es ist. Raus mit der Sprache. Fühlst du dich unwohl? Willst du zu den anderen?“ Sie schüttelte den Kopf und sah sich dann etwas ängstlich im Zimmer um. Als ihr Blick auf den großen Spiegel vor seinem Schrank fiel, starrte sie wie versteinert darauf. Ihr Gesichtsausdruck wirkte für Momente älter, nicht wie der eines Kindes, sondern als würde sich ein altes Leid darauf abbilden. „He.“, sagte Erik. „Was ist?“ Sie sah ihn scheu an. Offenbar machte ihr die fremde Umgebung Angst. Gleichzeitig hatte sie sich wohl in den Kopf gesetzt, die Nacht bei ihm zu verbringen. Erik stöhnte. Er stand auf und suchte nach etwas, das er verwenden konnte, um Ewigkeit einen gewissen Schutz vor der Umgebung zu bieten. Als Kind hatte er sich oft genug auch einsam und verletzlich in diesem Zimmer gefühlt. Er stellte drei dicke Bücher um Ewigkeits Nachtlager auf und legte ein schwarzes T-Shirt von sich wie einen Baldachin darüber. „So?“, fragte er Ewigkeit. Sie hob den Ärmel des T-Shirts nach oben, um ihn zu sehen und nickte schüchtern lächelnd, dann verschwand sie wieder in ihrer neu geschaffenen Höhle. „Wenn etwas ist,“, begann Erik, Ewigkeit lugte nochmals aus ihrem Versteck hervor, „geh zu den anderen und lass mich schlafen.“ Mit diesen Worten legte er sich hin und wandte Ewigkeit den Rücken zu. Momente später hörte er Ewigkeits leise Stimme. „Danke.“   Am folgenden Tag, einem Dienstag, wartete Vitali im Klassenzimmer ungeduldig auf die Ankunft Eriks. Endlich trat der Schwarzhaarige durch die Tür. Vitali stierte ihn an. Statt seinen Blick zu erwidern, lief dieser einfach an ihm vorbei, nahm in aller Ruhe seine Tasche ab, entledigte sich seiner Jacke und setzte sich schließlich auf seinen Platz, alles unter den Argusaugen Vitalis. Dann holte er allen Ernstes seine Schulsachen für die anstehende Englisch-Stunde hervor, statt Vitali seine Aufmerksamkeit zu widmen, und zog aus seiner Jackentasche sein Smartphone – was er sonst nie tat! „Mann!“, schrie Vitali ihn an. Amüsiert schmunzelte Erik. Vitali beugte sich näher zu ihm und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Erinnerst du dich?“ Eriks Gesichtsausdruck wurde ernst. „An Viviens Geburtstag?“ Vitali machte ein entsetzt-fassungsloses Gesicht. „Nein! An gestern!“ Irritiert hob Erik die Augenbrauen, als verstünde er nicht, was gestern gewesen sein sollte. „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!“, schimpfte Vitali aufgebracht. Ein diabolisches Grinsen trat auf Eriks Gesicht. Vitali schreckte zurück. Der darauf folgende argwöhnische Blick Eriks schien die Befürchtung, Secret gegenüberzustehen, zu widerlegen. „Das war ein Scherz.“ Erleichtert atmete Vitali auf, seine Anspannung ließ nach. Durchdringend sah Erik ihn an. „Was war das für eine Reaktion?“ Ohoh. „Ey, du hast gerade so getan, als hättest du alles vergessen!“, gab Vitali möglichst patzig zurück, doch seine Stimme klang etwas zu hoch.   „Aber du bist erschrocken, als würde ich dich gleich anfallen.“ Vitali setzte ein dümmliches Gesicht auf. Erik stöhnte. „Ja, schon kapiert. Schatthenmeister et cetera.“ Seine sprechende Miene durfte jetzt nur nicht zu viel verraten! Erik durchbohrte ihn mit seinen Blicken. „Oder ist da noch was anderes?“ Mist! Vitali wich zurück. In diesem Moment kamen Serena und Ariane ins Klassenzimmer. Dankbar für die willkommene Ablenkung rief er ihnen ein Hallo zu. Ariane bemerkte seine hilfesuchende Mimik. „Ist was passiert?“ Erik schaute grimmig. „Vitali scheint Angst vor mir zu haben.“ Lautstark und auf Erik zeigend rechtfertigte sich Vitali: „Er hat so getan, als könnte er sich wieder an nichts erinnern!“ Serena warf Erik einen abschätzigen Blick zu. „Da brauchst du dich nicht wundern, dass er Angst bekommt.“ Belustigt schnaubte Erik. „Du verteidigst ihn?“ Serena wirkte ertappt und wandte sich eilig ab. „So gehört sich das auch!“, gab Vitali zurück. „Ist schließlich meine Partnerin!“ Von ihrem Sitzplatz aus feuerte Serena einen wütenden Blick auf ihn ab. Erik legte Vitali kurz die Hand auf die Schulter, wie um ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. „Beschützerpartnerin.“ Vitali schaute beleidigt. Erik zog die Hand zurück. Ein lauerndes Lächeln trat auf seine Züge. „Hat jeder einen Partner?“ „Öh.“, machte Vitali. Ariane antwortete an seiner Stelle. „Wir sind alle Partner, wir sind ein Team.“ Vitali nickte zustimmend. „Aber Vitali redet immer nur von Serena als seine Partnerin.“, merkte Erik vielsagend an. Vitali verzog das Gesicht. Ariane erläuterte: „Vivien hat die beiden zu Partnern erklärt, weil sie sich ständig gestritten haben.“ „Und hat es geholfen?“, fragte Erik vergnügt. Arianes Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass sie dem Vorhaben, Serena und Vitali in ein harmonisches Duo zu verwandeln, keine besonders großen Erfolgschancen einräumte. „Hey.“, beschwerte sich Vitali, der Arianes ernüchterte Miene als Schmälerung seines Erfolgs einstufte. Serena stöhnte. Erik wandte sich verschlagen an sie. „Hättest du lieber mich als Partner?“ Serena schaute völlig verdutzt und antwortete nicht. „Äääääääh?!“, rief Vitali und forderte eine Antwort von ihr, doch Serena sagte nichts. Vitalis Unterlippe trat hervor. „Dann sei doch sein Partner!“ Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das hab ich doch überhaupt nicht gesagt!“, rief Serena ein wenig schrill. Vitali riss den Kopf nochmals zu ihr herum. „Aber du hast drüber nachgedacht!“ Serena schaute böse. „Dann sag halt, was du willst!“, forderte Vitali lautstark. Serena wirkte unsicher und sagte wieder nichts. Vitalis Blick verfinsterte sich zusehends. Beleidigt wandte er sich wieder ab. Wenn Serena ihn nicht wollte, dann sollte sie es doch bleiben lassen. „Du Vollidiot!“, tobte Serena plötzlich. „Waaaas?“, brüllte Vitali zurück. „Die ganze Klasse hört zu!“ „Ist mir doch egal!“, schrie Vitali. Serena warf ihm einen Blick zu, der ihn endlich verstehen ließ. Verlegen wandte er sich ab und gab Ruhe. Neben ihm stieß Erik ein belustigtes Geräusch aus, woraufhin Vitali mit dem Arm nach ihm schlug, was nur dafür sorgte, dass Erik laut lachte.   Mittwoch, 28. November. Als Vivien an diesem Morgen erwachte, war sie bester Laune. Nicht dass sie nicht fast immer bester Laune war, aber an ihrem Geburtstag hielt sie sich selbst für überfreudig. Schließlich war das ihr Tag. Und es würde ein wundervoller Tag werden! Zwar war es noch dunkel draußen und das Thermometer zeigte an, dass es zudem noch sehr kalt war, außerdem war Regen vorhergesagt worden… Aber es war trotzdem ein wundervoller Tag! Zur Feier des Tages waren ihre Geschwister früher aufgestanden, um ihr vor der Schule noch ein Geburtstagsständchen zu bringen. Sie hatten sogar Ewigkeit miteingebunden. Alle drei sangen aus voller Kehle. Vivien drückte sie daraufhin freudig an sich. Mit Ausnahme von Ewigkeit – für sie wäre eine solche Dankesbezeugung gesundheitsschädlich gewesen. Daher tätschelte sie ihr stattessen bloß das Köpfchen. Während sie sich richtete, lächelte Vivien leise vor sich hin. Das war ihr erster Geburtstag als Beschützerin und der erste seit sie die anderen kannte. Und um die Sache perfekt zu machen, war die Aktion, Erik einzuweihen, bisher ein voller Erfolg gewesen! Alles war gut. Kurze Zeit später hüpfte sie aus der Tür, zu Justins Haus hinüber, und klingelte. Sie sah hinter der Haustür, die aus dickem, kaum durchsichtigen Glas bestand, wie jemand – vermutlich Justin – wild herumwuselte. Vivien musste grinsen und wartete, bis Justin schließlich etwas außer Atem die Tür öffnete. In seiner Hand hielt er eine Rose, deren Blütenblätter jeweils in unterschiedlichen Farben des Regenbogens erstrahlten. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“, sagte er eilig und streckte sie ihr entgegen. Vivien strahlte über das ganze Gesicht. „Sie ist wunderschön!“ Sie nahm die Blume freudig an sich. „Ich liebe sie!“ Sie sah mit leuchtenden Augen zu Justin auf. „Ich würde jede Blume lieben, die du mir schenkst.“ Justin wirkte äußerst verlegen.. Vivien genoss diesen Anblick einen Moment lang und ließ die Freude sie ganz durchfluten. Dann machte Justin eine etwas unbeholfene Bewegung mit den Armen. „Ich äh, sollte meine Jacke anziehen.“ Vivien nickte. „Ich bin gleich wieder da!“ Sie eilte noch mal zu ihrem Haus hinüber. Justin ging derweil noch einmal ins Haus und zog seine Jacke an. Als Vivien zurückkam, hatte sie die Rose noch immer bei sich, nur dass sie jetzt in einer kleinen Vase steckte. Justin sah sie überrascht an. „Wohin –“, versuchte er zu fragen. „Ich nehme sie mit in die Schule!“, erklärte Vivien begeistert. „Aber –“ Vivien gab ihm nicht die Gelegenheit, Einwände vorzubringen. Sie stellte die Plastikvase auf den Boden und hatte im nächsten Moment die Arme um seinen Brustkorb geschlungen. „Dankeschön!“ Als sie versuchte, sich an ihn zu schmiegen, ärgerte sie sich kurz, dass sie das nicht getan hatte, als er noch keine Winterjacke getragen hatte. Die wirkte nämlich wie eine unerwünschte Sicherheitspolsterung zwischen ihnen. Böse Winterjacken! Sie nahm sich fest vor, ihn einfach noch mal zu umarmen, wenn sie in der Schule die Jacken wieder ausgezogen hatten.   Erik saß bereits an seinem Platz, als Vivien mit Justin ins Zimmer stürmte und ein fröhliches Hallo rief, als würde sie die ganze Klasse grüßen wollen. Es war immer wieder erstaunlich, dass sie und Justin fast immer die letzten waren, die ankamen. Ariane stand sofort auf, um sie zu umarmen und ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Eindeutig verhaltener folgte Serena ihrem Beispiel, machte aber keinen Ansatz Vivien zu umarmen, woraufhin Vivien schlicht die Initiative ergriff und ihr in die Arme fiel. Vitali dagegen rief nur ein Happy Birthday und machte sich erst gar nicht die Mühe aufzustehen. Daher sah auch Erik davon ab und gratulierte Vivien ebenfalls von seinem Sitzplatz aus. Dennoch freute sich Vivien riesig darüber, jedenfalls strahlte sie übers ganze Gesicht. Dann war sie auch schon an seine Seite getreten und umarmte ihn. Erik ließ es stumm über sich ergehen. Genau wie Vitali, der als nächstes an der Reihe war. „Wo kommt die Rose her?“, fragte Ariane mit Blick auf die Blume in der Plastikvase, die Justin Vivien für die Umarmungen abgenommen hatte. „Die hat Justin mir geschenkt!“ Vivien klang genauso begeistert wie sie aussah. „Sie hat etwas von jedem von euch!“ Ihr schien etwas einzufallen. Sie huschte zu Justin, nahm ihm die Rose ab und hielt sie im nächsten Moment Erik unter die Nase. „Welches ist deine Farbe?“ Erik sah sie irritiert an. „Jeder von uns hat eine bestimmte Erkennungsfarbe.“, klärte sie ihn auf. „Dann können ja nicht mehr viele übrig sein.“, meinte er gelangweilt. Vivien schaute unschuldig. „Hast du keine Lieblingsfarbe?“ Eriks Augen wurden schmal, doch Vivien ließ sich davon nicht abschütteln. Außerdem war ja ihr Geburtstag. Es war wohl unangemessen, sich heute mit ihr zu streiten. Er war kurz davor, Schwarz zu sagen, um nicht auf ihre unnütze Frage eingehen zu müssen, aber sie hätte ihn wohl doch nicht zufriedengelassen. „Welche Farbe ist denn noch übrig?“, versuchte er nochmals eine Antwort zu umgehen.. „Nein, es muss deine Lieblingsfarbe sein!“, beharrte Vivien. „Ich habe keine Lieblingsfarbe.“ „Und was war deine Lieblingsfarbe, als du klein warst?“ Eriks Gesichtsmuskeln spannten sich an. Er hatte längst keine Lieblingsfarbe oder Lieblingsbeschäftigungen mehr, unsinniges Zeug, das einen nur angreifbar machte. Dass Vivien immer auf so einen Unsinn aus war! Vivien zog sich ein wenig zurück. „Wenn du nicht willst, musst du es natürlich nicht sagen.“, flüsterte sie wie ein kleines enttäuschtes Mädchen. Er atmete langsam aus. Nichts zu sagen, hätte bedeutet, dass er etwas zu verheimlichen hatte. Es gab nicht, was Erik Donner peinlich war. „Indigo.“, sagte er knapp. Vitali neben ihm starrte ihn irritiert an. „Was für ‘n Ding?“ Erik besann sich auf seine charakteristisch-nonchalante Mimik. „Dunkelblau-Violett.“, belehrte er Vitali, als wäre es das Natürlichste auf der Welt diesen Farbton zu kennen. Vivien strahlte. „Perfekt! Rot-Pink für Serena, Orange für Ariane, Gelb für mich, Grün für Justin, Blau für Vitali und Indigo für Erik.“ Serena beschwerte sich. „Wieso Pink?“ Vivien blinzelte arglos. „Du magst doch Pink.“ Serena machte ein Gesicht, als wäre sie ertappt worden. „Ich mag auch Rot.“ „Ja, Pink und Rot. So wie Erik Dunkelblau und Violett.“, entgegnete Vivien. „Zusammen ergeben wir einen Regenbogen! Und machen das Grau bunt!“ „Wegen Graue Eminenz?“, fragte Erik. Die anderen hatten ihm auf seine gestrige Nachfrage mehr über den Schatthenmeister erzählt. „Du meinst Grauen-Eminenz. Grauen.“, verbesserte Vivien, dann legte sie sich den Zeigefinger ans Kinn. „Aber er war wirklich grau.“ Nicht nur seine Kleidung, auch seine Haut und Augen hatten gräulich gewirkt. Vitali ergänzte: „Die Schatthen sind auch grau! Und –“ Er brach ab. „Schimmel?“, fragte Erik ihn spöttisch. „Haha.“, machte Vitali. Er konnte ja nicht sagen, dass der Bedroher Secret ebenfalls eine graue Uniform trug. „Könnte ich mal hier durch?“, brummte eine tiefe Männerstimme. Herr Mayer, ihr Wirtschafts- und Klassenlehrer, wollte ins Klassezimmer treten. Sofort setzten sie sich an ihre Plätze.   Auf dem Weg zum Café hüpfte Vivien begeistert vor ihnen her, sicherheitshalber trug Justin daher ihre Blume. „Jetzt bin ich nicht mehr jünger als ihr!“, lachte sie. Eriks Erwiderung war nüchtern. „Du bist immer noch jünger als wir.“ „Aber jetzt bin ich sechzehn!“, jauchzte sie. „Ich bin siebzehn.“ „Oh.“, machte Vivien. „Hatte ich vergessen.“ Sie hörte auf zu hüpfen, offenbar war ihre Euphorie nun gebremst worden. Dann drehte sie sich zu Erik. „Du bist alt.“ Erik sah sie grimmig an. „Du bist frech.“ Vivien kicherte ausgelassen und fuhr fort zu hüpfen. Neben Eriks Kopf erschien Ewigkeit. Er erschrak als einziger und funkelte sie böse an. „Tauch nicht einfach so auf.“ Ewigkeit machte einen hilflosen Gesichtsausdruck, als wisse nicht, wie sie es anders machen sollte. „Was willst du überhaupt?“, fragte Erik grob. Ihr Gesicht hellte sich wieder auf. „Geburtstag!“ „Wir gehen in ein Café, da kannst du nicht mit.“ „Natürlich kann sie mit.“, widersprach Vivien. „Keiner sieht sie.“ Begeistert nickte Ewigkeit. Erik stöhnte. Statt einen Sicherheitsabstand zu ihm einzunehmen, lächelte Ewigkeit ihn an, als wären sie alte Freunde. Er reagierte nicht darauf und tolerierte stumm, dass Ewigkeit um ihn herum schwirrte, als suche sie seine Nähe. Ariane betrachtete die Szene fassungslos. „Sie … scheint dich zu mögen.“ Erik warf ihr einen Seitenblick zu. „Wieso klingst du so ungläubig?“ „Weil du nicht gerade freundlich zu ihr bist!“, verteidigte sich Ariane. „Vielleicht mag sie das ja.“ Ariane verengte die Augen. „Niemand mag das.“ Erik drehte sich zu ihr und hob mit einem süffisanten Lächeln die Augenbrauen. Kurz verzog Ariane das Gesicht, als ärgere sie sich über was auch immer sie glaubte, das er damit hatte andeuten wollen. Dann wandte sie sich ohne Kommentar ab. Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Anschließend richtete er das Wort an Vivien. „Bevor Jannik kommt, verschwindet sie aber.“ Kapitel 122: Jannik ------------------- Jannik   „Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Faust)   Erik kontrollierte die Uhrzeit auf seinem Smartphone. Es war eine Minute vor zwei. Um zwei wollte Jannik zu ihnen stoßen. Er saß bereits mit den anderen im Café Reiter. Vivien hatte den Platz am Kopfende des Tisches eingenommen und ihre Rose vor sich platziert. Serena und Ariane hatten sich zu ihrer Linken, Justin, Vitali und Erik zu ihrer Rechten an den Tisch gesetzt. „Bist du nervös?“, fragte Ariane, die ihm schräg gegenüber saß. Erik warf ihr einen kritischen Blick zu. Als wäre er jemals nervös! Ariane gefiel diese Reaktion offenbar nicht, denn sie verzog das Gesicht und wandte sich wieder dem Gespräch von Vivien und Vitali zu. Erik war genervt, dass sie gleich beleidigt war, schließlich war es auch eine blöde Frage gewesen. Nur weil er Jannik seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen hatte, war er nicht nervös. Wegen Jannik brauchte man sowieso nicht nervös sein und ein Erik Donner war aus Prinzip nicht nervös! Er kontrollierte nochmals die Uhrzeit und sah zum Eingang des Cafés. Gerade betrat ein schlanker Junge mit kurzem hellblondem Haar und stilvoller Kleidung das Café. Erik erhob sich. Sein alter Zimmergenosse kam auf ihren Tisch zu. „Erik?“ „Hallo.“ Mehr sagte er nicht. Jannik strahlte und trat zu ihm, um ihm die Hand zu reichen. „Ewig nicht gesehen!“ Er schien ehrlich begeistert zu sein und stand noch immer direkt vor ihm, anstatt wieder einen Schritt zurück zu gehen. „Gut siehst du aus!“ Erik musste sich darauf konzentrieren, nicht die leichte Empörung über diesen Satz zu zeigen. Natürlich sah er gut aus! „Wie ist es dir so ergangen?“, fragte Jannik weiter. Dabei hatte Erik ihm schon über Facebook erklärt, dass er nun in Entschaithal auf dem Wirtschaftsgymnasium war. Was sollte es denn mehr zu erzählen geben? „Hi!“, rief Viviens Stimme vom Tischende. Jannik drehte sich prompt zu ihr und den anderen. „Oh. Entschuldigung, ich bin Jannik!“, stellte er sich vor und ging dazu über jedem von ihnen die Hand zu geben, wofür er um den ganzen Tisch ging. Erik erinnerte sich nicht daran, dass er das früher schon getan hätte. „Schön, euch kennenzulernen!“, sagte Jannik fröhlich. Vivien kicherte als Antwort und stellte ihm die anderen vor, die vor Überraschung vergessen hatten, ihre Namen zu nennen – mit Ausnahme von Ariane. Janniks Blick schweifte nochmals über die Gesichter der anderen. „Du kannst dich neben mich setzen.“, sagte Ariane lächelnd und deutete auf den Platz gegenüber von Erik. „Danke.“ Er entledigte sich seines Mantels und nahm Platz. Erik war überrascht, dass er zu diesem Treffen ein Jackett trug, auch wenn es nicht streng wirkte. Im Internat hatte Jannik sich damals häufig über die Kleiderordnung während des Unterrichts beschwert, die von der fünften bis zur siebten Klassenstufe galt. Dabei hatte diese nur Hemd oder Poloshirt zu einer Stoffhose und Halbschuhen vorgeschrieben. Turnschuhe und Jeans waren in diesen Schuljahren verboten gewesen. Die meisten Schüler waren aber auch nach der siebten Klasse bei diesem Kleidungsstil geblieben. Jannik drehte sich zu den anderen. „Ich bin ganz gespannt, Freunde von Erik kennenzulernen.“ Vitali, der neben Erik saß, grinste schalkhaft. „Kaum zu glauben, dass er welche hat, was?“ Er klopfte Erik kräftig auf den Rücken, woraufhin dieser ihm einen mürrischen Blick zuwarf. Jannik lachte. Erik wusste nicht, was daran lustig sein sollte. Er setzte einen gleichgültigen Gesichtsausdruck auf. „Wer braucht schon Freunde.“ Jannik lächelte. „Immer noch der alte Brummbär.“ Vitali prustete los, während sich Ariane ziemlich verdutzt zu Jannik umdrehte. Dass man Erik als Brummbär bezeichnete, fand sie bestimmt genauso unverständlich wie er selbst. Vivien kicherte und beugte sich dann voller Neugier nach vorne. „Wie war Erik denn so im Internat?“ Erik sagte nichts dazu, denn es lag ihm fern, alte Geschichten aufzuwärmen. Er stand längst über solchen Dingen. „Er war …“ Jannik suchte nach Worten. „ziemlich schweigsam und eher unscheinbar.“ Vitali stützte seinen Unterarm kurz auf Eriks Schulter ab, als amüsiere das Thema ihn köstlich. „Muss’n anderer Erik gewesen sein.“ Erik ärgerte sich über Janniks Worte und hätte gerne geantwortet, dass es tatsächlich ein anderer Erik gewesen war. Einer, von dem er jetzt nichts mehr hören wollte! Er wechselte das Thema. „Du machst also eine Ausbildung zum Hotelfachangestellten.“ Das hatte Jannik ihm schon geschrieben. „Ja. Meine Eltern haben ja ein Hotel und ich will es mal übernehmen. Und die Ausbildung ist echt interessant!“, berichtete er beschwingt. „Weil es nicht so viele Hotelfachschulen gibt, haben wir Blockunterricht. Meiner findet nicht so weit weg von Entschaithal statt, deshalb hab ich auch ein Treffen vorgeschlagen.“ „Hm.“, machte Erik bestätigend. Eine Pause entstand.   Arianes Augen wanderten kurz zwischen Erik und Jannik hin und her. Sie wollte sich nicht einfach in das Gespräch einmischen. Das wäre unhöflich gewesen. Doch noch immer machte Erik nicht den Ansatz weiterzusprechen. Schließlich konnte sie nicht länger an sich halten. „Wie gefällt es dir?“ Jannik wandte sich ihr überrascht zu, dann begann er etwas schüchtern zu lächeln und schließlich zu strahlen. „Es ist großartig. Ich fühle mich zum ersten Mal, als wäre ich am richtigen Platz.“ Angesichts seiner Freude musste Ariane einfach mitlächeln. „Das klingt wirklich schön.“ Jannik nickte. „Und ihr?“ „Wir sind mit Erik in einer Klasse.“, informierte sie. „Ah, im Wirtschaftsgymnasium, nicht?“ Ariane horchte auf. „Hat Erik dir schon davon erzählt?“ Jannik lachte. „So viel Erik eben erzählt.“ Sein Lachen verführte Ariane zu einem liebevollen Lächeln. Der Moment wurde von dem an den Tisch tretenden Kellner unterbrochen, der Janniks Bestellung aufnehmen wollte. Er entschied sich für eine Spezi und der Kellner ging wieder. Erik wandte sich an Vivien. „Wolltest du nicht vorhin noch ein Stück Kuchen?“ „Ich bin noch am Überlegen.“, sagte Vivien. Serena schaute skeptisch. „Ich dachte, deine Mutter backt später.“ Vivien kicherte. „Deshalb bin ich ja am Überlegen.“ „Ich spendiere dir ein Stück. Zum Geburtstag.“, sagte Erik. Vivien jauchzte. „Dann nehme ich auf jeden Fall einen!“ „Oh!“, stieß Jannik aus. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“. „Dankeschööön!“, flötete Vivien. „Dann sollte ich dir ein Stück spendieren. Schließlich bin ich in eure Geburtstagsfeier geplatzt.“, sagte Jannik hastig. „Nein, nein!“, versicherte Ariane eilig und hob die Hände. „Das ist keine offizielle Geburtstagsfeier. Du brauchst dir keine Umstände machen.“ Dass Vivien sich in Wirklichkeit in das Treffen von Erik und Jannik gedrängt hatte, wollte sie nicht noch extra erwähnen. „Ja, aber trotzdem.“, beharrte Jannik. Erik unterbrach ihn grob. „Ich lade sie ein.“ Jannik sah ihn kurz an. Dann lächelte er und nickte. Erik erhob sich von seinem Platz. „Da hinten ist die Kuchentheke.“ Vivien verstand die Aufforderung, sprang ebenfalls auf und folgte ihm. Jannik blickte ihnen sanft lächelnd nach. „Er hat sich nicht verändert.“ „Was meinst du?“, fragte Ariane und beugte sich automatisch näher zu ihm. „Er hat eine grobe Art mit Menschen umzugehen und wenn er etwas Nettes tut, verpackt er es unfreundlich.“, erklärte Jannik schmunzelnd. Ariane war ganz Ohr. „Du kennst ihn gut?“ „Wir haben vier Jahre lang ein Zimmer geteilt. Ich glaube, ich kenne ihn in manchen Dingen besser als er sich selbst.“ Arianes Aufmerksamkeit war so deutlich auf Jannik gerichtet, dass er verlegen lachte. Als sie begriff, dass sie ihn wohl zu sehr angestarrt hatte, unterbrach sie den Blickkontakt und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, „Naja, eigentlich hat er sich schon sehr verändert.“, korrigierte sich Jannik. „Ich hab ihn im ersten Moment gar nicht erkannt.“ „Hä?“, machte Vitali. „Er sieht ziemlich anders aus.“, erklärte Jannik. Ariane begriff. „Du meinst seine Statur?“ Erik hatte ihr erzählt, dass er als Kind schmal und klein gewesen und in der Grundschule sogar von anderen verprügelt worden war. Jannik wirkte zunächst überrascht über ihre Kenntnis von Eriks Vergangenheit. Er nickte. Dann lächelte er erfreut. „Er hat gar nicht erwähnt, dass er jetzt eine Freundin hat.“ Arianes Augenbrauen und Mundwinkel senkten sich unwillkürlich. Jannik antwortete eilig. „So war das nicht gemeint! Er hat sicher seine Gründe, warum… – Er wollte dich sicher persönlich vorstellen!“ Sie schaute geradezu fassungslos, wandte sich peinlich berührt ab und starrte auf den Tisch. Jannik zögerte einen Moment. „Entschuldige vielmals.“, sagte er. „Ich dachte nur … Du bist genau Eriks Typ. Zumindest wie ich mir Eriks Typ vorgestellt habe.“ „Sag ihr nicht, dass sie hübsch ist. Das kann sie nicht leiden.“, warnte Vitali. Ariane fixierte ihn energisch. „Erik würde sich seine Freundin nicht nach dem Aussehen aussuchen!“, sagte sie entschieden. „Er ist nicht so oberflächlich!“ Jannik machte den Ansatz, sich zu erklären. „Das bezog sich nicht auf dein –“ Viviens fidele Stimme kam von hinter ihnen. „Sehr richtig!“ Sie kam mit Erik und einem Stück Erdbeerkuchen zurück an den Tisch. Ariane bereute ihre Worte prompt. Ganz sicher würde Erik das gegen sie verwenden! Wenn nicht heute, dann irgendwann. Den Blick auf den Tisch gerichtet, wartete sie bis er sich gesetzt hatte. Schließlich holte sie tief Luft, um sich gegen seinen Spott zu wappnen, und sah zu ihm. Erik wirkte deutlich amüsiert und grinste so breit wie lange nicht mehr. Dann führte er kurz seine Hand vor den Mund und räusperte sich. Sie war sich sicher, dass er damit ein Lachen vertuschen wollte. Er wandte sich an sie. „Wie du ganz richtig festgestellt hast, liebe ich dich nur wegen deiner inneren Werte.“ Verschwörerisch beugte er sich schräg über den Tisch zu ihr. „Aber ich würde dich dringend bitten, wie besprochen die Papiertüte überzuziehen, wenn wir in der Öffentlichkeit sind.“ Er untermalte seine Worte mit einer kurzen Aufwärtsbewegung seiner Augenbrauen. Ariane sah ihn störrisch an. „Du meinst, eine Tüte, damit ich dich nicht sehen muss.“ „Ich weiß.“ Erik seufzte mitfühlend. „Dass ich so gut aussehe, verstößt gegen deine Prinzipien.“ „Das tut höchstens dein Charakter.“, gab Ariane zurück. Erik zog ein künstlich überraschtes Gesicht. „Hast du nicht eben noch meinen Charakter verteidigt?“ „Dass du nicht oberflächlich bist, ändert nichts an deiner Gehässigkeit.“ Erik stützte das Kinn auf seine gefalteten Hände. „Und dabei bemühe ich mich bloß, in den Genuss deiner Schlagfertigkeit zu kommen.“ Verwirrt hakte Jannik nochmals nach. „Äh, ihr… Seid ihr zusammen?“ Erik sah daraufhin Ariane an und hob die Augenbrauen, als erwarte er selbst eine Antwort. Ariane fand diese Reaktion enervierend, schließlich hätte er die Sache auch aufklären können! Sie hatte nicht vor, ihm das abzunehmen. „Das ist doch wohl offensichtlich.“, antwortete sie ausweichend. Erik wandte sich an Jannik in gespielter Zustimmung. „Ja, ist das nicht offensichtlich?“ „Hä?“, rief Vitali aus. „Ihr könnt doch gar nicht –“ „Vitali.“, fauchte Serena. Sie konnte sich denken, weshalb Vitali eine Beziehung zwischen Ariane und Erik für unmöglich hielt. Wie sollte man auch mit jemandem zusammen sein, der sich jederzeit in jemand anderen verwandeln konnte? Jannik war nun eindeutig noch verwirrter. „Gibt es da etwas, das ich nicht weiß?“ Erik sah Vitali neben sich argwöhnisch an. „Das wüsste ich auch gern.“ „Äh…“, machte Vitali. Justin griff ein. „Er meinte, dass ihr nicht wirklich wie ein Pärchen wirkt.“ Eriks Züge wurden hart. „Ich bin auch nicht an einer Beziehung interessiert.“, grollte er abweisend. Ariane ballte die Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen. „Dann ist ja gut.“, zischte sie. Erik warf ihr einen grimmigen Blick zu. In heiterem Tonfall erhob sich Viviens Stimme. „Ihre Beziehung ist geheim! So geheim, dass sie selbst nichts davon wissen!“ Sie grinste gewinnend. Erik blieb verstimmt. „Ja, für Geheim hat sie eine Schwäche.“ Ariane konnte nicht fassen, dass er noch immer auf Secret eifersüchtig zu sein schien, obwohl er jetzt die Wahrheit kannte! Er benahm sich wie ein Kleinkind! „Geheim hat seine Vorteile.“, gab sie patzig zurück. Erik beugte sich erbost zu ihr. „In dem Fall gebe ich mir alle Mühe, deinem Wunsch zu entsprechen.“ „Wovon labert ihr eigentlich?“, rief Vitali dazwischen. „Nichts.“, erwiderte Erik harsch. Ariane stieß die Luft aus. Jannik klang etwas verschüchtert. „Ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen.“ Serena versuchte ihn zu beruhigen: „Das ist bei denen normal.“ Vitali schloss sich ihr an. „Ja, aber bei Tiny und mir regen sie sich auf.“ Vivien strahlte. „Ich finde beides amüsant.“ Sie nahm genüsslich einen Bissen von dem Kuchen. Justins Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er beides unangenehm fand. Erik erhob sich. „Ihr entschuldigt mich.“ Er verließ den Tisch. Ariane stöhnte, stand ebenfalls auf und lief Erik hinterher. Jannik sah hilfesuchend zu den anderen. „Muss ich das verstehen?“ Serena schüttelte den Kopf. Justin schob seinen Stuhl zurück und war im Begriff, den beiden hinterherzulaufen. Vivien fasste ihn am Arm und hielt ihn damit auf. Er gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er Ariane nicht mit einem wütenden Erik alleine lassen würde. Sie rief ihn mit einer Bewegung ihrer Augenbrauen dazu auf, Ruhe zu bewahren. Widerwillig blieb er daraufhin sitzen.   „Lauf mir nicht hinterher.“, sagte Erik, ohne sich zu ihr umzudrehen. Sie hatte ihn in dem schmalen Gang, der zu den Toiletten führte, eingeholt. „Dann lauf nicht vor mir weg.“, hisste Ariane. Sie wollte nicht, dass das ganze Café etwas von ihrem Gespräch mitbekam. Er drehte sich zu ihr um. Sie begegnete ihm mit einem nicht minder eindringlichen Gesichtsausdruck. „Warum bist du jetzt sauer?“, forderte sie zu empört wissen. Erik starrte sie kurz an und wandte sich dann ab. „Kann dir egal sein.“ „Warum kannst du nicht mal erwachsen sein?“ Erik wirbelte so schnell herum, dass sie nicht reagieren konnte. Ariane fand sich an die Wand des Ganges gedrängt wieder, Erik fixierte sie unbarmherzig, als wolle er sie in ihre Schranken weisen. Unbeugsam sah sie ihm direkt in die Augen. Die Vehemenz wich aus seinem Gesicht. Die Augen von ihr weg gerichtet, nahm er wieder den nötigen Abstand zu ihr ein. Ariane schwieg und schlug die Augen nieder, darauf wartend, dass er sich ihr wieder zuwandte. Plötzlich hörte sie, wie er sich entfernte. Beim Aufblicken sah sie nur noch, wie er in der Männertoilette verschwand.   Erik betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken und atmete geräuschvoll durch den Mund aus. Plötzlich ploppte neben ihm Ewigkeit auf. Erik schrak zusammen und fuhr sie an. „Was hab ich gesagt?!“ Ewigkeit zog ein argloses Gesicht. Eriks Miene wurde wütend. „Wenn Ariane dich geschickt hat-“ „Alles okay?“ Er stockte. „Ja.“ Er wich ihrem Blick aus. Ewigkeit schwebte vor ihn, um ihn dennoch in Augenschein zu nehmen. „Bist du traurig?“ „Nein!“ Die Kleine sah ihn mitleidig an. „Alles bestens!“, versuchte er nochmals sie zum Gehen zu bewegen. Doch er musste einmal mehr feststellen, dass es unmöglich war, Ewigkeit loszuwerden. „Was soll ich tun, damit du gehst?“ „Willst du, dass ich gehe?“ Erik fuhr sich durchs Haar und seufzte lang. Er stützte sich auf das Waschbecken und sah in den Spiegel. Dann baute er sich wieder zu voller Größe auf. Er sah kurz zu Ewigkeit. „Ich sollte wieder zu den anderen.“ „Darf ich mit?“ „Das wäre nicht gut.“ Sie schaute enttäuscht. „Kannst du jetzt gehen?“, fragte er weniger grob als bittend. Ewigkeit nickte und war im gleichen Moment verschwunden.   Ariane kam geknickt zurück an ihren Sitzplatz, nachdem sie sich zunächst überlegt hatte, auf Erik zu warten. Aber was hätte das bringen sollen? Wenn er nicht mit ihr reden wollte, konnte sie ihn nicht dazu zwingen. Sie wusste nicht, dass Justin Ewigkeit auf Erik angesetzt hatte, nachdem Vivien ihn davon abgehalten hatte, ihnen zu folgen. „Alles in Ordnung?“, fragte Jannik besorgt. Ariane rang sich ein Lächeln ab. Dann hörte sie Schritte und erkannte hinter sich, dass Erik zurückkam. Vielleicht hatte er ja wirklich nur auf die Toilette gemusst. Irgendwie war ihr das jetzt peinlich. Erik setzte sich wieder auf seinen Platz und richtete das Wort umgehend an Jannik. „Wie lange bist du in der Nähe?“ „Nur bis zum Wochenende.“ „Mh.“, machte Erik. Das war alles. Jannik wartete einen Moment, aber Erik sagte nichts weiter. „Ähm, wie ist es, wieder zu Hause zu wohnen?“, fragte Jannik. Eriks Gesichtsausdruck wurde undeutbar. Er sagte nichts. Vivien reagierte sofort. „Was für ein Hotel haben deine Eltern?“, rief sie zu Jannik. „Ähm, ein Vier Sterne Hotel.“, antwortete er. „Meine Eltern haben es zusammen aufgebaut.“ Vivien hielt das Gespräch am Laufen. „Und du machst dort deine Ausbildung?“ „Ja. Meine Eltern achten sehr darauf, dass ich die gleiche Behandlung erfahre wie die Auszubildenden vor mir. Sie wollten eigentlich, dass ich das Abitur mache und dann Hotel Management studiere, aber ich konnte sie schlussendlich davon überzeugen, dass ich die Ausbildung machen darf. Mittlerweile denken sie auch, dass es die richtige Entscheidung war.“ Er lächelte unsicherer als zuvor. Erik erinnerte sich. Jannik hatte oft geweint, wenn er wieder eine schlechte Note bekommen hatte. Seine Eltern hatten immer hohe Erwartungen in ihn gesetzt, deshalb hatten sie ihn auch an ein renommiertes Elite-Internat geschickt, obwohl die Gebühren für sie zu teuer gewesen waren. Jannik hatte Erik gegenüber häufig erwähnt, dass er sich wie ein Versager fühlte. Einmal hatte er ihm auch gesagt, dass er ihn beneidete. Erik hatte damals einfach geschwiegen. Er hatte nicht gewusst, was er darauf antworten sollte. Vivien nahm offenbar ebenfalls Janniks Veränderung wahr, denn sie wechselte das Thema. „Ist es nicht toll, sich nach so langer Zeit wiederzusehen?“ Jannik lächelte. „Ja. Das ist schon was Besonderes.“ „Tut mir leid, wenn wir euer Treffen gestört haben.“, sagte Vivien kleinmütig und ignorierte Arianes abgespannten Blick in ihre Richtung. „Oh nein nein.“, sagte Jannik hastig. „Es freut mich, neue Leute kennenzulernen! Eriks Freunde sind meine Freunde.“ Vergnügt kicherte Vivien. „Wir freuen uns auch, dich kennenzulernen. Du bist sehr sympathisch!“ Sie strahlte ihn an. Jannik wurde verlegen und wagte für einen Moment nicht den Blick zu heben. „Danke. Gleichfalls.“ „Erzählst du uns von deiner Ausbildung?“, fragte Vivien mit wissbegieriger Miene und legte ihre Hand still und leise auf Justins. Darauf, dass dieser sie daraufhin beschämt anstarrte, reagierte sie nicht. Und da Justin sich nicht traute seine Hand wegzuziehen, verharrten sie in dieser Position. „Ich weiß nicht, ob euch das interessiert.“, erwiderte Jannik. „Ich fände das sehr interessant.“, sagte Ariane ermutigend. So führten sie das Gespräch mit weniger verfänglichen Themen fort.   Um Viertel nach drei entschuldigte sich Vivien. „Meine Geschwister warten.“ „Dann sollte ich mich auch auf den Weg machen.“, sagte Jannik. „Du bist doch gerade erst gekommen.“, entgegnete Erik. Jannik lächelte. „Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen. Du weißt ja, dass ich darin noch nie der Schnellste war.“   Ohne viele Worte begleitete Erik Jannik zur Bushaltestelle und spürte ein schlechtes Gewissen. Jannik hatte im Café offen über Dinge gesprochen, die ihm bestimmt nicht leicht gefallen waren. Vielleicht hatte er sich Unterstützung von ihm erhofft, hatte sich vieles von der Seele reden wollen. So wie damals, als er niemand anderen gehabt hatte. Stattdessen hatte Erik ihn den fünfen ausgesetzt, die für Jannik völlig Fremde waren. Er hätte feinfühliger sein sollen. Sie waren an der Haltestelle angekommen und warteten. Jannik richtete vorsichtig das Wort an ihn. „Wieso bist du eigentlich vom Internat gegangen?“ Erik sah ihn nur an und sagte nichts. „Gesprächig wie immer.“, scherzte Jannik. Eriks Blick glitt zu Boden, er wusste nicht, was er antworten sollte. Vielleicht kannte er die Antwort selbst nicht. Jannik bohrte nicht weiter nach, er ließ ihm seinen Freiraum, so wie er es früher schon getan hatte. Er hatte nie versucht, in Eriks Seelenwelt vorzudringen. Nach wenigen Augenblicken ergriff Jannik wieder das Wort. „Es war schön heute. Jetzt bin ich auch beruhigt.“ Fragend sah Erik ihn an. Er hatte ihm schließlich nicht viel Gelegenheit gegeben, sich auszusprechen. „Naja, ich hab mir Sorgen um dich gemacht, nachdem ich vom Internat gegangen bin.“, eröffnete Jannik ihm. „Du warst immer so einsam und verletzlich, daher hatte ich Angst, dass du es ohne mich nicht schaffst.“ Erik konnte nicht fassen, was Jannik da von sich gab. Jannik war der Schwache von ihnen gewesen! Der Feinfühlige, auf den man aufpassen musste. Nicht er! „Früher war ich ja immer da, um dich aufzuheitern. Als du mir geschrieben hast, dass du auch vom Internat gegangen bist, hab ich mir schon so meine Gedanken gemacht. Auch wegen deinem Vater.“ Erik war unfähig, etwas zu antworten. „Es freut mich, dass du jetzt so liebe Freunde hast, die dich zu schätzen wissen.“ Jannik lächelte aufrichtig. Erik fühlte sich wie erstarrt. Jannik sah nach dem Bus. Dieser bog gerade in die Straße ein. „Das ist meiner.“, sagte er. „Also dann.“ Er reichte Erik die Hand. „Vielleicht können wir uns ja mal wieder treffen, wenn ich in der Nähe bin. Würde mich freuen.“ Erik nickte nur und schüttelte ihm die Hand. „Pass auf dich auf.“, sagte Jannik noch zum Abschied und stieg dann in den Bus. Zurück blieb Erik, mit einer Wahrheit, die er gerne verdrängt hätte. Kapitel 123: [Secrets Rache] Projekt Pandora -------------------------------------------- Projekt Pandora   „Mit den Gedanken entstehen alle Dinge. Mit den Gedanken verschwinden alle Dinge.“ (Huangbo Xiyun, chinesischer Zen-Meister)   Grauen-Eminenz spürte das mittlerweile vertraute Ziehen in der Magengrube. Seit dem letzten Mal waren bereits fünf Tage vergangen. Fünf Tage, in denen Secret das Schatthenreich nicht betreten hatte. Fünf Tage, seit er den Jungen dafür bestraft hatte, dass er einen Schatthen entwendet und damit die Beschützer angegriffen hatte. Grauen-Eminenz‘ Augen schweiften hinab auf seine Hände. Es war lange her gewesen, dass er einen Menschen gezüchtigt hatte. Seine Brauen senkten sich und er wandte den Blick ab. Ein Gedanke genügte und ein Blickfenster in Secrets Zimmer öffnete sich.. Der Junge hatte sich auf sein Bett gesetzt, als warte er auf etwas oder jemanden. Grauen-Eminenz zog die Brauen noch fester zusammen. Wenn der Bengel meinte, er würde sich mit ihm vertragen, lag er falsch! Er fokussierte wieder die Unterlagen seines neuen Auftrags, die über den gesamten Tisch verteilt lagen. Verdammt! Wie sollte er sich darauf konzentrieren?! Er hasste es, dass dieser entsetzliche Bengel es schaffte, ihn völlig aus dem Konzept zu bringen! Entschieden riss er seinen Arm in die Höhe und befreite die Energiewelle, die sich in seinen Innereien zusammengebraut hatte. Die Attacke traf eine Ecke des Raums, die er genau für diesen Zweck erschaffen hatte und die Energie absorbierte. Das war besser als ständig die gesamte Einrichtung in die Luft zu jagen. Durch ein tiefes Grollen und einen kurzen Aufschrei versuchte er die Wut und Entrüstung, die noch immer in ihm brodelte, loszuwerden. Seine linke Hand legte sich schwer auf die Stelle über seinem Herzen und verharrte dort. Es gab einen Grund, warum er das alles tat, und dieser ließ keine Ablenkungen zu, und schon gar keine emotionalen Verstrickungen! Es war egal, was er dafür noch zerstören musste! Und wer darunter leiden würde! Er schloss kurz die Augen. Schwäche musste unterdrückt oder in Wut verwandelt werden. Das war schon immer der einzige Weg gewesen. Selbstbeherrscht heftete er seine Augen wieder auf die Unterlagen. Im Rahmen seiner Ausbildung zum Schatthenmeister hatte er einen Kurs über die Historie des Pandämoniums absolvieren müssen, doch die Ergebnisse seiner Recherche hatten ein ihm unbekanntes Bild gezeichnet. Davon, dass seine Schatthenmeisterorganisation selbst einmal an der Erschaffung neuer Arten Lichtloser beteiligt gewesen war, hatte niemand gesprochen. Dieser Bereich war stets der Konkurrenzvereinigung Pneuma und kleinen unabhängigen Forschungsinstituten zugeschrieben worden. Vielleicht hätte er sich denken sollen, dass man ihren Darstellungen nicht trauen konnte, aber bisher hatte es ihn nicht interessiert, wie diese Gruppierung an Irren zustande gekommen war. Der neue Auftrag ließ ihm jedoch keine andere Wahl als sich damit auseinanderzusetzen. Um 1800 war das Pandämonium in Deutschland in Folge der Welle an Geheimgesellschaften gegründet worden. Damals hatte sich die Vereinigung als eine Gruppe verstanden, die sich für übersinnliche Phänomene interessierte. Mit einer Schatthenmeistervereinigung, wie man sie heute kannte, hatte das herzlich wenig zu tun gehabt. Offenbar waren die Mitglieder damit beschäftigt gewesen, Geister und dergleichen anzurufen. Zur Zeit des Nazi-Regimes hatte sich das Pandämonium dann zum ersten Mal mit der Erschaffung von Lichtlosen beschäftigt. Ende der 1960er Jahre war so der allererste Schlagschatthen, kurz Schatthen genannt, entstanden. Die ersten Schatthen waren natürlich nicht mit denen vergleichbar, die Schatthenmeister heutzutage formen konnten. Es hatte Jahrzehnte gedauert, den Schöpfungsprozess zu revolutionieren. Von dem Erfolg der Schlagschatthen-Herstellung angestachelt, hatte es in den 1960ern innerhalb des Pandämoniums eine Abteilung gegeben, die sich eigens der Erforschung und Erschaffung weiterer Arten Lichtloser gewidmet hatte. Deren Tätigkeit war unter dem Namen Projekt Pandora zusammengefasst worden. War ja klar, dass die immer was aus der griechischen Mythologie nehmen mussten. Grauen-Eminenz stöhnte innerlich. Er hasste dieses elitäre Gehabe. Und wieso wählte man ausgerechnet eine Figur, die mit so einem schlechten Ende in Verbindung stand? Auch wenn die Bedeutung von Pan-dora ‚die Allbegabte‘ war – von pan alles/gesamt und doron Geschenk/Gabe – und damit die große Vielfalt an Möglichkeiten der Lichtlosen-Erschaffung unterstrichen werden sollte, war das doch von vorne herein ein schlechtes Omen. Wahrscheinlich wollte man mit dieser Namensgebung zusätzlich die Zugehörigkeit zum Pan-dämonium ausdrücken. Wenn man sich schon wie die Hölle nannte, hatte man wohl vor nichts mehr Respekt. Andererseits war in der Gründungszeit anscheinend mit Pan-dämonium ‚Die Gesamtheit der Dämonen‘ gemeint gewesen. Dabei galt ein Dämon, wie in der griechischen Antike, als ein Geistwesen, dessen moralische Gesinnung nicht feststand. Was auch immer. Ein Wechsel an der Spitze des Pandämoniums in den 1980ern hatte zu einem jähen Ende der Projektarbeiten geführt. Die Abteilung war von einem Tag auf den anderen eingestampft und die Beschäftigung mit neuen Lichtlosen untersagt worden. Bis auf Weiteres sollten sich alle Schatthenmeister des Pandämoniums ausschließlich mit der Verbesserung der Schlagschatthen befassen. Um exakt zu sein, alle Schatthenverweser. Zu dem damaligen Zeitpunkt hatte es das Berufsbild des Schatthenmeisters noch gar nicht gegeben. Erst mit der Etablierung der Schatthenherstellung waren die Abschlüsse Schatthengeselle und der darauf aufbauende Schatthenmeister eingeführt worden. Schatthenherstellung und Kräfteeinsatz waren von da an die Spezialisierung der Schatthenmeister geworden, während der Arbeitsbereich der Schatthenverweser auf Theorienforschung und Verwaltungsaufgaben zusammengeschrumpft war. Die Schatthenverweser von damals waren daher mit den heutigen Schatthenmeistern vergleichbar. Jedenfalls hatte der Pandämoniums-Vorstand die Beschlagnahmung der Projektergebnisse von Pandora beschlossen. Doch die beiden Projektleiter hatten Widerstand geleistet. Die Namen der beiden waren Grauen-Eminenz ein Begriff. Ernst Schneider war nach dem Auflösen seiner Abteilung in die USA geflohen, wo er ein eigenes Unternehmen gegründet hatte: Pneuma. Pneuma war heute neben dem Pandämonium die größte Schatthenmeistervereinigung. Sie war lange Zeit vornehmlich mit Experimenten an neuen Lichtlosen in Verbindung gebracht worden, wobei heute kleinere, unabhängige Unternehmen viel größere Erfolge auf diesem Gebiet verbuchen konnten. Der andere Schatthenverweser war Horst Krüger gewesen. Sein Name war weniger berühmt, hatte für Grauen-Eminenz aber eine ganz eigene Bedeutsamkeit. Grauen-Eminenz‘ Schatthenreich war unter Schatthenmeistern eine Rarität. Das Erschaffen von eigenen Dimensionen war nicht Teil der Ausbildung. Daher hatte er es sich selbst mit Hilfe eines fetten Folianten aus der Pandämoniumsbibliothek beibringen müssen. Der Verfasser war eben jener Horst Krüger gewesen. Im Nachhinein wunderte Grauen-Eminenz sich, dass das Pandämonium diesen Folianten nicht längst verbrannt hatte. Horst Krüger hatte sämtliche Forschungsergebnisse samt Aufzeichnungen über Pandora in einer von ihm erschaffenen Nebendimension verschwinden lassen. Seit jenem Tag waren diese verschollen. Was aus Horst Krüger geworden war, hatte Grauen-Eminenz nicht in Erfahrung bringen können. Nach fast vierzig Jahren sollte er nun als der einzige im Pandämonium, der zumindest die Grundlagen von Nebendimensionen verstand, diese Ergebnisse wiederfinden. Das hieß, er sollte eine Nebendimension ausfindig machen, die vor über fünfzig Jahren von einem Mann erschaffen worden war, der vermutlich längst das Zeitliche gesegnet hatte! Grauen-Eminenz stöhnte. Nicht mehr heute Nacht. Er hatte in letzter Zeit ohnehin zu wenig geschlafen. Nicht zuletzt wegen diesem Rotzbengel. Seine Augen wanderten zu dem Blickfenster, das Secrets Zimmer zeigte. Der Junge hatte sich auf das Bett gelegt. Es schien keine Gefahr von ihm auszugehen. Zumindest jetzt nicht. Grauen-Eminenz seufzte und beschloss, sich am Wochenende einen Tag freizunehmen.   Die Information, dass der Schatthenmeister das Schatthenreich verlassen hatte, blitzte in Secrets Bewusstsein auf wie eine eingehende Nachricht. Er öffnete die Augen und grinste. Nur ein Gedanke und er vollzog die Verwandlung zum Bedroher in seiner grauen Uniform.   Secret hatte keine Probleme, Grauen-Eminenz‘ Büro zu verorten, beziehungsweise das Büro, das er suchte. Er wusste, dass der Schatthenmeister mehrere dieser Räume unterhielt. Ob es daran lag, dass er ungern längere Zeit denselben Büroraum nutzte, oder ob er einfach vergaß, wo im Schatthenreich sich der Raum befand, konnte Secret nicht sagen. Er hatte sich vorgenommen, in den Raum zu gehen, in dem sich Grauen-Eminenz zuletzt aufgehalten hatte. Anwesenheit war wie ein Hauch, der von der Person ausging und der so kurz nach ihrem Weggehen noch in der Luft hing und Secret den Weg wies. Aber er hatte es nicht eilig. Er widmete sich der Umgebung, wusste sie besser zu deuten als ihr Schöpfer. Für ihn stand fest: Grauen-Eminenz war weit davon entfernt zu verstehen, was sein Schattthenreich wirklich war – ein Teil seiner Selbst. Grauen-Eminenz hatte diesen Teil einer Geburt unterzogen, einer Verstofflichung, die ihm eine gewisse Unabhängigkeit von seinem Ursprung zukommen ließ. Aber nur zu einem gewissen Grad. Die vollkommene Abspaltung war ihm wohl nicht gelungen. Dazu fehlte ihm vielleicht das Können.  Secret lauschte auf die Umgebung, auf das, was das Schatthenreich ihm zuflüsterte. Es sprach eine sehr deutliche Sprache. Nur dass der Schatthenmeister sie nicht verstand. Vielleicht weil er zu viel davon bewusst zu verstehen glaubte. Für Secret dagegen war es wie ein intuitives Bauchgefühl, etwas, das er begriff, ohne seinen Verstand dafür einsetzen zu müssen. Etwas, das so logisch war, weil es keiner Logik folgte. Secret nahm wahr, wie es ihn zu einem bestimmten Ort hinzog. Hinter einer der zahlreichen Türen des Korridors. Er folgte dem Ruf. Ein finsterer Raum empfing ihn. In seiner Schwärze schwebten weiße Buchstaben und Worte wie wandelbare Wände. Secret betrachtete sie. Die Beschützer hatten ihm nicht erzählt, was genau die Prophezeiung über sie enthielt, doch er hatte den Eindruck, dass diese Wort-Wand aus eben jenen Enthüllungen bestand. Er führte seine Hand zu den Buchstaben und beobachtete, wie diese vor seinen Fingern zurück wichen. Er nahm seine zweite Hand zu Hilfe und teilte die Buchstaben wie einen Vorhang, durch den er hindurchschritt. In der dahinterliegenden kleinen Kammer stand in wenigen Metern Entfernung etwas, das einem Rednerpult ähnelte. Secret trat näher heran und erkannte, dass es sich dabei um eine Art Übersichtstafel hinter einer Glasplatte handelte: Eine Karte von Entschaithal, auf der fünf Lichter in verschiedenen Farben leuchteten. Ein rotes, ein blaues, ein orangefarbenes, ein gelbes und ein grünes, jeweils an verschiedenen Stellen des Ortes. Das mussten die Beschützer sein. Aber da war noch ein sechstes Licht, eines dessen Farbe zwischen violett und weiß changierte. Secret glaubte auch einen goldenen Schimmer darin wahrzunehmen. Dieses Licht kam ihm vertraut vor. Er wollte sich tiefer darin versenken, als ihn etwas aufhorchen ließ. Seine Intuition zog ihn weiter. Er drehte sich um und ging den Weg zurück, durch den Wortvorhang, hinaus auf den Korridor. Sein Schritt wurde schneller. Zielgerichtet lief er auf eine bestimmte Tür weiter hinten im Gang zu und öffnete sie. Ein gut beleuchteter Raum, eine Mischung aus Werkstatt und Büro. An den Wänden standen Tische, zwei weitere in der Mitte. Über die beiden mittleren waren Unterlagen verteilt. Secrets Blick streifte die verstreuten Papiere. Er ging weiter in einen angrenzenden Nebenraum, der kleiner war und der erst hell wurde, als er ihn betrat. Hier stand ein großer Schreibtisch mit vielen Bildschirmen oder eher Blickfenstern. Auch hier gab es Ablageflächen an den Wänden. Und alles war mit Unterlagen übersät. Secret ging zur rechten Wand und nahm einige der Blätter zur Hand. Es handelte sich um Kopien aus einer Chronik. Er legte sie wieder hin und griff nach alten Fotos, die irgendwelche Männer in weißen Kitteln zeigten. Die Fotos waren mit einer Büroklammer an einen Bericht über das Projekt Pandora geheftet. Secret ließ seine Augen weiter über die Unterlagen schweifen, dann wandte er sich dem Computer zu. Ein Computer war es nicht, aber er hatte auch kein besseres Wort dafür, um die Kontrolleinheit, die auf einen Wissens-Server zugriff, zu beschreiben. Er setzte sich auf Grauen-Eminenz‘ Stuhl. Eine große Bildfläche leuchtete auf. Secret begriff, dass nun eine Authentifizierung nötig war. Er legte seine Rechte auf die Stelle, an der er sonst eine Computermaus vermutet hätte. Die dunkle Fläche wurde daraufhin von dünnen grünen Linien erleuchtet, wie ein Lesegerät. Der Bildschirm zeigte ein rotes Symbol, das ihm anzeigte, dass der Computer ihn nicht akzeptierte. Secret zog kurzerhand seine Rechte zurück und legte stattdessen seine linke Hand auf. Er beobachtete, was geschah. Erneut vollzog sich der Scan-Vorgang der Tisch-Oberfläche. Dann spürte er es. Die schwarzen Adern, die sonst längst nicht mehr sichtbar waren, traten an seinem linken Oberarm hervor. Durch den Schnitt seiner Kleidung, der seinen linken Arm freiließ, konnte er das Spektakel fasziniert beobachten. Etwas schoss wie violette Blitze von der Narbe aus seinen Arm entlang in seine linke Hand hinab und ging über in die grünen Linien des Scanners, die sich daraufhin in dasselbe Violett-Lila färbten. Ein rundes Symbol in Violett flammte auf dem Bildschirm auf, drehte sich und gab die Benutzeroberfläche für ihn frei. Secret lächelte. Mehrere Dateien waren noch geöffnet. Grauen-Eminenz war offensichtlich nicht davon ausgegangen, dass es jemandem gelingen würde, in sein Schatthenreich einzudringen und dann auch noch die Authentifizierung zu überlisten. Secret schnaubte hämisch. Das hatte der Schatthenmeister nun davon, ihm nicht nur Wissen über das Schatthenreich, sondern wohl auch etwas von sich selbst eingepflanzt zu haben. Ein Grinsen grub sich in seine Mundwinkel. Ungewollt Blutsbrüder. Er besah sich die Dateien genauer. Es handelte sich um Zusammenfassungen und Gedanken, die Grauen-Eminenz aufgeschrieben hatte. Aus den Aufzeichnungen konnte Secret herauslesen, dass Grauen-Eminenz die Arbeit daran als Auftrag erhalten hatte. Auftrag? War der Schatthenmeister jetzt unter die Dienstleister gegangen? Secret wusste nichts über die Hintergründe des Schatthenmeisters oder Schatthenmeisterorganisationen. Aber wenn der Schatthenmeister einen Auftrag hatte, musste das bedeuten, dass es Ärger geben würde, wenn etwas schief ging. Er grinste.   Secret vertiefte sich in Grauen-Eminenz‘ Zusammenfassungen, durchstöberte die Dateien auf seinem Rechner und sah sich die Unterlagen an, die überall verteilt lagen. Es gab also mehr als nur einen Schatthenmeister. Irgendwie war des ernüchternd. Er hatte glauben wollen, dass der Schatthenmeister eine mächtige Schlüsselfigur war, die untrennbar mit dem Schicksal der Beschützer zusammenhing, und nicht nur der unbedeutende Angestellte einer Schatthenmeisterorganisation. Dahin war die romantische Idee einer epischen Feindschaft. Nach dieser Ernüchterung hatte er jedoch Gefallen an dem Rätsel um die verschollene Nebendimension gefunden. Diese Aufgabe, die der Schatthenmeister offensichtlich nicht zu lösen vermochte, bot ihm die ideale Möglichkeit, klarzustellen, wer hier der wahre Meister war. Die Verwandtschaft von Seelenwelten, dem Schatthenreich und Nebendimensionen schien Grauen-Eminenz nicht vertraut zu sein, denn in seinen Aufschrieben war nichts davon zu finden. Sich auf seinen sechsten Sinn verlassend, ließ Secret sich nochmals die Informationen durch den Kopf gehen. Destiny konnte in Seelenwelten eindringen. Seelenwelten waren nicht von der Person getrennt, sie hatten keinen Wirklichkeitswert jenseits der Manifestation in der Person, der sie angehörte. Grauen-Eminenz’ Schatthenreich dagegen war keine bloße Seelenwelt, sondern eine eigene Dimension, aber keine, die komplett von ihrem Erschaffer losgelöst war. Wenn die verschollene Nebendimension jenseits des Ablebens ihres Schöpfers weiterexistierte, so musste sie eine Unabhängigkeit erreicht haben, die der des Schatthenreichs weit überlegen war. Doch wie war eine solche Dimension dann zugänglich? Destiny hatte Kräfte, um eine Seelenwelt sicht- und erfahrbar zu machen. Ob Seelenwelten jenseits dessen überhaupt existierten, konnte Secret nicht mit Sicherheit sagen. Eventuell erzeugte Destiny nur eine mit allen Sinnen erfahrbare Illusion, die die Hirnströme und Schwingungen der Person zu einer Seelenwelt verdichtete. Für die Lösung dieses Rätsels war das nicht weiter von Bedeutung. Secret wandte sich dem nächsten Punkt zu. Grauen-Eminenz verband sein Schatthenreich durch Portale mit der realen Welt. Diese Portale musste er willentlich erschaffen und musste sie öffnen. Wenn das Portal für jeden offen gewesen wäre, wären sonst noch versehentlich Leute in sein Schatthenreich gestolpert. Dementsprechend ging Secret davon aus, dass seine Wunde auch hier der Schlüssel gewesen war, der ihm den Zugang durch die Portale ermöglicht hatte. Die Wunde wiederum war eine Verbindung zu Grauen-Eminenz dem Erschaffer des Schatthenreichs. Somit war der Schöpfer das ausschlaggebende Element. Das hieß: Eine Seelenwelt war an eine Person gebunden, sowohl was ihren Standort, als auch ihren Zugang betraf. Der Standort des Schatthenreichs war nicht mehr auf diese Weise an einen Menschen geknüpft, der Zugang jedoch schon. Wenn man sich die Entwicklung von einer Seelenwelt zu einer Nebendimension auf einer Linie dachte, dann nahm der Grad der Selbstständigkeit auf dieser zu. Dementsprechend ging Secret davon aus, dass sowohl die Lokalisation als auch der Zugang zu der verschollenen Nebendimension nicht personengebunden waren. Es blieb die Frage, wie man sie aufspürte und betreten konnte. Wenn eine Nebendimension völlig unabhängig war, wo befand sie sich dann? Schwirrte sie in den unendlichen Weiten des Alls wie Weltraumschrott, den jemand zurückgelassen hatte? Aber auch Weltraumschrott war an die Naturgesetze gebunden, die im Weltraum vorherrschten, er bewegte sich auf geregelten Bahnen. Gab es solche Gesetze auch für Seelenwelten und Nebendimensionen? Es handelte sich dabei nicht um physikalisch messbare Entitäten, nichts für die reale Welt Existierendes, aber doch um etwas, das in sie eingebettet war. Secret nahm sich einen Moment Zeit, um seinen Kopf frei zu machen. Er wusste, dass sich dann alles von selbst zu einem Ganzen verknüpfen würde. In einen vollen Geist konnten keine neuen Gedanken kommen, deshalb machte er sich leer. Wie erwartet kamen ihm weitere Eingebungen. Seelenwelten und Dimensionen waren vergleichbar mit Gedanken. Gedanken waren nicht messbar, nur die elektrischen Ströme und die Arbeit des Gehirns konnten sichtbar gemacht werden, aber nicht der Gedanke selbst. Wenn Nebendimensionen wie Gedanken waren, wie machte man einen Gedanken ausfindig? Secret lauschte weiter seinen Eingebungen. Gedanken schlossen sich in Gruppen zusammen, die nicht stetig waren, sondern sich ändern konnten. Andererseits, existierten Gedanken überhaupt, bevor sie jemand dachte? Wurden sie nicht erst zu Gedanken, wenn bestimmte Komponenten zusammenkamen? Vielleicht kam es einem dann nur so vor, als hätte man den Gedanken schon einmal gehabt, weil der letzte die gleichen Eigenschaften gehabt hatte. So wie Erinnerungen vielmehr kreative Neuschöpfungen als präzise Wiedergaben der Vergangenheit waren. Wenn nun diese Nebendimension in Wirklichkeit nur aus bestimmten Eigenschaften oder Informationen bestand, etwa wie eine DNA und sie sich erst entfaltete, wenn sie den Befehl dazu bekam? Was war dann der Befehl? Bei Gedanken war es der Wille und die unbewussten Überzeugungen des Denkenden. Doch eine Nebendimension war unabhängig. Wo würde sich eine heimatlose Ansammlung an Informationen, die zu etwas geformt werden konnte, aufhalten? Wenn Gedanken als Information gespeichert wurden, dann würden diese sich in Gruppen aufhalten, dort wo später Gedanken vorzufinden waren. Was wenn Nebendimesionen einander anzogen? War dann das Schatthenreich der Schlüssel zum Eintritt in die gesuchte Dimension? Das Schatthenreich war schließlich eine Nebendimension – wenn auch mit nicht vollständig ausgeprägter Selbständigkeit. Außerdem ergab das noch aus anderen Gründen Sinn. Der Erschaffer der verschollenen Nebendimension hatte diese vor dem Zugriff des Pandämoniums schützen wollen. Soweit Secret aus den Unterlagen entnommen hatte, war dieser Horst Krüger seiner Zeit der einzige im Pandämonium gewesen, der Nebendimensionen erschaffen konnte. Daher war es ein zusätzlicher Schutz, den Zugang zu der unabhängigen Nebendimension nur durch eine personenbezogene Dimension wie Grauen-Eminenz‘ Schatthenreich zu gewähren. Das bedeutete dann nämlich, dass der Zugang zu der verschollenen Dimension unmöglich war, bis zu dem Tag, an dem wieder eine personenbezogene Nebendimension existierte. Das hieß, vom Schatthenreich aus sollte ein Portalzugang in die Nebendimension möglich sein. Doch durch welchen Befehl? Das Portal musste sich erst mit dem Informationsklumpen der Nebendimension verbinden, damit sich diese entfaltete. Secret dachte darüber nach und entschloss sich dann, es einfach auszuprobieren. Er brauchte nur ein Portal, dessen Verknüpfung nicht länger bestand. Am Rechner suchte er nach Informationen zu den vorhandenen Portalen. Zum Glück verschlüsselte Grauen-Eminenz wirklich keine einzige Datei und schrieb sich zudem alles auf – wohl um zu verhindern, dass er vergaß, wo sich die Portale befanden und wo sie hinführten. Secret lächelte.  Zwar konnte er Seelenwelten nicht auf die Weise beeinflussen wie Destiny, aber seine Narbe verband ihn unabänderlich mit Grauen-Eminenz und der war in der Lage, Nebendimensionen zu erschaffen. Wie schwer konnte das also sein? Kapitel 124: Schnitzeljagd -------------------------- Schnitzeljagd   „Suche das Gute – erwarte das Böse.“ (Deutsches Sprichwort)   Kommt dorthin, wo wir uns das erste Mal begegnet sind.   Die anderen schauten über Viviens Schultern auf das Stück Papier. In der Erwartung, Erik sei endlich eingetroffen, um mit ihnen Viviens Geburtstag zu feiern, waren sie dem Klingeln an der Tür gefolgt. Davor hatten sie jedoch nur diesen Zettel vorgefunden. Von Erik war keine Spur. „Was soll‘n das heißen?“, stieß Vitali aus. „Denkt ihr…“, setzte Ariane an. Vivien nickte. „Erik hat uns nichts davon erzählt.“, bestätigte Serena. Justin schwieg, doch sein Blick wurde hart. Lächelnd wandte sich Vivien zu ihnen. „Wir haben ja auch vergessen, ihn einzuladen.“ „Hä?“, machte Vitali. Vivien deutete auf den Zettel. „Du hast doch nicht ernsthaft vor“, begann Ariane. Vivien strahlte. „Wieso nicht?“ „Weil es eine Falle ist!“, schimpfte Serena lautstark. Vivien machte eine beschwichtigende Geste. „Ach, er will nur spielen.“ Justin sah sie ernst an. „Vivien, das ist kein Spiel.“ „Für ihn schon.“, antwortete Vivien leichthin. „Für uns aber nicht.“, beharrte Justin. Vitalis Stimme brach in das Gespräch ein. „Was labert ihr!“ Serena stöhnte. „Der Zettel ist von Secret! Wer sollte ihn sonst hinlegen? Und Erik ist nicht aufgetaucht.“ „Mann, das hab ich auch kapiert!“, rief Vitali, offenbar pikiert, dass sie ihn für so unterbelichtet hielt. „Aber was wollen wir jetzt machen?“ Serena senkte den Blick und schwieg. Ariane teilte ihre Gedanken. „Es würde Erik nicht ähnlich sehen, so etwas vorzubereiten. Außerdem war unser erstes Treffen mit ihm in der Schule.“ Serena sah die anderen an. „Unser erstes Treffen mit Secret -“ Vitali beendete ihren Gedankengang, ehe sie es tun konnte. „Im Schatthenreich.“ „Aber meint er das?“, fragte Ariane. „Er erinnert sich nicht an die Geschehnisse im Schatthenreich.“ „Er beharrt darauf, davon zu wissen.“, antwortete Justin mit finsterer Miene. „Äh.“ Vitali hob kurz die Hand. „Wie sollen wir denn dahin kommen?“ „Wir gehen nicht dorthin.“, verkündete Justin mit Nachdruck. Vivien zog einen Schmollmund. „Es ist doch mein Geburtstag!“ „Vivien.“, sagte Justin streng. „Wir werden nicht versuchen, ins Schatthenreich zu kommen, um dort Secret in die Falle zu gehen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Okay.“ Irritiert sah Justin sie an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihm so einfach nachgeben würde. Vivien legte den Kopf etwas schräg und erwiderte seinen Blick. „Was ist?“ „Nichts.“, entgegnete er hastig. Ariane meldete sich zu Wort. „Aber wenn Secret allein im Schatthenreich ist, was passiert dann mit ihm?“ Vitali brummte. „Wenn er weiß, wie man da reinkommt, wird er ja wohl auch alleine wieder raus finden.“ Arianes Stirn legte sich in Sorgenfalten. „Er wird nicht von dort weggehen, bevor wir dort auftauchen.“ „Das ist es ja!“, beschwerte sich Vitali. „Er geht raus, sobald wir drin sind!“ „Das wissen wir nicht.“, sagte Ariane. „Es passt nicht zu ihm, einfach zu verschwinden.“ „Achja?“ Vitali machte keinen sehr überzeugten Eindruck. Er verzog den Mund. „Das ist ’ne Schnapsidee.“ Eine Zimmertür hinter ihnen öffnete sich und Viviens Geschwister traten mit Ewigkeit zu ihnen. „Warum steht ihr hier?“, wollte Ellen, Viviens kleine Schwester, wissen. Vivien sah zu Justin, als müsse er das erklären. Justin war davon erneut verwirrt. Da Viviens Geschwister nun aber ihn ansahen, versuchte er sich an einer Antwort. „Wir … müssen etwas besprechen.“, sagte er etwas unbeholfen. Seine Aussage brachte die beiden jedoch nicht davon ab, ihn anzustarren. Scheinbar war das für sie kein Grund, sich wieder zu entfernen. „Ähm, alleine.“, fügte er stockend an. Nun blickten Kai und Ellen zu Vivien. „Wartet ihr drinnen? Ich komme gleich und erkläre es euch.“ Ihre Geschwister nickten und taten wie befohlen. Ewigkeit folgte ihnen. „Ewigkeit, du nicht.“, sagte Justin, nun wieder mit festerer Stimme. Das Schmetterlingsmädchen kam zu ihnen geschwebt. Justin wartete bis Kai und Ellen außer Hörweite waren und wandte sich dann an Ewigkeit. „Kannst du dich zu Secret teleportieren?“ Ariane erhob Einspruch. „Was ist, wenn sie nicht mehr zurück kann?“ „Das könnte ich dich fragen!“ gab Justin scharf zurück. „Was ist, wenn wir nicht mehr zurück können?“, Ariane schwieg. Justin klang schroff. „Deine Schuldgefühle Erik gegenüber in allen Ehren, aber ich kann deswegen nicht das ganze Team in Gefahr bringen.“ Ariane zuckte unter seiner Strafpredigt zusammen. Serena erhob die Stimme. „Das hast nicht du zu entscheiden!“ Mit entschlossenem Blick fixierte sie Justin. „Jeder von uns entscheidet selbst, was er tut.“ Justin sah sie stumm an, doch an der Festigkeit in Serenas Blick änderte sich nichts. Er schloss kurz die Augen. „Du weißt genau, ich würde euch nie alleine gehen lassen.“, sagte er in ruhigerem Ton. „Das ist deine Sache.“, erwiderte Serena unbeugsam. „Ähm.“, unterbrach Vitali. „Wollten wir nicht Ewigkeit schicken?“ Ewigkeit horchte auf, als warte sie nur auf Befehle. Serena wandte sich an sie. „Kannst du dich zu Secret teleportieren? Aber sei vorsichtig und komm sofort hierher zurück.“ Ewigkeit salutierte und … stand weiter in der Luft. Sie schaute kurz verdutzt, dann kniff sie die Augen zusammen, zog die Schultern etwas an und ballte die Hände zu Fäusten. Nichts geschah. Sie wiederholte die Prozedur. Schließlich zog sie ein geradezu verzweifeltes Gesicht. „Was ist?“, fragte Ariane alarmiert. „Ich kann nicht.“ „Wie, du kannst nicht?“, wollte Vitali wissen. „Es geht nicht.“, erklärte Ewigkeit mit mitleiderregender Miene. „Ist ihm was passiert?“, rief Ariane aufgelöst. Ewigkeit blinzelte. „Ich kann nicht zu ihm.“ Dann verschwand sie plötzlich und erschien im gleichen Moment auf Justins Schulter. Sie verweilte dort nicht, sondern tauchte auf Vitalis Kopf auf, anschließend hinter Serena und schließlich vor Arianes Nase. Wieder blinzelte sie verwirrt.. Die Sorge stand Ariane ins Gesicht geschrieben. „Ewigkeit kann wohl nicht ins Schatthenreich.“, meinte Vivien unbesorgt.  „Dann ist er wirklich dort.“, sagte Justin tonlos. „Ewigkeit, teleportier dich zum Schatthenmeister.“, befahl Serena. Ariane riss den Kopf zu ihr herum. „Bist du verrückt geworden?“ „Er kann sie nicht sehen.“, erinnerte Serena sie. „Trotzdem.“ Serena sah Ariane an. „Wir müssen doch rausfinden, ob das wirklich bedeutet, dass Secret im Schatthenreich ist oder etwas anderes.“ Ewigkeit stand einen Moment reglos in der Luft. Dann zog sie jäh den Kopf ein. „Was ist?“, fragte Serena. „Ich… möchte nicht.“, presste Ewigkeit hervor. Serena stockte. „Wieso nicht?“, entgegnete Vitali taktlos. Ewigkeit blickte betroffen zu Boden. „Wenn sie nicht will, dann muss sie nicht.“, lenkte Serena ein. „Hä? Aber wieso nicht?“, forderte Vitali zu wissen. Ewigkeit ergriff mit beiden Händen den Anhänger in der Mitte ihrer Brust, als könne er ihr Halt geben. Ihre Augen waren noch immer zu Boden gerichtet. „Hast du eine Vorahnung?“, erkundigte sich Ariane sachte. Ewigkeit sah sie an, als wisse sie die Antwort selbst nicht. Justin seufzte und fasste sich an die Stirn. Vivien wandte sich an die anderen. „Was wollt ihr tun?“ Vitali verschränkte die Arme vor der Brust. „Soll er doch im Schatthenreich warten, bis er schwarz wird.“ „Dann wird er mit ziemlich übler Laune hier auftauchen.“, gab Ariane zu bedenken. „Der Zettel zeigt doch: Er weiß, dass wir alle hier sind.“ Serena stöhnte. „Wieso müssen wir eigentlich ständig eine Riesendiskussion darüber haben, was wir jetzt machen? Am Schluss gehen wir ja doch, um ihn von Dummheiten abzuhalten!“ „Vielleicht liegt genau da der Fehler.“, warf Justin ein. „Wir können nicht auf ihn aufpassen, als wäre er ein kleines Kind.“ „Er ist einer von uns!“, schrie Serena. „Und das gibt ihm das Recht, zu tun und zu lassen, was er will?“, fragte Justin erbost. „Du weißt, er ist nicht er selbst.“, antwortete Ariane in beschwichtigendem Ton. Justin stieß die Luft aus. Vitali machte eine lässige Geste. „Wenn er hier auftaucht, müssen wir schon nicht ins Schatthenreich.“ Justin starrte zu Boden. „Er kann nur so mit uns spielen, weil er weiß, dass wir das mitmachen.“ Vivien richtete das Wort an ihn. „Was ist die Alternative?“ „Warten.“, meinte Vitali. Serena starrte ihn ungläubig an. „Ich kann nicht fassen, dass ausgerechnet du Warten vorschlägst!“ „Ich auch nicht.“, gestand Vitali, als wäre er davon selbst schockiert. „Justin ist laut, Vivien ist still, da stimmt doch was nicht!“ Er riss die Hände an den Kopf. „Secret macht irgendwas mit unseren Hirnen!“ „Okay, du bist der Alte.“, kommentierte Serena ernüchtert. Justin legte derweil seinen Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Vivien wartete. Justin sah zu ihr und schüttelte den Kopf, als wolle er die Situation nicht wahrhaben. „Wir können nicht ins Schatthenreich.“ Vitali teilte seine Überlegungen. „Hm, wenn Secret will, dass wir alle zusammen zu ihm kommen, sollten wir vielleicht gar nicht alle zusammen sein.“ Serena hatte Einwände. „Du weißt, was er gemacht hat, als er bei Ariane aufgetaucht ist. Er wird immer einen Weg finden, uns zu zwingen. Und irgendwann wird er nicht mehr mit uns spielen, sondern ernst machen. Das letzte Mal hatte Vivien ihn fast so weit. Wenn wir -“ „Das wissen wir nicht.“, unterbrach Justin sie grob. „Wir haben keine Ahnung, wie weit das gegangen wäre. Secret ist gefährlich.“ „Ja, und deshalb sollten wir ihn nicht wütend machen.“, entgegnete Serena. „Also willst du ins Schatthenreich?“, wollte Justin von ihr wissen. Serena holte Atem. „Natürlich nicht!“ Sie hielt kurz inne. „Aber wir wissen noch nicht einmal, ob er wirklich dort ist. Genauso wenig wissen wir, wie man ins Schatthenreich kommt.“ „Die Baustelle.“, sagte Ariane. „Die Allpträume sind auch dort aufgetaucht. Dort ist der Eingang zum Schatthenreich.“ „Wir könnten uns dort umsehen.“, schlug Vivien vor. „Und was dann?“, forderte Justin zu wissen. „Secret wird es uns wissen lassen.“, antwortete Vivien. Justin zog die Augenbrauen fragend zusammen. „Er wird sicherstellen, dass wir zu ihm finden. Davon bin ich überzeugt.“, erklärte Vivien. Justin sah ihr in die Augen. „Vivien, du musst mir versprechen, dass wir nicht ins Schatthenreich gehen.“ Vivien hob die Augenbrauen. „Denkst du, ich will da noch mal hin?“ „Ich denke, für Erik würdest du alles tun.“, erwiderte Justin. „Ich würde alles tun für das, was ich für richtig halte.“, korrigierte Vivien und ergänzte: „Genau wie du.“ „Nur dass wir nicht immer dasselbe für richtig halten.“, entgegnete Justin. Vivien lächelte. „Ich glaube, das tun wir schon. Wir haben nur andere Ansichten, wie man es erreicht.“ Sie wandte sich an die anderen: „Sind alle einverstanden?“ „Also wie jetzt?“, hakte Vitali nach. „Wir gehen dahin, schauen, ob er da ist, und wenn nicht, gehen wir wieder. Ja? Also wir gehen nicht ins Schatthenreich.“ „Wir gehen hin, zeigen unseren guten Willen, schauen, was Secret für uns vorbereitet hat und kommen dann wieder hierher.“, antwortete Vivien. „Wir gehen nicht ins Schatthenreich.“ „Okay, kapiert.“, sagte Vitali. „Einverstanden?“, fragte Vivien nochmals. Die anderen nickten.   In den vergangenen Wochen waren die Bauarbeiten zügig vorangegangen, sodass auf dem Platz neben der Finster GmbH nun ein Rohbau emporragte. Dort, wo zukünftig die Fenster sein sollten, klafften Löcher wie leere Augenhöhlen. Es sah alles andere als einladend aus und der kalte Wind ließ die fünf schaudern. „Und wie sollen wir das jetzt machen?“, fragte Vitali. Ariane sah sich um. „Man sollte uns besser nicht dabei sehen, wie wir da hinein gehen.“ Serena nickte. Das würde ihnen sonst nur Ärger einbringen. „Ich kann auch allein reingehen.“, schlug Vitali vor. „Und allein auf Secret treffen?“, platzte es aus Serena. „Ganz sicher nicht!“ „Ich kann ja abhauen.“, erwiderte Vitali. Serena wandte sich an Ewigkeit. „Kannst du dich da drin mal umsehen?“ Die Kleine nickte. „Und was bringt das?“, wollte Vitali wissen. „Wenn Secret nicht drin ist, brauchen wir auch nicht reingehen.“, erklärte Serena. Mit einem zustimmenden Geräusch signalisierte Vitali, dass das einleuchtend klang. Vivien meldete sich zu Wort. „Wir könnten auch einfach in eine verlassene Ecke gehen, uns dort unsichtbar machen und so reingehen.“ „Was soll das bringen?“, fragte Serena. Vivien erläuterte: „Ich denke, dass Secret uns einen Hinweis hinterlassen hat und Ewigkeit würde ihn vielleicht nicht erkennen.“ „Da drin wird nicht besonders hell sein.“, sagte Serena mit Blick auf den bedeckten Himmel. „Ich denke eher, dass Secret uns da drin auflauert.“ „Dann müssen wir ja eh rein.“, meinte Vivien. Serena seufzte. „Vielleicht will er sich für das letzte Mal rächen.“ Vivien lächelte aufmunternd. „Das wissen wir erst, wenn wir ihm gegenüber stehen. Wenn wir unseren guten Willen zeigen, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als darauf zu reagieren. Wenn wir aber davon ausgehen, dass er uns angreift, wird er das merken und entsprechend handeln.“ Justins Augenbrauen senkten sich zu einer bedrückt-sorgenvollen Miene. „Du willst weiterhin versuchen, dich mit ihm anzufreunden.“ „Im Kampf haben wir keine Chance.“, entgegnete Vivien ungeniert. „Also bemühen wir uns um Frieden.“, schlussfolgerte Justin. Vivien nickte erfreut. „Nur ungünstig, wenn er das nicht will.“, fügte Justin an und blickte zurück auf den Rohbau. „Wird schon.“, sagte Vivien in sanftem Ton. Doch angesichts seiner starren Miene schob sie das Bedürfnis, seine Hand zu berühren, hastig beiseite. „Na gut.“, sprach Justin auffordernd. „Wir verwandeln uns, machen uns unsichtbar und gehen rein.“   Im Inneren des Gebäudes angekommen, entschieden sie, die Unsichtbarkeit aufzugeben. Es war schon schwer genug gewesen, unsichtbar bis hierher zu kommen. Ständig waren sie aneinandergestoßen. Sie stellten fest, dass bisher weder Türen noch Treppen eingebaut waren. Über ihren Köpfen klaffte ein Loch, das in den ersten Stock führte, auf dem Boden eines, das in den Keller hinab blicken ließ. Change ging zu dem Loch im Boden. „Secret!“, rief er lautstark. „Wir sind daaa!“ Desire versuchte ihn dazu zu bewegen, weniger laut zu sein. „Ich glaube nicht, dass er darauf reagiert.“ „Der soll gefälligst herkommen. Brauchen ihn ja nicht auch noch suchen müssen.“, meckerte Change. „Im Gegensatz zu dir kann er nicht fliegen.“, sagte Destiny kühl. „Ha!“, machte Change triumphierend. „Lasst uns hier lang gehen.“, entschied Trust. Die anderen folgten ihm weiter ins Innere des Gebäudes. Hier wurde es dunkler. Ewigkeits Schein durchschnitt die Düsternis. Unite streckte die Arme aus und beschwor ihre Kräfte, um ihnen eine weitere Lichtquelle zu bieten. „Könnte Secret das nicht als Angriff fehldeuten?“, fragte Desire. „Nicht bei mir.“, lachte Unite heiter und tänzelte voran. Desire hätte gerne ihren Optimismus besessen. Ewigkeit flog flink voraus und entfernte sich weiter von ihnen. Die fünf gelangten in einen weiteren großen Raum in der Mitte des Gebäudes. Noch immer keine Spur von Secret. Ewigkeit flog in den nächsten Raum. Sie folgten ihr, Unite voran. Plötzlich war Unites Licht verschwunden. „Unite!“, schrie Trust und rannte ihr hinterher, doch kam er nicht weit. Licht blendete ihn. Irritiert blinzelte er. Er fand sich inmitten eines weißgrauen Raumes wieder, an dessen Ende sich eine weißgestrichene Tür befand, Unite stand direkt vor ihm. Geistesgegenwärtig drehte er sich nach den anderen um. Hinter Change, Destiny und Desire war nicht der dunkle Gebäudeabschnitt zu sehen, den sie soeben durchquert hatten. Es war, als wären sie direkt durch eine Wand hindurchgegangen. „Leute…“, begann Change. Seiner Stimme war die innere Unruhe, die sie alle befiel, anzuhören. Auch die anderen begriffen intuitiv, wo sie waren. Das bedrückend-einengende Gefühl der Ohnmacht holte sie ein, als durchwirke es die gesamte Atmosphäre dieses Ortes. Wie damals. „Bitte sagt, dass das nicht wahr ist.“, flüsterte Destiny. Unite antwortete nicht, sondern tat ein paar Schritte nach vorn. Sie hatte etwas am Boden entdeckt und hob einen Zettel auf, den sie anschließend den anderen hinhielt. In großer Lettern stand darauf: WILLKOMMEN IM SPIEL! Ehe einer von ihnen etwas sagen konnte, ertönte eine gefährlich grollende Männerstimme: „Keine Bewegung!“ Im gleichen Moment sahen sie sich dem Schatthenmeister gegenüber. Kapitel 125: In den Fängen des Schatthenmeisters ------------------------------------------------ In den Fängen des Schatthenmeisters   „Wer zu fangen glaubte, wird selbst gefangen.“ (Jean de La Fontaine, französischer Fabeldichter und Novellist)   Seine Auserwählten hatten allesamt ihre Hände erhoben, als bedrohe er sie mit einer Schusswaffe statt ihnen nur seine Rechte entgegenzustrecken. Zwar war sein Arm ein ebenso gefährliches Tötungsinstrument, dennoch sah die Reaktion albern aus. Von den Blicken der fünf her zu urteilen, hatten sie nicht damit gerechnet, sich ihm gegenüberzusehen. „Wo ist Secret?“, forderte Grauen-Eminenz erbost zu wissen. Die fünf starrten ihn verdutzt an. Das kleinste der Mädchen nahm die Hände herunter. „Eigentlich wollten wir das von dir wissen.“ Sie verwies auf einen Zettel in ihrer Hand, auf dem ‚Willkommen im Spiel‘ stand. „Secret hat uns eingeladen.“, eröffnete sie ihm fröhlich. Grauen-Eminenz gaffte sie fassungslos an. War das ein Scherz? Der Terrorzwerg wirkte tatsächlich so unbekümmert, als komme sie zu Kaffee und Kuchen vorbei. Das durfte doch nicht wahr sein! Dieser Bengel konnte doch nicht ungefragt Freunde in sein Schatthenreich einladen! Was dachte der sich? Das war doch kein Spielplatz!!! Reflexartig riss er seine Linke an seine Stirn, ein unerträglicher Schmerz schoss durch seinen Schädel, der ihn fast aufjaulen ließ.   Die fünf sahen mit an, wie sich der Schatthenmeister vor Pein krümmte. Hilflos warfen sie einander Blicke zu. Sollten sie die Gelegenheit nutzen und ihn angreifen? Ehe sie sich darauf verständigen konnten, hatte sich der Schatthenmeister wieder gefangen und bedrohte sie erneut mit seinem ausgestreckten Arm. Er stieß einen unschönen Fluch aus. „Ihr tut jetzt genau was ich euch sage!“ Unite ließ sich weiterhin nicht aus der Ruhe bringen. „Eigentlich bist du uns noch was schuldig, weil wir dir mit den Allpträumen geholfen haben.“ Die anderen starrten sie ebenso ungläubig an wie Grauen-Eminenz. „Ich bin der Bösewicht!“ Unite blieb gelassen: „Ja, aber ein guter Bösewicht!“ Grauen-Eminenz zog eine Grimasse und deutete ein Kopfschütteln an. „Ihr könnt doch nicht einfach hier herkommen und erwarten, dass ich euch schlicht wieder gehen lasse!“ „Warum nicht?“, fragte Unite gelassen. „Weil man das nicht so macht!“, rief er geradezu entsetzt über diese Unkenntnis gängiger Konventionen für die Held-Bösewicht-Beziehung. Desire kam Unite zu Hilfe. „Man sollte nicht immer in solchen Klischees denken.“ Ihre Stimme klang deutlich unsicherer als sonst. Destiny konnte nicht länger an sich halten: „Ihr versucht gerade den Bösewicht davon zu überzeugen, dass er uns gehen lässt. Seid ihr noch ganz dicht?!“ „Danke! Wenigstens eine denkt mit.“, rief Grauen-Eminenz und unterstrich seine Aussage mit einer präsentierenden Geste in ihre Richtung. „Halt die Klappe!“, gab Destiny patzig zurück. Change wandte sich in künstlichem Ernst an sie: „Tiny, du wirst doch nicht den Feind böse machen wollen. Das ist echt unprofessionell.“ Destiny funkelte ihn an. Unite ergriff erneut das Wort. „Wenn du Secret suchst und wir Secret suchen, könnten wir doch einfach zusammenarbeiten!“ Destiny schüttelte entschieden den Kopf. Grauen-Eminenz schaute entgeistert, als zweifle er Unites Realitätswahrnehmung an. Von einer Sekunde auf die andere verzerrte sich sein Gesichtsausdruck qualvoll, ohne dass die fünf eine Ursache dafür hätten ausmachen können. Der Anfall ging so schnell wie er gekommen war. Mühsam beherrscht und mit immer noch verkrampfter Miene fixierte er sie. „Ihr tut, was ich euch sage“, befahl er, „und ich bringe euch zu Secret.“ „Er weiß doch gar nicht, wo er ist!“, schimpfte Destiny an die anderen gewandt. „Wenn –“ Grauen-Eminenz biss angesichts einer weiteren Schmerzwelle abermals die Zähne zusammen. „Wenn er sich im Schatthenreich aufhält, kann ich ihn orten.“ Destiny widersprach vehement. „Das hätte er doch eben schon tun können!“ „Das könnte ich auch!“, rief Grauen-Eminenz aufgebracht. „Wenn-“ „Wenn du kein Kopfweh mehr hättest.“, mutmaßte Unite lächelnd. Grauen-Eminenz stöhnte gereizt. Destiny machte ihrem Unwillen lautstark Luft: „Wir werden ganz sicher nicht machen, was der Böse uns befiehlt!“ Auch Trusts Miene wirkte ablehnend. „Wir lassen uns nicht für irgendwelche Machenschaften missbrauchen.“, stellte Desire klar. Grauen-Eminenz wirkte genervt, als fände er ihr Verhalten melodramatisch. Hatte er gerade die Augen verdreht? Unite hakte nach. „Also du willst Secret auch finden, aber etwas hält dich davon ab. Richtig?“ Grauen-Eminenz bedachte sie mit einem finsteren Blick. Unite wandte sich ohne Umschweife an die anderen. „Ich sollte bei ihm bleiben.“ „Was?!“, stieß Destiny aus. „Es scheint ihm wirklich schlecht zu gehen. Da sollten wir ihn nicht alleine lassen.“, meinte Unite wie selbstverständlich. „Bist du total übergeschnappt?“, schrie Destiny heftig. „Dem geht es nicht schlecht! Und wenn, kann uns das auch egal sein!“ „Wenn ich bei ihm bleibe, kann ich auch sichergehen, dass er uns nicht hinterrücks angreift.“, erklärte Unite, als wäre nichts weiter dabei. „Er könnte dich genauso gut als Geisel nehmen!“, wetterte Destiny. Unite zuckte mit den Schultern. „Wir sind in seinem Reich. Das könnte er so oder so.“ „Sehr richtig.“, stimmte Grauen-Eminenz ihr zu. „Halt die Klappe!“, giftete Destiny ihn an. Change tippte ihr auf die Schulter. „Du solltest wirklich aufhören, ihn anzuschreien.“ Unite drehte sich zu Trust neben ihr. Sein Blick war hart und unbeugsam. ♪ So kann ich vielleicht mehr darüber herausfinden, wo Secret ist. Sie war davon ausgegangen, dass die Telepathie auch im Schatthenreich funktionierte. Trust antwortete nur mit deutlichem Argwohn im Blick. Er war dagegen. ♪ Vertraust du mir? Seine Kiefermuskulatur verkrampfte sich und seine Augenbrauen zogen sich noch fester zusammen, als sei er über ihre Worte verärgert. Flehentlich sah sie ihm in die Augen. Er atmete aus. Sorge wurde in seiner Mimik lesbar. Unite überwand den Abstand zwischen ihnen und schlang ihre Arme um seine Brust. Weder gab er ihr eine telepathische Antwort, noch erwiderte er ihre Umarmung. Dennoch wusste sie, dass er ihr zuliebe über seinen Schatten sprang und sich bemühte, ihr sein Vertrauen zu schenken. Sie blickte noch einmal zu ihm auf und trat dann zu den anderen, die sie ebenfalls einen nach dem anderen umarmte, als wolle sie ihnen Lebewohl sagen. „Das ist nicht dein Ernst!“, kreischte Destiny, als Unite sich kurz an sie drückte. Unite lächelte sie nur an und trat dann von ihr weg. Destiny wollte sie aufhalten, wurde aber von einer Hand auf ihrer Schulter gestoppt. Trust sah sie ernst an. Im gleichen Moment erklang seine Stimme in ihrem Kopf. ○ Sie hat uns umarmt, um unsere Kräfte zu übernehmen. Sie weiß, was sie tut. Pure Unsicherheit sprach aus Destinys Zügen. Trust drückte kurz ihre Schulter. ○ Vertrau ihr. Geschlagen senkte Destiny den Blick, sodass Trust sie losließ. Sie sah zu Unite, die nun an Grauen-Eminenz Seite stand. Trust kämpfte ebenfalls gegen den Impuls an, Unites Vorschlag doch noch zu widersprechen. So sehr es ihm auch widerstrebte, nur wenn er bei ihrem Plan mitspielte, konnte er ihr helfen. „Was sollen wir tun?“, verlangte er mit fester Stimme zu erfahren.   Change rannte so schnell er konnte. Eine ganze Horde an Schatthen war hinter ihm her. Die Umgebung glich einer trübsinnigen Einöde, auf der nur vereinzelt kahle Bäume standen, als hätte ein Künstler eine melancholische Stimmung einfangen wollen. „Warum ich?“, schimpfte er. Fast hatten die Bestien ihn erreicht. Bevor die Reißzähne eines der Schatthen ihn packen konnten, erhob er sich in die Lüfte. „Weil du fliegen kannst!“, keifte Destiny, die mit Trust und Desire in der Krone eines der Bäume hockte. Sie wandte im gleichen Moment ihre Kräfte auf die Horde Schatthen an und paralysierte sie. Change schwebte zu ihnen. „Du könntest sie genauso gut auch gleich paralysieren.“ „Das mach ich nur nicht, damit du sie nicht so weit teleportieren musst.“ „Jaja.“, machte Change, als hielte er das für eine Ausrede. „Vorsicht!“, rief Trust. Ein Schatthen war Destinys Attacke entgangen und sprang zu ihnen herauf. Geistesgegenwärtig rief Desire ihren Schutzschild herbei. Zeitgleich setzte Trust sein Vertrauensband ein und der Schatthen löste sich in Glitzer auf. Destiny sah Change vielsagend an. „Und deshalb!“ „Ihr sollt sie einfangen und nicht kaputt machen!“, dröhnte jäh Grauen-Eminenz‘ Stimme aus der Umgebung, als wären irgendwo unsichtbare Lautsprecher aufgestellt: „Warum machst du das nicht selber?“, beschwerte sich Change. „Weil es so lustiger ist!“, gab Grauen-Eminenz‘ Stimme zurück. „Unite?“, rief Trust in die Weite, aus der die Worte des Schatthenmeisters kamen. „Bin hier!“, ertönte nun Unites Stimme. „Nicht in mein Mikro.“, moserte Grauen-Eminenz. „Aber –“, setzte Unite an. „Bleib gefälligst da sitzen.“, belehrte Grauen-Eminenz sie. „Und ihr bringt die Schatthen weg!“ Die Durchsage wurde beendet. „Ich kann nicht fassen, dass wir das echt machen!“, grollte Destiny. „Ey, der wollte uns sonst einsperren und Experimente mit uns machen.“, erinnerte Change sie an den letzten Kommentar des Schatthenmeisters, bevor sie sich auf ihre Mission begeben hatten. „Experimenteeee!“ „Vielleicht hätte er uns ja einfach Fragebögen ausfüllen lassen.“, antwortete Desire. Die anderen starrten sie an. Kleinlaut erklärte Desire. „Ich dachte, Unite hätte so was gesagt, wenn sie da wäre.“   Der Raum hatte etwas Unheimliches, ja Bedrohliches, an sich. Er lag größtenteils in einer undurchdringlichen Finsternis, sodass Unite seine wahre Größe nicht einmal erahnen konnte. Die dichte, drängende Atmosphäre hier drin wie um Grauen-Eminenz‘ gesamte Gestalt verursachte einen einschnürenden Druck auf ihre Brust – ein Gefühl, als würde eine ungeheure Bürde sie zu zermalmen drohen und als lauere in den verborgenen Winkeln eine grausige Vergangenheit. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, doch es klebte an ihr wie eine zähe Masse, wie etwas, das man niemals hinter sich lassen konnte. Es blieb ihr nur, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sie war darin geübt, ihre Nervosität und Angst mit fröhlicher Überdrehtheit zu überspielen. Damit hatte sie die anderen schon immer überzeugen können. Und sich selbst. Aber es war so viel einfacher, unbekümmert zu tun, wenn die anderen bei ihr waren. Ihre Augen musterten den Hünen neben ihr. Das Licht zahlreicher Bildschirme flackerte über Grauen-Eminenz‘ angespannte Züge. Doch waren die Bildschirme eher wie Hologramme, die in der Luft standen, an der Stelle, an die er sie platzierte. Das Fenster, das die anderen zeigte, hatte er in die Mitte geholt und groß gezogen. Unite sah kurz auf die Fesseln, die Grauen-Eminenz ihr angelegt hatte, dann auf das Bild der anderen und schließlich auf das Profil des Schatthenmeisters. Als sie ihm beim Angriff der Allpträume begegnet waren, hatte er weit weniger furchteinflößend gewirkt, aber die Allpträume hatten die Messlatte für gruselig ja auch sehr hoch angelegt. Um sich auf das Kommende gefasst zu machen,  konzentrierte sie sich einige Momente lang auf ihre Atmung und die Stille in ihrem Inneren. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie immer mit den anderen verbunden war, selbst wenn sie sich jetzt klein und hilflos fühlte. Alles war gut. Sie war sicher. Und die Person vor ihr war für die nächsten paar Minuten nicht ihr Feind, sondern ihr bester Freund. Ihr sorgloses Lächeln aufsetzend, nahm sie die Energie ihrer Aufgewühltheit und legte los: „Heißt du Grauen-Eminenz, weil deine Haut grau ist, oder ist deine Haut grau, weil du Grauen-Eminenz heißt? Und sind die Schatthen deshalb auch grau? Und trägt Secret deshalb graue Kleidung oder habt ihr einfach einen ähnlichen Modegeschmack? Und magst du es so dunkel oder ist das einfach so eine Image-Sache? Das ist nämlich gar nicht gut für die Augen. Und hast du schon mal darüber nachgedacht, ob du dich besser fühlen würdest, wenn es hier etwas freundlicher aussehen würde?“ Grauen-Eminenz brachte sie mit einem Blick zum Verstummen. In der Dunkelheit leuchteten seine grauen Augen furchterregend. Ihr Herz pochte wie wild. Sie durfte nicht lange darüber nachdenken! „Willst du mir nicht antworten oder weißt du die Antwort nicht?“, fragte sie in geradezu schrillem Tonfall weiter. Sie bemühte sich ihrer Stimme wieder einen natürlicheren Klang zu verleihen, nur so würde sie der Situation etwas so Alltägliches wie nur möglich geben können. Sie musste unbedingt eine Verbindung zum Schatthenmeister aufbauen und ihn davon abbringen, so auf der Hut zu sein. Das war bloß sehr viel leichter gesagt als getan, denn er ignorierte sie gekonnt. Neuer Versuch. „Wir sollten uns jetzt auf die Suche nach Secret machen.“ Er reagierte nicht. Sein Blick war auf das Bild konzentriert, auf dem die anderen zu sehen waren. „Sie könnten sich auch jederzeit zu dir teleportieren, während du sie beobachtest.“ Sein Kiefer verhärtete sich kurz. „Du hast wegen der Schatthen Kopfweh, nicht wahr?“ Sie glaubte, ein kurzes Zucken in seinem Gesicht erkannt zu haben. Sie war also auf der richtigen Spur. „Deshalb sollen die anderen die Schatthen einsammeln, bevor wir nach Secret suchen, richtig?“ Wieder antwortete er nicht. „Aber das können sie auch ohne dich und wir kümmern uns schon mal um Secret.“ Grauen-Eminenz stöhnte. Das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass er langsam aber sicher keinen Nerv mehr dazu hatte, sie zu ignorieren. „Du willst Secret doch auch finden. Du hast schließlich gesagt, dass du nicht wolltest, dass er uns angreift.“ Grauen-Eminenz stieß nochmals geräuschvoll die Luft aus. Er musste von ihrer Fragerei mittlerweile ermüdet oder gereizt sein. „Und du hast uns mit den Allpträumen geholfen. Das heißt, du bist gar nicht so böse wie du tust.“ Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Sie wartete und versuchte, tief auszuatmen, um sich selbst zu beruhigen. Ihr war bewusst, dass sie mit dem Feuer spielte. Grauen-Eminenz drehte sich zu ihr. Abscheu war in seinen Zügen zu lesen. Lächeln! Sie musste lächeln! Sie stellte sich vor, einer ihrer Freunde würde vor ihr sitzen. Daraufhin machte er ein Gesicht, als hielte er sie für komplett gestört und wisse nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Du hast bestimmt deine Gründe, Schatthenmeister zu sein.“, unterstellte sie ihm und ballte unbemerkt die Hände zu Fäusten, um das Kommende auszuhalten. Seine Augen verengten sich. „Gründe sind Ausreden.“ Er wandte sich ab. „Ich bin nicht nett.“ Unite gab ein Kichern von sich. Es war leicht zu erkennen, dass ihr Verhalten ihn wahnsinnig machte. Doch bisher war er nicht gewalttätig geworden. Sie durfte nicht locker lassen. „Du hast uns beschützt. Vor den Allpträumen. Und vor Secret.“ Sie dachte an Justin und setzte ein Lächeln auf, das sie sonst ihm zeigte. „Ich finde dich nett.“ Der Knall, den Grauen-Eminenz‘ Faustschlag auf dem Kontrollpult erzeugte, ließ Unite zusammenzucken. Seine Stimme schwoll an und wurde so dunkel und unmenschlich, wie Unite es nur aus Filmen kannte. Der ganze Raum wurde von dem Dröhnen seiner Worte erfüllt. „Du weisst nicht, wer ich bin!“ Unite unterband ein Zittern, holte tief Luft, atmete langsam aus und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Verschwörerisch beugte sie sich zu ihm. Kindlich unschuldiger Ton!, ermahnte sie sich. „Bist du der Teufel oder so was?“ Grauen-Eminenz stieß ein Geräusch tiefer, verzweifelter Entnervtheit aus, das er mit einer ausladenden Bewegung seiner Arme untermalte. Sie atmete erleichtert auf. Das war sehr viel glimpflicher ausgegangen, als sie befürchtet hatte. Aber sie war noch nicht am Ziel. Mit gekonnt fröhlicher Stimme setzte sie fort: „Es ist doch nicht schlimm, nett zu sein! Das kann jedem mal passieren.“ „Ich bin nicht nett!“, beharrte er, nun deutlich weniger angsteinflößend als vielmehr am Ende seines Lateins angekommen. Sie lächelte ihn an. „Hör auf zu lächeln!“, schimpfte er. Sie legte den Kopf schief, schürzte die Lippen und wechselte in die Rolle eines arglosen kleinen Mädchens. Sie musste einfach nur Ewigkeit nachahmen. „Aber es ist so anstrengend, böse zu schauen.“ „Dann schau verängstigt!“ „Das ist auch anstrengend.“ Grauen-Eminenz griff sich mit beiden Händen an den kahlen Schädel, als hielte er es nicht länger mit ihr aus. Unite war wirklich von ihm beeindruckt. Darauf, dass er sie ab einem bestimmten Punkt mit Gewalt zum Schweigen bringen würde, hatte sie sich gefasst gemacht. Um herauszufinden, wo diese Grenze lag, war sie bereit gewesen, den Schmerz zu ertragen. Doch es hatte sich herausgestellt, dass er sich zivilisierter als manch anderer Erwachsene verhielt. Dieser Mann war so viel beherrschter und menschlicher als sie je zu hoffen gewagt hatte. Dennoch durfte sie nicht unvorsichtig werden. „Redest du jetzt mit mir?“, fragte sie. „Nein.“ Sein Blick war wieder auf die Anzeige vor ihm fixiert. „Aber du hast doch gesagt, du wolltest mit uns Experimente machen. Das heißt, du willst irgendwas über uns erfahren. In dem Fall könntest du auch einfach fragen.“ Er antwortete wieder nicht. „Interessiert dich nicht, was Secret vorhat?“ Seine Augen wanderten nur kurz zu ihr. „Er könnte noch mehr anrichten als nur die Schatthen freizulassen. Deshalb sollten wir keine Zeit verlieren.“ „Er ist nicht hier.“, gab Grauen-Eminenz knapp von sich. „Woher weißt du das?“, fragte Unite. Er ging nicht auf ihre Frage ein. Sie versuchte nochmals, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Er hat sicher einen Hinweis hinterlassen, wo er ist.“ Abschätzig sah Grauen-Eminenz sie an. „Das ist ein Spiel für ihn.“, erklärte sie. „Er hat das eingefädelt, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist seine Art. Deshalb hatte er uns am Eingang diesen Zettel hinterlassen. Ich bin sicher, irgendwo hat er noch einen Hinweis versteckt.“ Grauen-Eminenz‘ Augenbrauen gaben deutlich wieder, dass er ihre These iin Abrede stellte. Unite ignorierte es und ließ ihre Stimme künstlich nachdenklich klingen. „Nur wieso hat er dich mit ins Spiel gebracht? Das hat er bisher noch nie gemacht.“ Plötzliche Schockierung trat in das Gesicht des Schatthenmeisters, die sie nicht einordnen konnte. „Wie oft?“, fragte er. Unite blinzelte. „Wie oft ist er bei euch aufgetaucht?“, konkretisierte er die Frage. Unite zögerte einen Moment und wägte ab, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. „Nach dem ersten Mal in der Finster GmbH noch zwei Mal.“ Zwischen Grauen-Eminenz‘ Augenbrauen erschienen tiefe Falten. Er sah ernsthaft besorgt aus. Unite versuchte daraus schlau zu werden. „Ist irgendwas passiert?“ „Wann war das?“, wollte Grauen-Eminenz wissen. „Das letzte Mal war vor etwa einer Woche. Freitags.“ Diese Eröffnung löste etwas in Grauen-Eminenz aus. „Was hat er da gemacht?“ Dieses Mal entschloss Unite sich zu einer Gegenfrage. „Was hast du gemacht?“ Es war dem Schatthenmeister anzusehen, dass an diesem Tag etwas vorgefallen war. „Nichts, was hiermit etwas zu tun hat.“, antwortete Grauen-Eminenz ausweichend und wollte sich abwenden. „Da liegst du falsch.“, sagte Unite bestimmt. „Es hat einen Grund, dass er uns hierhin geschickt hat. Und es hat etwas mit dir zu tun.“ Grauen-Eminenz antwortete nicht. „Wo würde Secret einen Hinweis für dich hinterlassen?“ „Er hat schon, was er wollte.“ „Was denn?“, erkundigte sich Unite. „Rache.“ Unite lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Du unterschätzt ihn. Wenn er sich rächen wollte, dann wäre er jetzt hier.“ Grauen-Eminenz sah sie fragend an. „Er will sehen, wie jemand leidet.“, sagte sie leichthin. „Also hat er etwas anderes vor. Und dafür brauchen wir den nächsten Hinweis.“ Etwas im Blick des Schatthenmeisters änderte sich. „Wie heißt du?“ „Vereinen.“, verkündete sie. „Du kannst mich Unite nennen.“ Offenbar hielt er das für einen Scherz. Unite erklärte: „Du weißt schon: Schicksal Verändern, Vereinen, Vertrauen, Wunsch – Geheim“ „Ihr benutzt das ernsthaft als eure Namen?“ Das Gesicht, das er zog, war witzig. Unite zuckte gut gelaunt mit den Schultern. „Immerhin stehen sie in einer Prophezeiung. Was bedeutet Grauen-Eminenz?“ „Das ist ein Wortspiel.“, grummelte er. „Eine Graue Eminenz ist jemand, der im Hintergrund die Fäden zieht.“. Sie war überrascht, dass er ihr tatsächlich darauf antwortete. „Ah, und du bist eine Grauen-Eminenz. Das ist clever!“, entgegnete sie. Daraufhin zog Grauen-Eminenz ein Gesicht, wie sie es von Vitali gewöhnt war, wenn er nicht zeigen wollte, dass er sich über etwas freute. Sie musste grinsen, denn irgendwie war das niedlich.   Zwar konnte Change seine Teleportation innerhalb des Schatthenreichs einsetzen, doch sein Versuch, in die normale Welt zurück zu teleportieren, war kläglich gescheitert. So blieb ihnen nichts anderes übrig als die paralysierten Schatthen in das Gehege zu teleportieren, das Grauen-Eminenz ihnen zuvor gezeigt hatte – um genau zu sein, handelte es sich eher um einen grauen Betonklotz, der an ein riesiges Gefängnis erinnerte. Zur Bewältigung dieser Aufgabe schloss Desire sie alle in einen Schutzschild ein, jeder von ihnen berührte mit einer Hand Changes Rücken, während dieser mit den Händen jeweils einen Schatthen ergriff. Besonders bei den ersten Malen hatte es Change viel Überwindung gekostet, die Prozedur durchzuziehen, schließlich war er derjenige, der dafür Körperkontakt mit den tödlichen Kreaturen herstellen musste. Und das war alles andere als angenehm. Doch rückblickend hatte sich dieses Vorgehen am Anfang deutlich einfacher gestaltet als jetzt. Zuvor war das Gefängnis der Schatthen leer gewesen, doch nun mussten sie stets darauf gefasst sein, dass Destinys Paralyse bei den bereits hereingebrachten Lichtlosen aufgehört hatte zu wirken und die Bestien sie angriffen. Entsprechend hatte Destiny bereits die Arme erhoben, um im richtigen Moment ihre lähmenden Fähigkeiten einzusetzen, während Trust sich auf seine Beschützerattacke konzentrierte, denn auch wenn sie den Schatthenmeister nicht gegen sich aufbringen wollten, so hatte Trust doch entschieden, im Notfall die Schatthen aufzulösen. Nachdem sie die nächste Ladung Schatthen einen nach dem anderen abgeliefert hatten, konnten sie für einen kurzen Moment aufatmen. Destiny nutzte die Gelegenheit, um per Telepathie Kontakt mit Trust und den anderen herzustellen. # Wir sollten den Schatthenmeister angreifen, solange er geschwächt ist  ○ Change kann sich nur an einen Ort teleportieren, an dem er schon war. Und wir wissen nicht genau, wo der Schattenmeister sich gerade aufhält., wandte Trust ein. # Change kann sich auch zu jemandem teleportieren, den er kennt., monierte Destiny. ○ Es könnte dennoch für Unite gefährlich werden. Außerdem scheint der Schatthenmeister gerade der einzige zu sein, der Secret ausfindig machen kann., erwiderte Trust. Change klinkte sich ein. ! Dann zwingen wir ihn halt zu reden. ○ Wenn er paralysiert ist, kann er nicht reden., gemahnte Trust. ! Kannst du nicht einfach seinen Mund deparalysieren? Changes Frage ging offenbar an Desire. * Das habe ich noch nie gemacht. # Du könntest doch einfach seine Gedanken lesen, wandte Destiny an Trust gerichtet ein. ○ Der Schatthenmeister ist sehr stark. Wir sollten kein Risiko eingehen., antwortete er.   # Aber wir haben keinerlei Druckmittel! Wieso sollte er uns helfen?, verlangte Destiny zu erfahren.   ○ Unite versucht, mehr herauszufinden. Wir sollten ihr vertrauen und nichts tun, was sie gefährdet. ! Also weiter Schatthen fangen, schlussfolgerte Change. Im gleichen Moment wurde ein Blickfenster neben ihnen geöffnet, das ihnen den Aufenthaltsort weiterer Schatthen anzeigte.   Unite konnte ihren Augen nicht trauen! Es handelte sich um ein vollständig eingerichtetes Zimmer mit Bett, einem Kleiderschrank, Schreibtisch, Ablageflächen und einem mannshohen Spiegel. Das Zimmer war zwar nicht riesig, wirkte aber gemütlich. So wie im ganzen Schatthenreich gab es keine Fenster, aber das verlieh dem Ganzen umso mehr den Anschein eines Verstecks – eines Ortes, an den man sich zurückziehen konnte, wenn man dem Alltag entfliehen wollte. Sie drehte sich zu Grauen-Eminenz, der jedoch keine Miene verzog. „Ist das Secrets Zimmer?“ „Nun such schon.“, forderte er sie auf, als wäre ihm die Frage unangenehm. Zu diesem Zweck hatte er ihr sogar die Fesseln abgenommen. „Kommt er etwa öfter her?“, fragte sie neugierig. Grauen-Eminenz gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er nicht auf diese Frage antworten würde, woraus sie schloss, dass sie richtig lag.  Sie musste grinsen. Es war eine seltsame Vorstellung, dass Secret freiwillig ins Schatthenreich ging. Doch die Einrichtung sprach auf jeden Fall nicht dafür, dass Grauen-Eminenz ihn für Experimente ins Schatthenreich schleppte. Sie tat ein paar Schritte in das Innere des Raums und sah sich um. Es gab hier keine persönlichen Gegenstände. Wenn sie es recht bedachte, besaß Secret dergleichen ja auch nicht. Die Bedroherkleidung war das einzige, das ihn auszeichnete und typisch für ihn war, alles andere gehörte zu Erik. Außer diesem Zimmer. Das hier war Secrets Bereich. „Hat er einen extra Zugang hier rein?“ Grauen-Eminenz schwieg wieder und bestätigte damit erneut ihren Verdacht. Sie fragte sich, ob er Eriks Zimmer mit Secrets Zimmer durch ein Portal verbunden hatte, sodass Secret hierher flüchten konnte, wenn er erwachte. Das wäre ziemlich clever und sehr umsichtig vom Schatthenmeister. Unite drehte sich zu ihm um und sah ihn einen Moment stumm an. „Was ist?“, fragte er gereizt. „Kümmerst du dich um Secret?“ Die Frage ließ ihn kurz innehalten. Dann wurde sein Gesicht betont ausdruckslos, doch der Ausdruck in seinen Augen ließ Unite vermuten, dass er gerade eine unliebsame Einsicht erlangt hatte. In Unites Hirn ratterte es. Wenn Grauen-Eminenz eine Bezugsperson für Secret war, ergab es langsam Sinn für sie, warum er sie und Grauen-Eminenz zusammengeführt hatte. Bei ihnen handelte es sich um die Menschen, die für ihn wichtig waren! Diese Erkenntnis mutete ihr ziemlich bahnbrechend an. Nochmals sah sie zu Grauen-Eminenz. Secret hatte eine gute Menschenkenntnis, wenn er den Schatthenmeister als Vertrauensperson anerkannte, dann musste das etwas bedeuten. Oder war das so eine Art Stockholm-Syndrom? „Mach schon!“, knurrte Grauen-Eminenz. Unite drehte sich wieder um und suchte auf dem Nachttischchen, am Boden und unter dem Bett nach einem Hinweis. Nichts. Dann schlug sie die Bettdecke beiseite und fand darunter einen Zettel. Alles, was du kannst, kann ich noch viel besser, stand darauf geschrieben. Unite hielt ihn Grauen-Eminenz hin. „Was soll das heißen?“, forderte er zu wissen. „Es geht um etwas, das du kannst.“, schlussfolgerte Unite. „Und offenbar will er dir beweisen, dass er es besser kann.“ Grauen-Eminenz verzog das Gesicht, als hielte er das für Unsinn. Sie trat vor ihn. „Was macht man denn als Schatthenmeister so?“ Nun schaute er wieder so argwöhnisch, als vermute er, sie erhoffe sich von seiner Antwort einen Vorteil. Unite überlegte und ging noch mal alle Infos durch, die ihr über Schatthenmeister bekannt waren. Als es um die Allpträume gegangen war, hatte Ewigkeit ihnen erklärt, dass Schatthenmeister Aufträge ihrer Organisationen erledigten. „Hast du gerade einen Auftrag, an dem du arbeitest?“ Grauen-Eminenz stockte. Unglaube zeichnete sich auf seinen Zügen ab.   Ha! Dieses Mal war Unites Lächeln echt.   Kapitel 126: Wo ist Secret? --------------------------- Wo ist Secret?   „Irgendwo ist schwer zu finden!“ (Thomas S. Lutter, Lyriker und Musiker)   Ewigkeit hatte zigmal versucht, sich zu den Beschützern zu teleportieren. Es hatte sich einfach nichts getan, sie war in diesem leeren, unheimlichen Gebäude zurückgeblieben. Auch ihre Suche in der Dunkelheit und ihre Rufe waren vergeblich gewesen. Schließlich war ihr nur noch die Idee gekommen, nochmals zu versuchen, sich zu dem Bedroher zu teleportieren. „Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.“ Erschrocken machte Ewigkeit einen Satz zurück. Secret war in seine graue Bedroherkleidung gehüllt und sah sie gelangweilt an, als habe er sie schon vor Stunden erwartet. Hastig blickte Ewigkeit sich um. Sie befanden sich in einer Art Höhle, zumindest ließ die felsige Umgebung dies vermuten. In ihrem Rücken fand sie nur eine Felswand. Hinter Secret konnte sie einen großen Schlund im Boden erkennen, aus dessen Tiefe ein gewaltiger Stalagmit emporragte. Wie weit dieser Tropfstein in die Höhe gewachsen war, konnte sie nicht ausmachen, da die Decke an der Stelle, an der sie und Secret sich aufhielten, niedriger zu sein schien als in der Mitte der Höhle, wo der Stalagmit aufschoss. Was aber viel wichtiger war: Von den Beschützern war keine Spur. Secret saß auf dem steinernen Boden, gegen die Höhlenwand hinter sich gelehnt, abseits des Schlunds, aus dem der Stalagmit hervorragte. „Brauchen die noch lange?“, fragte er genervt. Hilflos sah Ewigkeit ihn an, Tränen sammelten sich in ihren Augen. Secret setzte sich auf. „Was?“ Ihre Verzweiflung brach sich Bahn und sie begann, bitterlich zu weinen. Wie vom Donner gerührt sprang er auf. „Was ist passiert?!“ Ewigkeit konnte sich nicht beruhigen. „Sag schon!“, verlangte er. Sie schluchzte und versuchte sich zu beruhigen, aber sie brachte kein Wort hervor. „Was ist mit ihnen!“ Sein Drängen wurde immer vehementer. Ewigkeit wimmerte etwas. „Sprich gefälligst deutlicher!“ „.. nicht .. zu ihnen.“, presste sie hervor.. „Was?“ „Ich kann nicht zu ihnen.“ Secrets Stimme wurde wieder ruhiger. „Du kannst nicht ins Schatthenreich?“ Sein Blick schweifte kurz über die Umgebung. „Aber du konntest hierher.“ Skeptisch beäugte er das Schmetterlingsmädchen. „Was bist du?“ Mit ihren unschuldigen dunkelblauen Augen sah Ewigkeit zu ihm auf. Seufzend setzte sich Secret wieder. „Komm her. Grauen-Eminenz tut ihnen schon nichts.“ Ewigkeit blinzelte unschlüssig und schwebte dann zu ihm. Er bedeutete ihr, auf seinem Knie Platz zu nehmen. Etwas zögerlich kam sie seinem Wunsch nach. Sachte beugte er sich zu ihr und sprach in gesetztem Ton: „Wieso kannst du nicht ins Schatthenreich?“ Sie zog einen verzagten Schmollmund. Secrets Gesichtsausdruck wurde nachdenklich „Du bist kein Mensch.“, sagte er. „Aber du siehst aus wie einer.“ Ewigkeit blinzelte nur. „Deshalb könnte dich ein Mensch erschaffen haben.“, überlegte er laut. „Aber wozu?“ Ewigkeit ließ den Kopf hängen. Die Worte der Allpträume fielen ihr wieder ein. Sie hatte sie verdrängt. „Dämon.“ Secret betrachtete sie eingehend. „Dämon?“, wiederholte er skeptisch. Ewigkeit zog den Kopf ein. Er setzte zu einer Antwort an. „Von dem, was ich im Schatthenreich gelesen habe, nennt man Wesen wie die Schatthen Lichtlose oder Dämonen.“ Das hatte er Grauen-Eminenz‘ Unterlagen zu dem Angriff der Allpträume entnommen. Ewigkeit sah schockiert auf. Der Begriff Lichtlose war ihr geläufig. „Wie kommst du darauf?“, fragte Secret ernst. „Die Allpträume.“, druckste Ewigkeit. „Sie haben das gerufen. Ich glaube, ... sie meinten mich.“ „Wieso denkst du das?“ Ewigkeit überlegte. „Sie haben sich nicht verwandelt.“ „Was meinst du?“ „Sie konnten sich nicht verwandeln. Bei mir ging es nicht.“ „Ich kann dir nicht folgen.“ „Weil ich ... ein Dämon bin.“, presste sie hervor. Secret sah sie für einen Moment stumm an. Ewigkeit zog den Kopf ein und machte sich so klein wie möglich. „Vielleicht haben sie dir das auch nur gesagt, weil du Angst davor hast, einer zu sein.“ Bang blickte Ewigkeit zu ihm auf. „Wenn du ein Dämon, also ein Lichtloser wärst, wieso solltest du den Beschützern helfen?“ Ewigkeit blinzelte unsicher. „Die Beschützer lösen Lichtlose auf. Du hast dich bisher nicht aufgelöst.“ Ewigkeit schüttelte den Kopf. „Du könntest zwar eine andere Art sein, aber du hast ihnen beigebracht, wie man das macht, oder?“ Ewigkeit hörte ihm aufmerksam zu. „Ich habe sie begleitet.“ „Also denkst du jetzt immer noch, dass du ein Dämon bist?“ Ewigkeit sah ihn unglücklich an. Secret stöhnte. „Ok. Was ist das erste, woran du dich erinnerst? Bevor du den Beschützern begegnet bist.“ Ewigkeit blickte auf ihr Medaillon herab. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihre Hände begonnen hatten, mit dem Anhänger zu spielen. „Ich habe etwas gesucht.“ „Was hast du gesucht?“ „Ich weiß nicht. Aber es war wichtig. Ich dachte, ich weiß, wenn ich es finde.“ „Und wusstest du es?“ „Ich bin mir nicht sicher.“ „Aber du hast die Beschützer gefunden.“ Ewigkeit nickte. „Und das hat sich richtig angefühlt?“ Ewigkeit legte den Kopf schief und überlegte. „Ich denke schon. Ich glaube.“ „Fühlt es sich jetzt richtig an?“ Nun nickte sie heftig. „Ja.“ „Dann ist es doch gut.“ Ewigkeit blinzelte und senkte kurz den Blick. „Du willst doch ein Gleichgewichtsbegleiter sein, oder?“, sagte Secret. „Dann sei ein Gleichgewichtsbegleiter!“ Mit dem Zeigefinger stupste er kurz ihren Kopf an. Ein wenig verdutzt sah Ewigkeit ihn an. Dann breitete sich langsam ein begeistertes Lächeln auf ihrem Gesicht aus und ihr Glöckchenklang kam zurück. Sie dachte nicht darüber nach, dass sie dem Bedroher gegenüber diesen Titel nie verwendet hatte. Secret lehnte sich lässig zurück. „Du kannst mit mir zusammen warten, bis die anderen da sind.“   „Waren das jetzt alle?“, fragte Change fast schon nörgelnd, nachdem er sie aus einem weiteren Schatthengehege teleportiert hatte. „Bisher ist uns kein neuer Ort angezeigt worden.“, bestätigte Trust. „Ich kann nicht mehr.“, stöhnte Change und sah so aus, als würde er sich am liebsten auf den Boden fallen lassen. Desire lobte ihn. „Du hast das wirklich toll gemacht.“ Destiny schüttelte ihre Arme aus. Die Anspannung, die von ihren Paralyse-Kräften herrührte, hatte allmählich begonnen wehzutun. „Wir müssen zu Unite.“, sagte sie mit deutlich weniger Elan in der Stimme als noch vor einer Stunde. Trust nickte. Sie hatten ihren Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt war der Schatthenmeister an der Reihe. Change klang regelrecht leidend. „Wieder teleportieren?“ Destiny wandte sich an Desire. „Denkst du, er wird fitter, wenn du deine Heilung bei ihm einsetzt?“ „Ich kann es versuchen.“, antwortete Desire. Change winkte ab. „Das werden wir später dringender brauchen.“ „Ich hab gesagt, sie soll dich heilen!“, stieß Destiny in herrischem Ton aus. „Mann, sie hat selbst genug abgekriegt durch den Schutzschild.“, gab Change zurück. Destinys Augen verengten sich zu Schlitzen. Er machte sich darauf gefasst, nun ihr lautstarkes Gezeter abzubekommen, doch auf einmal wich die Wut aus ihren Zügen und sie seufzte, als hätte sie keine Kraft mehr, um mit ihm zu streiten. Schließlich sprach sie mit ungewohnt ruhiger Stimme: „Du bist derjenige, auf den wir uns am meisten verlassen müssen. Mit dir steht und fällt alles, wenn es um Secret geht. Deshalb hat es oberste Priorität, dass du fähig bist, deine Kräfte einzusetzen.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Verstehst du?“ Völlig überrumpelt starrte Change sie bloß an. „Also lass dich bitte von Desire heilen.“, fügte sie mit geradezu flehendem Blick an. Von Destinys ungewohntem Verhalten sichtlich aus dem Konzept gebracht, nickte er bloß. Destiny atmete erleichtert auf und trat zur Seite, sodass Desire Change beide Hände auf die Schultern legen und ihre Kräfte einsetzen konnte. Trust schenkte Destiny ein sanftes Lächeln. „Unite wäre stolz auf dich.“ Resigniert entgegnete sie: „Ich hoffe nur, es geht ihr gut.“   Sie landeten in einem hell erleuchteten Raum, der an den Wänden mit zahlreichen Tischen ausgestattet war, auf denen Unterlagen verstreut lagen. „Hey!“ Mit zum Gruß erhobener Hand hieß Unite sie willkommen und wirkte dabei so heiter, als würden sie gerade rechtzeitig zu ihrem Kaffeekränzchen mit dem Schatthenmeister kommen. „Wir haben den nächsten Hinweis gefunden! Und jetzt versucht Grauen-Eminenz herauszufinden, wo wir hin müssen.“ Sie deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Schatthenmeister. Dieser hatte ihnen den Rücken zugekehrt und schien an einer Art Computer zu sitzen. Sprachlos gafften die anderen Unite an. Offenbar waren sie völlig unnötig besorgt gewesen! Es sah doch tatsächlich so aus, als hätte sie eine super Zeit mit ihrem Feind verbracht. Sie hörten den Schatthenmeister Laute ausstoßen, die mal nach Frustration, dann nach Unglauben klangen. „Es kann sich nur noch um Stunden handeln.“, kommentierte Unite kichernd und nahm die anderen dann näher in Augenschein. „Ihr seht fertig aus.“ „Sind wir auch!“, schimpfte Change aufgebracht. „Möchtet ihr euch setzen?“ Unite verwies auf die Seitentische, als wäre sie die Gastgeberin. Change stöhnte und lief zu den Tischen hinüber. Grob schob er die Unterlagen zur Seite und nahm auf der Tischplatte Platz. Desire folgte ihm, doch statt sich zu setzen, betrachtete sie die Papiere. Destiny konnte nicht länger an sich halten und schrie Unite an: „Weißt du eigentlich, was für Sorgen wir uns gemacht haben!“ Unite lächelte bloß. Grauen-Eminenz grollte: „Klappe dahinten!“ Destiny sah daraufhin so aus, als wolle sie als nächstes ihn anbrüllen. Trust legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie davon abzuhalten. Nur weil er Unite nichts angetan hatte, mussten sie nicht riskieren, ihn zu erzürnen. Destiny blickte nochmals streng zu Unite. Als Antwort umarmte diese sie.   Im ersten Moment schien das Destinys Zorn nicht zu mildern, dann schwand die Entrüstung langsam von ihren Zügen. „Mach das nie wieder.“, maunzte sie und legte ihre Arme um Unite. Langsam ließ Unite sie wieder los und lächelte bestätigend. Destiny seufzte und begab sich hinüber zu den anderen. Dicht neben Change setzte sie sich ebenfalls auf den Tisch. Trust blieb bei Unite stehen und betrachtete sie besorgt. Sie lächelte ihn genauso sorglos an wie die anderen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Bildete er sich das ein? Sorgsam betrachtete er ihre Züge. Etwas in ihrem Gesicht änderte sich. Mit einem Satz schlang sie ihre Arme um seinen Brustkorb und klammerte sich an ihn. Er spürte, wie sie sich an ihn drängte, als wolle sie sich verstecken, und begriff, dass sie weit mehr Angst gehabt hatte, als sie den anderen hatte zeigen wollen. Er fragte sich, ob die anderen das erkannt und sich deshalb entfernt hatten. War er der einzige, der sich immer wieder von ihr täuschen ließ? Hatte er überhaupt eine Ahnung, was sie fühlte? Für Momente hielt er sie einfach fest und gab ihr Zeit, sich zu beruhigen. Als sie sich immer noch nicht von ihm löste, setzte er seine Telepathie ein. ○ Unite? Wie als Antwort, kuschelte sie sich nur noch mehr an ihn, sodass er für einen Moment errötete. Eilig ermahnte er sich, dass das nicht der Moment war, sich seinen kindischen Träumereien hinzugeben. ○ Keine Angst. Du bist nicht mehr allein. Wir sind bei dir. Er biss die Zähne zusammen und ergänzte: ○ Ich bin bei dir. Er wusste nicht, wieso er den Drang gehabt hatte, ihr das zu sagen. Tatsächlich ließ Unite auf diese Worte hin ein wenig von ihm ab und nickte. Sie griff nach seiner Rechten. Um davon nicht wieder durcheinandergebracht zu werden, konzentrierte er sich auf ein Gespräch. ○ Was ist passiert? Geht es dir gut? Unite lächelte liebevoll und nickte. Sie drückte seine Hand bestätigend. Trust wollte gerade nochmals nachhaken, hielt sich dann jedoch zurück. Er wollte nicht, dass sie glaubte, er misstraue ihr. ○ Hast du etwas herausgefunden? ♪ Secret scheint öfter hier zu sein und Grauen-Eminenz kümmert sich offenbar um ihn. ○ Wie meinst du das? ♪ Er hat ihm ein eigenes Zimmer gegeben. Deshalb hat Secret uns hierher gebracht! Grauen-Eminenz ist für ihn wichtig! Trust sah sie verständnislos an. ♪ Grauen-Eminenz ist Teil dieses Spiels. Secret will ihn dabei haben. Trusts Augenbrauen zogen sich zusammen. ○ Du meinst, wir müssen mit ihm zusammenarbeiten? Unite nickte. Trust schaute in die Richtung des Schatthenmeisters. ○ Das ist gefährlich. ♪ Er ist nicht so unberechenbar wie wir dachten. Skeptisch sah er ihr in die Augen, schließlich war ihre Verängstigung eben noch deutlich gewesen. ♪ Nur er kann uns zu Secret bringen. ○ Unite, wir müssen hier weg. Secret ist gerade nicht unsere oberste Priorität. ♪ Aber er ist seine. Sie deutete mit einer Bewegung ihres Kopfes auf Grauen-Eminenz. Trust musterte sie. Sie schien tatsächlich keine Angst zu haben. Aber er zweifelte langsam daran, dass er wirklich ihre Gefühle in ihrem Gesicht erkennen konnte. ○ Vielleicht hat das andere Gründe, als du denkst., wandte er ein ♪ Secret ist nicht dumm. Er war überzeugt, dass Grauen-Eminenz uns nichts tun würde, sondern uns hilft, ihn zu finden. Trust war noch nicht bereit, das zu akzeptieren. ♪ Du weißt, er kann das besser einschätzen als jeder von uns. ○ Mir ist nicht wohl dabei, uns auf Secrets Einschätzung zu verlassen Wir wissen nicht, was er sich dabei gedacht hat. Unite hob bloß die Augenbrauen. ○ Ich weiß, du glaubst, er will nur unsere Aufmerksamkeit, aber die Frage ist, wie weit würde er dafür gehen? Er ist rücksichtslos, wenn es um seine Pläne geht. „Was ist das alles?“, kam es plötzlich von Desire, die sich den Papieren gewidmet hatte, die die Tische säumten. Unite unterbrach das telepathische Gespräch mit Trust und trat zu Desire. „Das ist Material zu Grauen-Eminenz‘ neuem Auftrag. Wir gehen davon aus, dass Secret es darauf abgesehen hat.“ Trust kam heran und sah auf das Blatt, das Desire in Händen hielt. „Die Büchse der Pandora?“ „Hä? Ist das nicht diese Geschichte, von der du erzählt hast?“, fragte Change Trust. Damals als sie sich über den Teil der Prophezeiung unterhalten hatten, der sich mit dem Hoffnungsträger beschäftigte, hatte Justin von der Büchse der Pandora und der Hoffnung gesprochen, die zwischen all den Übeln gelebt hatte. Desire erklärte was sie den Unterlagen entnommen hatte: „Das ist der Name für ein Projekt.“ „Was für‘n Projekt?“, wollte Change wissen. Grauen-Eminenz gab ein missgestimmtes Geräusch von sich und schwenkte mit dem Drehstuhl in ihre Richtung. „Wie seid ihr hier reingekommen?“, knurrte er. „Wir sind schon ein paar Minuten hier, Mann.“, antwortete Change. „Nicht hier rein!“, schimpfte Grauen-Eminenz. „Wie seid ihr ins Schatthenreich gekommen?“ Unbekümmert wandte sich Unite an ihn. „Was hast du rausgefunden?“ Der Schatthenmeister warf ihr einen finsteren Blick zu, der Unite jedoch nicht aus der Ruhe brachte. „Nichts, das weiterhilft.“ „Wir kennen ihn besser als du. Vielleicht werden wir daraus schlau.“, schlug Unite vor. Doch Grauen-Eminenz wollte weiterhin nicht kooperieren. Destiny meldete sich zu Wort: „Wenn das klappen soll, brauchen wir mehr Informationen.“ Grauen-Eminenz‘ Augen wurden schmal. Unite lächelte aufmunternd. „Du brauchst keine Angst haben. Wir haben dich doch bisher auch nicht überfallen, obwohl wir uns jederzeit hierher und wieder weg teleportieren hätten können.“ „Äh“, entfuhr es Change. Ein Stoß von Destinys Arm traf ihn. Empört sah er sie an. Mit einem entschiedenen Blick gab sie ihm zu verstehen, dass er nicht erwähnen sollte, dass er nicht von hier zurück in die normale Welt teleportieren konnte. Change verzog das Gesicht. Er wusste, dass er manchmal schneller redete als er dachte, aber dass sie annahm, er hätte seinen Fehler nicht direkt selbst bemerkt, pikierte ihn. Grauen-Eminenz erhob sich. Eine dunkle Aura braute sich um ihn herum zusammen, als würde er die Schatten aus den Winkeln dieses Raumes herbeirufen. Trust machte einen Schritt zu den anderen und begab sich in Kampfposition. Unite dagegen vollführte eine beschwichtigende Handgeste in Richtung des Schatthenmeisters. Ihre Stimme klang sorglos, als handle es sich bei seiner Reaktion nur um das wütende Aufstampfen eines Kindes. „Schon gut. Das sollte doch keine Drohung sein.“ „IHR SEID HIER IN MEINEM REICH!“, dröhnte Grauen-Eminenz‘ nun unmenschlich klingende Stimme. Die anderen zuckten zusammen. „Und wir sind hier, um dir zu helfen.“, sagte Unite von Grauen-Eminenz‘ Machtdemonstration unbeeindruckt. „Wir könnten natürlich auch einfach gehen und dich mit diesem Problem alleine lassen.“ Sie hob die Arme zur Seite. „Aber Secret möchte, dass wir mit dir zusammenarbeiten.“ Grauen-Eminenz stöhnte und wandte den Blick ab. Die dunkle Aura um ihn löste sich auf. Sein Gesicht verzog sich, als wäre ihm das absolut zuwider. „Wir sind nicht deine Feinde.“, sprach Unite in beruhigendem Ton. Daraufhin brauste Grauen-Eminenz auf. „Ihr seid meine Experimente!“ Unite kicherte. „Was ist so lustig?“, wetterte Grauen-Eminenz. „Bist du dann so was wie unser Papi?“, grinste Unite. „Nein!“, brüllte er. „Nur dass das klar ist: Mir ist dieser Bengel völlig egal! Und wenn er drauf geht, ist mir das auch völlig egal! Ich könnte euch jetzt auf der Stelle umbringen!“ Unite musste sich ein breites Grinsen verkneifen, während die anderen angesichts des tobsüchtigen Geschreis des Schatthenmeisters zurückwichen. „Ok. Du bist ein ganz böser Bösewicht.“, bestätigte Unite, als würde sie ein kleines Kind loben. „Wollen wir jetzt Secret finden?“ Grauen-Eminenz griff sich an den kahlen Schädel, als wäre er ein überforderter Lehrer, den die Klasse nicht respektierte. „Wieso wolltest du wissen, wie wir hierhergekommen sind?“, fragte Unite. Der Schatthenmeister betrachtete sie misstrauisch. „Ich weiß, du möchtest nicht, dass wir irgendetwas gegen dich verwenden können, aber wenn du uns nicht sagst, worum es geht, kommen wir nicht weiter.“, erklärte sie. Trust konnte kaum glauben, dass sie mit ihrem Feind sprach, als handle es sich um einen Jungen in der Trotzphase. Unite setzte fort. „Und du hast es doch eben gesagt, wir sind nur deine Experimente und du bist der Herrscher des Schatthenreichs. Wie gefährlich können wir dir schon werden?“ Trust erkannte, dass Grauen-Eminenz zögerte. Offensichtlich widerstrebte es ihm, sie zu unterschätzen, doch genauso wenig wollte er sie glauben lassen, er hätte Angst vor einem Angriff von ihnen. „Wir sind keine Freunde.“, fauchte der Schatthenmeister. Unite gab einen langgezogenen Laut von sich, als fände sie etwas unheimlich niedlich: „Ooooh! Du hast darüber nachgedacht, ob wir Freunde sind!“ Angesichts der Reaktion des Schatthenmeisters wandte sich Destiny an Change: „Also ich finde, das regt ihn viel mehr auf, als wenn ich ihn anschreie.“ „Jup.“, stimmte Change zu. „Vielleicht solltest du ihn anschreien, damit er sich beruhigt.“ Grauen-Eminenz fasste sich an die Stirn, als spüre er einen erneuten Anflug von Kopfschmerz. „Wenn Secret nicht hier ist, wird er an einem anderen Ort auf uns warten.“, äußerte Unite ihre Vermutung. „Und der letzte Hinweis von ihm soll uns auf diesen Ort aufmerksam machen.“ Grauen-Eminenz schüttelte den Kopf. „Wieso nicht?“, wollte Unite von ihm wissen. „Das ist unmöglich.“, sagte er. „Für Secret ist nichts unmöglich.“, erwiderte Unite überzeugt. Desire setzte zu einer Antwort an, hielt dann nochmals kurz inne. Vielleicht war sie unsicher, ob sie den Schatthenmeister nun duzen oder siezen sollte. „Sie haben eine Vermutung, wo er sein könnte, richtig?“ Grauen-Eminenz zog die Augenbrauen zusammen. Dann stieß er ein tiefes, resignierendes Seufzen aus. „Es ist unmöglich, dass er dort ist.“ „Wieso?“, fragte Desire behutsam. „Weil ich keine Ahnung habe, wie man dorthin kommt.“, antwortete der Schatthenmeister endlich. „Dann hat Secret vielleicht einen Weg gefunden.“, mutmaßte Desire in vorsichtigem Ton.. Unite klang dagegen so lässig, als wären der Schatthenmeister und sie alte Freunde. „Secrets Hinweis hat angedeutet, dass er etwas besser gemacht hat als du!“ Destiny verschränkte die Arme vor der Brust. „Secret ist schlauer als wir alle zusammen, Wenn wir herausfinden wollen, wo er ist, brauchen wir mehr Informationen.“ Schließlich gab Grauen-Eminenz nach. „Es gibt eine Nebendimension, die jemand erschaffen hat, der längst tot ist. Ich weiß nicht mal, ob sie noch existiert, geschweige denn, wie man dorthin kommt.“ „Hä? Und was will er da?“, fragte Change irritiert. Unite hakte nach: „Es ist dein Auftrag diese Nebendimension zu finden, nicht wahr?“ Desire versuchte die verschiedenen Enden zu verbinden. „Und das hat etwas mit diesem Projekt zu tun. Pandora.“ Trust klang misstrauisch. „Was befindet sich in dieser Nebendimension?“ „Das geht euch nichts an.“, blaffte Grauen-Eminenz. „Wenn wir Secret finden sollen, geht es uns sehr wohl etwas an.“, entgegnete Desire. Grauen-Eminenz stöhnte. „Was hast du zu verlieren?“, meinte Unite heiter. „Du hast doch keine Angst vor uns.“ Grauen-Eminenz funkelte sie wütend an. „Vergesst es.“, schimpfte Destiny und verließ ihren Platz auf dem Tisch neben Change. „Das ist reine Zeitverschwendung. Wieso sollten wir überhaupt mit ihm zusammenarbeiten?“ „Weil Secret es will.“, erklärte Unite. „Vielleicht sollten wir dann eben mal nicht machen, was Secret will!“, gab Destiny zurück und verwies auf Grauen-Eminenz. „Ich traue dem nicht über den Weg.“ „Hast du gehört? Du musst schon mit uns zusammenarbeiten, ansonsten können wir auch wieder gehen.“, sagte Unite zu Grauen-Eminenz. „Willst du das?“ Er sah sie so feindselig an, als stünde er kurz davor, sie und die anderen wirklich wegzuschicken. Unite pokerte ziemlich hoch. Wenn er sie wirklich wegschickte, würde ihre Lüge auffliegen, schließlich konnten sie sich nicht aus dem Schatthenreich raus teleportieren. Unite setzte fort. „So wie ich das sehe, kannst du zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Schließlich ist es doch dein Auftrag, diese Nebendimension zu finden. Und alleine hast du es nicht geschafft.“ Grauen-Eminenz gab ein grimmiges Geräusch von sich, dann griff er sich an die Stirn, als müsse er darüber nachdenken. „Was hast du zu verlieren?“, wiederholte Unite. Das Stöhnen von Grauen-Eminenz war lang und entnervt. „Sagst du uns jetzt, was in dieser Nebendimension ist?“, hakte Unite freundlich nach. „Ich weiß es nicht.“, stieß Grauen-Eminenz aus. Destiny grollte: „Als würden wir ihm das abkaufen!“ „Ich weiß nur, dass dort irgendwelche Experimente sein sollen. Andere Formen von Lichtlosen.“, ergänzte Grauen-Eminenz. Change sah nicht begeistert aus. „Wir sollen in ‘ne Nebendimension, wo irgendwelche Monster sind?“ Grauen-Eminenz erläuterte: „Ich habe keine Ahnung, ob die Dinger eingesperrt sind oder sonst was. Ich weiß nur, dass ich dorthin soll und sie finden.“ „Um was zu tun?“, fragte Trust ernst. Grauen-Eminenz warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Wir werden nicht helfen, dass wieder irgendwelche Monster losgelassen werden.“, verkündete Trust. Grauen-Eminenz sah ihn nur stumm an. Unite wandte sich telepathisch an Trust. ♪ Er war doch gerade soweit, mit uns zu reden. ○ Unite, wir werden ihm nicht helfen, Unschuldige in Gefahr zu bringen. ♪ Ich glaube nicht, dass er das will. Er hat die Allpträume auch nicht freiwillig losgelassen. ○ Aber er hat es getan. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, ihn darin zu unterstützen. ♪ Welche andere Wahl haben wir denn? Wir kommen hier nicht raus. Unterbrochen wurden sie von Desire, die wieder an den vorigen Gedankengang anzuknüpfen versuchte. „Also ist Secret in einer Nebendimension und sucht dort diese Experimente. Und wir wissen nicht, wie er dorthin gekommen ist.“ „Na, er wird durch so‘n Portal gegangen sein, so wie immer.“, entgegnete Change verständnislos. „Ist doch logisch. Grauen-Eminenz zog ein Gesicht, als hielte er Change für dumm. „Portale sind keine Wunschkonzerte.“ „Hä? Natürlich. Das ist wie wenn wir –“ Change unterbrach sich, wohl merkend, dass er immer noch mit ihrem Feind sprach. Trust nutzte seine Telepathie, um Changes Gedanken zu erfahren und mit den anderen zu teilen. ○ Was meinst du, Change? ! Unser Hauptquartier. Das ist doch auch so ne Art Nebendimension. Und wir kommen da hin, wenn wir uns vorstellen, dass die Tür uns dahin bringt. Das ist doch so, wie wenn ich teleportiere. Trust war über diesen Gedankengang verwundert. Er hatte ihr Hauptquartier nicht mit dieser gesuchten Nebendimension in Verbindung gebracht. ♪ Secret hat damals auch den Spiegelsplitter als Portal aktiviert., erinnerte sich Unite. * Aber kann er ändern, wohin das Portal führt?, wandte Desire ein. ! Wieso denn nicht?, meinte Change verständnislos. * Weil der Schatthenmeister gerade gesagt hat, dass das nicht geht., entgegnete Desire. ! Nur weil er’s nicht kann., erwiderte Change. # Stopp mal. Wenn diese Nebendimension wie unser Hauptquartier ist, dann sollten wir doch einfach dorthin teleportieren können. Beziehungsweise zu Secret., gab Destiny zu bedenken. ! Jo, wenn ich hier rausteleportieren könnte, schon., antwortete Change. ○ Es ist besser, den Schatthenmeister in dem Glauben zu lassen, dass wir freiwillig hier sind. Wenn wir versuchen, uns dorthin zu teleportieren und es geht nicht, könnte er stutzig werden., sendete Trust ihnen gedanklich. ♪ Dann müssen wir wohl doch den Weg nehmen, den Secret gegangen ist., entgegnete Unite. ○ Falls wir das können., gab Trust zu bedenken. ♪ Er würde uns keine Aufgabe stellen, die wir nicht bewältigen können., antwortete Unite überzeugt. „Was habt ihr zu verbergen?“, forderte Grauen-Eminenz zu erfahren, der von ihrem Schweigen wohl stutzig geworden war. „Secret hat uns damals ein Portal geöffnet, durch das wir entkommen konnten.“, eröffnete Unite ihm, als wäre das der Grund, warum sie und die anderen sich so angestarrt hatten. „Und er hat ein Portal erschaffen, durch das wir hierhergekommen sind.“, ergänzte Trust. „Vielleicht hat er auch eines vorbereitet, durch das wir zu ihm kommen.“, stimmte Unite zu. Grauen-Eminenz starrte sie fassungslos an. „Wusstest du nicht, dass er das kann?“, hakte Unite nach. Offensichtlich nicht oder zumindest schien dem Schatthenmeister das Ausmaß nicht bekannt gewesen zu sein. Unite sprach weiter: „Wenn wir das Portal finden, hat uns Secret dort vielleicht noch einen Hinweis hinterlassen.“ Plötzlich wurde Grauen-Eminenz‘ Blick entschieden. „Ich glaube, ich weiß, wo.“ Kapitel 127: Portal-Einstellung ------------------------------- Portal-Einstellung   „Aus Freund wird Feind, aus Feind wird Freund.“ (Deutsches Sprichwort)   Grauen-Eminenz führte seine Auserwählten zu dem Raum, in dem er Secret gezüchtigt hatte, beziehungsweise zu dem neugestalteten Bereich, in dem dies vorgefallen war. Aus praktischen Gründen hatte er den vormaligen Gang und Vorraum mit Portal zu einem großen Raum zusammengefügt. Und das hatte nichts, absolut gar nichts, damit zu tun, dass ihn das vorige Aussehen irgendwie ungewollt daran erinnerte, was er Secret angetan hatte. Es war einfach nur zweckdienlicher! Sonst nichts! Warum war er eigentlich nicht früher darauf gekommen, dass der Bengel ihm hier eine Botschaft hinterlassen würde? Grauen-Eminenz verzog das Gesicht, um die ohnmächtige Empörung in sich zu kontrollieren. Wieso konnte nichts diesen Jungen dazu bringen, einfach mal das zu machen, was man wollte! Verdammt noch mal! Nicht mal Bestrafung brachte irgendwas. Er spürte, wie sich automatisch eine Energiewelle um seine Faust bildete und bemühte sich, die Anspannung aus seiner Hand zu lösen. Die Energie verschwand wieder.   Bei einem Blick zu den Beschützern – der nervige Terrorzwerg hatte ihm auf die Nase gebunden, wer von ihnen welchen Namen trug – erkannte er, dass sie einen Sicherheitsabstand eingenommen hatten und Trust ihn argwöhnisch musterte. Er hatte keine Lust, sich zu erklären. „Hier.“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was ist hier?“, hakte Trust nach. Dem Blick nach zu urteilen, ging der Beschützer davon aus, dass er sie in eine Falle locken wollte. Grauen-Eminenz gab ein grimmiges Geräusch von sich. „Wenn der Bengel mit einen Denkzettel verpassen will, dann hier.“ „Warum?“, fragte Unite frei heraus. Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. Doch sie ließ sich mal wieder nicht beirren. „Hat seine Gründe.“, antwortete er ausweichend. „Also der Grund, warum sich Secret an dir rächen will. Stimmt’s?“, sagte Unite ihm auf den Kopf zu. Er würde nicht darauf antworten. Bestimmt nicht. Unite entfernte sich von ihrer Gruppe und lief an ihm vorbei. Wahrscheinlich um nach dem Hinweis zu suchen, den sie hier vermutete. Noch immer konnte er nicht wirklich glauben, was seine Auserwählten ihm eröffnet hatten. Er hatte zwar schon zuvor begriffen, dass Secret die Portale nutzen und offenbar aktivieren konnte, aber in welchem Ausmaß war ihm nicht klar gewesen. Wenn die Beschützer wirklich Recht hatten, dann war es Secret gelungen, ein Portal mit einem Ort zu verknüpfen, den er nicht einmal kannte. Etwas Derartiges hatte Grauen-Eminenz für unmöglich gehalten! „Hier!“, rief Unite und kam mit einem Zettel zurück zu ihnen. Aus einem unerfindlichen Grund blieb sie neben ihm stehen, als würde er auch zu ihrem Team gehören. Diese …! Sie las vor: „Nebendimensionen wurden anhand der Gedanken und Vorstellungen des Erschaffers geformt. Sie sind verwandt mit Seelenwelten, aber viel freier, da sie unabhängig von ihrem Erschaffer weiterexistieren. Ich bin der Anker.“ Sie legte eine kurze Pause ein. „Portale kontrollieren, in Seelenwelten eindringen, Gedankenlesen. Findet mich.“ „Hä?“, stieß Change aus. „Das ist eine Anweisung, wie wir zu ihm kommen.“, erklärte Unite. „Was soll daran denn eine Anweisung sein?“, wollte Change wissen. Grauen-Eminenz hörte dem Geschwätz nicht zu. Er versuchte die Worte von Secrets Hinweis zu verarbeiten. Aber er verstand nicht alles davon. „Er hat unsere Kräfte hier aufgeführt.“, erläuterte Unite. Grauen-Eminenz wandte sich ihr zu. Sie sprach weiter. „Wenn wir unsere Kräfte verbinden, wird uns das zu ihm führen.“ Er verengte die Augen. „Was meinst du damit?“ Unite schmunzelte. „Das ist ein Geheimnis.“ Ihm riss der Geduldsfaden. „Du wirst mir jetzt sagen, was das zu bedeuten hat!“, brüllte er, bevor er überhaupt gemerkt hatte, dass seine Stimme so angeschwollen war. Verdammt. Was war nur in ihn gefahren? Er hatte einfach die Schnauze voll von irgendwelchen Kindern, die nicht taten, was er ihnen befahl! Und kooperieren wollte er erst recht nicht mit ihnen. Er war es ohnehin nicht gewöhnt, mit irgendwem zusammenzuarbeiten. Das – das funktionierte einfach nicht! Er war ein Einzelkämpfer! Das war er schon immer gewesen. Er biss die Zähne zusammen und blickte zu den anderen Beschützern, von denen insbesondere Trust ihn ernst ansah. „Gib her!“, rief Grauen-Eminenz und entriss Unite den Zettel. „Ich bin derjenige, der Portale kontrollieren kann. Das heißt.“ Voller Argwohn schweiften seine Augen über seine Auserwählten. „Jemand von euch kann in ‚Seelenwelten‘ eindringen“ – was auch immer das bedeuten sollte. Seines Wissens handelte es sich bei dem Begriff Seelenwelt nur um ein theoretisches Konstrukt, um zu erklären, dass jedes Wesen eine individuelle Wirklichkeit wahrnahm und indirekt erschuf. Bei seinen Recherchen zu den Allpträumen war immer wieder darauf hingewiesen worden, dass es keine empirischen Beweise für die Existenz solcher individuellen Wirklichkeiten gab und dies einfach nur geisteswissenschaftliche Spielereien waren, um eine Unterscheidung zwischen der von einer Person wahrgenommenen Realität und der objektiven Realität zu ermöglichen. Aber laut Secret sollten Seelenwelten mit Nebendimensionen verwandt sein. Dementsprechend klang diese Kraft besorgniserregend. In seiner ganzen Ausbildung zum Schatthenmeister war nie der Begriff Seelenwelt verwendet worden, erst im Rahmen des Auftrags mit den Allpträumen hatte er Informationen dazu gefunden. Wie konnten diese Kinder mehr wissen als er? Und konnten sie ihm damit gefährlich werden? Er schüttelte den Gedanken ab. „Und einer kann Gedanken lesen.“ Er gab seinem Blick etwas möglichst Angsteinflößendes. Gedankenlesen war keine Fähigkeit, über deren Existenz er nicht Bescheid wusste. Er selbst konnte schließlich die Gedanken einer anderen Person in einem gewissen Rahmen kontrollieren, sogar über Distanz hinweg, wenn es bloß darum ging, der Person gewisse Gedanken und Ideen in den Kopf zu setzen. Auch hatte er gelernt, wie man sich gegen die telepathischen Fähigkeiten einer Person zur Wehr setzte. Dennoch fühlte er sich sofort angespannt, wenn jemand potenziell in seine Gedankenwelt eindringen konnte. Er stockte. Gedankenwelt, Seelenwelt. Hing das auch miteinander zusammen? Unite lächelte ihn stolz an. „Ich kann Fähigkeiten miteinander verbinden. Wenn ich deine Kräfte mit denen der anderen kopple, kannst du das Portal auf Secret einstellen.“ Grauen-Eminenz sah sie nur feindselig an. Er traute diesem Gör nicht über den Weg. „Bist du ein klein bisschen paranoid?“, fragte sie ihn amüsiert. „Bin ich  nicht!“, brüllte er. Wieder lächelte diese Göre so schrecklich verständnisvoll, als wäre er das Kind hier! Change kommentierte: „Der hat genauso nen Schaden wie Tiny.“ „Was soll das heißen?“, zischte Destiny. „Na, du misstraust doch auch jedem.“, antwortete Change. „Das ist auch besser so!“, giftete Destiny. „Jo. Aber selbst du hast gecheckt, dass du uns trauen kannst. Sag ihm das doch mal. Dir glaubt er vielleicht.“, „Wieso sollte er mir glauben?“, wetterte Destiny aufgebracht. „Na, weil ihr beide gaga seid.“, erklärte Change, als wäre das offensichtlich. Destiny schlug ihm dafür gegen den Oberarm. „Was denn?“, wollte Change wissen und wirkte vergnügt. „Du bist doch diejenige, die Bösewichte am besten versteht!“ „Bösewichte arbeiten nicht zusammen, du Trottel!“, schimpfte Destiny. „Weil man niemandem vertrauen kann!“ Nun wandte sich Unite an Destiny. „Was kann ich denn machen, damit er mir vertraut?“ Grauen-Eminenz kam sich wie im falschen Film vor. Hallo? Er war anwesend! „Du kannst ihn nicht dazu bringen. Er vertraut niemandem!“, rief Destiny. „Nicht mal sich selbst?“, fragte Unite in einem Ton, als wäre das ein furchtbar trauriger Gedanke. Was zum Teufel ging hier vor? „Das hat doch damit nichts zu tun.“, antwortete Destiny das, was er selbst gedacht hatte. „Doch natürlich.“, beharrte Unite. „Wenn man sich selbst vertraut, muss man keine Angst vor anderen haben. Das heißt, er zweifelt an sich und seinen Fähigkeiten und daran, ob er uns überhaupt noch überlegen ist.“ Grauen-Eminenz starrte sie wütend und fassungslos an. Das war ja wohl …! „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“, entgegnete Destiny. Danke! Wenigstens eine, die ihn verstand! Change wandte sich erneut an Destiny: „Ey, wie hat’s denn bei dir geklappt, dass du nicht mehr ganz so psycho bist?“ Destiny funkelte ihn wütend an. Desire wandte ein: „Bei Destiny ist das doch etwas ganz anderes. Wir sind ihre Freunde.“ „Wir könnten auch Freunde werden.“, rief Unite freudig. „Bist du bescheuert?!“, schrie Destiny, bevor Grauen-Eminenz selbst dazu kam. „Er ist der FEIND!“ „Aber mit Secret hat er sich doch auch angefreundet.“, entgegnete Unite. Er starrte sie einfach nur noch ungläubig an. War dieses Mädchen geistig minderbemittelt? Hatte sie irgendeinen Gehirnschaden? „Sie sind keine Freunde.“, sagte Desire entschieden. „Das hat er vorhin doch klar gemacht.“ Genau! Change tönte: „Tiny sagt auch ständig, dass sie mich töten will, und meint es nicht ernst.“ „Wer sagt, dass ich es nicht ernst meine?“, zischte Destiny. „Seht ihr?“ Change machte eine Geste, als wolle er Destiny präsentieren. „Es ist Destiny!“, rief Desire. „Du kannst sie und den Schatthenmeister doch nicht in einen Topf werfen.“ „Wieso nicht?“, fragte Change leichthin. „Na, weil…“ Desire wusste darauf offenbar keine Antwort. Grauen-Eminenz spürte einen Anflug von innerer Ungeduld. „Es reicht!“, brüllte er und spießte Unite mit seinen Blicken auf. „Ich greife euch nicht an, ihr greift mich nicht an. Und wenn ich merke, dass ihr irgendwas im Schilde führt, seid ihr dran!“ Unite grinste. Er hielt ihr unwirsch die Hand hin, um den abermaligen Nichtangriffspakt zu besiegeln. Doch Unite zögerte plötzlich und schaute mit einem Mal ernst. „Wir spielen mit offenen Karten.“, verkündete sie.  „Was willst du?“ „Warum kümmerst du dich um Secret?“, fragte sie. Sein Gesicht verzog sich automatisch. Seine Stimme wurde zu einem grimmigen Grollen „Er ist mein Experiment.“ Ein amüsiertes Lächeln erschien jäh auf Unites Lippen, als würde ihr die Antwort gefallen. Was zum …! Und wäre es nicht besser gewesen, dieses bescheuerte Freundschaftsangebot anzunehmen? Das wäre doch sehr viel cleverer gewesen! Aber er hasste es einfach abgrundtief, sich zu verstellen! Und er war nicht nett! Er war so überhaupt gar nicht nett!!! Jäh schlug Unite bei ihm ein, als hätte er ihr irgendeinen Grund dafür gegeben. Change meldete sich zu Wort. „Und was sollen wir jetzt machen?“ Das wollte er auch gerne wissen. Trust äußerte seine Vermutung: „Secret will wohl, dass ich seine Gedanken finde. Ich weiß bloß nicht, wie das gehen soll, wenn er in einer anderen Dimension ist.“ Unite machte den Anschein, mehr zu verstehen. „Deshalb soll ich deine Kräfte mit Destiny verbinden.“ „Was soll das bringen?“, forderte Destiny zu wissen. Unite zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber Secret wird sich was dabei gedacht haben.“ „Und wozu brauchen wir den da?“ Change deutete mit dem Daumen unverhohlen auf Grauen-Eminenz. „Er muss das Portal auf die Schwingung einstellen, die Trust findet.“, meinte Unite. Auf eine Schwingung einstellen? Dieses Mädchen hatte echt keine Ahnung von Portalen! So einfach ging das nicht! Und wie sollte Secret das geschafft haben? Grauen-Eminenz schnaubte. Unite trat vor das inaktive Portal. „Kommt ihr?“ Destiny und Trust folgten ihr. „Du auch!“, rief sie Grauen-Eminenz zu. Er stöhnte. Widerwillig gesellte er sich zu ihnen. „Du kannst deine Hand auf meine Schulter legen.“, schlug Unite ihm vor. An der linken Hand hielt sie Destiny, an der rechten Trust. „Aber…“ Sie drehte sich mit bedeutungsvoller Miene zu ihm. „Konzentrier dich nur auf das Portal und nicht auf irgendwelche Gefühle.“ War sie jetzt total übergeschnappt? „Ich kann Gefühle spüren.“, eröffnete sie ihm. Grauen-Eminenz zog die Augenbrauen zusammen. Er hatte keine Gefühle, die er verstecken musste. Entschlossen legte er seine Rechte auf ihre Schulter.   Unite versuchte, sich zu konzentrieren. Sie spürte Grauen-Eminenz schwere Hand auf ihrer rechten Schulter lasten. Für einen Moment fürchtete sie sich davor, sich mit ihm zu verbinden. Ein kaltes Grausen überkam sie wie eine Vorahnung, dass das Gefühl, das sie in dem Kontrollraum empfunden hatte, wiederkommen könnte. Nein, es war keine Vorahnung, es war eine Gewissheit. Sie wusste, dass diese Welt seine Gefühle widerspiegelte. Erik hatte sie darauf gebracht, damals, als sie sich in Serenas Seelenwelt befunden hatten. Er hatte es Serenas Schattenreich genannt. Einen weiteren Moment weigerte sie sich, sich den Eindrücken zu stellen, die von Grauen-Eminenz auf sie einströmen konnten. Ihr Körper gab ihr eindeutige Signale: Etwas in ihm wartete ungeduldig auf den Moment, wo sie sich ihm öffnete. Noch nie hatte sie einen solchen Drang von jemandem ausgehen gespürt, als wolle etwas sich ihr unbedingt offenbaren. Es war das Gegenteil von dem, was sie bei Erik und Secret erlebt hatte. Er hatte ihre Versuche, in seine Gefühlswelt vorzudringen, brutal unterbunden.   Trust suchte vor seinem inneren Auge nach den Gedankenwellen um sich herum. Er konnte an der Form von Desires Wellen sagen, dass sie nervös war. Changes Gedanken waren unruhig, aber nicht auf die hüpfende Art wie sonst. Er war für seine Verhältnisse äußerst konzentriert, ja zwang seine Gedanken wohl, eine feste Form zu wahren, die für ihn untypisch war. Von der Richtung an der Destiny stand, konnte er eine pinke kleine Linie erkennen, die sich unsicher und ängstlich dahinschlängelte. Destiny musste wieder an sich selbst zweifeln. Zwischendurch kam es dann aber zu hohen roten Spitzen in ihrem Verlauf, wo sie sich anscheinend über die Situation aufregte. Unites Gedankenwelle war völlig anders als er sie gewöhnt war. Es handelte sich um drei Gedankenscheiben mit gelbleuchtenden Rändern, die in einem gleichmäßigen Abstand übereinander angeordnet waren. Lag das daran, dass sie sich auf drei Personen gleichzeitig konzentrieren musste? Die Scheiben regten sich nicht, sie leuchteten bloß auf, als würde eine Energie die Kreise in unterschiedlicher Geschwindigkeit entlang schießen. Das Licht schoss regelrecht hektisch über den obersten Ring.  Außerdem war da eine dunkle, graue Wolke, wie eine Gewitterfront, die etwas Dahinterliegendes verschleierte. Dann veränderte sich etwas und er begriff, dass Unite ihre Kräfte erst jetzt einsetzte. Das wunderte ihn für einen Moment. Sie war so geübt darin, dass sie normalerweise keine Einstimmungsphase brauchte. Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Eine Art lavendelfarbener Nebel zog auf und färbte das Schwarz des Hintergrunds, den er für das Finden der Gedankenwellen verwendete, in ein traumartiges Blau-Lila. War das die Verbindung von seinen und Destinys Kräften? Die Farbe des Nebels wandelte sich zu einem Rosa-Rot. Das sah tatsächlich nach Destiny aus. Er holte das Bild von Destinys Gedanken heran und erkannte, dass sie in einen meditativen Zustand übergegangen war. Ihr Geist war ruhig, auch wenn hier und da noch ein Gedanke aufflackerte. Er war wirklich beeindruckt. Nun musste er nur noch herausfinden, wie er zu Secret vordrang. Weiter hinten verblieb das Blau-Lila des Nebels. Gedanklich näherte sich Trust ihm, ja wurde regelrecht von ihm gerufen. Er kannte diese selbstbewusste, anziehende Kraft, die einen in seinen Bann schlug und einen besonderen Reiz ausstrahlte, lockend und gefährlich. Sie zog ihn mit sich. Bei dem Versuch, sich dagegen zu wehren, wurde Trusts Atem schwer. Etwas in ihm wollte dem Ruf folgen, der ihn hinfortriss. Er drückte Unites Hand aus Furcht, sich selbst in diesem Sog zu verlieren. Secrets Kraft war elementar, wie etwas, das Welten aus den Angeln heben und Seelen aus ihrer Bahn reißen konnte, hin zu etwas reizvoll Enthemmendem jenseits aller Regeln und Verpflichtungen. Fast hätte Trust Unites Hand losgelassen. Im letzten Moment spürte er, wie sie ihn festhielt. Eine sanfte, warme und liebevolle Energie umfing ihn wie eine Umarmung, wie ein Kuss, der ihn davon abhielt, sich dem Selbstverlust hinzugeben, und ihn gemahnte, dass er das, was er suchte, bereits in sich hatte. Es war nicht nötig, es gegen eine falsche Freiheit einzutauschen. Er verharrte in dem Schleier an Liebe und Trost, von dem er nicht wusste, ob Unite ihn geschickt oder nur ausgelöst hatte. Seine Atmung beruhigte sich und er machte sich klar, dass es nichts gab, das er vermisste. Erst dann war er bereit, sich erneut Secrets verlockendem Sog zu stellen. Mit neu gefundener Sicherheit folgte er Secrets Einflüsterungen. Dann sah er ihn vor sich – Secrets Gedankenstrang. Er glaubte, etwas kleines Helles in unmittelbarer Nähe zu entdecken, aber durfte sich davon nicht ablenken lassen. Er konzentrierte sich auf Secret. Wieder musste er mit sich ringen. Secrets Energie war nicht wie die eines normalen Menschen. Nie hatte Trust etwas so Betörendes an den Gedanken eines anderen gefunden. Als wolle Secret ihn dazu verführen, sich ihm anzuschließen, als flüstere es ihm zu, dass er es auch wollte, frei sein von … Trust stockte. …von sich selbst. Er erinnerte sich an sein Gespräch mit Erik, als er ihm das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt und Erik ihm daraufhin offenbart hatte, dass er immer alles habe richtig machen wollen, ohne dass das jemals irgendetwas gebracht hätte. War das also die Freiheit von der Bürde, die Erik sich gewünscht hatte? Die sich Trust selbst schon so oft heimlich ersehnt hatte? Er durfte sich nicht länger damit aufhalten. Es fiel ihm schwer, trotz der Konzentration die Worte laut auszusprechen, aber er musste sichergehen, dass Grauen-Eminenz ebenfalls wusste, dass es jetzt an der Zeit war zu agieren: „Ich habe ihn.“ Trust bemühte sich, Secrets Gedankenstrang im Blick zu behalten. Näher traute er sich allerdings nicht an ihn heran.   Grauen-Eminenz konnte nicht fassen, dass dieses Rumgestehe wirklich zu etwas geführt haben sollte. Er ließ seine Aufmerksamkeit zurück in die Hand auf Unites Schulter wandern. Die ganze Zeit über hatte er nichts gespürt. Nicht mal ein sonderliches Energieniveau. Er hatte sich daher in der Zwischenzeit so platziert, dass er Desire und Change im Blick behalten konnte. Nicht dass das bloß ein Ablenkungsmanöver war, um ihn zu attackieren. Er fühlte etwas, doch er musste erst daraus schlau werden. Die Information war durcheinander, als wären verschiedene Sprachen miteinander gemischt worden. Gefühl, Gedanke, Ort. Das war einfach nur ein riesiges Chaos! „Was soll ich damit anfangen?“, schimpfte er. „Mach das, was du tust, um das Portal einzustellen.“, sagte Unite in ungewohnt ruhigem, geradezu fremdartigen Ton. Sie klang so ganz anders als zuvor. „Ich brauche dazu genauere Informationen!“ „Tu es einfach.“, antwortete Unite. Er stöhnte und konzentrierte sich auf das Portal, auch wenn er nicht wusste, was das bringen sollte. Es brauchte exakte Parameter und Ortsangaben, um ein Portal einzustellen. Fast hätte er einen Satz von ihr weg gemacht, als er spürte, dass etwas von ihrem Körper auf ihn überging. Das war nicht einfach eine Information! Sie stellte eine Verbindung zwischen ihm und sich, nein, eine Verbindung zwischen ihm, sich und den anderen beiden her! Wie ein gemeinsamer Stromkreis. Die Energie, die in diesem Kreis floss war eine abgerundete Symbiose aus den Schwingungen jedes einzelnen, als hätte dieses Mädchen die Energien von etwas bereinigt, das wie eine kantige Oberflächenstruktur das Fließen durch den nächsten Organismus unmöglich gemacht hätte. Als hätte sie eine Mischung aus verschiedenen Blutgruppen von ihren Antigenen befreit und somit eine Transfusion ohne Verklumpen ermöglicht. Was ihm zuvor wie ein sinnloses Kauderwelsch vorgekommen war, war nun eindeutig, als habe dieses Mädchen es in seine Sprache übersetzt, ja in seine eigenen Worte. Doch das war nicht alles. Er begriff, dass die Logik, die er darin erkannte nicht dem entsprach, was er zu denken gewöhnt war. Es war, als hätte sie ihn in ihre Arbeitsweise eingeweiht, ohne ihm etwas erklären zu müssen. Einfach durch ihre Kraft. Was war das für eine unglaubliche Gabe? Seine Zweifel und sein Zynismus waren wie weggefegt, die beruhigende Schwingung, die von Unites Körper auf ihn überging, wies ihn an, sich auf das Portal zu konzentrieren. Die Bewegung seiner Gedanken und die Einstellungen, die er vornehmen musste, flossen in ihn, sie wurden ausgeführt, als lenke die Muse sein Handeln. Er musste nicht darüber nachdenken, seine Muskulatur und sein Verstand arbeiteten automatisch, wie aus sich selbst getrieben und von außen zusätzlich gespeist. Vor seinem inneren Auge griffen die verschiedenen Riegel ineinander, bildeten ein harmonisches Bild wie in einem Kaleidoskop, nur dass er dieses Bild nicht durch zufälliges Drehen, sondern gezielte Schritte zusammengebaut hatte. Er wusste, dass jede Einstellung exakt war. Alles war genau wie es sein sollte. Er hörte die anderen beiden Beschützer, die hinter ihm standen, einen erschrockenen Laut von sich geben. Als er die Augen öffnete hatte das Portal sich in einen dunkelblau-lila leuchtenden Strudel verwandelt. Wie der Eingang zu einer anderen Galaxie. Normalerweise hätte er einen zynischen Kommentar abgelassen, aber dazu war er nicht mehr in der Lage. Noch immer spürte er die verbindende Energie, die Unite in einer gleichmäßigen Bewegung im Schwung hielt, regelrecht jonglierte wie ein Virtuose. Er war noch immer überwältigt von ihrer Fähigkeit.   Change stieß einen euphorischen Siegesschrei aus, der Destiny, Trust und Unite dazu ermutigte, die Augen zu öffnen. „Ihr habt es geschafft!“, jubelte Desire. Die drei anderen Beschützer sahen sich an, unsicher, ob sie einander jetzt wieder loslassen konnten. „Ist das so richtig?“, fragte Unite Grauen-Eminenz. „Ja.“, sagte er in sehr viel ruhigerem Ton als er bisher gesprochen hatte. Destiny und Trust beendeten daraufhin die Verbindung. Zu Unites Überraschung nahm Grauen-Eminenz seine Hand jedoch nicht von ihrer Schulter. Vielleicht war er einfach noch zu sehr davon beeindruckt, dass es ihnen tatsächlich gelungen war, das Portal einzustellen. Change trat zu ihnen. „Also los.“ Unite spürte, wie Grauen-Eminenz‘ Hand, die bisher nur ruhig auf ihrer Schulter gelegen hatte, sich anspannte, als wolle er sie festhalten. „Ist es sicher, da reinzugehen?“, fragte Destiny argwöhnisch. „Es sieht … anders aus.“ Trust starrte das Portal an. „Secret sollte dort sein.“ „Tot oder lebendig?“, scherzte Change. „Das ist nicht lustig!“, stieß Desire aus. „Er lebt.“, sagte Trust. „Ihr solltet nicht –“ Grauen-Eminenz unterbrach sich. Zögerlich nahm er die Hand von Unites Schulter. Verwundert drehte sie sich zu ihm und konnte Sorge in seinem Gesicht lesen. Dann wurden seine Züge fest. „Ich gehe. Ihr wartet hier.“ Schockiert sahen sie ihn an. Er fügte an: „Oder geht nach Hause. Mir egal.“ „Das geht nicht.“, antwortete Unite in betont ruhigem Ton, um ihn nicht merken zu lassen, dass sie hier drin gefangen waren. „Secret wartet auf uns.“ Grauen-Eminenz deutete auf das Portal. „Ihr habt keine Ahnung, was dahinter ist!“ „Secret.“, entgegnete Unite. „Das ist alles, was wir wissen müssen.“ Grauen-Eminnez stöhnte. „Das ist kein Spiel.“ „Das war es noch nie.“, sagte Unite überzeugt. „Ihr versteht nicht. Das ist nicht wie mein Schatthenreich!“ Grauen-Eminenz‘ Stimme wurde vehementer. „Ihr habt keine Ahnung, was in dieser Dimension auf euch lauert. Und dort ist niemand, der euch beschützt!“ Change wandte sich an die anderen. „Ist der jetzt kaputtgegangen? Seit wann macht der sich Sorgen um uns?“ Trust ging nicht auf Changes Worte ein und wandte sich stattdessen an den Schatthenmeister: „Bleibt das Portal automatisch geöffnet?“ „Das sollte es.“, brummte Grauen-Eminenz. „Und wenn nicht?“, wollte nun auch Desire wissen. Unite wandte sich an den Schatthenmeister. „Du sorgst dafür, dass das Portal offen bleibt.“ Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er damit nicht einverstanden war. „Wenn irgendetwas ist, kommst du nach.“, sprach Unite weiter. „Trust kontaktiert dich.“ Grauen-Eminenz gab ein Grollen von sich und wandte sich an Trust. „Beweis es.“ Trust zögerte. Schließlich holte er tief Luft und schloss die Augen. „Du sollst nicht meine Gedanken lesen!“, schimpfte Grauen-Eminenz. „Das tue ich nicht.“, entgegnete Trust bestimmt. Die Gewitterfront, die zuvor Grauen-Eminenz‘ Gedankengänge verdeckt hatte, war nicht länger vorhanden. Verwirrt musste Trust feststellen, dass an ihre Stelle eine wunderschöne Erscheinung getreten war. Die Welle hatte eine ebenmäßige, sanfte Schwingung in lila-violetter Farbe, strahlte jedoch ein weißes Leuchten aus, das an seinen Enden in ein Gold überging. Wenn Trust nicht gewusst hätte, dass es sich bei der einzigen ihm unbekannten Gedankenwelle in der unmittelbaren Umgebung um den Schatthenmeister handeln musste, hätte er es nicht geglaubt. Er schickte der leuchtenden Erscheinung einen seiner Gedanken. ○ Können Sie mich hören? „Okay.“, verkündete Grauen-Eminenz. Im gleichen Moment sah Trust das violette Farbspiel hinter einer abermals aufziehenden grauen Wolkenfront verschwinden. Wieder sah Grauen-Eminenz zu Unite und sie konnte nicht umhin festzustellen, dass er sich wirklich Sorgen machte. „Wir holen ihn zurück.“, versprach sie. „Beeilt euch.“, gab er knapp von sich.  Kapitel 128: Nebendimension --------------------------- Nebendimension   „Einem ist Krieg Spiel, einem ist Spiel Krieg.“ (Manfred Hinrich)    Ewigkeit hatte die Position auf seinem Knie nicht verlassen, der Bedroher saß noch immer mit verschränkten Armen gegen den Fels hinter sich gelehnt. Doch mit einem Mal wurde er unruhig und machte den Ansatz, aufzustehen. „Sie sollten gleich da sein.“ Ewigkeit erhob sich in die Lüfte. Secret baute sich zu voller Größe auf und grinste sie an. „Die werden Augen machen, wenn sie uns sehen.“ Ewigkeit wusste nicht, was er damit meinte, aber erwiderte das Lächeln. Secret hob seine Rechte. „Komm hier her.“ Er bedeutete ihr, auf seinem Handteller zu landen. Unbedarft kam sie seiner Bitte nach. Minuten verstrichen, in denen nichts geschah. Secret gab ein Stöhnen von sich. „Auf meine Schulter.“, befahl er. Ewigkeit war unklar, ob sie etwas falsch gemacht hatte, verließ seine Handfläche und schwebte auf seine rechte Schulter, während er die Arme wieder vor der Brust verschränkte. „Wie lange brauchen die denn?“, schimpfte Secret und begann ungeduldig mit dem Fuß zu wippen. Ewigkeit überlegte, was Vereinens Geschwister machten, wenn ihnen langweilig wurde. „Wir könnten ein Spiel spielen.“ Eine ziemlich genervt wirkende Gesichtshälfte drehte sich zu ihr. Ewigkeit zuckte zusammen. Secret stieß die Luft aus. „Das tun wir doch schon.“ Ewigkeit schwebte von seiner Schulter, um sein Gesicht sehen zu können. „Was für eins?“, wollte sie erfahren. „Schatzsuche.“, antwortete er. Das klang spannend! „Was ist das für ein Schatz?“, fragte sie aufgeregt. Secret grinste sie an. „Das müssen wir erst noch herausfinden.“ Seine Mundwinkel senkten sich wieder. „Aber dafür müssen erst mal die anderen hier auftauchen. Wie kann man nur so lange brauchen?“ Weitere Momente vergingen. Abermals seufzte Secret genervt. „Sind die immer so langsam?“, fragte er Ewigkeit. Sie zuckte mit den Schultern. „Komm.“, sagte Secret und lief zu dem Schlund, aus dessen Tiefe der gewaltige Tropfstein hervor wuchs. Er deutete nach oben. „Dort müssen wir hin.“ „Ist da der Schatz?“ Secret nickte. „Soll ich dorthin?“, fragte sie. Er bedachte sie mit einem stummen Blick, dann schüttelte er den Kopf. „Es könnte gefährlich sein.“ „Aber dann sollte ich nachschauen, was dort ist, oder?“ Secret schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht teleportieren und ohne die anderen kann dich auch keiner heilen, wenn dir was passiert.“ Ewigkeit nickte einsichtig. „Der Schatz ist gut bewacht?“ Secret nickte. „Deshalb brauchen wir die anderen. Und deshalb machen wir es so, wie ich es dir vorhin erklärt habe.“ Ewigkeit nickte überzeugt. Secret horchte auf. „Na endlich.“ Er drehte sich zu der Felswand hinter ihnen um.   Hand in Hand traten die Beschützer ihren Weg durch das Portal an. Sie hatten darüber diskutiert, dass Desire und Destiny vorausgehen sollten, um notfalls sofort ihre Paralyse und den Schutzschild einsetzen zu können. Destiny hatte jedoch darauf bestanden, dass es sinnvoller war, mit Change vorzugehen, schließlich konnte er teleportieren und die Gefahr, Desire versehentlich zu paralysieren, bestand in diesem Fall nicht. Change hatte auf die Aussicht, an Desires Stelle paralysiert zu werden, nicht grade freudig reagiert, aber hatte dann ohne Widerworte Destinys Hand ergriffen. Unite hatte ihre Hand auf Changes Rücken gelegt und hielt mit der anderen Desire, die mit Trust zusammen die Nachhut bildete. Schließlich fanden sich auch die letzten von ihnen in einer Art Höhle wieder. Secrets Stimme empfing sie: „Ihr habt euch Zeit gelassen!“ Die fünf stoben auseinander, um ihn in Augenschein zu nehmen. Zu ihrer Überraschung schwebte Ewigkeit neben ihm. Destiny streckte ihm drohend den Arm entgegen. Gelangweilt hob Secret die Augenbrauen. „Du weißt, ich bin schneller als du.“ Trust trat vor. „Wir werden jetzt von hier verschwinden!“ Secret deutete auf ihn oder vielmehr hinter ihn. Die Beschützer drehten sich um und erkannten, dass das Portal, das sie soeben durchschritten hatten, verschwunden war. Trust biss die Zähne zusammen. „Wir hatten nicht vor, durch das Schatthenreich zu gehen.“. Ein schiefes Grinsen erschien auf Secrets Zügen. „Wie kommst du darauf, dass ihr von hier rausteleportieren könnt?“ „Ewigkeit ist hier.“, antwortete Trust mit fester Stimme. „Das heißt, sie konnte sich auch hierher teleportieren.“ Secret reckte gönnerhaft das Kinn. „Nur leider werde ich nicht mit euch gehen. Und ihr wollt mich hier doch nicht alleine lassen.“ Er stemmte die Rechte siegessicher in seine Seite. Trust durchbohrte ihn mit Blicken. „Wir sind nicht hier, um dir bei deiner Mission zu helfen.“ Nun grinste Secret amüsiert. „Warum seid ihr sonst hier?“ Change antwortete leichthin. „Wir können aus dem Schatthenreich nicht teleportieren. Also mussten wir hierher.“ „Achso.“, sagte Secret süffisant. „Es macht euch also nichts aus, wenn Erik etwas zustößt.“ Schockiert starrten sie ihn an. „Oder eurem Gleichgewichtsbegleiter.“, fügte er an und hielt im gleichen Moment Ewigkeit mit seinen telekinetischen Kräften fest. „Lass sie los!“, brüllte Trust. „Wer wird denn gleich laut werden?“, höhnte Secret. „Ihr müsst nur tun, was ich euch sage, dann passiert keinem was.“ Unite seufzte lang und theatralisch und tat ein paar Schritte nach vorne. „Du weißt doch, dass wir dir ohnehin helfen. Du kannst sie also auch loslassen.“ Secret hob kritisch eine Augenbraue. „Du hast doch selbst gesagt, wir würden dich nie alleine lassen.“, sagte Unite lächelnd. Secrets Blick glitt zu Trust. „Stimmt’s, Trust?“, fragte Unite. Trust sah alles andere als begeistert aus. Er drehte sich zu den anderen, um zu sehen, wie sie dazu standen. Destiny stöhnte. „Wieso müssen wir immer das machen, was Secret will?“ Es klang weniger so, als könne sie das nicht mehr ertragen, als vielmehr beleidigt, dass sie und die anderen nicht auch mal die Spielregeln bestimmen durften. „So heißt eben das Spiel.“, sagte Unite unbekümmert. „Secret sagt.“ „Schatzsuche!“, verbesserte Ewigkeit freudig. Alle starrten sie an. „Ssch.“, machte Secret in ihre Richtung, woraufhin Ewigkeit eilig nickte. „Was wird hier gespielt?“, fragte Desire irritiert. Secret verdrehte die Augen und ließ Ewigkeit los. „Ich hab dir gesagt, du sollst nichts sagen.“ Die Kleine schwebte an seine Seite. „Tut mir leid.“ „Was geht hier vor?“, verlangte Desire nochmals, nun mit mehr Nachdruck, zu erfahren. Unite drehte sich zu ihr. „Offenbar hat Secret mit Ewigkeit ausgemacht, dass er sie als Druckmittel einsetzt.“ Desire zog eine fassungslose Miene. „Das geht eindeutig zu weit!“, schrie Destiny Secret an. Secret zuckte nur mit den Schultern. „Alter, so machst du dir keine Freunde.“, pflichtete Change bei und deutete bedeutungsvoll auf Trust. „Trust hat nen halben Herzinfarkt bekommen.“ Trust sah zu Change und schien ihn mit Blicken zu fragen, was das nun heißen sollte. Change machte eine lässige Armgeste. „Also, was sollen wir machen? Ich hab keinen Bock drauf, aber du gibst vorher ja eh keine Ruhe.“ „Es ist nicht so spaßig, wenn ihr es einfach macht.“, entgegnete Secret. Change spottete: „Uuuuh, soll ich jetzt ängstlich schauen oder willst du mich erst an eine Wand klatschen, bevor wir tun, was du willst?“ „Keine schlechte Idee.“, grinste Secret. „Wehe!“, schrie Destiny. Secret machte eine wedelnde Handbewegung. „Jaja, nur du darfst ihm wehtun, hab schon verstanden.“ „Verdammt richtig!“, rief Change. Destiny warf ihm einen schockierten Blick zu und schüttelte den Kopf. „Oder so ähnlich.“, fügte Change an. „Keiner tut Change weh.“, kam Desire ihm zu Hilfe. „Genau.“, stimmte Change nickend zu. „Und was sollen wir jetzt machen?“ „Da oben ist ein Schatz!“, informierte Ewigkeit sie. „Dort sind Lichtlose.“, verbesserte Trust streng. Ewigkeit machte große Augen und sah bestürzt zu Secret. „Was? Ich hab nicht gesagt, was für ein Schatz.“, verteidigte sich Secret. Ewigkeit zog einen beleidigten Schmollmund. „Hab dich nicht so. Oder willst du, dass jemand anderes diese gefährlichen Lichtlosen hier entdeckt?“ Ewigkeit schien darüber nachzudenken. „Du willst sie doch nur dem Schatthenmeister übergeben.“, warf Trust ihm vor. Secret lachte auf. „Ach, das denkst du?“ „Was solltest du sonst damit vorhaben?“ Secret zog die Augenbrauen zusammen. „Ja, vielleicht hatte ich genau das vor.“ Etwas wie Verachtung erschien auf seinen Zügen. „So wie der brave Junge, der du bist.“ Trust stockte. Ein hämisches Grinsen nahm Secrets Gesicht ein. „Du würdest doch alles tun, was ein Erwachsener dir sagt, damit du weiterhin jedermanns Liebling bist.“ Er spuckte zu Boden, um seine Abscheu deutlich zu machen. „Erbärmlich.“ Trust ballte die Hände zu Fäusten. Unite trat neben ihn und berührte seine Linke. Erbittert starrte er auf sie herab, als wolle er sie für Secrets Worte strafen. Sie begegnete ihm mit flehentlichem Blick. Trust entriss ihr seine Hand und wandte sich ab. Sein Verhalten tat Unite weh, doch sie wusste, dass das, was er ihr stumm vorwarf, zutraf. Sie würde tun, was Secret verlangte, egal wie sehr Trust dagegen war. Dass er sich deswegen verraten fühlte, konnte sie nachvollziehen. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie das wiedergutmachen konnte. Kurz überlegte sie, Trust per Telepathie daran zu erinnern, dass Secret sie angreifen würde, wenn sie nicht taten, was er ihnen befahl. Aber dann hätte er wohl nur darauf bestanden, dass sie ohne Secret von hier weg teleportierten, und das konnte sie nicht zulassen. Sie drehte sich zu Secret. „Was sollen wir tun?“   Sie hatten sich in einer Reihe aufgestellt. Secret bildete das eine Ende, Destiny das andere. Wegen ihrer Paralyse-Kräfte hatte Secret darauf bestanden, dass sie am weitesten von ihm entfernt stand. „Du fliegst vor.“, sagte Secret zu Ewigkeit. Sie nickte. Change, der neben ihm stand, hatte Einwände. „Es wäre besser, ich fliege vor und teleportiere dann zu euch zurück.“ Er verzog das Gesicht. „Es ist echt Mist, mit so vielen Leuten gleichzeitig zu fliegen!“ „Ach, willst du lieber ohne Schutzschild und ohne sonstige Verteidigung fliegen?“, fragte Secret höhnisch. Change grummelte und sah kurz zu den anderen. Dann holte er tief Luft. „Haltet euch fest!“ Er ließ seine Kräfte mit Unites Unterstützung durch die anderen fließen. Sie erhoben sich vom Boden. Langsam gewannen sie an Höhe. „Geht das auch schneller?“, nörgelte Secret. „Halt’s Maul.“, blaffte Change. Als sie genug Abstand zum Boden erreicht hatten, neigte Change seinen Oberkörper leicht nach vorne, sodass auch die anderen in diese Position wechselten. „Mit diesem Riesenfelsteil in der Mitte wird das nicht leicht.“, sagte Change. „Dann streng dich mal an.“, meinte Secret provokativ. Der Flug ging los und Change wechselte erneut die Körperposition. Sie flogen nun nach oben. „Bleibt eng zusammen!“, rief er. Destiny klammerte sich an Desires Hand fest. Sie war bisher nie außen geflogen, außer mit Change alleine, aber das hier war ein Albtraum. Sie sah hinab in die ewig wirkende Tiefe und kniff die Augen zu. „Ganz ruhig.“, sprach Desire ihr besänftigend zu. „Change schafft das.“ Destiny nickte. Ihre Hand tat jetzt schon weh. Sie flogen immer höher, Ewigkeit ihnen voraus. Change bemühte sich, das Tempo gemäßigt zu halten, da er mit der ganzen Gruppe seine Wendigkeit eingebüßt hatte und bei etwaigen Hindernissen schnellstmöglich reagieren können wollte. „Vorsicht!“, schrie Secret plötzlich. Change wusste nicht, worauf sich der Ausruf bezog, er konnte nichts ausmachen, das eine Gefahr darstellte. Eine jaulende Windböe kam aus dem Nirgendwo geschossen, als würde sie dem Fels um sie entspringen. Die Gruppe kam ins Trudeln und schrie. Change versuchte verzweifelt gegen die Kraft des Windes anzukommen. Er hörte Tiny kreischen und war bemüht, die Gruppe wieder in eine aufrechte Haltung zu bringen. Doch schon riss ein weiterer Windstoß an ihnen. Desire schrie etwas, das er nicht verstand. Das schrille Kreischen von Destiny klang wie aus weiter Entfernung. Er wusste nicht, was vor sich ging, war zu sehr damit beschäftigt, noch zu wissen, wo unten und oben war. Er atmete hektisch. Ein jähes Gewicht riss ihn an Secrets Seite nach unten. Als er zu Secret sah, bemerkte er, dass dieser den freien Arm nach etwas ausgestreckt hatte und wie unter höchster Anstrengung die Zähne zusammenbiss. Changes Blick schnellte in die Tiefe. Meterweit unter ihnen hing Destiny in der Luft, allein von Secrets telekinetischen Kräften gehalten. Entsetzen packte ihn. Er wollte sich losreißen und zu ihr fliegen, aber das ging nicht! Er war das einzige, das verhinderte, dass auch die anderen abstürzten. Wie lange würden Tiny und Secret das aushalten? In Windeseile ging er seine Optionen durch. So konnte er auf keinen Fall weiter nach oben fliegen! Auch wenn Secret Destiny festhielt. Und egal wie schnell er zu Serena zu teleportieren versuchte, in der Millisekunde, in der er die Gruppe teleportierte, würde die telekinetische Verbindung zwischen ihr und Secret abbrechen und sie würde in die Tiefe stürzen. Destiny war von ihnen abgeschnitten! „Ich übernehme!“, schrie Unite neben ihm. Change sah sie ungläubig an. Unite hatte noch nie alle auf einmal in der Luft halten müssen. Secret brüllte ihn an: „Jetzt hol sie schon!“ Destiny hing so weit unter ihnen, dass die Verstärkung seiner Kräfte, die mit der Telekinese einherging, offenbar eine Grenze erreicht hatte. Change führte Unites Hand zu Secrets. Dann ließ er los. Er nahm sich nicht die Zeit, sich zu überlegen, ob er mit der Teleportation schneller bei ihr sein könnte. Er war es nicht gewöhnt, in Höhen zu teleportieren und er konnte nicht riskieren, dass etwas schiefging. In rasantem Sturzflug näherte er sich Destiny, bremste ab und begab sich wieder in eine aufrechte Haltung. Er musste kurz nachdenken, wie er sie am besten zu greifen bekam, ohne Secrets Telekinese in die Quere zu kommen. Er schwebte auf ihre Höhe und legte seinen Arm um ihre Taille, ließ seine Levitationskräfte auf ihren Körper übergehen. Im gleichen Moment ließ Secret sie los. Destiny gab einen erschrockenen Laut von sich, aber sie konnte nicht mehr fallen. „Halt dich fest.“, stieß Change aus und merkte, wie schwach seine Stimme klang. Sofort schlang Destiny ihre Arme um seinen Hals und drückte sich verängstigt an ihn. Change hob seinen noch freien linken Arm in die Höhe, um damit zu navigieren. Schnellstens flog er wieder nach oben zu den anderen, denn er wusste, dass Unite einen Windstoß wie den eben nicht überstehen würde. Sie war schon völlig damit ausgelastet, die anderen und sich selbst nicht abstürzen zu lassen. Die Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Gekonnt flog Change an Desires Seite. Diese hielt ihm bereits die Hand hin, die er sogleich ergriff. Doch der Versuch, sie alle direkt aus der Gefahrenzone zu manövrieren, misslang. Nicht lange damit aufhalten! „Komm hier rüber!“, schrie er Secret über das Pfeifen des Windes zu. „Wie?“, brüllte dieser zurück. „Zieh dich an mich ran!“, befahl Change. „Wenn ich dich von den anderen wegreiße!“, gab Secret zu bedenken. „Dann streng dich an!“, konterte Change. Hochkonzentriert hob Secret seinen linken Arm und verzog das Gesicht. „Sie ist im Weg!“ Destiny klammerte sich noch immer an Change fest und verdeckte damit jede Möglichkeit für Secret sich an Change heranzuziehen. Change biss die Zähne zusammen. Er hielt Destinys Taille noch fest umschlungen, aber wenn das funktionieren sollte, musste er sie jetzt loslassen. „Halt dich fest.“, sagte er ihr nochmals. „Ich lass dich nicht fallen.“ Solange sie Körperkontakt zu ihm hielt, würde die Levitation sie tragen. Sie durften nicht noch mehr Zeit verlieren. Change ließ Destiny los und streckte seinen rechten Arm aus. Im gleichen Moment spürte er, wie Secret an ihm riss. „Wir bilden jetzt einen Kreis!“, schrie Change den anderen zu. Auch wenn sie dadurch mehr Platz zum Fliegen brauchten, war das die sicherere Variante, um zu verhindern, dass einer von ihnen von einem erneuten Windstoß mitgerissen wurde. Change und Secret näherten sich einander, dafür mussten die anderen die Verbindung stabil halten. Endlich gelang es, die Kette zu einem Kreis zu formen und Secret bekam Changes Unterarm zu packen. Change atmete kurz auf und wandte sich wieder Destiny zu. „Tiny. Es ist besser, du nimmst jetzt meine und Secrets Hand. Sie reagierte nicht. „Tiny.“ „Ich kann nicht.“, winselte sie. „Natürlich kannst du.“, versuchte er, ihr Mut zuzusprechen. „Lass sie.“, sagte Secret und ließ Changes Arm los. „Bist du irre?“, schrie Change. Doch im gleichen Moment spürte er wie Secret telekinetisch nach seinem Kopf griff. „Au!“ „Irgendwie muss ich ja an dich rankommen!“ Offenbar tastete sich Secret mit seinen Kräften zu seiner linken Schulter vor. „Das ist ne Scheißidee!“, rief Change. „Leg deinen Arm um sie, damit sie zufrieden ist!“, gab Secret zurück. „Halt’s Maul!“, blaffte Change, tat aber wie ihm geheißen, um Destiny abzusichern. Dann spürte er, wie Secrets Hand auf seinem Nacken landete. Die Hand tastete sich weiter, bis sie seine Schulter erreicht hatte. „Alter, du rückst mir ganz schön auf die Pelle!“, schimpfte Change, der nun vorne von Destiny und hinten von Secret festgehalten wurde. „Ach, ich dachte, so zwischen mir und Destiny eingequetscht, das würde dir gefallen.“, höhnte Secret. Change schluckte einen Kommentar runter. „Kommt näher zusammen!“, rief er den anderen zu. Sie bildeten jetzt einen engen Kreis. Change blickte nach oben. „Ewigkeit!“ Die Kleine erschien direkt über seinem Gesicht. Zum Glück war ihr nichts passiert. „Gibt es auf der Strecke ein Hindernis?“ Ewigkeit schüttelte den Kopf. „Ok. Haltet euch verdammt gut fest!“, wiederholte er noch einmal. „Soll ich den Schutzschild einsetzen?“, fragte Desire. „Das bringt nichts. Es hindert niemanden daran, rauszufallen.“, erwiderte Change. Auch die Windböen würden wohl durch den Schutzschild nicht abgehalten werden. Change entschied sich, dieses Mal nicht im Schneckentempo hochzufliegen. Die Gefahr, sonst erneut einer Windböe zum Opfer zu fallen, war ihm zu groß. Er setzte die Gruppe in Bewegung und flog so schnell er es eben wagte, ohne den Kreis dadurch zu gefährden. Als er merkte, dass die Konstruktion hielt, beschleunigte er nochmals. Doch leider konnte er nur nach oben sehen. „Ewigkeit! Du musst mir sagen, wo ich hin muss!“ Daraufhin lotste sie ihn. Es ging noch weiter hinauf. Eine weitere Windböe riss an der Gruppe. Anstatt anzuhalten, flog Change schneller, gab alles, um die Gruppe auf Kurs zu halten. „Wie weit noch?“, brüllte er. „Noch ein Stück!“, war die Antwort. Change nahm seine letzten Kräfte zusammen und flog weiter. „Langsamer!“, rief Ewigkeit. Change bremste ab. „Noch etwas höher. Jetzt nach vorne. Etwas nach links. Noch ein bisschen. Wieder vor. Langsam absetzen.“ Angestrengt folgte Change Ewigkeits Anweisungen. Als er endlich Boden unter seinen Füßen spürte, wäre er fast zusammengebrochen, hätte er nicht Destiny in Armen gehalten und Secret im Rücken gehabt. Er rang nach Atem. Die anderen ließen voneinander ab und schüttelten ihre schmerzenden Arme aus. Sie befanden sich offenbar auf dem Abschluss des gewaltigen Tropfsteins.  Endlich ließ Destiny ihn los und Change sank zu Boden. Er war völlig am Ende. Destiny kniete sich zu ihm. „Es tut mir leid.“ „Sei still.“, presste er hervor. Er wollte grade keine unnötigen Entschuldigungen von ihr hören und hatte nicht die Kraft ihr zu erklären, dass sie nichts falsch gemacht hatte. „Lass ihn.“, sagte Secret ruhig. „Du!“, schrie Destiny und sprang wieder auf die Beine, sie zitterte. „Das ist alles deine Schuld!“ Secret seufzte. „Wer hat sich vom Wind wegreißen lassen und wollte Change dann nicht mehr loslassen?“ Destiny funkelte ihn in einer Mischung aus Ohnmacht und Wut an. „Wenn du mich jetzt paralysierst, kommen wir hier gar nicht mehr raus.“, meinte Secret. „Dann kann Change uns hier weg teleportieren!“ „Ach, und du denkst, das hat er eben nicht schon versucht, um uns zu retten?“, entgegnete Secret. Destiny drehte sich zurück zu Change, der von Desire behandelt wurde. „Wir kommen hier nicht so einfach wieder raus.“, eröffnete Secret. „Man kann hier reinteleportieren, aber nicht raus.“ „Woher willst du wissen, dass es überhaupt einen Ausgang gibt!“, schrie Destiny. „Sechster Sinn.“, erinnerte er. „Du hättest uns fast umgebracht!“, kreischte sie. „Aber wir leben noch.“ „Glaub nicht, dass ich dir dankbar bin!“, fauchte sie. „Das hab ich nicht erwartet.“, antwortete Secret, weiterhin gelassen. Trust biss die Zähne zusammen und ermahnte sich, Ruhe zu bewahren. Er kniete sich zu Change. „Wie geht es dir?“ Change nickte bloß, sah aber nicht gut aus. „Mehr kann ich nicht tun.“, bedauerte Desire. Unite kniete sich ebenfalls zu Change und zog seinen Kopf in eine feste Umarmung. „Unite, deine Brüste zerquetschen mich.“, klagte Change. Sie kicherte und ließ ihn wieder los. „Danke.“ Change rappelte sich wieder auf und funkelte Secret an. „Du bist echt ein Scheißkerl.“ Secret blieb davon unbeeindruckt. „Danke, dass du sie festgehalten hast.“, ergänzte er. Secret zuckte nur mit den Schultern. „Du brauchst dich nicht bei ihm bedanken!“, wetterte Destiny. „Wenn er nicht gewesen wäre, wären wir gar nicht hier!“ „Das war unsere Entscheidung!“, antwortete Change. Destiny stockte und schlug die Augen nieder. „Der einzige, der sich beschweren kann, ist Trust.“, fügte Change an. Trust seufzte und stand auf. „Stimmt es, dass wir hier nicht rausteleportieren können?“ Change senkte den Blick. Als er die anderen wieder erreicht und Desires Hand ergriffen hatte, war der Versuch erfolglos gewesen. „Wir können es noch mal versuchen.“ Zu ihrer Überraschung reichte Secret ihnen bereitwillig die Hand. Destiny sah ihn so böse an, als würde sie darüber nachdenken, ihn an diesem Ort zurückzulassen. Vielleicht war sie auch einfach nur verletzt. Doch wie Secret vorhergesagt hatte, war es nicht möglich, sich zurück in die normale Welt zu teleportieren. „Das hier ist wie eine Einbahnstraße.“, erklärte Secret. „Portale und Teleportation  können einen hier reinbringen, aber nicht wieder hinaus. Das war wohl ein Schutz für das, was sich hier drin befindet.“ „Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?“, fragte Trust misstrauisch, als wittere er einen Komplott. „Wo wäre da der Spaß gewesen?“, entgegnete Secret mit einem schiefen Grinsen. „Wie kommen wir dann hier raus?“, wollte Desire wissen. „Ohne Ausgang wäre der Erschaffer selbst hier drin gefangen gewesen.“, gab Secret zu bedenken. „Vermutlich befindet er sich in der Nähe dessen, was hier versteckt ist.“ „Du willst nur die Büchse der Pandora holen.“, warf ihm Trust vor. Secret blieb locker. „Es ergibt einfach den meisten Sinn, dass das, was am besten geschützt ist, auch zum Ausgang führt, findest du nicht?“ „Wartet.“, sagte Desire. „Wenn es wirklich stimmt, dass es nur einen Ausgang gibt und man hier drin gefangen ist, wenn man diesen nicht erreicht, wieso bist du dann hier reingegangen? Das war doch reiner Selbstmord!“ Sie wandte sich an die anderen. „Er lügt. Es gibt bestimmt noch einen anderen Ausgang.“ Secret reckte das Kinn und sah sie mit verletztem Stolz in den Augen an. „Ich lüge nicht. Ich war bloß überzeugt, dass ihr auftauchen würdet.“ Change zog eine Grimasse. „Bist du bescheuert? Wir wären fast nicht gekommen.“ Secret wandte den Blick ab, seine Stimme verlor an Vehemenz. „Aber ihr seid da.“ Trusts Gesichtszüge wurden hart. „Gib mir einen Grund, dir zu vertrauen.“ Secret grinste überlegen. „Es ist besser, mir nicht zu vertrauen.“ „Jaja.“, machte Unite, als nähme sie Secrets Gerede ohnehin nicht ernst. „Also, wo müssen wir lang?“ „Halt mal.“, warf Destiny ein. „Diese Dimension ist nur dafür da, diese Büchse zu verstecken, je näher wir ihr kommen, desto gefährlicher wird es. Und wir laufen da jetzt einfach hin?“ „Sieh es als extra Training.“, sagte Secret selbstgefällig und war jäh paralysiert. Change bekam einen Lachflash. „Tiny! Du bist genial!“ Er schlug ihr laut lachend auf den Rücken. Desire schüttelte nur noch den Kopf und trat an Secrets Seite. „Soll ich ihn läutern?“, fragte sie Trust. „Wir werden seine Hilfe brauchen.“, meinte Unite. Desire setzte ihre Kräfte ein. Im nächsten Moment wurden Change die Beine telekinetisch weg geschlagen, sodass er zu Boden knallte, was seinen Lachschwall abrupt beendete. „Hey!“, schimpfte Change. „Tiny hat dich paralysiert!“ „Du hast gelacht.“, gab Secret patzig zurück. Desire seufzte und bedeckte ihr Gesicht mit einer Hand. „Wenn du ihn noch mal angreifst, kannst du froh sein, wenn ich dich nur paralysiere!“, drohte Destiny Secret. „Oh, entschuldige, dass dein Liebster auf die Fresse geflogen ist.“, spottete Secret. Schon war er erneut paralysiert. „Destiny!“, klagte Desire. „Wie oft soll ich das denn noch machen? Ich hab langsam keine Lust mehr.“ Dennoch läuterte sie Secret erneut. Secret brüllte Destiny an: „Nächstes Mal schmeiß ich dich die Klippe runter!“ Desire neben ihm sah ihn vorwurfsvoll an. „Was?“, schimpfte er. „Ich habe keine Lust, dich schon wieder läutern zu müssen.“, erklärte Desire. Secret verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Offenbar hatte keiner mehr Respekt vor ihm. „Also wo müssen wir lang?“, fragte Unite lächelnd. Ewigkeit neben ihr untermalte die Worte mit einem heiteren Glöckchenlaut. Kapitel 129: Familienausflug ---------------------------- Familienausflug   „Freunde sind die Möglichkeit, sich seine Familie auszusuchen.“ (Oliver Lenz)    In ein paar Metern Höhe hatten sie in der Felswand einen Eingang entdeckt. Da der Bereich zu schmal war, um für sechs Personen auf einmal Platz zu bieten, hatte Change jeden einzeln teleportieren müssen. Schließlich zwängten sie sich hintereinander durch die enge Felsspalte. Ewigkeit war die einzige, die kein Problem mit der Breite des Weges hatte: Secret rief nach hinten. „Hey, Verlangen.“ „Nenn mich noch einmal so und ich läutere dich nicht mehr.“, gab Desire zurück. „Ich kann nichts dafür, dass du so einen zweideutigen Namen hast.“ „Da hast du wohl Recht, Sekret.“, erwiderte Desire. Secret musste grinsen, hörte damit jedoch auf, als er Change direkt hinter sich laut loslachen hörte. „Sekret!“, wiederholte Change begeistert. „Der könnte von mir sein!“ Secret stöhnte und versuchte es erneut. „Du solltest hinter mir laufen.“ „Wer?“, wollte Change wissen. Secret antwortete: „Die Beschützerin mit dem komischen Namen.“ Desire klang desinteressiert. „Ich reagiere nur auf meinen richtigen Namen!“ „Aber du wusstest sofort, dass ich dich meine.“, entgegnete Secret amüsiert. Desire stieß geräuschvoll die Luft aus, während sie sich mit den anderen weiter durch den engen Gang kämpfte. Change richtete das Wort an Secret: „Was hast du denn gegen ihren Namen? Tiny hat ihn ausgesucht.“ „Hab ich nicht.“, dementierte Destiny von hinten. „Natürlich!“, rief Change zurück. „Du hast dich beschwert, dass ich sie nicht Wish nennen soll.“ Stimmt, das hatte Destiny völlig vergessen. Nachdem sich Secret andauernd über diesen Namen lustig machte, bereute sie den Vorschlag. Secret kommentierte mit eindeutiger Belustigung in der Stimme: „Wie eine Shopping Webseite zu heißen, wäre auch nicht besser.“, Desire stöhnte entnervt. Trust meldete sich zu Wort: „Warum soll Desire hinter dir laufen?“ „Damit er mich noch mehr nerven kann.“, grollte Desire. „Damit du dein Schutzschild rechtzeitig einsetzt.“, entgegnete Secret. „Falls es dir nicht aufgefallen ist, es ist hier verdammt eng und ich kann nicht einfach an Change vorbei.“, rief Desire zurück. Destinys Stimme erklang. „Wieso habe ich den Eindruck, das ist ein seltsamer Familienausflug?“ Unite kicherte. „Irgendwie schon.“ Passenderweise rief Secret in diesem Moment vor zu Ewigkeit: „Wie weit ist es noch?“ „Nicht mehr weit!“ Secret erreichte nach einigen Metern das Ende des Höhlengangs und sah sich einer weiten Schlucht gegenüber. In der Tiefe rauschten Wasserfälle. Nur ein schmaler Streifen Fels führte die Klippe entlang hin zu einem weiteren Eingang im Gestein. Change besah sich über Secrets Schulter hinweg das neue Bild. „Wieso muss ich hier eigentlich die ganze Arbeit machen?“ Secret sah sich um. „Wir können versuchen den Weg entlang zu gehen.“ „Da macht Tiny nicht mit.“, meinte Change. „Hast du denn genug Kraft, jeden von uns wieder einzeln da rüber zu teleportieren?“, fragte Secret. Change seufzte. Secret rief nach hinten: „Hey Tiny, kannst du Change zuliebe den schwierigen Weg nehmen?“ Change schüttelte den Kopf. „Ich teleportier sie rüber.“ „Dann teleportier wenigstens zwei gleichzeitig.“, meinte Secret. Change nickte und griff nach Secrets Schulter. „Halt dich an mir fest, Desire.“, sagte er nach hinten. Dann teleportierte er. Sobald sie in dem neuen Gang angekommen waren, ließ Change sie los und begab sich zurück zu den anderen. „Wir sollten ihnen Platz machen.“, sagte Secret und trat weiter in den Gang. Dieser war glücklicherweise deutlich breiter als der vorige. Desire tat es ihm gleich, sah ihn aber nicht an. Er betrachtete sie von der Seite. „Was?“, fragte sie gereizt, ohne sich ihm zuzuwenden. „Nichts.“, sagte Secret, ohne den Blick abzuwenden. „Hör auf, mich anzustarren.“ „Woher willst du wissen, dass ich dich anstarre und nicht das Ding neben dir an der Wand?“ Desire zuckte automatisch vor der Felswand zurück, sodass sie wieder in unmittelbarer Nähe zu Secret stand. Dann erkannte sie, dass er sie hereingelegt hatte. Er gab ein kehliges Lachen von sich. Im gleichen Moment tauchte Change mit den anderen bei ihnen auf. Ewigkeit folgte. „Weiter geht’s.“, sagte Secret und ergriff ohne Umschweife Desires Hand. Sie wollte sich beschweren, dass es nicht nötig war, Hand in Hand zu gehen, unterließ dies aber, schließlich war unklar, was noch auf sie wartete. Dennoch missfiel es ihr, dass Secret auf diese Weise eine Annäherung versuchte. Die Art, wie er sie eben angesehen hatte… Es war ihr zutiefst zuwider. Sie konnte selbst nicht genau sagen, warum, nur dass sie sich wünschte, Erik wäre jetzt bei ihr. Egal wie widersinnig das war. Wenn sie an Erik dachte, hatte sie ein schlechtes Gewissen und wusste nicht, wieso. Vielleicht weil Secrets Verhalten sie an ihn erinnerte, wenn er sie auf die Palme bringen wollte, und daher so provokativ mit ihr umging, als wolle er auf plumpe Art und Weise mit ihr flirten. Sie hatte das noch nie leiden können, aber bei Erik wusste sie mittlerweile, dass er in Wirklichkeit respektvoll und aufrichtig war. Egal wie furchtbar dickköpfig und kindisch er sich manchmal verhalten konnte, sie vertraute ihm. Secret war nicht zu trauen. Und sie durfte nicht den Fehler begehen, ihn mit Erik zu verwechseln. Ihre Gedanken daran wurden von dem Wechsel der Umgebung unterbrochen. Vor ihnen erstreckte sich ein immenser Hohlraum, der eine Ebene mit Bauten beherbergte, die Desire an Heiligtümer der Inkas erinnerte. Den Boden säumte goldfarbener Sand, der so gar nicht in die vorige Tropfsteinhöhlen-Optik passte, und es wirkte, als würde alles von Sonne beschienen werden. Beeindruckt und begeistert bestaunte Desire das große sandfarbene Bauwerk zu ihrer Linken, das sie an einen Tempel denken ließ. Dass Secret ihre Euphorie befremdet musterte, als komme sie ihm vertraut vor, bemerkte sie gar nicht mehr. Auch dass er noch immer ihre Hand hielt, war ihr in diesem Moment einerlei. „Vielleicht ist darin die Büchse!“, rief sie aus und konnte ihre Vorfreude kaum verhehlen. Secret schüttelte den Kopf. „Das ist nur eine Ablenkung.“ Er deutete nach vorne, wo in einiger Entfernung wieder ein schmaler Weg durch den Fels führte. Desire seufzte. Sie hätte sich lieber die Bauten hier angesehen. Secret drehte sich zu den anderen und rief ihnen zu: „Wir gehen weiter!“ Als sie der nächsten Engstelle im Felsen näher kamen, blieb er stehen. „Wie gut ist dein Schutzschild?“ Irritiert sah sie ihn an. Secret ließ sie los und holte mit seiner Telekinese einen weiter weg gelegenen Stein heran, fing ihn mit der Rechten auf, um ihn anschließend in den Durchgang zu schleudern. Sofort schossen unzählige Pfeile aus den Felswänden. Desire schrak zusammen. „Wie viel davon hältst du aus?“ Desire blickte zu den anderen und wieder zurück zu ihm. „Ich weiß es nicht.“ Sie musterte den Gang. „Was ist der Auslöser?“ „Das ist eine Nebendimension, da gelten andere Regeln. Ich glaube nicht, dass wir wirklich verhindern können, diese Pfeile auszulösen.“ Kurz stockte sie und wandte sich eilig ab. Die Situation weckte unliebsame Erinnerungen an das Labyrinth im Schatthenreich. Und aus einem unerfindlichen Grund klang er gerade auch so wie damals. Mit überdeutlicher Strenge im Blick fixierte er sie. Sein Tonfall ließ seine Worte wie Tadel klingen. „Ich weiß, dass du das kannst.“ Ungläubig starrte Desire ihn an. Etwas trat auf seine Züge, das genauso gut Abscheu hätte sein können. „Du bist stärker als du denkst.“ Desire wich automatisch vor ihm zurück. Sein Verhalten verwirrte sie zutiefst. Trusts Stimme holte sie aus ihrer Bestürzung. „Du weißt, dass sie jeden der Pfeile spürt.“, warf er ein. „Das muss sie nicht.“, entgegnete Secret bestimmt. „Ihr Schild kann Angriffe auch zurückwerfen, ohne dass sie dabei zu Schaden kommt.“ Das für ihn typische Grinsen erschien auf seinen Zügen. „Sie muss nur ihren Dickkopf durchsetzen.“ Verstimmt verzog Desire den Mund und drehte sich zu Unite. „Kannst du mich mit Secret verbinden?“ Ihr Blick bohrte sich in den seinen. „Dann kann er spüren, was ich spüre.“ Er lächelte aufreizend. „Klingt verlockend.“ „Du weißt, das geht nicht.“, erinnerte Trust indirekt an den Vorfall mit Unites Kräfteeinsatz. Unite legte ihm sachte die Hand auf den Oberarm. „Sie hat nur einen Scherz gemacht.“ Trust machte ein überraschtes Gesicht, dann wendete er verlegen das Gesicht ab. Unite lächelte breit und streichelte seinen Oberarm, um ihn zu trösten. Zumindest lenkte ihre Berührung ihn tatsächlich ab. Desire holte tief Luft, denn offenbar war es nun an der Zeit, dass sie die Führung übernahm. „Change, merk dir wie es hier aussieht. Wenn es nicht weitergeht, kommen wir hierher zurück.“ Change bestätigte. „Zwei Personen können nebeneinander gehen.“, verkündete sie. „Stellt euch auf, damit ich schauen kann, wie ich den Schutzschild formen muss.“ Dann rief sie ihren Schutzschild herbei. Von ihrem Körper ausgehend weitete sie die Kugel aus, bis sie auch Secret mit ein schloss. Sie drehte den Körper zu den anderen und schob mit ihrer Rechten den Schild in Richtung Unite und Trust, als würde sie Wasser in eine Richtung bewegen. Sie hielt die Hand erhoben und konzentrierte sich darauf, den Körper ins Längliche zu formen. „Ewigkeit, du musst auch hier drin bleiben.“, sagte sie. Ewigkeit nickte und landete auf Trusts Schulter. Desire atmete lange und tief aus und dehnte mit ihrem Atem die Form des Schutzschilds weiter aus. Als er die geeignete Länge erreicht hatte, widmete sie sich nochmals der Breite. Sie hielt beide Arme in die Höhe, um die Hülle zu beherrschen. Der Schild durfte nicht allzu breit sein, weil er sonst nicht in den Gang gepasst hätte. Ein bisschen sah es so aus, als würde sie eine riesige Seifenblase formen. „Schön gemacht.“, kommentierte Secret, als sie die richtige Größe erreicht hatte. „Wer hat eigentlich gesagt, dass du neben mir gehst?“ „Ich dachte, wenn dich jemand dazu bringt, deinen Schild undurchlässig zu machen, dann ich.“, antwortete Secret selbstgefällig. „Und wie kommst du darauf?“ Ihr Augenaufschlag machte ihre abschätzige Skepsis deutlich. „Weil dein Schild deine Gefühle widerspiegelt. Und mich würdest du bestimmt gerne von dir wegschleudern.“ Er grinste. Dem konnte sie nicht widersprechen. Secret bot ihr seine Hand. „Kannst du behalten.“, entgegnete sie kühl. Belustigt schnaubte Secret. Nochmals machte sie sich auf das Bevorstehende gefasst. „Du kannst das.“, wiederholte Secret eindringlich. „Hör auf, mir das zu sagen!“, gab sie unwirsch zurück. „Ach stimmt.“ Seine Tonlage nahm wieder etwas Durchtriebenes an. „Was ich eigentlich sagen wollte: Du schaffst das nie im Leben.“ „Wie bitte?“, zischte sie. „Du bist viel zu schwach. Und außerdem nur eine Frau.“ Desire war kurz davor, ihm an die Gurgel zu gehen. Secrets Blick wurde kalt, genau wie seine Stimme. „Und jetzt halt dieses Gefühl.“ Desire ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte gerade loslaufen, als ihr klar wurde, dass die ganze Gruppe zur Sicherheit die gleiche Laufgeschwindigkeit halten sollte, es also doch sinnvoll war, Hand in Hand zu gehen. „Haltet euch an den Händen und bleibt im gleichen Tempo.“, empfahl sie den anderen. Zu ihrer Überraschung machte Secret keine Anstalten, ihre Hand zu ergreifen. Grimmig sah sie ihn an. Er hob seine linke Augenbraue, als wolle er sagen, dass sie sich schon etwas mehr anstrengen müsse, um seine Hand halten zu dürfen, nachdem sie sein Angebot eben noch ausgeschlagen hatte. Darauf konnte er lange warten! Sie lief los und konnte hören, wie Secret ein belustigtes Geräusch ausstieß. Es gab größere Probleme. Sie machte sich auf den ersten Beschuss gefasst. Zu ihrer Überraschung spürte sie es tatsächlich nicht, als die Pfeile auf ihren Schutzschild trafen. „Lauf schneller.“, befahl Secret. Sie hasste es, seinen Anweisungen Folge zu leisten, aber die anderen aus Trotz zu gefährden, lag ihr fern. Secret begann neben ihr seine Telekinese einzusetzen und die Geschosse abzuwehren. Tat er das, um sie zu schützen? Plötzlich spürte sie den Angriff der Pfeile deutlich und kam ins Straucheln. Secret herrschte sie an: „Bleib gefälligst wütend auf mich!“ Die Eindrücke der auf den Schild prasselnden Angriffe drängten seine Worte in weite Ferne. „Verdammt! Konzentrier dich darauf, etwas von dir wegzustoßen!“ Das sagte sich so leicht! Wieder spürte sie das Prasseln der Pfeile auf den Schild, ihr Inneres zog sich zusammen. „Sollen wir umkehren?“, rief Trust. „Stell dir vor, du wärst Destiny!“, brüllte derweil Secret. Wie sollte ihr das denn bitte helfen?! In einem Versuch, sich wieder zu sammeln, blieb sie stehen, aber jede Salve Pfeile verschlimmerte ihre Unsicherheit. Erbost durchbohrte Secret sie mit Blicken. Er versuchte die Pfeile schnell genug abzuwehren, aber von seiner Position aus konnte er nur die fernhalten, die vor ihnen abgefeuert wurden, nicht die, welche die Schutzhülle um Trust und die anderen trafen. Abrupt packte er sie am Arm und zog sie näher zu sich. Sein Gesicht war nun direkt vor ihrem. „Du sollst wütend werden.“, forderte er. Doch der Schmerz des Beschusses und der des Versagens nahmen ihre Sinne ein. Sein Blick und sein Tonfall änderten sich. „Desire!“, donnerte er. Es war das erste Mal, dass er ihren richtigen Beschützernamen aussprach. Wie automatisch riss sie die Arme in einer würdevollen Haltung nach oben. Aufrecht und entschlossen gab sie ihrem Schutzschild die nötige Stärke. Der Schmerz verebbte. Secrets sechster Sinn schien ihm zu verraten, dass der Schutzschild den Aufprall der Pfeile nun wieder von ihr fernhielt, denn er trat prompt von ihr weg und nahm einen respektvollen Abstand zu ihr ein. „Ich sollte wohl öfter deinen Namen sagen.“, merkte er nüchtern an. Sie ging nicht darauf ein. Zu sehr war sie mit der Erkenntnis beschäftigt, die sie soeben gewonnen hatte. Nicht Wut machte den Schild stark, auch wenn sie kurzfristig diesen Effekt hatte. Es war Respekt. Für sich selbst. Sie wusste zwar nicht, warum Secret das in ihr ausgelöst hatte, indem er ihren richtigen Namen ausgesprochen hatte – schließlich hatte Trust sie auch beim Namen genannt – aber das war auch egal. Vielleicht hatte er sie in dem Moment an Erik erinnert und daran, dass er an ihre Stärke glaubte… Nicht darüber nachdenken! Erhobenen Hauptes schritt sie voran, ohne dass Secret ihr nochmals reinredete, wie schnell oder langsam sie laufen sollte. Tatsächlich hatte er sogar aufgehört, irgendwelche Pfeile abzuwehren, als hielte er das nicht länger für notwendig. Ja, als habe er vollstes Vertrauen zu ihr und ihren Fähigkeiten. Sie ließ sich davon nicht nochmals irritieren. Der Weg führte die Gruppe in einen hohen, quadratischen Raum, dessen Decke Desire mit bloßem Augen nicht entdecken konnte. Das Problem war: der Raum hatte keinen Ausgang, außer dem, aus dem sie gerade kamen. Sie wandte sich an Secret, der ein erstaunlich perplexes Gesicht zog, als habe er nicht damit gerechnet, hier in einer Sackgasse zu landen. Der Beschuss der Pfeile ging weiter. „Man bewacht keine Sackgasse.“, sagte er finster. Da musste sie ihm Recht geben. „Eine der Wände muss ein Ausgang sein.“, sprach er weiter. „Du bist derjenige mit dem sechsten Sinn.“, erwiderte sie. „Kannst du den Schutzschild vergrößern?“ „Wozu?“ „Damit wir uns mit den anderen besprechen können.“ „Wir können Trusts Telepathie benutzen.“, schlug sie vor. „Wir brauchen Platz für das, was die anderen jetzt tun sollen.“, entgegnete Secret. Desire wusste zwar nicht, worauf er hinauswollte, dennoch nutzte sie ihre Arme, um das Material zu formen. „Danke.“, sagte Secret – was sie ein weiteres Mal verwirrte – und drehte sich zu den anderen um. „Wir müssen herausfinden, wie das Ganze hier aufgebaut ist.“, verkündete er. „Ich dachte, du wüsstest das.“, wandte Change ein, als wolle er aufgrund von Minderleistung sein Geld zurück. Secret ging darüber hinweg. „Eine Nebendimension besteht aus den Gedanken und Vorstellungen des Erschaffers.“ Er sah Trust an. „Vielleicht kannst du sie lesen. Trust wirkte wenig überzeugt. „Destiny ist diejenige, die Seelenwelten kontrollieren kann.“ „Sie bekommt auch noch ihren Einsatz.“, versicherte Secret. „Aber zuerst einmal müssen wir wissen, wo es lang geht.“ „Ich kann nicht die Gedanken von einem Ort lesen.“, widersprach Trust. „Warte.“, rief Unite und kniete sich auf den sandigen Boden. Sie legte ihre Rechte auf den Grund und schloss die Augen. Die Linke hielt sie Trust hin, die dieser ohne Umschweife ergriff.   Es brauchte nur einen Moment der Einstimmung, schon strömten fremdartige Eindrücke auf ihn und Unite ein, wie die Gefühls- und Gedankenwellen eines Unbekannten. Es fühlte sich unangenehm an, aber darum ging es jetzt nicht. Trust bemühte sich, eine tiefere Verbindung mit dieser fremden Ebene herzustellen. „Wenn du den richtigen Bereich gefunden hast, sag Bescheid, dann übernimmt Destiny.“, sprach Secret. Es dauerte weitere Momente, in denen Trust aus den undurchsichtigen Wellen schlau werden musste. Zu viele Formen und Formeln drangen auf ihn ein. „Das ist, als würde ich ein ausgefeiltes Computerprogramm lesen müssen.“, erklärte Trust. „Und ich kann keine Programmiersprache.“ „Du musst dich trotzdem einhacken.“, meinte Secret bloß. „Dann kann Destiny den Code umschreiben. Versuch dich auf den Bereich zu konzentrieren, in dem wir uns befinden.“ „Das ist nicht so einfach.“, antwortete Unite. Trust ging davon aus, dass sie seine Eindrücke mit ihm teilte und daher genau wusste, wovon er sprach. „Es ist einfach zu viel.“, gestand er. „Destiny, klink dich ein.“, befahl Secret. „Und was soll ich machen?“, forderte sie zu wissen. „Seelenwelten reagieren auf dich. Such nach dem Ausgang.“, erklärte Secret. Tief Atem holend trat Destiny zu Unite und Trust. Zunächst zaghaft umschloss sie die Hände der beiden mit ihren. Die Wärme ihrer Freunde beruhigte sie. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Das Übermaß an fremden Eindrücken, die sich ihr aufdrängten, erinnerte sie an ihr Erlebnis in Changes Seelenwelt. Kurz wurde ihre Atmung schwer, weil sie sich davor verschließen wollte. Doch je mehr sie sich dagegen wehrte, desto heftiger wurde der Druck auf sie. Beruhigen, sie musste sich … Ihre Gedanken leerten sich, sie wusste nicht, ob das ein Effekt der Verbindung zu Unite und Trust war, sie ließ auch diese Überlegung fahren. Sie beobachtete, wie die Impressionen an ihr vorbeizogen und schickte die Vorstellung von einem Ausgang in die Fülle des Raums, wartete. Still, Zeit verlor ihre Bedeutung, während ein Teil von ihr aufmerksam harrte. „Hier ist kein Ausgang.“, eröffnete sie den anderen nach einigen Momenten. Wieder lauschte sie auf ihre Eingebungen und versuchte diese in Worte zu packen. „Hier kommt man nur weiter, wenn man Nebendimensionen umwandeln kann.“ „Und kannst du das?“, fragte Secret in einem Ton, als akzeptiere er kein Nein. Als Antwort nahm der Beschuss der Pfeile ein jähes Ende. Die Umgebung drohte sich mit einem Mal zu krümmen und allmählich aufzulösen. Die Wände verformten sich wie Metall durch eine mächtige Hitzeeinwirkung, dann verschwanden sie und der Sand des Bodens rieselte in die neu aufgetane Leere. Ewigkeit flüchtete in Changes hellbrünetten Haarschopf. „Äh Tiny, kannst du das vielleicht machen, ohne uns umzubringen?“, fragte er. Doch noch immer löste sich die Umgebung um sie herum auf und verschwand in einer unheimlichen Schwärze. Als hätte man den Boden, auf dem sie standen, kreisförmig ausgeschnitten, brach alles um sie herum in die Tiefe. Der Untergrund fuhr mit ihnen in die Höhe. Immer weiter wurden sie emporgehoben, als befänden sie sich auf einer ausfahrbaren Plattform. Desire, Change, Secret und Ewigkeit konnten beobachten, wie sie höher und höher kamen, bis schließlich eine neue Ebene über ihnen sichtbar wurde. Die Aufwärtsbewegung des Bodens stoppte auf der Höhe dieser Ebene. Diese war von einem dichten blau-grauen Nebel vor den Einblick in ihr Inneres geschützt. Für Change sah es aus wie ein Level, das erst freigespielt werden musste. „Hier brauchen wir eine Autorisierung.“, sprach Destiny wie eine Wahrsagerin oder Prophetin, die Augen hatte sie weiterhin geschlossen. „Kannst du das nicht umgehen?“, fragte Secret. „Nein.“ Secret seufzte. „Welche Art Autorisierung?“ Destiny zögerte. „Derjenige wollte das schützen, was hier drin ist.“, erläuterte sie. „Ja, vor dem Pandämonium. Ich weiß.“, sagte Secret desinteressiert. „Es darf nicht von hier entwendet werden.“, fuhr Destiny in salbungsvollem Ton fort. Secret stöhnte. „Komm zum Punkt.“ „Wie kommen wir hier raus?“, präzisierte Change. Ewigkeit hatte den Platz auf seinem Kopf wieder verlassen. Destinys Augenbrauen zogen sich angestrengt zusammen. „Es geht nur durch die Büchse der Pandora. Aber…“ Sie klang verwirrt. „Aber wir sollen sie doch nicht entwenden.“ „Wir bringen sie ja auch nur in Sicherheit.“ Das Grinsen war Secrets Stimme anzuhören. Destiny schüttelte den Kopf. „Irgendwas stimmt nicht.“ „Was meinst du?“, fragte Desire besorgt. Destinys Gesichtsausdruck sah trotz ihrer geschlossenen Augen immer gequälter aus, ihre Atmung wurde schwerer, als kämpfe sie mit etwas. „Es ist irgendwas Schreckliches. Zerstörung.“, sprach Destiny, als spüre sie dies durch die Verbindung zu Unites Kräften. Für Momente versank sie wieder in ihrer Konzentration. Dann schreckte sie mit einem Mal auf. „Secret.“ Er ging wie auf Befehl zu ihr. „Deine Wunde.“ Auch wenn er damit die Autorisierung für Grauen-Eminenz‘ Computer bekommen hatte, das hier war nicht das Schatthenreich. Wieso sollte diese Dimension auf eine Verbindung zum Schatthenmeister reagieren? Noch einen Augenblick zögerte er, eine ungute Vorahnung beschlich ihn, dennoch legte er die linke Hand auf die von Destiny, Trust und Unite. Schmerz! Von seiner Wunde, seinen Arm entlang, in seine Hand. Er schoss durch ihn, zwang ihn in die Knie, raubte ihm die Sinne. Dass Desire seinen Namen schrie, nahm er kaum wahr. seine eigenen Schmerzenslaute waren ein entferntes Echo. Dann wurde er nach hinten gerissen. Etwas um seinen Brustkorb, er wurde von den anderen weg gezogen. Sein Kopf lehnte gegen jemanden, während er verzweifelt nach Luft schnappte, versuchte, am Leben zu bleiben. „Hey Mann!“ Changes aufgeregte Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm. Dann spürte er Desires Kräfte. Er wusste, dass sie es war. Als würde er ihre beruhigende Gabe aus einem längst vergessenen Traum kennen. Ein Traum, in dem sie schon einmal ihre Kräfte auf seinen Arm angewendet hatte. Auf einer Treppe im Dunkeln sitzend, an einem weit entfernten Abend. Die Berührung war so angenehm gewesen. „Ariane…“   Der Klang seiner Stimme ließ Desire aufhorchen. Panisch beugte sie sich über ihn und berührte seine Wange. Das hatte nach Erik geklungen. Langsam öffnete er die Augen, nur um sie gleich wieder zu schließen. „Du solltest ihn weiter heilen.“, sagte Change. Ewigkeit neben ihm stimmte heftig nickend zu. Desire legte ihre Hände zurück auf den Brustkorb des Schwarzhaarigen und fuhr damit fort, ihre läuternden Kräfte auf ihn anzuwenden. Wieder öffnete er seine Augen und sah sie stumm an. „Alles wird gut.“, versprach sie ihm. „Ich bin bei dir. Wir alle sind bei dir.“ Plötzlich zuckte seine Hand, als wolle er nach ihr greifen. In seinen Augen war eine tiefe Verletzlichkeit zu lesen. Sie legte eine Hand auf die seine und erwiderte seinen Blick. „Keine Angst.“ Das schien ihn zu beruhigen, denn er schloss wieder die Augen und die Verkrampfung seiner Hand löste sich. Die plötzliche Erschlaffung seines Körper beunruhigte Change. „Atmet er noch?“ Davon aufgeschreckt, packte Desire das Gesicht des Schwarzhaarigen. „Erik? Erik!“ Er öffnete erneut die Augen und ein grimmiger Gesichtsausdruck schlug ihr entgegen. Abrupt ließ sie von Secrets Gesicht ab und schreckte zurück. „Du sollst ihn nicht Erik nennen.“, übersetzte Change. Ruppig versuchte Secret, sich von Changes unterstützendem Griff zu befreien. Dieser ließ ihn gewähren. Allerdings fiel Secret daraufhin auf die Seite und blieb dort im Sand liegen. Ewigkeit schwebte zu ihm. „Wenn du es da bequemer findest.“, kommentierte Change und machte keine Anstalten, Secret seine Hilfe aufzudrängen. Stattdessen blickte er zu den anderen dreien, die sich noch immer nicht zu ihnen gesellt hatten, sondern weiterhin in die Anwendung ihrer Kräfte vertieft waren. Eine Lichterexplosion in der Atmosphäre blendete ihn für einen Moment. „Was war das?“, rief er. Destiny sank auf die Knie. Change sprang auf und rannte an ihre Seite. „Alles ok?“ Er traute sich nicht, sie zu berühren. Destiny nickte bloß schwach. „Was ist passiert?“ „Secret … hat den Zugriff autorisiert.“, presste sie hervor. Sie wirkte völlig erschöpft. „Durch seine Wunde.“ Nun näherte sich Change ihr doch so weit, dass sie ihre Schulter an ihn lehnen konnte. „Keine Ahnung, wie.“ Auch Unite und Trust schnappten nach Atem. Change erkundigte sich auch nach ihrem Zustand. „Alles gut, ich spüre bloß meinen Arm nicht mehr.“, scherzte Unite und rieb sich den linken Arm, den sie die ganze Zeit über erhoben gehalten hatte. Trust nickte Change bloß zu und sah dann hinüber zu Secret. Dieser lag noch immer im Sand, Ewigkeit über ihm. In einem geeigneten Sicherheitsabstand neben ihm kniete Desire. „Was ist mit ihm?“, fragte Trust. „Öh.“, war Changes einzige Antwort. Trust erhob sich, war mit wenigen Schritten bei Secret und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. „Kannst du aufstehen?“ Secret antwortete erst gar nicht. Trust wandte sich an Desire. „Wieso heilst du ihn nicht?“ „Das habe ich!“, verteidigte sich Desire, obwohl Trust nicht vorwurfsvoll geklungen hatte. „Warum hast du aufgehört?“, fragte Trust, nicht als würde er an ihrer Entscheidung zweifeln, sondern als wolle er sie verstehen. „Weil…“ Sie unterbrach sich und senkte das Haupt. „Es gibt keinen Grund.“ Erneut legte sie dem Bedroher die Hände auf, Ewigkeit machte ihr dazu Platz. Einige Momente später rappelte Secret sich wieder auf. Anstatt sich zu bedanken, warf er ihr einen kurzen feindseligen Blick zu, als hätte ihr Kräfteeinsatz ihm Leid zugefügt anstatt ihn zu heilen. Er entfernte sich. Trust seufzte angesichts Secrets Verhalten und legte Desire kurz die Hand anerkennend auf die Schulter. Ihrer Reaktion nach zu urteilen, stimmte seine Geste sie jedoch eher traurig. Er erhob sich und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie nahm das Angebot an. „Wir schaffen das.“, sagte er ihr tröstend. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Unbekümmert trat Change an Secrets Seite. „Besser?“ „Blendend.“, sagte Secret in zynischem Tonfall. Kumpelhaft schlug Change ihm auf den Rücken und grinste. „Eifersüchtig auf Erik?“ „Wenn du nicht willst, dass ich dich hier runterwerfe, dann bleib mir fern.“, knurrte Secret. „Ich kann fliegen.“, erinnerte Change übertrieben vergnügt. „Dann schmeiße ich eben Destiny runter.“, blaffte Secret. „Wow, du bist ja noch eingeschnappter als ich dachte.“, amüsierte sich Change. Secret stieß ihn grob von sich und wandte sich an Unite und Destiny. „Können wir jetzt weiter?“ Destiny zischte erbost: „Im Gegensatz zu dir sind wir nicht durch Desires Kräfte wieder topfit.“ Der Hinweis, dass er das Desire zu verdanken hatte, gefiel Secret offenkundig nicht. „Dann geh ich eben alleine!“ Er stapfte an ihnen vorbei und erstarrte mitten in der Bewegung. Klagend stieß Desire aus: „Destiny…“ „Willst du, dass er alleine und kopflos losrennt?“, fragte Destiny grimmig. „Warum ist er überhaupt jetzt schon wieder so wütend?“ „Desire hat ihn Erik genannt.“, informierte Change belustigt. Unite kicherte und hüpfte vor Secret, der wie eine Statue da stand. „Keine Sorge. Erik ist auch immer sauer, wenn Desire von dir spricht.“ Sie grinste ihn an. Desire drehte die Augen nach oben und schüttelte ungläubig den Kopf. „Du kannst ihn nicht ständig paralysieren.“, sagte Trust an Destiny gewandt. „Hä? Macht sie bei mir doch auch.“, meinte Change verständnislos. „Nicht gezielt.“, widersprach Trust. Destiny zog eine störrische Miene. „Bisher hat es gut funktioniert.“ In einer Mischung aus Widerwillen und Resignation trat Desire zu Secret und tat ihre Pflicht. Sie wartete darauf, dass er sich direkt vor ihr zurückzog, sobald er wieder dazu in der Lage war. Doch nichts geschah, obwohl ihre Kräfte längst hätten anschlagen müssen. Vorsichtig lugte sie zu ihm auf. Secrets Blick war stumm auf sie fixiert. Diesen forschenden Blick kannte sie von Erik. Sie erinnerte sich, dass er sie damals auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH so angesehen hatte, als müsse er sie durchschauen. Oder als wäre etwas an ihr, das ihm widerstrebte. Sie hatte es damals nicht deuten können und sie konnte es auch jetzt nicht. Es war auch egal. Er war nicht … – Wie oft würde sie noch denken müssen, dass er nicht der war, für den sie ihn hielt? Change ging zurück zu Destiny. „Wie kommt’s, dass er dich dafür nicht angreift?“ „Ganz einfach.“, antwortete Destiny mit gedämpfter Stimme. „Er ist … er. Und er würde mich nie angreifen.“ In weiser Voraussicht sprach sie Eriks Namen nicht aus. Change nickte. Dann verzog sich sein Gesicht in Unverständnis. „Und mich schon?“ Destiny verdrehte die Augen. „Ihr greift einander doch dauernd an.“ „Das nennt man Männerfreundschaft.“, klärte Change sie auf. Secret rief ungeduldig: „Habt ihr jetzt genug gequatscht?“ „Hast du genug Desire angegafft?“, gab Change zurück und landete durch Secrets Kräfte im nächsten Moment erneut auf dem Boden. „Hey!“, schrie Change erbost. Destiny sah mit einem leichten Schmunzeln auf ihn herab. „Männerfreundschaft.“, erinnerte sie. „Klappe.“, grummelte Change. Ernst wandte sich Trust an Secret. „Keine vorschnellen Handlungen.“ Secret zog als Antwort eine Grimasse. Dieses Verhalten war zu irritierend, als dass Trust gewusst hätte, wie er darauf reagieren sollte. Er spürte, wie jemand seine Hand ergriff, und sah zu Unite. „Du bist wohl seine neue Vater-Figur.“, mutmaßte sie. Trust konnte dem nicht folgen. „Sind wir bald da?“, fragte derweil Change. Unite kicherte, während Ewigkeit freudig um sie herum schwirrte. Das Ganze hatte wirklich etwas von einem großen, sehr befremdlichen, Familienausflug. Kapitel 130: Kein Ausgang ------------------------- Kein Ausgang   „Mancher Ausgang führt nur zu neuen Ausgangspunkten.“ (Erhard Blanck)   „Desire, könntest du …“ Destiny rang nach Atem. Ihr Kräfteeinsatz war noch anstrengender gewesen, als sie im ersten Moment geglaubt hatte. Ihr war jäh schwindlig. Das war ihr wohl anzusehen, denn Change neben ihr legte hastig den Arm um ihre Schultern, wie um sie vor dem Zusammenbrechen zu bewahren. Sie war sogar zu erschöpft, um der Nähe zu ihm große Beachtung zu schenken. Als Desire ihr die Hände auflegte und der Schwindel und der Kopfschmerz langsam schwanden, wanderte ihr Blick zu Secret. Während des Kräfteeinsatzes hatte die Verbindung zu Unites und Trusts Fähigkeiten ihre Gedanken auf seine Wunde gelenkt. Eine Mischung aus Gefühl und Eingebung hatte darauf hingedeutet, dass etwas an der Wunde war – nicht an Secret selbst – das einen Impuls setzen konnte, um ihren Zugriff zu autorisieren. Wie ein Schlüssel, der nicht genau passte, eher halb kaputt war, den sie aber mit Trusts und Unites Hilfe hatte soweit umformen können, dass sie durch die kleine Lücke in das Herz der Nebendimension vorgedrungen war. Desire ließ von ihr ab. „Geht’s wieder?“ Destiny nickte. Im gleichen Moment entfernte sich Change wieder von ihr. „Wir befinden uns an einer Schnittstelle in der Nebendimension.“, informierte sie. „Von hier aus konnte ich die Raumaufteilung beeinflussen.“ „Was heißt das?“, wollte Secret wissen. „Der Raum mit der Büchse der Pandora ist jetzt hinter dem Nebel. Alle Sicherheitsvorkehrungen, die ich erkennen konnte, habe ich so gut es geht deaktiviert.“ Das war einiges an Arbeit gewesen. „Gut gemacht.“, sagte Secret. Destiny sah ihn mürrisch an. „Selber.“ „Du lässt die Finger von der Büchse.“, gemahnte Trust Secret. Secret schenkte ihm ein gönnerhaftes Lächeln. Es war ihm anzusehen, dass Trusts Befehle ihn eher dazu animierten, das Gegenteil zu tun. Desire wandte sich an Destiny: „Und der Ausgang ist sicher in diesem Raum?“ Destiny zögerte. „Darin ist das, was einem Ausgang am nächsten gekommen ist.“ „Hä? Was soll’n das heißen?“, rief Change. „Es gibt keinen richtigen Ausgang.“, antwortete sie gedämpft. Entsetzt starrte er sie an. „Diese Welt ist nur dazu da, diese Büchse zu beschützen.“ „Aber du kannst diese Welt doch verändern!“, plädierte er. „Wenn es eh keinen Ausgang gibt, kannst du nicht direkt hier einen bauen?“ Destiny schüttelte betrübt den Kopf. „Ich kann keine Portale erschaffen.“ „Aber Secret kann das!“, rief Change und drehte sich zu dem Bedroher. „Mach!“ „Ich kann sie aktivieren und den Zielort ändern.“, korrigierte Secret. „Keine neuen erschaffen.“ Change brauste auf: „Hättest du das nicht besser planen können!“ „Wo wäre da der Spaß?“, entgegnete Secret süffisant. Unite lächelte ihn an. „Du hast schon einen Plan, richtig?“ „Du versaust die Pointe.“, sagte Secret pikiert. Unite kicherte. Trusts Stimme erhob sich: „Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor du uns nicht aufgeklärt hast.“ Secret verdrehte die Augen und stöhnte lang. Ewigkeit flog an seine Seite. „Ich gehe davon aus, dass die Büchse nur von dem Erschaffer selbst bewegt werden darf. Wenn jemand anderes sie von ihrem Platz entfernt, wird diese ganze Dimension sich selbst zerstören und damit jeden Eindringling.“ Die Beschützer starrten ihn an. „Und weiter?“, drängte Change. „Wenn die Dimension zusammenbricht, wird ihre Barriere instabil und somit die Beschränkung des Portals.“ „Hä?“, machte Change. „Das ist am anderen Ende.“ „Du kannst doch teleportieren.“, meinte Secret leichthin. Trusts Miene wurde finster. „Du spielst mit unseren Leben.“ „Ich habe bloß vollstes Vertrauen in eure Fähigkeiten.“, erwiderte Secret überheblich. Desire sah die anderen an. „Das heißt, wenn wir nicht schnell genug sind, wird diese ganze Welt uns mit sich begraben.“ „Es ist ganz einfach.“, behauptete Secret. „Wir gehen da rein und machen uns für das Teleportieren bereit. Ich benutze meine Telekinese, um die Büchse an mich zu bringen. Wir teleportieren zum Eingang zurück. Du rufst deinen Schutzschild. Und während Unite, Trust und Destiny zusammen die Dimension einigermaßen aufrechterhalten, sodass wir nicht begraben werden, aktiviere ich das Portal.“ Ewigkeit schwebte ihm vor die Nase. „Du kontrollierst, dass alles glatt läuft.“, sagte er zu ihr. Die Kleine nickte, als handle es sich um eine bedeutsame Aufgabe. „Was, wenn wir gar nicht die Zeit dafür haben?“, wandte Trust mit zusammengezogenen Augenbrauen ein. „Was, wenn diese Dimension viel zu schnell zusammenbricht oder du mit deiner Theorie, dass die Barriere instabil wird und wir durch das Portal rauskommen, falsch liegst?“ „Ich liege nie falsch.“, antwortete Secret überzeugt. Change ergriff das Wort. „Halt mal. Hat Tiny nicht eben noch gesagt, dass der Raum mit dieser Büchse der ist, der einem Ausgang am nächsten kommt? Wieso teleportieren wir uns dann zurück zum Eingang. Ich checke das nicht.“ Destiny dachte darüber nach. Sie schloss die Augen, um sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, welche Information sie über den Raum bekommen hatte. Es war eine vage Idee gewesen, dass in diesem Raum der Schlüssel lag, um diese Dimension zu verlassen. Aber einen wirklichen Ausgang hatte sie nicht entdeckt. Es war eine Energie gewesen, die sie gerufen hatte. Vielleicht war in dem Moment durch Unites Kräfte Secrets sechster Sinn auf sie übergegangen gewesen. Sie seufzte und öffnete wieder die Augen. „Er könnte Recht haben.“ „Könnte?“, rief Change. Trust wandte sich an Destiny: „Und es gibt definitiv keinen anderen Weg?“ Destiny schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen gefunden.“ Trust hatte offenbar gehofft, dass sie mehr wahrgenommen hatte als er, während ihre Kräfte verbunden gewesen waren. Change suchte weiter nach einer Lösung. „Aber du hast doch gesagt, du hast die Fallen darin ausgeschaltet! Kannst du nicht diesen Selbstzerstörungsdingens ausschalten?“ Destiny setzte zu einer Antwort an und unterbrach sich. Sie versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Das Gefühl der Zerstörung, das sie gespürt hatte, ergab jetzt einen Sinn. „Diese ganze Welt ist darauf ausgelegt.“, erkannte sie. „Wenn ich das mache, muss ich diese ganze Dimension auseinandernehmen.“ Sie sah Change in die Augen. „Dadurch würde ich alles zerstören.“ Er schwieg verstört. Desire hatte einen Einfall und richtete das Wort an Change: „Während Secret versucht, das Portal zu öffnen, kannst du versuchen, uns in die normale Welt zu teleportieren. Dann haben wir doppelte Chancen.“ Secret hatte Einwände: „Während Destiny, Unite und Trust die Nebendimension davon abhalten, um uns herum zusammenzubrechen, können wir keinen Körperkontakt mit ihnen halten. Wir würden das gleiche sehen und fühlen, und ich kann mich dann nicht auf das Portal konzentrieren.“ Unite nickte. „Dann bleibt das Teleportieren unsere Notlösung.“ Trust zog ein unwilliges Gesicht.   Eine schmale Brücke führte sie durch den Nebel. Die Schwaden waren so dicht, dass sie erneut Hand in Hand gingen, um einander nicht zu verlieren. Hinter den anderen lief Unite neben Trust. Auch wenn sie sein Gesicht aufgrund des Nebels nicht erkennen konnte, spürte sie seine Anspannung. Sie hätte sich gewünscht, ihn irgendwie beruhigen zu können, aber ihm ungefragt Gefühle von sich zu übertragen, wäre übergriffig gewesen. ○Das ist Wahnsinn, hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf. Sie antwortete telepathisch. ♪Destiny denkt auch, dass es die einzige Möglichkeit ist. Trust schwieg. Sie hatte den Eindruck, seine Sorgen am eigenen Leib zu spüren, obwohl sie ihre Kräfte nicht einsetzte. Dieser Druck auf ihrer Brust. Sie wusste, wie gefährlich dieser Plan war. Dass Destiny nicht lautstark protestiert und darauf bestanden hatte, eine Alternative zu suchen, bedeutete, dass es keine gab. Ansonsten hätte Destiny es nochmals versucht. Im Gegensatz zu damals im Schatthenreich war sie auch nicht zusammengebrochen, auch wenn es auffällig war, dass sie viel mehr Nähe zu Change zuließ als es für sie üblich war. Offenbar war Destinys Vertrauen zu ihr und den anderen so groß, dass sie bereit war, das Risiko einzugehen. Das rührte Unite und beschämte sie zugleich. Sie hätte gerade eine Versicherung von Trust gebraucht, dass sie das hier überleben würden, egal wie gering die Chancen waren. Doch Trust war in seiner eigenen Welt und wie sollte sie ihn da um moralische Unterstützung bitten? Die Befürchtung, von ihm abgewiesen zu werden und dann nicht mehr die Kraft zu haben, die fröhliche Fassade zu wahren, war zu real. Dieses Mal durfte sie sich nicht auf seine Wärme und seinen Halt verlassen. Sie musste sich selbst diesen Halt geben. Nur so konnten sie alle lebend hier rauskommen. Vor ihrer Nase erschien etwas Helles, das sie nur aufgrund des Glöckchenlauts als Ewigkeit identifizierte. Im nächsten Moment spürte sie die Nähe ihres Gleichgewichtsbegleiters an ihrer Wange und genoss die tröstende Berührung. Entschieden rief sie nach vorne: „Wir kommen hier raus!“ „Sowieso!“, kam es lautstark von Change, was ihr ein Lächeln entlockte. Secrets Stimme klang selbstsicher wie immer. „Sechster Sinn. Vergessen?“ Bei dem Klang von Secrets Stimme schien sich Trust abermals zu verkrampfen. Nochmals drückte sie seine Hand. ♪Wir wollen alle hier raus. Leider machte Trust nicht den Eindruck, ihr das zu glauben. ♪Trust? ○Was? Unite überlegte, was sie ihm sagen konnte. In ihrem Kopf ging sie die Möglichkeiten durch und nahm seine Reaktionen vorweg. Schließlich fiel ihr nur noch eines ein. ♪Ich hab dich lieb. Er antwortete ihr nicht, aber sie spürte, dass er ihre Hand nun fester umfasste.   Der Raum, den sie betraten, erinnerte an eine ägyptische Grabkammer. Nachdem Secret ihnen eröffnet hatte, dass das Entfernen der Büchse dazu führen würde, dass die Nebendimension sie mit sich begrub. wirkte das umso makaberer, Allein Desire konnte dem Anblick noch eine deutliche Faszination abgewinnen. Auf einem steinernen Sockel stand eine goldene Schatulle mit filigranen Verzierungen. „Ist sie das?“, flüsterte Desire, als könne ein lauter Ton doch noch eine Falle auslösen. Secret nickte bloß. Automatisch stellten sie sich auf und nahmen sich an den Händen. Ewigkeit landete auf Changes Kopf, um zur gleichen Zeit wie alle anderen teleportiert zu werden. „Bereit?“, fragte Secret. „Wie kann man dazu bereit sein, eventuell zu sterben?“, gab Change zurück. „Teleportier schnell genug, dann sterben wir nicht.“, konterte Secret. Change gab ein Grummeln von sich. „Du teleportierst, sobald ich die Schatulle habe.“ Trust widersprach. „Er teleportiert, sobald du die Schatulle bewegt hast.“ „Achja. Der Musterknabe hat Angst, dass ich die Schatulle dem Schatthenmeister gebe.“, höhnte Secret. Feindselig funkelte Trust ihn an. „Ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn du sie hast.“ Secret grinste und wandte sich an Unite. „Erklär ihm doch noch mal, wie das hier funktioniert.“ Unite stockte. Mit ergrimmter Miene starrte Trust sie an. Sie begegnete seinem Blick nicht. „Lass sie da raus!“, verlangte Destiny wütend. „Dann erklär du Trust, dass er hier nichts zu melden hat.“, meinte Secret. Desire sah Secret durchdringend an. „Warum willst du unbedingt diese Schatulle? Es geht um unser Leben!“ „Sonst wären wir doch umsonst hier gewesen.“, entgegnete er nonchalant. Trust ließ Unites Hand los und trat einen Schritt von der Gruppe weg. „Ich gehe hier nicht weg, solange du diese Schatulle an dich nehmen willst.“ „Als würde mich das interessieren.“, erwiderte Secret gelangweilt. „Du weißt, ich werde nicht zögern.“ Trust ließ sich nicht beirren. Secret hob seinen Arm, bereit seine Telekinese einzusetzen. „Wenn du alle gefährden willst.“ „Du gefährdest alle!“, stellte Trust richtig. Secret grinste. „Aber ich bin nicht derjenige, der behauptet, dass ihm die anderen so wichtig wären.“ Er unterstrich seine Aussage mit einer kurzen Aufwärtsbewegung seiner Augenbrauen. „Bist du bereit, deine Freunde dieser Gefahr auszusetzen, nur um deinen Kopf durchzusetzen?“ Trust biss die Zähne zusammen. „Wie du meinst.“, sagte Secret und setzte seine Telekinese ein. Geistesgegenwärtig machte Unite einen Satz nach vorn und griff nach Trust. Bevor der Raum zusammenstürzte, teleportierte Change.   Sie erschienen in dem Höhlenbereich, wo sie angekommen waren. Die Umgebung bebte. Steine bröckelten von der Decke. Sofort setzte Desire ihren Schutzschild ein, während Secret an das Portal trat, die Schatulle im Arm. Hasserfüllt starrte Trust ihn an. „Trust!“, schrie Unite. Alles um sie herum erzitterte und kündigte die komplette Zerstörung an. Trust riss sich zusammen und legte seine Linke auf die Felswand neben sich. Er hatte jetzt keine Zeit, wütend zu sein. Er musste sich konzentrieren. Doch Secret vor ihm zog erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. Hinter ihnen hörte Trust alles zusammenstürzen und Secret schien das Portal noch nicht unter Kontrolle gebracht zu haben. Wie viele Sekunden hatten sie noch? Dann fiel ihm das Letzte ein, was er noch tun konnte.   Unite war damit beschäftigt, Trusts und Destinys Kräfte zu koppeln, doch mit einem Mal bemerkte sie, dass er mit seinen Gedanken woanders war und es Destiny nicht länger ermöglichte, die Dimension am völligen Zusammenfall zu hindern. So funktionierte das nicht! Ihr blieb nichts anderes übrig, als seinen Part zu übernehmen. Doch der Aufruhr, der durch die ganze Dimension ging, war so heftig, dass ihr ein Schmerz durch die Stirn schoss und sie aufschreien ließ. „Unite!“ Destiny zog an ihrer Hand. „Wir können sie nicht mehr kontrollieren.“, kreischte sie über den Lärm der Umgebung hinweg. „Change!“, rief Desire. In diesem Moment tat sich etwas an dem Portal. „Los!“, brüllte Secret. Doch anstatt zu rennen, sah sich Change nach den anderen um. Plötzlich riss ihn eine Kraft zu Secret. „Geh schon!“, donnerte Secret. Change tat wie ihm geheißen. Desire und die anderen rannten auf das Portal zu. Trust warf Secret noch einen tödlichen Blick zu, während er durch das Portal rannte. Secret folgte.   Sie fanden sich in einer engen Sackgasse von Entschaithal wieder und wussten nicht, dass es sich um die Gasse handelte, in der Grauen-Eminenz damals den ersten Allptraum freigelassen hatte. Wie Secret das gemacht hatte, ohne den Umweg über das Schatthenreich zu nehmen, war ihnen in diesem Moment herzlich egal. Desire brach in sich zusammen, ihr Schutzschild verschwand. Allein ihr Überlebenswille hatte sie bisher noch auf den Beinen gehalten. Auch die anderen schnappten nach Luft. Noch unsicher, ob sie es wirklich geschafft hatten. Allein Trust schien andere Sorgen zu haben. „Gib sie her!“, herrschte er Secret an. Dieser grinste dreckig. „Hier!“ Mit einer lockeren Bewegung warf er Trust die Schatulle zu. Geschockt riss Trust die Augen auf und fing das kostbare Gut gerade noch rechtzeitig auf. Doch zu seinem Schrecken ging etwas in dem goldenen Gefäß vor sich. Ein helles Licht drang durch den Deckel nach außen. Bevor er noch irgendetwas tun konnte, wurde er geblendet und ein Energiestoß riss den Deckel auf. Die anderen sahen, wie sieben farbige Lichter aus der Schatulle in die Höhe schossen. Über ihnen begannen sie sich zu materialisieren. Schemenhafte Wesen unterschiedlicher Größe, viele davon kleiner als die Allpträume, gerade mal eiin wenig größer als Ewigkeit, wurden sichtbar. Jede besaß eine andere Form und Farbe. Doch sie ließen den Beschützern nicht die Zeit, sie lange zu bestaunen Pfeilschnell stürzten sie auf sie herab. Die Beschützer duckten sich weg. Destiny wurde getroffen und schrie auf. Desire rief ihr Schutzschild, doch bevor sie es ausweiten konnte, griff eine der Kreaturen sie an und hinderte sie daran. Ewigkeit flog zu den Angreifern, um sie davon abzuhalten, doch die Kreaturen interessierten sich nicht für sie. Gleichzeitig versuchte Unite, sie mit ihren Beschützerkräften aufzulösen, doch zu ihrem Entsetzen zeigte ihre Welle keinerlei Wirkung. Eine der Kreaturen stürzte sich auf sie. Eine violette Energie schoss aus dem Nichts und verhinderte, dass der Dämon seine Klauen in Unite schlagen konnte. Auch dem Treiben der anderen Wesen gebot der Angriff Einhalt. Ein weiterer Schuss folgte, woraufhin die Wesen auseinanderstoben und in Windeseile in die Höhe entschwanden. Entsetzt sah Unite ihnen nach und riss ihren Blick dann zu der Quelle der rettenden Attacken.   Grauen-Eminenz stand vor dem Portal, durch das sie soeben getreten waren. Sein Gesicht war wutverzerrt, seine funkelnden Augen auf Secret fixiert. Eine orangefarbene Kuppel erschien um Secret. Desire – wieder fähig, ihre Kräfte einzusetzen – verhinderte, dass Grauen-Eminenz Secret angriff. Der Schatthenmeister bedachte daraufhin sie mit einem grausamen Blick. Ein Lachen erklang und alle starrten auf Secret. Dieser trat mit selbstbewussten Schritten aus Desires Schutzschild heraus. „Er würde mir nie etwas tun.“, meinte er herablassend.. Unite erkannte, dass etwas Seltsames in Grauen-Eminenz Blick trat, etwas wie Schock über Secrets Worte. Secret lächelte gönnerhaft. „Auftrag ausgeführt.“ Grauen-Eminenz‘ Gesicht verzog sich vor Abscheu. „Was hast du getan?“ „Die Schatulle hatte einen automatischen Öffnungsmechanismus, für den Fall, dass sie jemand in die normale Welt bringt.“, erklärte Secret. Mit mächtigen Schritten trat Grauen-Eminenz auf ihn zu. „Keine Bewegung!“, schrie Destiny mit drohend erhobenem Arm. Der Schatthenmeister ließ sich davon nicht beeindrucken. Ein tiefes Grollen kam aus seiner Kehle. „Weißt du, was du angerichtet hast?“ Secret lächelte überlegen. „Dir die Arbeit abgenommen.“ Alles in Grauen-Eminenz‘ Gesicht verhärtete sich. „Ooh.“, machte Secret in künstlichem Mitleid. „Soll ich dir bei den Berichten helfen?“, höhnte er. Grauen-Eminenz ballte die Hände zu Fäusten. Etwas ungemein Erwartungsvolles leuchtete in Secrets Augen auf. Plötzlich wich die Härte aus Grauen-Eminenz‘ Zügen. „Ich erwarte deinen Bericht.“ Ein triumphierendes Grinsen grub sich in Secrets Züge. Die Beschützer sahen, wie er im nächsten Moment in sich zusammenbrach. Seine Bedroherkleidung wandelte sich zu der normalen Straßenkleidung Eriks. Desire und Change rannten an seine Seite und knieten zu ihm. Desire schrie Grauen-Eminenz an: „Was hast du ihm angetan?“ „Zur Abwechslung hab ich mal nichts getan.“, antwortete Grauen-Eminenz und trat zurück, wie um Abstand zwischen sich und die Beschützer zu bringen. Desire wollte ihre Kräfte auf den Schwarzhaarigen anwenden, wurde aber von Change aufgehalten. Er schüttelte den Kopf. Sie sah ihn irritiert an. Derweil sprach Grauen-Eminenz weiter. „Er hat was er wollte. Es gibt für ihn keinen Grund mehr, jetzt Secret zu sein.“ Desire horchte bei den Worten auf und begriff, warum Change sie von ihrem Kräfteeinsatz abgehalten hatte. Erik sollte nicht in dieser Situation erwachen. „Was sind das für Dinger?“, verlangte Trust zu erfahren. „Keiner weiß das.“, sagte Grauen-Eminenz ernst. Sein Blick wanderte nach oben, wohin die Plagen entschwunden waren. „Aber wie ich das Pandämonium kenne, sind sie gefährlich.“ Unite ergriff das Wort. „Wirst du uns helfen?“ Die Blicke der anderen schnellten zu ihr. Grauen-Eminenz‘ Augen wurden zu zwei Schlitzen. „Ich bin nicht euer Freund.“ „Aber du bist Secrets Freund.“, stellte Unite fest. Grauen-Eminenz schaute, als würde ihn die Unterstellung ekeln. „Ich bin niemandes Freund.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand durch das Portal. Desire wandte sich an die anderen. „Was sollen wir tun?“ Unite erkannte an dem Tageslicht, dass in der normalen Welt viel weniger Zeit vergangen war als die, die sie im Schatthenreich und der Nebendimension verbracht hatten. Damals in der Nacht ihrer Entführung war es genauso gewesen. „Wir bringen Erik zu mir nach Hause und setzen ihn zu uns an den Tisch. Dann kannst du ihn aufwecken.“, schlug Unite vor. „Er wird denken, dass wir zusammen gefeiert haben, wie es geplant war.“ „Das wird er uns niemals glauben!“, meinte Desire. „Er will es glauben.“, behauptete Unite. „Deshalb wird sein Verstand alle Lücken füllen.“ „Wie kannst du dir da so sicher sein?“, rief Desire. Unite sah sie ernst an. „Weil er zu Secret werden will.“ „Das ist nicht wahr!“, schrie Desire. „Er kann sich nicht dagegen wehren!“ Sie drehte sich zu Trust. „Du kannst seine Erinnerungen ändern.“ „Das werde ich nicht tun.“, antwortete Trust entschieden. „Ich habe einmal Secrets Gedächtnis gelöscht und wir wissen, dass das nichts gebracht hat. Ich werde nicht mit Eriks Erinnerungen spielen.“ „Aber es hat etwas gebracht!“, beharrte Desire. „Damals wollte er uns umbringen! Der Secret, der danach aufgetaucht ist, ist zwar immer noch gefährlich, aber er greift uns nicht mehr auf diese Weise an!“ Change nickte zustimmend. Destiny warf den beiden einen strengen Blick zu. „Trust hat heute schon genug mitgemacht, was er nicht wollte. Er hat sich nur uns zuliebe auf diesen ganzen Wahnsinn eingelassen. Er hat es verdient, dass wir seine Wünsche respektieren.“ Destinys Worte trafen Trust. Auf einmal hatte er das Gefühl, als würde er aus egoistischen Gründen etwas ablehnen, das für die Gruppe wichtig war. Er senkte den Blick. „Sollte es soweit kommen, dass Erik wegen seiner Gedächtnisausfälle Angst bekommt, werde ich seine Erinnerungen –“ Er sprach nicht weiter. „Du kannst Erinnerungen nur löschen.“, erinnerte Destiny. „Er hat es doch noch nie ausprobiert.“, meinte Change. „Und wenn nicht, könntest du sie doch ändern. Wenn ihr eure Kräfte kombiniert. So wie vorhin!“ „Aber er möchte das nicht!“, sagte Destiny ernst. „Hey!“, rief Unite dazwischen. „Wir haben es geschafft! Wir haben Secret gerettet und haben überlebt!“ Ewigkeit schwebte neben sie und nickte eifrig. Trust schimpfte: „Wir haben eine unberechenbare Bedrohung freigesetzt!“ „Hätten wir Secret besser in dieser Nebendimension lassen sollen?“, fragte Unite. Wutentbrannt stierte Trust sie an. „Wir hätten ihm nie erlauben dürfen, die Schatulle in die normale Welt zu bringen!“ „Du weißt, dass er sich nichts verbieten lässt.“, hielt Unite dagegen. „Deshalb hätten wir gar nicht erst machen dürfen, was er wollte!“, brüllte Trust. Unite sah ihn stumm an. Er wandte den Blick ab. Es herrschte einen Moment Schweigen. Change mischte sich ein: „Äh, Leute, ich weiß nicht, wie lang der hier noch pennt. Wir sollten vielleicht…“ Unite richtete das Wort an Ewigkeit. „Sag Kai und Ellen, dass sie meine Mama vom Esszimmer fernhalten sollen.“ Ewigkeit nickte und verschwand. Kapitel 131: Beharrlichkeit und Ausdauer ---------------------------------------- Beharrlichkeit und Ausdauer   „Die schönsten Blumen blühen oft im Verborgenen.“ (Fernöstliche Weisheit)   Erik glaubte, eine zärtliche Berührung an seinem Arm wahrzunehmen, die augenblicklich verschwand. Dann drangen Stimmen an sein Ohr. Ein Lachen und Scherzen. Wo war er? Er bemerkte, dass er nicht lag, sondern saß. Allmählich öffnete er die Augen. Als erstes sah er sich selbst, seine Beine. Noch etwas schwerfällig hob er den Kopf und sah sich Vivien gegenüber. Zwischen ihnen ein gedeckter Tisch. Zu Viviens Rechten saßen Justin und ihre beiden Geschwister, die ausgelassen kicherten. Zu ihrer Linken Serena. Erik wandte den Kopf leicht nach links. Ariane saß neben ihm, war jedoch auf Vivien fixiert. Zu seiner Rechten saß Vitali, daneben Serena, auch sie sahen Vivien an, die heiter lachte. Selbst Ewigkeit war anwesend und schwebte über Viviens Geschwistern. „Kann ich jetzt die Geschenke aufmachen?“, rief Vivien vorfreudig. Erik begriff, dass er sich bei ihr zu Hause befand. Er war noch nie hier gewesen. Wie war er hier hergekommen? Er erinnerte sich nicht. Doch keiner der anderen schenkte ihm Beachtung, so als wäre er die ganze Zeit bei ihnen gewesen. Vor jedem von ihnen stand ein Teller, auch vor ihm, darauf eine Gabel und ein halb gegessenes Stück Kuchen. Auf den Tellern der anderen waren nur noch Krümel. Hatte er wieder einen Anfall gehabt? Aber warum waren die anderen dann so ausgelassen? Allein Justin wirkte wenig fröhlich, fast als würde ihn etwas schwer belasten. Und irgendwie sahen die fünf ziemlich erschöpft aus. Er wandte sich nochmals leicht in Arianes Richtung, hätte sie am liebsten gefragt, was geschehen war, warum er hier war. Aber das klang völlig absurd. Ja, er war auf dem Weg zu Vivien gewesen. Das wusste er noch. Aber danach? Er blickte wieder zu Vivien, die ein kleines Geschenk zur Hand genommen hatte. „Du bist aufgewacht!“, jubelte sie jäh. Völlig irritiert sah er sie an. „Du bist vorhin einfach eingenickt. Wir wollten dich nicht wecken.“ Sie kicherte. Seine Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen. Er sollte eingenickt sein? Er wusste ja nicht einmal, wie er hier angekommen war. „Hast du heute Nacht nicht gut geschlafen?“, erkundigte sich Vivien. Wenn er es recht bedachte, glaubte er einen sehr unruhigen Schlaf gehabt zu haben. So als hätten allzu lebhafte Träume ihn die ganze Nacht wachgehalten. Träume, in denen er in einer grauen Welt herumgeirrt und seltsame Pläne geschmiedet hatte. Er gab ein unartikuliertes Geräusch von sich, das alles bedeuten konnte. „Das war voll süß!“, jauchzte Vivien. „Wie du so ganz leises Schnurren von dir gegeben hast.“ Sie grinste amüsiert. „Schnarchen!“, verbesserte Vitali. „Er hat geschnarcht.“ „Aber es klang voll niedlich!“, beharrte Vivien. Die Situation war Erik reichlich unangenehm. Er war in seinem ganzen Leben nicht vor anderen Menschen eingeschlafen. So sicher hatte er sich noch nie in der Nähe von irgendwem gefühlt. Andererseits… Seine Augen schweiften kurz über die anderen. Er wandte sich an Vivien. „Wolltest du nicht das Geschenk aufmachen?“ „Oh ja!“, rief Vivien und stand auf, wie um sie alle noch besser sehen zu lassen, wie sie das Geheimnis des Präsents enthüllte. Zu Eriks Überraschung riss sie das Papier nicht einfach auf, sondern löste erst die Schleife und versuchte sich dann daran, den Tesa vorsichtig zu entfernen. Als das jedoch nicht gelingen wollte, rief sie ein „Ach egal“, zerriss das Papier nun doch und schien dabei eine große Freude zu empfinden. Unwillkürlich musste er schmunzeln, das passte einfach zu ihr. Nun hielt sie eine kleine Schmuckschatulle in Händen. Das Strahlen auf Viviens Gesicht nahm noch zu. Vorsichtig und mit Spannung in den Augen hob sie den Klappdeckel der Schatulle an und brach in einen Freudenschrei aus. Da Justin mit der Auswahl des Geschenks betraut worden war, hatte Erik es selbst noch nicht gesehen. Er wusste nur, dass es sich um eine Kette handelte. Ariane erklärte lächelnd: „Wir haben alle zusammengelegt, aber Justin hat es ausgesucht.“ Sachte zog Vivien mit drei Fingern eine silberne Kette empor, an deren Ende ein Anhänger in der Form einer Blüte hing. Sie legte die Schatulle ab, drehte die Kette um und präsentierte sie stolz den anderen. Erik musste lächeln. Justin hatte eine perfekte Wahl getroffen. Die sechs Blütenblätter des Anhängers waren jeweils mit einem Steinchen in einer Farbe des Regenbogens bestückt, In der Mitte prangte ein kleineres rundes Steinchen in einem milchigen Weiß. „Es sind verschiedene Halbedelsteine.“, informierte Justin halblaut. Irgendwie wirkte er dabei ungewohnt traurig und bedrückt. Vivien sah ihn kurz an, als wolle sie etwas sagen, kurz glaubte Erik die Fröhlichkeit in ihrem Gesicht schwinden zu sehen. Hatten die beiden sich gestritten oder hatte es wieder ein Missverständnis gegeben? Dann drehte sie sich mit breitem Grinsen zu ihm und den anderen. „Sie ist wunderschön! Dankeeeee!“ Sie lachte heiter. Ihre Finger wanderten zu dem Verschluss. Doch ehe sie die Kette anlegen konnte, löste sich ein Steinchen aus der Blüte. Erik erkannte, dass ein kleiner violetter Stein nun auf der weißen Tischdecke lag. Geradezu bestürzt ließ Vivien die Arme sinken. „Tut mir leid.“, rief Justin. „Wir können sie wieder kleben.“ Vitali blieb unbekümmert. „Wieso? Sieht doch lustig aus.“ Vivien sah traurig auf den Stein hinab, als würde ihr die kaputte Kette das Herz brechen. So kannte Erik sie gar nicht. Er ließ sich dazu herab, etwas zu sagen, um sie auf andere Gedanken zu bringen. „Offenbar will der Stein seinen eigenen Weg gehen.“ Vivien starrte ihn einen Moment stumm an, regelrecht betreten, dann nickte sie, hob das Steinchen auf und lächelte melancholisch. Mit einem Mal verließ sie ihren Platz, ging an Justin vorbei und schlug zu Eriks Überraschung den Weg zu ihm ein. Sie quetschte sich hinter Arianes Stuhl zu ihm durch und hielt ihm das Steinchen hin. „Hebst du ihn für mich auf?“ Verdutzt sah er sie an. „Das ist doch deine Lieblingsfarbe.“, meinte Vivien in warmem Ton. Er blickte auf den Stein, dessen Farbe je nach Lichteinfall zwischen Dunkelblau und Violett schwankte, und reichte Vivien die Hand. Sorgfältig platzierte sie den Stein in seiner Handfläche. „Du musst gut darauf aufpassen!“ Er sah skeptisch zu ihr auf. „Und wenn das Blütenblatt zu den anderen zurück will, ist es willkommen!“ Nun senkten sich seine Augenbrauen zweiflerisch. Doch Vivien strahlte wieder und er wollte ihr die Laune nicht verderben. Daher steckte er den Stein in seine Hosentasche und nahm sich vor, ihn später in seinen Geldbeutel zu packen. In dem Moment schlang Vivien ihre Arme um seinen Hals und zog ihn in eine Umarmung. Er bemühte sich, das wortlos über sich ergehen zu lassen. „Ich hab dich lieb!“, jauchzte sie. Schweigen von seiner Seite. Sie löste sich wieder von ihm. „Kannst du mir die Kette anziehen?“ Mit erwartungsvollem Lächeln hielt sie ihm den Halsschmuck hin. Davon irritiert sah er zu Justin hinüber. Er war sich sicher, dass Vivien üblicherweise Justin darum gebeten hätte, doch dieser wirkte ziemlich abwesend. Erik überlegte kurz, ihr zu sagen, dass Justin diese Ehre gebührte, da er das Geschenk ausgesucht hatte, aber so wie die Situation gerade wirkte, hätte das eventuell für eine ziemlich bedrückende Stimmung gesorgt. Er nahm ihr die Kette ab. „Dreh dich um.“ Vivien tat wie geheißen und Erik stand auf, um ihr das Schmuckstück anzulegen. „Fertig.“ Sie strahlte ihn dankbar an, als rühre die Geste sie. Ihre verdeckte Emotionalität wirkte befremdlich, als würde sie unter dem Lächeln etwas ganz anderes verstecken. „Steht dir gut.“, sagte er, auch wenn er der Meinung war, sie hätte den fehlenden Stein wieder hinkleben sollen. So wirkte der Anhänger unvollkommen und beschädigt. Aber Hauptsache, Vivien war glücklich.   Den Rest des Tages verbrachten sie mit Spielen, die Vivien vorbereitet hatte, auch wenn die Runde weniger laut und energiegeladen war als sonst. Abends gab es noch eine gemeinsame Mahlzeit, dann holte Viviens Mutter ihre Geschwister ab, sodass die sechs noch etwas Zeit allein verbringen und sich unterhalten konnten. Um kurz vor neun klingelte Serenas Handy. „Das wird meine Mutter sein.“, informierte Serena. „Sie ist wohl schon da. Tut mir leid.“ „Schon ok.“, versicherte Vivien. „Sie hat auch angeboten, die anderen heimzufahren.“, ergänzte Serena. „Bin dabei.“, verkündete Vitali. Serena maunzte: „Wer hat gesagt, dass das für dich gilt?“ Es klang nicht wirklich abweisend, fast schon eher kokettierend. Vitali grinste sie an. „Du.“ Auf sein Lächeln hin wirkte Serena ungewohnt verlegen, fast verschämt, und wandte den Blick hastig zu Ariane und Erik. Ariane lächelte. „Das wäre nett.“ Erik erhob sich. „Wir sollten sie nicht warten lassen.“ „Sollen wir nicht noch beim Aufräumen helfen?“, fragte Ariane. „Justin wird ihr helfen.“, kündigte Erik an und ließ ihm einen vielsagenden Blick zukommen. Doch Justin schien das nicht wirklich als Hilfe aufzufassen, Zaghaft sah Vivien zu ihm. Justin stimmte nicht zu, widersprach aber auch nicht.   Nachdem Vivien die anderen und Ewigkeit an der Haustür verabschiedet hatte – Ewigkeit sollte die Nacht bei Vitali verbringen – begab sich Justin zurück ins Esszimmer, um die Teller einzusammeln und in die Küche zu bringen. Er hörte, wie Vivien ihm hinterher eilte, doch er hob nicht den Blick, um sie in Augenschein zu nehmen. In Schweigen gehüllt, räumte er den Tisch ab, sie tat es ihm gleich. „Ist die Spülmaschine leer?“, fragte Justin, nachdem sie alles in die Küche gebracht hatten. „Ja.“, antwortete Vivien mit deutlich weniger Elan als sonst. Ohne sie anzusehen, öffnete er die Tür der Spülmaschine und zog den unteren Korb heraus. Vivien blieb stumm neben ihm stehen. Er begann, die Spülmaschine zu beladen. „Es tut mir leid.“ Er hielt kurz inne. „Ich weiß, ich hätte dich unterstützen sollen.“ Sie klang aufgelöst. Er drehte sich zu ihr. Sie sah völlig fertig aus, als würde sie von einer inneren Seelenpein aufgefressen. Er wandte sich wieder ab. „Das ist nicht deine Schuld.“ „Justin.“ Er seufzte. „Ich will nicht darüber reden.“ Es war ihm, als hätten seine Worte einen plötzlichen Wandel in der Atmosphäre bewirkt. Doch er wollte sie nicht nochmals ansehen, sondern fuhr damit fort, das Geschirr einzuräumen. Plötzlich hörte er, wie sich Vivien entfernte. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Er blickte auf und fühlte Schmerz in sich aufsteigen.   Vivien konnte die Tränen nicht zurückhalten. Zusammengekauert saß sie auf einem der Esszimmerstühle im Halbdunkel, nur eine kleine Lampe in einer Ecke brannte noch. Sie wollte nicht, dass Justin sie hören konnte oder sie so sah. Verzweifelt bemühte sie sich, die Schluchzer zu unterdrücken, die an die Oberfläche dringen wollten. Aber allein der Gedanke, dass Justin in der Küche weiter seelenruhig aufräumte und sie ignorierte, ließ eine weitere Welle des Leids über ihr zusammenschlagen. Sie hielt diese innere Qual nicht aus. Das Schluchzen brach sich Bahn. Die Zimmertür öffnete sich. Vivien hörte, dass jemand eintrat und stehenblieb. Sie versteckte ihr Gesicht hinter ihren Armen. „Vivien…“ Er klang so schrecklich tadelnd, als würde sie sich kindisch aufführen. Vielleicht tat sie das auch. Sie fühlte sich nur so schlecht und wusste nicht, wohin mit diesen Gefühlen. Sein langes Seufzen drang an ihr Ohr. „Deine Familie wird sich Sorgen machen, wenn du so weinst.“ Sie bemühte sich, Luft durch ihren Mund zu bekommen, ihre Nase war dazu längst nicht mehr im Stande. Wieder stöhnte er und sie hörte, wie er sich auf einen der Stühle setzte. „Vivien.“ „Ich krieg keine Luft.“, presste sie hervor. „Wo habt ihr Taschentücher?“ „Im Schrank.“ „In welchem Schrank?“, hakte er nach. Vivien lugte kurz auf und deutete auf das entsprechende Möbelstück. Sie versteckte ihr Gesicht wieder und hörte, wie Justin den Schrank öffnete, kurz darauf das dumpfe Geräusch der Taschentuchpackungen, die auf dem Tisch abgelegt wurden. Sie hob erneut den Blick und griff nach einer davon. Doch auch nachdem sie mehrere Taschentücher verbraucht hatte, konnte sie nicht durch die Nase atmen. Justin war stumm bei ihr sitzen geblieben. Vivien hätte sich gewünscht, dass jemand anderes nun bei ihr gewesen wäre. Irgendwer, der sie tröstete und sie in den Arm nahm. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass selbst Erik sich in diesem Moment als einfühlsamer erwiesen hätte als es Justin gerade war. Aber was redete sie sich ein? Sie hatte Justin verletzt. Wie musste er sich fühlen, dass sie jetzt diejenige war, die heulte? Eigentlich war das unfair. Sie… Eigentlich wollte sie ihm doch etwas ganz anderes sagen! Behutsam nahm sie eine normale Sitzposition ein und hob den Kopf. „Danke, dass du mir vertraut hast.“ Sie strengte sich an, sich von den Schuldgefühlen, die sie wieder in ihre Gewalt bringen wollten, nicht vereinnahmen zu lassen. Es brachte nichts, in Selbstmitleid zu versinken. Damit tat sie nur sich selbst weh und Justin noch dazu. Wieder seufzte Justin. Dann legte er die Ellenbogen auf dem Tisch ab und vergrub seine Stirn in seinen Handflächen. Vivien schwieg und ließ ihm Zeit, konzentrierte sich darauf, tief und gleichmäßig Luft durch den Mund zu holen und länger auszuatmen als ein, um ihre Nerven zu beruhigen. Seine Stimme klang tief. „Ich kann nicht mehr.“ Die Worte versetzten ihr einen Stich und sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Nein. Sie … sie wusste doch gar nicht, was er damit gemeint hatte. Sie musste, den Gedanken loslassen, der sie gerade gequält hatte, durfte das nicht alles auf sich beziehen. Sie wollte doch für Justin da sein! Den Kloß in ihrem Hals hinunterschluckend fasste sie sich ein Herz. „Kann ich etwas für dich tun?“, presste sie hervor. Justin antwortete nicht. Weitere Sekunden verstrichen. Endlich sprach er weiter. „Es ist alles zu viel.“ Er stockte. „Ich kann das nicht mehr. Secret und alles. Ich…“ Er atmete die Luft auf eine Art und Weise aus, die sie vermuten ließ, dass er kurz davor stand, selbst in Tränen auszubrechen. „Du bist nicht allein.“, antwortete Vivien. Justin ließ die Hände sinken und sah sie strafend an. „Bin ich nicht?“ Sein scharfer Ton ließ sie zusammenzucken. Sie ermahnte sich, dass er nur verletzt war. Nein, sie durfte seine Worte nicht persönlich nehmen. Dennoch fühlte es sich so an, als wäre ihr Herz von Eisenklammern gepackt worden. Sie senkte den Blick. „Nein, bist du nicht.“ Justin wurde laut. „Was war das dann heute? Ihr habt alle gemacht, was er wollte!“ Vivien brauchte ein paar Momente, um mit Justins heftigen Ton und seiner harschen Art umzugehen und ihre Atmung wieder zu beruhigen. „Was willst du?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Justin antwortete nicht sofort. Seine Stimme verlor an Vehemenz. „Dich anschreien, nehme ich an.“ Vivien nickte. Verschiedene Versionen, was sie antworten könnte, gingen ihr durch den Kopf. Aber alles, was sie zu der heutigen Situation mit Secret hätte sagen können, hätte Justin nur wütend gemacht. Davon war sie überzeugt. Schließlich rang sie sich zu Worten durch: „Geht es dir dadurch besser?“ „Nein.“, gestand er. „Ich fühle mich noch schlechter.“ Kurz überlegte Vivien, ob sie ihm sagen sollte, dass sie sich in solchen Momenten besser fühlte, wenn sie ihn umarmte. Aber das kam ihr gerade anmaßend vor. Wahrscheinlich war, von ihr berührt zu werden, gerade das Letzte, was er wollte. „Es macht mich so wütend und hilflos.“, sprach er weiter. Sie nickte. Er sah sie jetzt direkt an. Seine Stimme wurde auf andere Art und Weise aufgewühlt, nicht länger wütend, sondern regelrecht verstört. „Ich habe den Schatthenmeister gerufen!“, stieß er aus. „Als alles um uns herum am Zusammenbrechen war. Ich dachte, er wäre der Letzte, der uns helfen könnte!“ Nun schrie er: „Ich habe unseren Feind um Hilfe gebeten!“ Das Dämmerlicht im Raum ließ sie nur erahnen, dass er Tränen in den Augen hatte. Sie verstand nicht, was er an diesem Schritt so schlimm fand, aber für ihn war es ganz offensichtlich eine große Sache. „Grauen-Eminenz ist anders als –“ „Er ist der Feind!“, herrschte er sie an. Vivien schwieg. Justins Erregung ließ nicht nach. „Das ist kein Spiel. Das ist tödlicher Ernst! Wir wären fast gestorben! Wir hätten nie auf Secrets Nachricht reagieren dürfen!“ „Dann würde Erik jetzt für immer in dieser Dimension festsitzen!“, wandte Vivien ein. „Das war seine Entscheidung.“, sagte Justin kalt. „Das stimmt nicht und das weißt du!“, erwiderte sie. Justin taxierte sie streng. „Du hast vorhin selbst gesagt, dass er zu Secret werden will.“ Vivien sah ihm in die Augen. „Du hast es doch vorhin gespürt, nicht wahr? Das Gefühl, das von Secret ausgeht.“ Justin wandte sich ab. Sie ahnte, dass sein Kiefer sich nun anspannte. Während dem Einsatz ihrer Kräfte hatte sie nur halb mitbekommen, wie Justin von etwas fortgerissen wurde. Wie etwas ihn von sich selbst wegriss, von seiner Selbstbeherrschung. „Würdest du Erik wirklich opfern?“, fragte sie. Mit leidgezeichnetem Gesichtsausdruck sah er sie an. Vivien legte ihre Hand auf die seine. Er klang aufgelöst. „Ich weiß nicht mehr, was richtig ist.“ Sie drückte seine Hand. „Es ist richtig, seinem Herz zu folgen. Nicht der Angst.“ „Was, wenn uns das alle umbringt?“, wandte er ein. „Was, wenn es uns alle rettet?“ Zweifel zeichneten sein Gesicht. Vivien holte Luft. „Es ist wie mit den Allpträumen damals. Wir finden die Lösung nicht, wenn wir die ganze Zeit auf das Problem fixiert sind. Man kann Angst nicht mit Angst besiegen, Zweifel nicht mit Zweifel. Wir müssen daran glauben, dass es gut wird und dass wir es schaffen.“ Er wirkte nicht überzeugt. „Bisher hat es immer geklappt.“, erinnerte Vivien. Justin senkte den Blick. „Je öfter es klappt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass es wieder so sein wird. Wir hatten viel zu viel Glück bisher. Das kann nicht ewig so bleiben.“ „Wir hatten nicht nur Glück.“, widersprach Vivien. „Wir haben alle unser Bestes gegeben und haben zusammengehalten. Deshalb haben wir es geschafft.“ Sie drückte seine Hand. „Und vor allem du verdienst dein Vertrauen.“ Justin stieß ein bitteres Geräusch aus. „Wieso hab ich dann den Eindruck, alles falsch zu machen?“ „Weil du dir das einredest.“, antwortete Vivien. „Du hast einfach Angst und siehst gar nicht mehr, was du schon alles geschafft hast. Was wir schon alles geschafft haben. Wir haben heute eine gefährliche Mission überlebt. Und wir haben das wirklich toll gemacht.“ Sein Blick wurde wieder hart. „Und dabei haben wir eine große Gefahr freigesetzt. Wer weiß, wie viele Menschen dadurch zu Schaden kommen!“ „Wir werden uns darum kümmern.“, versicherte Vivien. „Wie?“, wollte Justin wissen. „Uns wird was einfallen. Versprochen. Uns fällt immer was ein.“ Aus Justins gesamter Mimik sprach Argwohn. „Wie kannst du dir da nur so sicher sein?“ Vivien lächelte. „Weil ich weiß, wie toll wir alle sind. Du, die anderen, ich. Es kann nur gut gehen.“ „So einfach ist das Leben nicht.“, urteilte er resigniert. „Dann machen wir es so einfach!“, sagte Vivien überzeugt. „Wir bestimmen unser Leben.“ Ihr Lächeln hielt seinem Argwohn und seinen Zweifeln sekundenlang stand. Dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck. Eine profunde Ruhe sprach mit einem Mal daraus und hielt sie für Momente gefangen. Wenn sie nur zu zweit waren, hielt Justin seinen Blick sonst nie so lange auf sie gerichtet. Vor allem nicht im Halbdunkel. Das war so ungewohnt, dass Vivien den Augenkontakt abbrach und leichte Nervosität verspürte. Zaghaft blickte sie schließlich wieder auf. Noch immer sah Justin sie stumm an. Den Ausdruck in seinen Augen zu deuten, war ihr nicht vergönnt. Einerseits wollte sie nicht, dass er damit aufhörte, andererseits wusste sie damit nicht umzugehen. Wieder schlug sie scheu die Augen nieder. Sollte sie seine Hand loslassen? „Danke.“, sagte er in dem milden Tonfall, der ihr so vertraut war. Sie erkannte die ersehnte Sanftheit in seinem Blick. „Ich hatte vergessen, dass es für dich auch nicht so leicht ist, wie es immer scheint.“ Getroffen versuchte sie, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Justin sog Luft ein und stieß sie geräuschvoll wieder aus. „Wir sollten weiter aufräumen.“ Er erhob sich und entzog sich damit der Berührung ihrer Hand. Dennoch pochte ihr Herz. Aus irgendeinem Grund verspürte sie wieder die Aufgeregtheit in sich, die Justins Nähe zu normalen Zeiten in ihr auslöste. Sie erinnerte sich an die heftige Verliebtheit, die sie für ihn empfand, und ein warmes Glücksgefühl durchströmte sie. Justin wartete an der Zimmertür. Flatternden Herzens sprang sie auf, holte Mut, um die Worte auszusprechen. „Darf ich dich umarmen?“ Die Bitte schien in zu verwundern, doch er wirkte nicht so verschüchtert wie sonst, wenn sie körperliche Nähe suchte. Ein sanftes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Dann räusperte er sich, als wäre ihm eingefallen, dass er verlegen sein sollte. Er senkte den Blick. „Wenn du möchtest.“ Vivien blieb stehen. Er bemerkte wohl, dass sie nicht vorhatte, ihn ohne sein Zutun zu umarmen. Etwas unbeholfen drehte er sich zu ihr und öffnete seine Arme. . Sie überwand den Abstand und ließ sich an seine Brust sinken. Dass er die Umarmung erwiderte, erfüllte sie mit seliger Aufregung. Es war lange her, dass sie sich einfach auf seine wundervolle Wärme hatte einlassen können. Diese Wärme die so charakteristisch für ihn war und eine solche Geborgenheit in ihr auslöste. Am liebsten wäre sie für immer in seinen Armen geblieben. Sie sog den Moment in sich auf und wiederholte in Gedanken die drei Worte, die sie nicht laut auszusprechen wagte.   Auch lange nach dem Abschied von Justin war Vivien noch mit dem ängstlichen Glücksgefühl in ihrer Brust beschäftigt. Es fühlte sich wie ein leichter Schmerz an, vielleicht war es das, was man Sehnsucht nannte. Da sie im Gegensatz zu ihren Geschwistern noch nicht schlafen konnte, setzte sie sich auf den Stuhl neben dem Fenster, schaute hinüber zu Justins Haus. In seinem Zimmer war es dunkel. Sie seufzte ergeben. Dann senkten sich ihre Mundwinkel, als ihr wieder in den Sinn kam, was sie ihm nicht erzählt hatte und was sie bis auf Weiteres keinem der anderen anvertrauen wollte, auch wenn sie nicht direkt in Worte fassen konnte, woran das lag. Es ging um das Gefühl, das ihr Grauen-Eminenz unbewusst geschickt hatte. Sie legte die Hand auf ihre Brust. Es hatte sich ihr aufgezwängt, wie etwas, das sich unbedingt mitteilen musste, weil sein Besitzer es niemandem offenbarte. Da war so viel Bedauern und schlechtes Gewissen gewesen. Er bereute etwas aus tiefster Seele. Etwas Gewaltiges. Vivien wusste, wie es sich anfühlte, wenn Serena etwas bereute und von einem schlechten Gewissen gequält wurde. Sie fühlte sich machtlos und unwert und schämte sich. Das Gefühl, das von Grauen-Eminenz ausgegangen war, war ganz anders. Es war eine Stärke, eine Härte gewesen. Das hatte sie unweigerlich an Justin erinnert, diese Mischung aus Zerbrechlichkeit und Härte. Auch Justin hatte die Tendenz sich für das kaputt zu machen, das er für notwendig hielt. Allmählich verstand sie, warum sie den anderen nicht davon erzählen konnte. Sie bezweifelte, dass sie die Tragweite dieses Gefühls verstanden, und befürchtete, dass sie Grauen-Eminenz verurteilen würden, weil er ihr Feind war. Aber sie selbst konnte ihn nicht länger einfach nur als ihren Feind ansehen. Dazu hatte das Gefühl sie zu tief berührt. Natürlich war ihr klar, dass er immer noch eine Gefahr darstellte. Sie waren keine Freunde und sie hatte nicht vor, sich um ihn zu sorgen. Mit Secret hatte sie schon genug zu tun, und was sie über Grauen-Eminenz erfahren hatte, war ausreichend, um zu wissen, dass ihm nicht zu helfen war. Nicht zuletzt, weil sie diese Erfahrung mit Justin gemacht hatte. Wenn er glaubte, auf eine bestimmte Weise handeln zu müssen, ließ er sie nicht an sich heran. Doch während Justin noch nicht gänzlich in diesem Muster verloren gegangen war, hatte Grauen-Eminenz sich längst entschieden. Er würde nicht aufgeben, er würde niemals aufgeben, selbst wenn er selbst daran zerbrach... Gerade weil er daran zerbrechen wollte. Diese Erkenntnis machte sie einfach nur traurig, doch schlussendlich änderte sie nichts an ihrem Vorgehen. Daher brachte es nichts, die anderen einzuweihen. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass sie ihnen nicht davon erzählen sollte, weil er es ihr anvertraut hatte. Ob bewusst oder unbewusst, er hatte es ihr zeigen wollen, nicht den anderen. Plötzlich kam ihr Ewigkeit in den Sinn. Ein Gedanke genügte und die Kleine erschien bei ihr und sah sie neugierig an. Vivien blickte kurz zu ihren Geschwistern, ob sie sie wecken würde, wenn sie mit Ewigkeit sprach. Doch die beiden schliefen tief und fest. „Darf ich dich was fragen?“, flüsterte sie. „Was Schatthenmeister tun – ist das nicht das gleiche was wir tun, nur umgekehrt? Sie verwandeln auch ihre Gefühle in Energie. Nur dass diese Energie einen Körper hat.“ Ewigkeit nickte. „Tiefschwingend.“ Mimisch fragte Vivien nach der Bedeutung dessen. „Sie benutzen tiefschwingende Gefühle. Ihr benutzt hochschwingende Gefühle. Leichte Gefühle.“ „Also, wenn wir uns gut fühlen müssen, um unsere Kräfte zu rufen, müssen sich Schatthenmeister schlecht fühlen, um Schatthen zu erschaffen?“ Ewigkeit bestätigte dies. „Aber sonst machen sie das Gleiche wie wir?“ „So ähnlich.“, meinte Ewigkeit. Vivien erinnerte sich daran, dass die Prophezeiung davon gesprochen hatte, dass die Auserwählten die Wahl hatten. „Aber wir könnten dasselbe tun wie die Schatthenmeister, richtig?“ Ewigkeit schaute entsetzt. Vivien lächelte. „Ist nur eine Frage. Ich hatte das nicht vor.“ Ewigkeit nickte und senkte den Blick. Es sah so aus, als würde die Vorstellung allein unliebsame Vorstellungen in ihr heraufbeschwören. Sie schüttelte hastig den Kopf. „Alles gut.“, versicherte Vivien und hob ihre Hand unter Ewigkeit, sodass sie die Kleine aus der Schwebeposition zu einem Stand auf ihrer Handfläche brachte. „Es ist doch viel schöner, sich zu freuen!“ Ewigkeit sah sie auf eine Weise an, als wolle sie ausdrücken, dass nicht jeder dieser Auffassung war. Kapitel 132: [Begehren und Selbstbeherrschung] Femme Fatale - Entflammte Gefühle -------------------------------------------------------------------------------- Femme Fatale – Entflammte Gefühle   „Liebe ist Freundschaft, die Feuer gefangen hat.“ (Unbekannt)   Montagmorgen. Serena wusste nicht, wann sie das letzte Mal so freudig erregt gewesen war. Ihr Herz pochte wie wild bei dem Gedanken, ihn endlich wiederzusehen. Zum Glück war Ariane heute etwas früher vorbeigekommen, um sie abzuholen. Doch leider war Vitali noch nicht im Klassenzimmer, als sie eintrafen. Serena versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber es war ihr unmöglich. Sie hatte dieses Gefühl so lange weggedrückt – seit ihrer ersten Begegnung – hatte es mit Wut und Ablehnung überdeckt. Aber vor allem hatte sie sich immer wieder selbst verboten, es zuzulassen. Denn was brachte eine Empfindung, die ihr zwangsläufig nur Leid bescheren konnte, die nur Enttäuschung und Schmerz im Gefolge hatte? Doch etwas hatte sich seit Samstag verändert. Die Aussichtslosigkeit, die ihre Gefühle für Vitali stets düster und bedrohlich gefärbt hatte, war einer ungewohnten Leichtigkeit gewichen. Gespannt starrte sie auf die Tür und hoffte, jede Sekunde sein Gesicht sehen zu können. Was würde sie zu ihm sagen? Würde er sich freuen? Würde er lächeln?   Vitali war müde. Er hatte keinen Bock auf Schule. Warum konnte man den Montag nicht einfach aus dem Kalender streichen? Aller Welt wäre dadurch geholfen! Niemand mochte Montage. Absolut niemand! Außer vielleicht Leute, die am Wochenende arbeiten mussten... Stöhnend schleppte er sich zur Klassenzimmertür und trat ein. „Morgen.“, begrüßte ihn Ariane. „Jo.“, antwortete er bloß. Dann erklang eine fremdartige Stimme. Zumindest die Stimmlage war fremdartig, so ungewohnt hoch und zaghaft. „Hallo.“ Irritiert drehte er sich zu Serena. Sie lächelte. Völlig verdattert starrte Vitali sie an und suchte hinter sich nach einer Ursache für ihre freundliche Miene. Aber hinter ihm stand niemand und bei einem Kopfschwenk zu seiner Schulbank erkannte er, dass Erik bereits an seinem Platz saß. Er sah zurück zu Serena, deren Lächeln daraufhin noch lieblicher wurde. Arianes Stimme brach in seine Erstarrung ein: „Alles ok?“ „Öh ja.“, gab Vitali von sich und riss sich von Serenas Anblick los. Verwirrt lief er zu seinem Platz und setzte sich. Mit einem vielsagenden Schmunzeln wandte sich Erik an ihn: „War was zwischen dir und Serena?“ „Hä?“, machte Vitali. „Sie schaut dich so an.“ Erik wirkte deutlich amüsiert. Vitali öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an, brach ab und linste nochmals zu Serena. Mit einiger Bestürzung stellte er fest, dass sie in seine Richtung sah und ihn schüchtern und niedlich anlächelte. Hastig wendete er sich ab. „Ich hab keine Ahnung, was mit ihr los ist.“, knarzte er und hielt seinen Blick auf die Tischplatte fixiert. Erik gab ein belustigtes Geräusch von sich, als verstünde er mehr. „Was?!“, fragte Vitali aufgebracht. „Nichts.“, entgegnete Erik grinsend. Vitali war pikiert. Wieso schien Erik aus dieser Situation schlau zu werden und er nicht? Das … das ergab einfach keinen Sinn!   Der Wirtschaftsunterricht lenkte Vitali von weiteren Gedanken ab, sodass er Serenas Verhalten erfolgreich verdrängt hatte, bis die Pause begann. Unerwartet stand Serena plötzlich neben seinem Tisch. Verdutzt sah er sie an. Serena wich schüchtern seinem Blick aus. „Willst du… raus?“, fragte sie in einem zaghaften, hohen Ton. Üblicherweise verbrachte die ganze Clique die zweite Pause im Schulhof, außer wenn es sehr kalt war. Aber das hier war die erste Pause. Und Serena war eigentlich immer diejenige die dafür plädierte, überhaupt nicht rauszugehen, weil sie ständig fror. Und wieso fragte sie eigentlich ihn und nicht Vivien, die das normalerweise koordinierte? Er begriff nicht, was das zu bedeuten hatte. Es machte ihn unnötig nervös!!! Plötzlich spürte er einen Stoß von hinten. „Hey!“, schimpfte er und funkelte Erik wütend an. Dieser hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, als wolle er ihn dazu auffordern, endlich auf Serenas Frage einzugehen. Vitali reagierte nicht, woraufhin sich Eriks Augenbrauen senkten, als wolle er ihn für sein Verhalten tadeln. Vitali verzog den Mund eingeschnappt. Mann, konnte er sich nicht raushalten?! Das machte es nur noch peinlicher! Erik verdrehte die Augen. „Willst du ihr noch antworten oder sie da noch lange stehen lassen?“ Auf diesen Kommentar hin wandte sich Vitali wieder Serena zu, die mittlerweile in sich zusammengeschrumpft war. Oh Mann, warum sah sie denn jetzt so verängstigt aus? Er begriff immer noch nicht, was hier vorging, und wusste entsprechend nicht, was er antworten sollte. „Was?“, entgegnete er daher, als habe er sie nicht verstanden – was ja auch irgendwie der Fall war. Serenas Gesicht verzog sich, als wolle sie die Worte nicht nochmals aussprechen. „Geh mit ihr raus.“, grollte Erik hinter ihm. Warum sollte ausgerechnet Serena …? Das … das konnte nicht… Erik stöhnte entnervt. „Willst du nicht?“ Ihre Stimme klang so unsicher. In Ermangelung einer passenden Antwort, stand er einfach auf. „Wohin?“ Serena zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. Irritiert folgte Vitali ihr. Vor der Tür wartete sie auf ihn und lief erst weiter, als er neben sie getreten war. Das kam ihm alles so fremd vor. „Willst du mir was sagen?“ Vielleicht hatte das Ganze ja wirklich irgendeinen Grund! Serena zog automatisch die Schultern hoch, als müsse sie sich vor etwas schützen. Wie reagierte man darauf? „Ich … äh… höre zu.“, druckste er. Er hatte keine Ahnung, wie man mitfühlend und unterstützend war! Wieso wollte Serena denn ausgerechnet mit ihm reden?! Gefühlstechnisch war er doch nun wirklich nicht die erste Wahl, wenn es darum ging, jemandem sein Herz auszuschütten… Oh Mann, hätten die anderen ihm doch bloß helfen können! Er hatte Angst, das hier total zu vermasseln!!! Ein Seufzen entrang sich seiner Kehle. Wieder nahm Serenas Stimme einen unsicheren Klang an. „Ist dir das unangenehm?“ „Hä?“ „Mit mir.“ Sie zog wieder den Kopf ein. Vitali war davon überfordert. Was wollte sie denn damit andeuten? Aaah, er dachte zu viel Blödsinn! Krieg dich wieder ein! „Wieso?“ Serena zuckte mit den Schultern und deutete ein Kopfschütteln an. Sie wirkte mal wieder niedergeschlagen, daher versuchte er sich an aufbauenden Worten, doch seine Stimme klang eher grummelig als aufbauend. „Schon ok.“ Genau! Es war alles ok! Sie waren schließlich Beschützerpartner! Vielleicht wollte sie ja deshalb mit ihm reden! Wenn er es recht bedachte… Er wäre stinksauer geworden, wenn sie stattdessen Erik gefragt hätte, ob er mit ihr rausgehen wollte! Endlich hatte sie begriffen, dass er ein echter Freund war! Nur … Wie war man ein echter Freund für Serena? Angespannt starrte er sie an, wie um die Antwort an ihrer Nasenspitze abzulesen. Serena reagierte darauf mit geradezu ängstlichem Blick und Vitali begriff, dass sein Gesichtsausdruck durch seine Konzentration ziemlich ernst wirken musste. Er drehte sich wieder nach vorn. „Vitali…“ Er sah sie wieder an, doch sie sagte nichts. Ein langes Seufzen von ihr folgte. Als sie den Blick wieder hob, war eine jähe Entschlossenheit in ihren Blick getreten. „Komm mit!“ Ohne Umschweife packte sie ihn am Unterarm und zog ihn mit sich zur Treppe. Bereitwillig ließ er sich von ihr ins Untergeschoss führen, in einen Gang, in dem es erstaunlich still war. Abrupt ließ sie von ihm ab und drehte sich mit entschiedener Miene zu ihm. „Mach uns unsichtbar.“, forderte sie. Irritiert gaffte er sie an, doch sie schien das wirklich ernst zu meinen. Nochmals sah er sich um. Gerade war niemand in Sichtweite. Plötzlich machte Serena einen Schritt auf ihn zu und ergriff seine Hand. Hä? Es waren vielleicht grade mal noch zehn Zentimeter zwischen ihnen. Dabei wusste sie doch, dass eine einfache Berührung reichte, damit die Unsichtbarkeit auf sie überging. Aber vielleicht wollte sie ihm ja zuflüstern, worum es ging. Keine Ahnung, warum er sie dafür unsichtbar machen sollte. Vielleicht ging es ja auch um etwas völlig anderes. Vielleicht wollte Serena ja irgendwen belauschen oder beschatten? Als Beschützer jemanden ‚be-schatten‘, das war schon lustig. Er grinste über seinen eigenen Witz und setzte seine Unsichtbarkeit ein. Doch mit Serenas nächstem Zug hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er schrak zusammen, als sich ihr Körper gegen ihn drückte, spürte, wie sich erst ein Arm um ihn legte, dann seine Hand losgelassen wurde, und sich ein zweiter hinzugesellte. Waaaaaaaaaaaas? Völlig regungslos, wie erstarrt, verharrte er an seinem Platz. Auch seine Gedanken waren abgerissen. Er spürte nur noch Hitze und etwas, das er nicht benennen konnte, in sich aufsteigen. Nicht mal mehr die Frage, was hier vor sich ging, trat in sein Bewusstsein. Da war nur noch die Wahrnehmung von Serenas Nähe. Davon, wie sich ihr Körper anfühlte, ihre Wärme. Serena sagte nichts. Sie umarmte ihn nur weiter. Seine Atmung wurde unregelmäßig. Die Schulglocke läutete das Ende der Pause ein. Im gleichen Moment ließ Serena ihn los und wurde durch das Abreißen des Körperkontakts wieder sichtbar. Vitali starrte sie an und hätte darüber fast vergessen, sich selbst wieder sichtbar zu machen. Er beendete seinen Kräfteeinsatz. Wie selbstverständlich nahm Serena ihn bei der Hand und führte ihn mit festen Schritten zurück zur Treppe nach oben. Er war zu perplex, um sich dagegen zu wehren. Sein Verstand konnte sich nicht entscheiden, ob er sich allein der Tatsache widmen sollte, dass Serena hier in der Schule seine Hand hielt, oder dem, was gerade geschehen war – was überhaupt keinen Sinn ergab! Im Gang ihres Klassenzimmers angekommen, erkannte er, dass die Zimmertür bereits geschlossen war. Frau Schäfer, ihre Englischlehrerin, war heute wohl besonders pünktlich. Serena ließ sich davon nicht beirren, sie öffnete ohne Zögern die Tür und zog ihn mit sich in den Raum. „Sorry.“ Eine Welle der Scham rollte durch seinen Körper. Hatte sie vergessen, dass sie immer noch seine Hand hielt?! Die ganze Klasse konnte das sehen!!! „I expect punctuality!“, sagte Frau Schäfer. Jäh ließ Serena ihn los und drehte sich zu ihm. „Die Tür.“ Er begriff jetzt erst, dass er die Tür nicht geschlossen hatte, und holte dies nach. Als er sich wieder umdrehte, hatte Serena schon den Weg zu ihrem Platz neben Ariane eingeschlagen. Vitali sah völlig verwirrt in ihre Richtung, dann eilte er zu seiner Schulbank. Er war immer noch aufgewühlt und kam sich so vor, als wäre er in einem Paralleluniversum gelandet. Ein Paralleluniversum, in dem es eine Serena gab, die zwar aussah wie die Serena, die er kannte, die aber eindeutig einen komplett anderen Charakter hatte! Einen Charakter, dessen Handeln überhaupt keinen Sinn ergab!!! „Die Englisch-Sachen.“, flüsterte Erik ihm zu. Wirr drehte er sich in die Richtung seines Banknachbarn und nickte, ehe er nach seinem Rucksack griff.   In der zweiten Hälfte der Englischstunde sollten sie in Partnerarbeit eine Kommunikationsübung durchführen. Frau Schäfer lief währenddessen durch das Klassenzimmer. Sobald sie definitiv außer Hörweite war, ergriff Erik das Wort. „Seid ihr jetzt zusammen?“ Vitali starrte ihn an. „Was?“ „Du und Serena.“ Vitalis Gesichtsmuskeln zuckten. „Nein.“ Ein zweifelndes Lächeln erschien auf Eriks Lippen, als unterstelle er Vitali entweder nicht die Wahrheit zu sagen oder die Wahrheit nicht zu begreifen. Vitali stockte und versuchte daraus schlau zu werden. Ab wann… war man denn zusammen…? Wurde man darüber nicht informiert? In einem Spiel gab es eine Benachrichtigung, wenn man das nächste Level oder einen neuen Status erreichte oder wenn eine Weiterentwicklung bevorstand. Und dann konnte man notfalls noch Abbrechen drücken oder vorher speichern und einfach ausschalten, um wieder am vorigen Punkt zu sein! Wie zum Henker ging das im echten Leben?! Und was, wenn er auf diesem Level scheiterte??? Konnte er dann einfach auf Wiederholen drücken? Wie viele Herzen hatte er zur Verfügung? Das war zu kompliziert!!! Wahrscheinlich war sein Mienenspiel während seiner Überlegungen wieder sehr expressiv gewesen, denn Erik lehnte sich mit beruhigender Stimme zu ihm. „Ganz ruhig. Du magst sie doch.“ Vitali verzog das Gesicht hilflos. Erik wirkte daraufhin besorgt und seufzte. „Sei einfach du selbst.“ Er sah ihn nochmals an. „Nur vielleicht etwas weniger verängstigt.“ „Ich bin nicht verängstigt!“, schimpfte Vitali lautstark. „Vitali, a little more quiet, and in English, please!“, rief die Englischlehrerin, woraufhin er in sich zusammenschrumpfte.   In der nächsten Pause blieben er und die anderen im Klassenzimmer, da Vivien noch die Physikhausaufgaben abschreiben musste, die sie komplett vergessen hatte. Da Vivien ein Mathe-As war, war das tatsächlich ungewöhnlich. Zu Vitalis Erleichterung kam Serena nicht nochmals in seine Nähe. Er seufzte lang und betrübt. „Was ist dein Problem?“, fragte Erik ihn in gedämpftem Ton. „Ich hab kein Problem!“, blaffte Vitali. Erik ließ ihm einen vielsagenden Blick zukommen. Vitali verzog säuerlich das Gesicht und ärgerte sich, dass man ihm immer ansehen konnte, wie er sich wirklich fühlte. „Hast du darauf nicht gewartet?“ Vitali schwieg. Seine Unterlippe schob sich vor. Das war nicht die Serena, die er kannte. Er verstand das nicht. „Was hast du gemacht, dass sie auf einmal so offen ist?“, wollte Erik wissen. Vitali war überfragt. Ja, er hatte sie am Samstag spektakulär gerettet. So wie zigmal zuvor!!! Und das hatte bisher nie einen Unterschied gemacht! Ganz gleich wie viel Mühe er sich auch gegeben hatte… Vitali ließ den Kopf hängen. Serena war zwar mittlerweile weniger abweisend geworden. Am Samstag war sie manchmal sogar ziemlich nett gewesen und hatte ihn sogar vor Secret verteidigt. Aber das hatte sich alles noch im Bereich des Normalen bewegt. Das heute – war nicht normal. Er seufzte und sah, dass die anderen sich erhoben, um zum Physiksaal aufzubrechen. Erik und er taten es ihnen gleich. Serena blieb neben ihrer Bank stehen, als würde sie auf ihn warten. Vitali trat zögerlich an ihre Seite und wandte verlegen den Blick ab. Dann spürte er von der anderen Seite einen kumpelhaften Schlag. Erik schmunzelte und war sogleich aus der Tür. Vitali warf ihm einen mürrischen Blick nach, dann sah er nochmals zu Serena. Sie lächelte schüchtern. Verschämt griff Vitali sich an den Hals. „Gehen wir?“, fragte sie sanft. Vitali nickte. Sie versuchte nicht nochmals seine Hand zu nehmen. Das… das war gut! Vor dem Physiksaal mussten sie wie immer auf die Ankunft des Lehrers warten. Serena stand neben ihm. Plötzlich spürte er, wie ihr Oberarm den seinen berührte. Er riss den Kopf zu ihr herum und starrte sie entsetzt an. Doch anstatt daraufhin vor ihm wegzuzucken und ihn zu beschimpfen – wie er es von ihr gewöhnt war – machte sie nicht den Ansatz, an dem Zustand etwas zu ändern. Er drehte sich wieder nach vorn und hoffte, dass kein anderer mitbekam, wie nah sie ihm war. Keine Szene machen! Einfach still dastehen! Das wurde doch von ihm erwartet, oder? Er hatte keine Ahnung!!! Was wollte sie denn jetzt von ihm, wie er sich verhielt? Hätte sie ihm nicht vorher ein Handbuch mit Anweisungen zuschicken können? Zugegeben, er hätte es mit ziemlicher Sicherheit eh nicht gelesen. Aber er hätte zumindest die Chance dazu gehabt! Oh Mann, er war ihr doch schon öfter nah gewesen, wieso war das jetzt so komisch? Weil Serena normalerweise vor ihm weg zuckte! Wieso tat sie es jetzt nicht? Was war in sie gefahren? Waren sie jetzt wirklich ein Paar?!!   In der Mittagspause bis zum Sportunterricht blieb Serena auf Abstand zu ihm, was Vitali die Möglichkeit gab, sie bei der Interaktion mit den anderen zu beobachten. Sie lächelte heute so viel. Irgendwie wirkte sie total fröhlich. So kannte er sie gar nicht. Natürlich hatte er sie in einzelnen kurzen Augenblicken schon lächeln gesehen, aber nie so viel am Stück wie heute. Es war wohl ziemlich bescheuert von ihm, sich dennoch die alte Serena zurück zu wünschen. Schließlich war ihr Lächeln wirklich hübsch, vor allem der Klang ihres Lachens. Irgendwie war er immer davon ausgegangen, dass sie überhaupt nicht lachen konnte. Auch wenn er es in seltenen Momenten schon gehört hatte. Er horchte auf das Gespräch der anderen. Ariane wandte sich an Serena. „Du hast heute so gute Laune.“ Serena senkte den Blick und lächelte lieblich in sich hinein. Vitali fühlte Aufregung in sich aufsteigen. Sie lächelte doch nicht, weil sie ihn vorhin umarmt hatte, oder? Ach Quatsch! Zögerlich sah er nochmals zu ihr. „Dafür ist Vitali ziemlich still.“, merkte Ariane an und sah in seine Richtung. „Ich bin nicht still!“, schimpfte er. „Ich bin nur müde. Es ist Montag!“ Er sah Serena ihn anlächeln, auf diese süße Art und Weise. Automatisch verzog sich sein Gesicht. „Sicher, dass es dir gut geht?“, fragte Ariane besorgt, die Serenas Mimik in ihrem Rücken nicht mitbekommen hatte. „Ja!“, schrie er viel zu laut. „Okaaay…“, sagte Ariane gedehnt und unterließ es, ihn nochmals anzusprechen. Vivien kicherte vergnügt, ohne einen Kommentar abzugeben. Erik indes hatte glücklicherweise damit aufgehört, ihn mit der Situation aufzuziehen.   Der Sportunterricht war für Mädchen und Jungen getrennt, allerdings fand er in der gleichen Halle statt. Der große Hallenraum wurde nur durch eine Plane in der Mitte in zwei Abschnitte geteilt. Vitali war über die Aussicht erleichtert, die nächsten zwei Stunden Ablenkung zu bekommen und Serena nicht in Sichtweite zu haben. Der Gang, der in die Halle führte, war für Jungen und Mädchen derselbe, sie wählten bloß unterschiedliche Eingangstüren. Als Vitali mit Justin und Erik aus der Umkleidekabine trat, kam plötzlich Serena zu ihnen gejoggt. Irritiert blieb er stehen. Justin wollte wohl warten, doch Erik schob ihn mit sich. „Was ist?“, fragte Vitali sie verwirrt. „Komm in zehn Minuten hierher.“, sagte Serena, drehte sich im gleichen Moment um und rannte zu ihrer Gruppe zurück. Verdattert stand Vitali da. Was – Was sollte das denn heißen?!!! War sie jetzt komplett übergeschnappt?! Er stöhnte und spürte sein Herz heftig pochen. Das… das war doch bescheuert!   Während des Aufwärmtrainings, das aus Rennen im Kreis und ein paar Dehnübungen bestand, sah Vital immer wieder auf die große Wanduhr. Zehn Minuten. Der Moment war gekommen. „Äh, ich müsste mal kurz raus.“, sagte er zu Herrn Koch, dem Sportlehrer. „Ich will auch viel.“, entgegnete dieser. „Äh, nee, also, ich müsste wirklich.“ „Und wieso?“, fragte der bullige Herr Koch mit finsterer Miene. Vitali legte seine Hand auf seinen Unterbauch. „Mir geht’s grad nicht so gut. Ähm, wirklich.“ „Meinetwegen, bevor du dir hier noch in die Hose machst. Aber beeil dich.“ Vitali spurtete zur Tür. Sobald er in dem dunklen Zwischengang stand, seufzte er. Oh Mann, er hätte sich rechtzeitig eine gescheite Ausrede einfallen lassen sollen. Er tat ein paar weitere Schritte und erkannte Serena. Sofort rannte er zu ihr.   Was tat er denn da? Direkt vor ihr stoppte er abrupt ab. Er legte seine Rechte kurz auf die Seite seines Halses, ehe er die Verlegenheitsgeste bemerkte und sie abstellte. „Was willst du?“ Seine Stimme klang deutlich gereizter als er es beabsichtigt hatte. Doch zu seiner Überraschung machte das Serena nicht wütend, stattdessen lächelte sie ihn an. Etwas Spitzbübisches trat auf ihre Züge. „Dich?“ Hirnausfall. Alarmsirenen. Notstand. Serena lachte leise. Vitalis Verstand wurde wieder neu gestartet. Wütend verzog sich sein Gesicht. „Haha.“ Er ärgerte sich, nicht gleich gecheckt zu haben, dass sie sich einen üblen Scherz mit ihm erlaubte. Ihr Lächeln wurde geradezu schelmisch. „Brauche ich einen Grund, um dich zu sehen?“ Vitalis Gesichtsausdruck konnte sich nicht entscheiden, welchem Impuls er folgen sollte. „Du … Du siehst mich doch später wieder.“ „Ich meine allein.“, hauchte sie. Vitali stockte. Serena kam näher. „Wenn du einen Grund brauchst.“ Bevor er überhaupt registriert hatte, was passierte, hatte sie sein Gesicht ergriffen und presste ihre Lippen kurz auf seine Wange. Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an. „Grund genug?“, fragte sie, ohne sich wieder von ihm zu entfernen. „Oder…“ Ihre Tonlage wurde tiefer, ihr Blick glitt kurz seinen Körper hinab, ehe ihre Augen wieder in die seinen tauchten. „… willst du mehr?“ Er war unfähig, darauf zu reagieren, schaute verstört. Sie grinste. In einer fließenden Bewegung hob sie ihren Arm und fuhr ihm durchs Haar, ohne dass er Gegenwehr geleistet hätte. Ihre Hand bewegte sich über seine Ohren zu seinem Gesicht. Zärtlich strich sie ihm über die Wange, ehe ihre Finger seinen Hals entlang wanderten. Bestürzt schreckte er vor ihr zurück. Sie lächelte neckisch und erkennend. „Das gefällt dir.“ Lasziv biss sie sich auf die Unterlippe. Ertappt und beschämt starrte er sie an, als mache sie ihm Angst. Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder weich. „Willst du nicht, dass ich dich berühre?“, fragte sie. „Oder willst du nicht, dass ich dich“, sie verwies auf die Umgebung, „hier berühre.“ Vitali wich noch weiter vor ihr zurück. Sie schien sich davon nicht beirren zu lassen. Ihr Blick hatte etwas Lockendes. In seiner Not rief er eilig: „Ich muss rein!“ und rannte wie auf der Flucht.   Ein selbstbewusstes Lachen folgte ihm nach.   Hektisch atmend kam er zurück in die Turnhalle. Er musste sich beruhigen. Die anderen Schüler hatten schon mit Basketballübungen angefangen. Nichts anmerken lassen! Nichts anmerken lassen! Er schluckte, biss die Zähne zusammen und ging hinüber zu Erik und Justin. Deutliche Sorge trat auf Justins Gesicht. „Ist alles in Ordnung?“ Vitali antwortete nicht sofort. „Willst du dich setzen?“, erkundigte sich Erik. „Alles bestens!“, schrie Vitali in viel zu hoher Tonlage. Erik sah ihn ernst an und legte ihm die Hand schwer auf die Schulter. „Du wirkst total verstört.“ Auf die Worte hin hätte Vitali am liebsten losgeheult. Er schluckte und unterdrückte den Impuls mit aller Macht. „Du solltest an die frische Luft.“, entschied Erik. „Nein!“, rief Vitali. Strenge trat in Eriks Züge. „Vitali, du siehst aus, als wärst du einem Nervenzusammenbruch nahe.“ Vitali konnte nicht verhindern, dass etwas verzweifelt Flehentliches in seinen Blick trat. Erik lenkte ein. „Es ist okay.“ Er holte Atem. „Wenn du nicht rauswillst, bleiben wir hier.“ Herr Koch kam zu ihnen. „Geht’s dir nicht gut?“ „Doch.“, sagte Vitali kleinlaut und sah nicht auf. Er wollte auf keinen Fall, dass noch jemand seinen Zustand bemerkte. Erik schob sich zwischen ihn und den Lehrer, wie um zu verhindern, dass dieser sein Gesicht sehen konnte. „Wir passen auf ihn auf.“, verkündete er in einem so überzeugten Ton, dass der Sportlehrer dem offenbar Glauben schenkte, denn er ließ sie wieder in Ruhe. Vitali rang nach Atem. „Vitali…“, hörte er Justin so behutsam sagen, als würde dieser davon ausgehen, dass er wirklich gleich los weinte. Er konnte ihm nicht antworten. Erik gab ein Seufzen von sich. Dann wurde Vitali ein Basketball gegen die Brust gedrückt. „Ablenkung?“, fragte Erik. Vitali nickte.   Auf dem Weg zum Bus sah Vitali sich ängstlich nach Serena um. Erik legte ihm die Hand auf den Rücken. „He, alles gut.“ Offenbar hatte er wieder sehr erbärmlich geschaut, anders konnte er sich Eriks extreme Fürsorglichkeit und körperliche Zuwendung nicht erklären. Normalerweise warteten sie auf die Mädchen, bevor sie einstiegen, aber dieses Mal bestand Erik darauf, dass Vitali sich setzte. Justin folgte ihnen. „Kann ich was für dich tun?“, fragte Justin vorsichtig. „Mir geht’s gut!“, schimpfte Vitali und sah keinen der beiden an. Er bekam nicht mit, wie Erik Justin ein Zeichen gab, dass dieser ihm erst mal seine Ruhe lassen sollte. Als alle Schüler in den Bus gestiegen waren, der sie zurück zur Schule bringen sollte, schaute Vitali zu Serena hinüber. Zu seiner Überraschung sah sie nicht in seine Richtung. Gerade so, als wäre überhaupt nichts passiert. War das so eine Dr. Jekyll und Mr. Hyde Sache? Ihr Verhalten hatte ihm Angst gemacht… „Ist was mit Serena?“, fragte Erik sachte. Sein Blick war ihm wohl nicht entgangen. „Nein!“, schrie Vitali viel zu heftig. Erik hob fragend eine Augenbraue. Vitali wendete den Blick ab. „Okay.“, sagte Erik in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er nicht nochmals nachfragen würde, solange Vitali nicht darüber sprechen wollte. Vitali seufzte. „Sie ist komisch.“ „Inwiefern?“, hakte Erik nach. „Einfach falsch.“, sagte Vitali verletzt. Erik verstand das nicht, aber er hatte nicht vor, Vitali mit weiteren Fragen zu belasten.     Zu Hause hatte Vitali sich erfolgreich abgelenkt. Doch als er sich abends ausgebreitet auf sein Bett fallen ließ, kam das Gefühl der Überforderung zurück. Was war das bloß gewesen? Das war doch nicht Serena! Er verzog betrübt das Gesicht. So hatte sie sich noch nie benommen. Ohne Vorwarnung erschien Ewigkeit über ihm. Sofort sprang er auf. „Du sollst zu Schicksal kommen.“, verkündete sie. War etwas passiert? Hatte sie sich deshalb heute so komisch verhalten? Vielleicht war sie ja manipuliert worden oder so! Vitali zögerte nicht. Er teleportierte.   Sogleich fand er sich in Serenas Zimmer wieder und erkannte, dass sie auf ihrem Bett saß. Er hielt sich nicht lange damit auf. „Was ist los?“, rief er hektisch. „Ich hole die anderen.“ „Das brauchst du nicht.“, antwortete sie seelenruhig. Er schaute sie ungläubig an. Ihm fiel jetzt erst auf, dass Ewigkeit nicht da war. „Ich wollte dich sehen.“ Ihre Stimme klang sacht. „Hä?“, entschlüpfte es ihm. Im gleichen Moment verzog sich sein Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass sie ganz alleine in ihrem Zimmer waren. „Wolltest du mich nicht sehen?“, wisperte Serena verletzlich. Vitali wich automatisch vor ihr zurück. „… Wieso denn?“ Er konnte sie nicht ansehen. Er hörte, wie sie sich von ihrem Bett erhob. „Brauchst du einen Grund, um mich sehen zu wollen?“ Sie kam auf ihn zu. Hektisch wich Vitali noch weiter vor ihr zurück. So ähnliche Worte hatte sie doch verwendet, bevor ... Sie blieb stehen und lächelte ihn mitfühlend an. „Fürchtest du dich?“ Etwas an seinem Gesichtsausdruck schien seine Gefühle zu verraten. denn sie sah ihn gerührt an und machte einen behutsamen Schritt nach vorne, wie um ihn nicht zu verängstigen.   Argwöhnisch beobachtete er ihre Bewegungen. Sie streckte die Rechte nach ihm aus. Er zuckte zusammen. Doch sie berührte bloß seine linke Hand – zärtlich. Ihr gefühlvoller Blick war auf die Verbindung ihrer Hände gerichtet. „Du bist damals zu mir gerannt, als die Schatthen das erste Mal aufgetaucht sind.“ Ihre Stimme klang so liebevoll. „Ich war verängstigt, ich dachte, ich wäre ganz allein.“ Ihr wechselnder Tonfall verlieh den Worten eine ungeahnte Tiefe. „Aber du bist zu mir gekommen. Ohne an dich zu denken. Du hast mich beschützt. Die ganze Zeit über. Immer und immer wieder.“ Sie verschränkte seine Finger und ihre ineinander – das fühlte sich viel intensiver an als er es für möglich gehalten hatte. „Seit damals…“ Sie sah ihm in die Augen. „… wollte ich das.“ Vitali wurde heiß, er konnte nicht reagieren. Ihr Gesichtsausdruck. Ihre Augen waren geradezu flehentlich. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Hilflos stand er da, fühlte sein Herz klopfen. Serena senkte den Blick und ließ von seiner Hand ab. Die jähe Angst, sie durch seine fehlende Reaktion verletzt zu haben, kam in ihm auf. Er wusste doch bloß nicht, was er tun sollte! Dann stand sie direkt vor ihm, sah ihm sehnsüchtig in die Augen und näherte ihr Gesicht dem seinen. Er teleportierte.   Fuuuuuuuck!!! Was ging hier vor!!! Vitali hielt sich den Kopf und rannte wie ein Irrer durch sein Zimmer. Sein kleiner Bruder, dessen Bereich nur behelfsmäßig durch die Anordnung der Möbel von Vitalis abgetrennt war, beobachtete ihn verwirrt. Vitali ließ sich neben seinem Bett auf den Boden fallen. Er packte sein Kissen und benutzte es, um seinen Kopf darunter zu vergraben, das Gesicht auf die Matratze gepresst. Das war nicht Serena! Das war auf gar keinen Fall Serena!!! Er umklammerte das Kissen noch fester. Kapitel 133: Femme Fatale - Verschmähte Gefühle ----------------------------------------------- Femme Fatale – Verschmähte Gefühle   „Feuer kann man nicht in Papier einwickeln.“ (Fernöstliche Weisheit)   Am nächsten Morgen stand Vitali in der Kälte vor der Schule. Er hatte Vivien nachts noch eine Nachricht geschrieben und eine Sonderversammlung einberufen. Da Ariane immer mit Serena zur Schule lief, hatte er diese Sonderversammlung auf ihn, Justin und Vivien beschränkt. „Irgendwas stimmt nicht mit Serena.“, eröffnete er Justin und Vivien. „Ist was passiert?“, fragte Justin. Vitali wich seinem Blick aus. Justin wartete. „Sie ist… komisch.“, antwortete Vitali ausweichend. „Inwiefern?“, erkundigte sich Justin. „Na, einfach komisch.“ „Sie war gestern total fröhlich.“, erinnerte sich Vivien freudig. Vitalis Mund verformte sich. Davon stutzig gemacht, hakte Justin nach. „Du meinst, sie ist komisch, weil sie fröhlich ist?“ „Nein!“, schimpfte Vitali. „Sie .. sie ist einfach nicht sie selbst.“ „Woran erkennst du das?“, versuchte Justin nochmals, mehr Informationen aus ihm herauszubekommen. „Hat sie irgendetwas gesagt?“ „Oder gemacht?“, ergänzte Vivien in heiterem Ton. Vitali verzog das Gesicht. „Echt?“, rief Vivien begeistert. „Was?“ Vitali schaute getroffen. Justin, dem es nicht entging, dass Vitali die Frage unangenehm war, lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. „Hast du eine Idee, was mit ihr los sein könnte?“ „Keine Ahnung.“, murrte Vitali. „Wegen gestern?!“, rief Vivien plötzlich  mit leuchtenden Augen. Vitali schaute ertappt. Vivien grinste breit. „War sie danach etwa noch netter zu dir?“ Vitali wusste nicht, was er entgegnen sollte. „Nein!“, schrie er lauthals und rannte davon, in Richtung Haupteingang. „Vivien…“, klagte Justin. „Ich dachte nicht, dass er so heftig reagiert.“, antwortete Vivien. „Es muss wirklich irgendwas passiert sein.“   Erik entledigte sich seiner Jacke und nahm seinen Platz neben Vitali ein. „Was ist?“ „Nichts.“, behauptete Vitali, doch sein Blick ging ängstlich in Richtung Tür. Fast so, als würde er die Ankunft einer bestimmten Person fürchten. Und Erik konnte sich denken, welche Person das war. „Habt ihr miteinander gesprochen?“ Vitali schaute, als wäre das ein absolut absurder Vorschlag. Erik senkte ungläubig die Augenbrauen. Okay, Vitali war offenbar noch unbeholfener als er befürchtet hatte. Er wollte Vitali gerade ein paar Ratschläge geben, als Serena und Ariane das Klassenzimmer betraten. Zu seiner Überraschung schwirrte Ewigkeit um sie herum und Serena hatte einen so zornesentbrannten Gesichtsausdruck, dass man ihre Aura förmlich spüren konnte. Sie warf Vitali einen mörderischen Blick zu und setzte sich. Ariane drehte sich etwas verwirrt in Vitalis Richtung, als wolle sie ihn fragen, was er sich dabei gedacht hatte. „Hat es einen Grund, dass Ewigkeit hier ist und Serena dich töten will?“, fragte Erik. Vitali schaute geknirscht. Er ließ seinen Oberkörper auf den Tisch sinken und fuhr sich hektisch über den Hinterkopf. Erik sah derweil zu den anderen hinüber, wo Serena sich lautstark darüber beschwerte, dass Ewigkeit nicht mehr von ihrer Seite wich. „Weil dieser Vollidiot“, sie zeigte wutschnaubend auf Vitali, „ihr gesagt hat, man müsse mich bewachen!“ Justin machte einen etwas verschüchterten Eindruck und hatte die Hände beschwichtigend erhoben. Aber Serena wollte sich nicht beruhigen. „Warum soll Ewigkeit sie bewachen?“, fragte Erik Vitali. Aber Vitali antwortete nicht mehr.   Nach einiger Diskussion mit Ewigkeit hatten die anderen die Kleine doch noch dazu gebracht, nach Hause zu teleportieren. Die angespannte Lage zwischen Serena und Vitali besserte sich dadurch jedoch nicht. In der Pause suchte Erik nochmals das Gespräch. „Was ist denn passiert?“ Vitali kauerte neben ihm, nur noch ein Schatten seiner selbst. „Habt ihr euch gestritten?“ Noch immer antwortete Vitali nicht, wirkte reuevoll. „Keine Sorge, ihr vertragt euch doch jedes Mal wieder.“ Weiterhin halb auf der Bank liegend, warf Vitali ihm einen wehleidigen Blick zu, als wäre das dieses Mal völlig unmöglich.   Auch den Rest des Tages kam es zu keiner Versöhnung zwischen Serena und Vitali oder jedwedem Austausch. Serenas Stimmung war so einschüchternd, dass selbst Vivien den Versuch, die Wogen zu glätten, abgebrochen hatte. Etwas, das an sich schon besorgniserregend war. Am Ende des Chemieunterrichts, der den Abschluss des Schultags bildete, sah sich Erik daher dazu genötigt, selbst einzugreifen. Im Chemiesaal saßen Vitali und er immer in der Bank vor den anderen, sodass er sich auf seinem Hocker einfach zu Serena umdrehen konnte. „Wollt ihr euch nicht wieder vertragen?“ Serena funkelte ihn mordlüstern an. „So schlimm wird es doch nicht gewesen sein.“ Serenas Blick wurde daraufhin noch furchteinflößender, während Vitali immer mehr in sich zusammenschrumpfte. Erik war eindeutig irritiert. Was um Himmels willen war da vorgefallen? „Ich bin sicher, Vitali hat es nicht so gemeint.“, versuchte er es erneut. „Achja?“, fuhr Serena ihn an. „Er hat Ewigkeit erzählt, ich wäre komisch! Man müsse mich überwachen!“ Erik sah zu Vitali, der ziemlich fertig neben ihm saß. „Er hat sich bestimmt nur Sorgen um dich gemacht.“, versuchte Erik zu schlichten. „Sorgen?“, kreischte Serena. „Seine einzige Sorge ist, dass ich ihm zu nahe komme!“ Vitali zuckte bei ihren Worten zusammen. Serena schrie ihn an. „Sag ihnen doch, warum du Ewigkeit auf mich angesetzt hast! Damit sie wissen, was los ist!“ Alle Blicke waren augenblicklich auf Vitali gerichtet. Vitali deutete wie altersschwach auf die Tür des Chemiesaals, auch seine Stimme klang wie die eines tatterigen alten Mannes. „Wir sollten gehen.“ „Klar!“, rief Serena und packte ihre Sachen. „Im Davonlaufen bist du spitze!“ Nun fragte auch Ariane verständnislos: „Was ist denn passiert?“ „Nichts!“, schrie Serena und hatte ihren Rucksack und ihre Jacke ergriffen. „Nur dass Vitali nicht von mir berührt werden will!“ Die anderen waren perplex, dass Serena das nicht nur laut ausgesprochen, sondern auch noch geschrien hatte. Ungehalten stürmte sie aus dem Raum. Erik drehte sich zu Vitali. „Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, aber du solltest ihr jetzt nachlaufen, bevor es noch schlimmer wird.“, empfahl er ihm. Vitali sah ihn elend an. „Da musst du jetzt durch.“, sagte Erik. Vitali warf kurz den Kopf in den Nacken, als hoffe er auf eine himmlische Intervention. „Ich bring deine Sachen. Jetzt renn.“, riet ihm Erik. Vitali tat wie ihm geheißen. Die anderen warfen sich verwirrte Blicke zu.   „Serena!“ Vitali holte sie im Gang ein. Wütend wirbelte sie zu ihm herum und fuhr ihn an. „Was willst du?!“ Schuldbewusst senkte er den Kopf. Er wusste nicht, was er sagen sollte, sagen konnte! „Wenn du nichts zu sagen hast, kann ich ja gehen!“, keifte sie. Er sah auf und bemerkte ihren auffordernden Blick. Eilig schaut er wieder in eine andere Richtung. Serena stöhnte entnervt. „Willst du hier im Gang rumstehen?“ Unsicher sah er sie an. „Komm schon.“, sagte sie und ging voraus. Serena führte ihn in ihr gewohntes Klassenzimmer, das nun leer stand. Nachdem er eingetreten war, schloss sie die Tür und schob den Riegel vor, der zum Schutz vor Amokläufen angebracht worden war. Entsetzt stierte er sie an. Wieder kam Angst in ihm auf. „Willst du, dass jemand reinplatzt?“, fragte sie gereizt. Beschämt senkte er den Blick. Daran hatte er nicht gedacht. Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern und legte ihre Jacke darauf ab. Mit verschränkten Armen stand sie vor ihm. „Was hast du zu sagen?“ Vitali holte Luft und presste Worte hervor. „Tut mir leid?“ Er zog eine behelfsmäßig entschuldigende Miene. Serena stöhnte. „Ist das alles?“ Er konnte ihr nicht länger ins Gesicht sehen. Kleinlaut versuchte er sich zu rechtfertigen. „Du hast dich halt komisch verhalten…“ Ihre Stimme brauste auf. „Findest du es so komisch, dass ich in dich verliebt bin?!“ Völlig überrumpelt und fassungslos konnte er nichts weiter tun als sie anzustarren. Sie schrie ihn an: „Was?“ Vitali war zum Heulen zumute. Diese ganze Situation war absolut surreal. Er zog den Kopf ein. „Du bist nicht …wie du!“ „Ach, du willst, dass ich wieder gemein zu dir bin!“, spottete sie. Sie nahm die Arme runter und ging mit wütendem Blick auf ihn zu. Automatisch wich er vor ihr zurück. „Willst du für immer vor mir weglaufen?!“, schrie sie wutentbrannt. Er zog ein ängstliches Gesicht und wich weiter zurück. „Ich habe keine Lust mehr!“, spie sie aus. „Wie lang soll ich noch warten?!“ Sie stieß ihm mit der Hand vor die Brust. Kurz glaubte er, ein Stechen in seinem Körper zu spüren. Er stieß mit den Beinen gegen das Lehrerpult. Fordernd legte sich ihre Hand auf seinen Brustkorb. Er hatte nur noch die Wahl, mit seinem Oberkörper weiter zurückzuweichen. Ihre Augen funkelten gefährlich. „Ich will nicht mehr warten.“ Rücksichtslos wurde sein Körper vollends auf das Lehrerpult gedrückt. Über ihn gebeugt, die Arme auf das Pult gestützt, hinderte sie ihn an einer Flucht, näherte sich ihm auf erschreckend erbarmungslose Weise. Er teleportierte – Was? Mit Entsetzen musste er feststellen, dass er noch immer auf dem Lehrerpult lag. „Glaubst du, ich mache den gleichen Fehler zweimal?“, fauchte sie verächtlich. Angsterfüllt sah er in ihre harten Gesichtszüge, die so gar nicht die Tiny widerspiegelten, die er kannte. In einem letzten verzweifelten Fluchtversuch stieß er sie heftig von sich, riskierte dadurch, von ihr paralysiert zu werden, hatte keine andere Wahl. Serena landete auf dem Boden. Vitali rannte. Hin zur Tür. Nur weg! Wa- Er knallte zu Boden. Sein linkes Bein war paralysiert. „Ewigkeit!“   Die anderen warteten im Eingangsbereich der Schule darauf, dass Serena und Vitali wieder zu ihnen stießen. „Vielleicht sollten wir nach ihnen sehen.“, meinte Ariane besorgt. Vivien grinste amüsiert. „Ja, wir könnten sie belauschen.“ „So hab ich das nicht gemeint!“, beteuerte Ariane. Justin wirkte grüblerisch. „Vitali hat gesagt, Serena sei komisch.“ Erik verdrehte die Augen. „So begriffsstutzig wie er ist, kapiert er einfach gar nichts.“ Ariane sah ihn unverständig an. „Wovon redest du?“ Erik schüttelte ungläubig den Kopf, als wäre sie auch nicht besser. Sein Verhalten empörte Ariane. Plötzlich erschien Ewigkeit vor ihnen. „Ihr musst zu Verändern kommen!“   Langsam kam Serena auf den am Boden liegenden Vitali zu, der mit seinem paralysierten Bein zu kämpfen hatte. Er hatte keine Chance, ihr zu entkommen. In seiner Not machte er sich unsichtbar. Sofort rannte sie zur Tür, um ihm den Ausgang zu versperren. „Du kannst dich nicht für immer vor mir verstecken!“, schrie sie. Eine vermeintliche Bewegung am Fenster ließ sie ihren Arm heben und ihre Paralyse-Kräfte einsetzen. Doch kein Körper ging zu Boden. „Was ist dein verdammtes Problem?!“, kreischte sie schrill. „Ich hab es süß und schüchtern versucht! Ich hab es verführerisch und sexy versucht! Sogar ehrlich und zärtlich!“ Ihr Ton wechselte von Wut zu kompletter Verzweiflung. „Was soll ich denn noch machen?!!!“ Aufbegehrend tobte sie: „Warum magst du mich einfach nicht?!“ ‚Weil du ne geisteskranke Irre bist!‘, hätte Vitali ihr jetzt zu gerne geantwortet, was aufgrund des Umstands, dass er sich vor ihr verstecken musste, gerade keine gute Idee war. Zumindest hatte er vorerst unter einem der Tische Schutz gefunden. Plötzlich hörte er, wie jemand erfolglos versuchte, die Tür zu öffnen. Viviens Stimme: „Wir sind‘s!“ „Geht weg!“, schrie Serena. Eriks Stimme: „Serena, was ist los?“ „Ihr sollt verschwinden!“, kreischte sie. Plötzlich tauchte Ewigkeit auf. Direkt neben ihm. Shit! Schnellstmöglich versuchte er, seine Position zu ändern, was mit dem paralysierten Bein alles andere als einfach war. Er flüchtete in die Höhe. Gerade noch rechtzeitig. Natürlich war Serena Ewigkeits Erscheinen nicht entgangen und hatte ihr seine Position verraten. Fast wäre er vor Eile gegen die Decke geknallt. Unsichtbar zu fliegen, war ohnehin eine Herausforderung. Das auch noch unter Zeitdruck und mit einem paralysierten Bein zu tun, eine Meisterleistung. Von seiner Position aus sah er, dass Serena ihn offenbar weiterhin auf dem Boden vermutete. Glücklicherweise hatte Ewigkeit wohl verstanden, dass sie ihn in Gefahr gebracht hatte, denn sie erschien nun an anderer Stelle und führte Serena damit in die Irre. Die anderen waren immer noch damit beschäftigt, durch die Tür hindurch auf Serena einzureden. Doch sie reagierte gar nicht mehr darauf. Vitali versuchte abzuschätzen, wie lange sie brauchen würde, um Ewigkeits Spiel zu durchschauen, und ob er es schaffen konnte, zur Tür oder einem der Fenster zu gelangen, um zu entkommen. Allerdings hatte Serena in diesem Moment bereits aufgehört, sich auf Ewigkeit zu konzentrieren. Ewigkeit erschien daraufhin in kurzen Abständen an unterschiedlichen Stellen, um sie zu verwirren, doch Serena stöhnte nur und schien sich dann auf ihre anderen Sinne zu konzentrieren. Dann hörte er, wie jemand gewaltsam versuchte, die Tür aufzubrechen. „Bleibt weg!“, schrie Serena nochmals. Dann wandte sie sich wieder dem Klassenzimmer selbst zu. „Komm endlich raus!“   „Das bringt nichts.“, sagte Ariane zu Erik, der noch immer mit aller Gewalt an der Tür riss, Vitalis Rucksack und Jacke hatte er solange Vivien in die Hand gedrückt. „Wie sollen wir sonst da reinkommen?“, donnerte Erik. Ariane wusste auch keine Antwort. Sie hatten es aufgegeben, mit Serena diskutieren zu wollen. In diesem Moment hörten sie, wie die Tür entriegelt wurde.   Ewigkeit hatte getestet, ob Serena ihr noch Aufmerksamkeit schenkte, dann hatte sie sich zur Tür teleportiert und unter vollem Körpereinsatz den Riegel aufgeschoben. Vitali hatte es beobachtet. Im Sturzflug flog er auf die Tür zu. Doch er musste dabei ein Geräusch verursacht haben. Kurz vorm Ziel verließen ihn plötzlich seine Flugkräfte und er knallte abermals zu Boden. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen. Vitali begriff, dass er sich noch einigermaßen bewegen konnte, doch seine Unsichtbarkeit aufgehoben war, ebenso wie seine Flugkräfte. Vor sich sah er Erik stehen. Dieser hatte die Hände erhoben, wie um Serena zu signalisieren, dass er ihr nichts tun wollte. „Was ist passiert?“ „Haltet euch da raus!“, befahl Serena und drohte mit ihrem ausgestreckten Arm. Ariane hatte bereits ihr Schutzschild herbeigerufen. Sie und die anderen traten ebenfalls in den Raum, während Justin die Tür schloss, wohl um Zivilisten nicht mit hineinzuziehen. Ariane trat weiter vor und schloss damit auch Erik und Vitali in den Schutzschild mit ein. Sogleich eilte sie an Erik vorbei an Vitalis Seite und wandte ihre Heilkräfte auf ihn an, wodurch der Effekt von Serenas Paralyse aufgehoben wurde, und der Schmerz, den die Bruchlandung nach sich gezogen hatte, nachließ. „Du weißt, ich kann einfach hindurchgehen!“, drohte Serena. „Mischt euch nicht ein!“ „Serena, du musst aufhören.“, plädierte Erik an einen Teil in ihr, von dem er wohl glaubte, dass er noch bei Verstand war. Sie ließ sich davon nicht beirren und lief auf den Schutzschild zu. „Vitali teleportier uns!“, befahl Justin. Das Risiko, dass Serena sie alle paralysierte, war zu groß! Zu spät. Serena durchschritt den Schutzschild – und brach in sich zusammen. Erik fing sie gerade noch auf und ging in die Knie, um ihren Schwung abzufedern. Vor dem Schild schwebte an der Stelle, durch die Serena getreten war, etwas Kleines, Leuchtendes in der Luft. Entfernt glaubten sie eine der Plagen wiederzuerkennen. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen hatte die Plage wie glühende Kohle ausgesehen, nun dagegen brannte ihre ganze Gestalt lichterloh, als hätten Serenas Gefühle sie in Brand gesetzt. Sie hatte etwas von einem in Flammen stehenden asiatischen Maskottchen, eine Art niedlicher Feuergeist mit überdimensionalem Kopf und kurzen Gliedern.  Die brennende Plage schien im ersten Moment irritiert zu sein und versuchte, den Schutzschild zu durchbrechen. Ohne Erfolg. Geistesgegenwärtig ließ Vivien Vitalis Rucksack und Jacke fallen und setzte mit Justin gemeinsam ihre Beschützerkräfte ein. Doch die glitzernde Welle konnte der Plage auch dieses Mal nichts anhaben. Die Plage zog mit ihren Augen, die wie schwarze Löcher aussahen, ein wütendes Gesicht, dann sah sie hinter sich zu den Fenstern und wollte flüchten. „Ewigkeit!“, rief Erik. Das Schmetterlingsmädchen teleportierte sich zwischen die Plage und den Fluchtweg, woraufhin diese auf Ewigkeit losging. Justin rief: „Wir dürfen die Plage nicht entkommen lassen.“ „Sie sucht einen Wirt!“ Vivien wollte aus dem Schutzschild eilen, wurde aber von Justin festgehalten. „Meine Kräfte sind nicht gefährlich.“, versuchte Vivien ihn zu überzeugen, während Ewigkeit in immer ärgere Bedrängnis geriet und sich immer wieder aus dem Angriffsbereich der Plage teleportieren musste. „Du hast die Kräfte von uns allen!“, erinnerte Justin sie vehement. Derweil hatte Erik Serena auf den Boden gebettet und erhob sich. „Ich gehe.“ „Nein!!!“, kreischten Ariane und Vitali so heftig und schrill, dass Erik verstört stehenblieb. Im gleichen Moment war Justin nach außen getreten. Als spüre die Plage, dass ein potenzielles Opfer in ihren Zugriffsbereich gekommen war, ließ sie augenblicklich von Ewigkeit ab und stürzte sich auf ihr neues Zielobjekt. Direkt vor Justins Körper schien sie in einen anderen Energiezustand überzugehen und verschmolz mit ihm.  Mit Erschrecken beobachteten die anderen, was nun geschah. Justin, der sich beim Anblick der auf ihn zukommenden Plage leicht gekrümmt und eine Schutzhaltung eingenommen hatte, baute sich wieder zu voller Größe auf. Er drehte sich zu ihnen um. Seine Körperhaltung und sein Gesichtsausdruck wirkten selbstbewusst und erhaben wie nie. Vivien nahm ihren Rucksack ab und entledigte sich ihrer Jacke. „Was tust du?“, fragte Ariane. Ohne darauf zu antworten, verließ Vivien den Schutz des Schildes. „Vivien.“, rief Ariane sorgenvoll. Erik erklärte: „Das Schutzschild würde das Ding aus ihm lösen. Das wollen wir gerade nicht.“ Ariane begriff und verkleinerte den Bereich ihres Schildes, um die Plage nicht versehentlich aus Justin zu befreien.   Aus Serenas vorherigem Verhalten versuchte Vivien sich zusammenzureimen, was diese Plage bewirkte: Mit hoher Wahrscheinlichkeit hob sie die Zurückhaltung gegenüber der Person auf, für die man romantische Gefühle hegte. Allerdings schien dies in Aggression umzuschlagen, wenn einem verweigert wurde, was man begehrte. Sie trat vor Justin und wartete angespannt auf seine Reaktion. Doch entgegen ihrer Annahme hatte Justin offenbar nicht vor, übergriffig zu werden. Mit so unverhohlener Innigkeit sah er sie an, dass allein davon ihre Atmung aus dem Takt geriet. Sonst wagte er nie, ihr so direkt und ununterbrochen in die Augen zu sehen. Sie durfte nicht darüber nachdenken! Er streckte seine Linke nach ihr aus und berührte sachte ihr Gesicht, so zärtlich, dass Viviens Herz heftig zu pochen begann. Seine Augen versanken in den ihren. Dann trat er noch näher an sie heran und zog sie mit beiden Armen an sich. Nicht hilfesuchend oder tröstend wie sie es von ihm gewöhnt war, sondern entschlossen. Obwohl sie vorgewarnt hätte sein können, war Vivien davon so überwältigt und von den überschießenden Gefühlen in ihrem Inneren eingenommen, dass sie für einen Moment handlungsunfähig war. Unzählige Male hatte sie sich eine solche Situation in ihren Tagträumen ausgemalt: Justin, der seine Scheu ablegte und ihr aus eigenem Willen die Nähe schenkte, die sie sich so sehr von ihm erhoffte. Als Justins große, warme Hand mit ungeahnter Präzision ihre Wirbelsäule hinauf strich und ihren Nacken fand, erbebte ihr Körper und ein kurzer, atemloser Laut entfuhr ihr. Nachdem er sich ein Stück von ihr entfernt hatte, brachte seine Hand ihren Kopf vorsichtig in eine Position, aus der sie ihm direkt in die Augen sehen konnte. Als wisse er genau, was zu tun war, Sein Mund öffnete sich leicht, sein Gesicht näherte sich sachte dem ihren. Wie sollte sie sich dagegen …? Ihre Augen schlossen sich reflexartig. Ein helles Licht blitzte hinter ihren Augenlidern auf und sie erkannte, dass Ewigkeit sich zwischen sie und Justin teleportiert hatte. In ruhigem Ton sprach Justin: „Ewigkeit, lass das.“ Er klang alles andere als böse oder furchteinflößend, einfach nur wie er selbst. Das schien auch Ewigkeit zu irritieren, denn sie entfernte sich daraufhin tatsächlich wieder. Doch der Moment hatte gereicht, um Vivien wieder zu Besinnung zu bringen. Egal wie sehr sie sich das hier wünschte, sie durfte es nicht zulassen! „Wir sollten ins Hauptquartier.“, sagte sie, immer noch deutlich atemloser als üblich. Justin sah sie an, als verstünde er nicht, wie sie jetzt an so etwas denken konnte. „Vivien...“ Seine Stimme klang sanft und liebevoll, als biete er ihr etwas an, das sie den Gedanken an das Hauptquartier vergessen lassen würde. Oh Gott, was verlangte man hier von ihr? Ein Teil von ihr wollte sich ihm einfach hingeben, ganz gleich was das bedeutete. Aber der andere Teil von ihr war es gewöhnt, Justin zuliebe die eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen. „Bitte.“, hauchte sie, ihre Hände auf seinem Brustkorb. Sein Blick wirkte gekränkt darüber, dass sie sein Angebot ausschlug. Seine treuen braunen Augen schienen sie zu fragen, ob sie wirklich zulassen wollte, dass man ihm diese Stärke wieder nahm. Die Stärke ihr endlich, nach all der Zeit, zeigen zu können, was er für sie empfand. Sein stummer Vorwurf traf sie. Sie wollte doch nichts sehnlicher als das hier! Aber er war nicht er selbst und sie durfte das nicht ausnutzen! Sie zog ihre Hände von seinem Brustkorb zurück und ergriff seine Linke, doch Justin rührte sich nicht. Sein Gesichtsausdruck erst machte ihr deutlich, dass er ihrer Bitte nicht nachkommen würde. Er schaute, als hätte sie ihn verletzt. Kurz verunsicherte sie das. Sie wollte ihm doch nicht wehtun! Dann ermahnte sie sich, dass es darum ging, die Plage aufzulösen. Und das würde im Hauptquartier leichter sein als hier. Sie brauchte allerdings etwas, das ihn dazu motivierte, mit ihr zu gehen. „Wir haben dort ein Zimmer und“ Sie senkte den Blick. „…ein Bett.“ Auch wenn es zu seinem eigenen Besten war… Ihn mit etwas zu locken, das sie nicht einlösen konnte, fühlte sich falsch an. Justin war der eine Mensch dem gegenüber sie immer ehrlich sein wollte. Vorsichtig sah sie zu ihm auf und fühlte sich schlecht. Sein Gesichtsausdruck war verletzlich und gerührt, als würde sie ihm mit dem, was sie ihm da in Aussicht stellte, einen lang gehegten Herzenswunsch erfüllen. Das war zu grausam.   Ariane konnte nicht anders als die Szene fassungslos zu verfolgen. Ebenso wie Vitali, der davon verstört wirkte. „Du sollst uns teleportieren.“, übersetzte Erik Viviens Plan. Er hatte sich wieder zu Serena gekniet, die immer noch regungslos da lag. „Und du könntest langsam mal Serena heilen!“, schimpfte er an Ariane gewandt. Dass sie sich schon wieder von ihm kommandieren lassen musste, ärgerte Ariane, auch wenn er dieses Mal nicht Secret war. Doch das Schlimmste war, dass er absolut Recht hatte! Die ganzen Eindrücke: der Schutzschild, die Plage, Justins Besessenheit und alles damit Zusammenhängende, hatten sie aus den Augen verlieren lassen, dass Serena ihre Hilfe brauchte. „Lös den Schild auf.“, bat Vivien. Ariane leistete dem sofort Folge. Mit Justin an der Hand trat Vivien zu ihnen. „Kann jemand von euch die Sachen mitnehmen.“ Vivien verwies auf die Rucksäcke und Jacken von Serena, Vitali und ihr selbst. Unwillig stand Erik auf und griff danach. Gemeinsam teleportierten sie.   Im Hauptquartier angekommen, zögerte Justin nicht. Mit zärtlicher Entschlossenheit führte er Vivien von den anderen weg. Er steuerte in Richtung der Zimmer. „Warte!“, rief Vivien hektisch, von plötzlicher Angst gepackt, und stemmte sich gegen seinen Griff. Er blieb stehen und warf ihr einen verwirrten Blick zu. Dann trat etwas zutiefst Verletztes in sein Gesicht, als wolle er sie fragen, ob sie ihn betrogen hatte. Ehe Vivien darauf reagieren konnte, erklang Eriks Stimme in Befehlston. „Lass das, Justin!“ Drohend trat Erik auf ihn zu. „Sie will das nicht. Und du auch nicht!“ Etwas ging in Justins Gesicht vor. Die gewohnte Unsicherheit, die sich kurz auf seine Züge gestohlen hatte, wich einer plötzlichen Härte und Unerbittlichkeit. Seine Muskeln verkrampften sich. Seine Augen fixierten Erik. Schmerzensschreie. Vivien packte Justin am Arm und kreischte seinen Namen, versuchte ihn von dem Einsatz seiner telepathischen Kräfte abzubringen. Der Schmerz zwang Erik in die Knie, verzweifelt hielt er sich den Kopf, doch das konnte die unerträgliche Pein darin nicht stoppen. Vitali stürzte an Eriks Seite wie Ewigkeit schon zuvor. „Mann!“, brüllte er Justin an, dessen Blick erbarmungslos auf Erik gerichtet blieb. „Justin, bitte!“, flehte Vivien wimmernd, zerrte und zog noch immer an seinem Arm. Justin beendete die Tortur und durchbohrte sie mit einem brutalen Blick. Sie hatte diesen Blick schon einmal an ihm gesehen – als er sich von ihr verraten gefühlt hatte. „Ich wollte nur…“, presste Vivien halb schluchzend hervor. „Ich wollte nur sagen, dass du die Jacke und den Rucksack hier lassen kannst!“ Sie stand kurz davor zu weinen. Justin machte den Eindruck ihr zu glauben oder zumindest auf ihren Vorschlag einzugehen und entledigte sich seiner Sachen. Vivien zitterte. Das war alles zu viel. Sie musste sich zusammenreißen! Entschlossen warf sie sich an Justins Brust, umschlang ihn fest mit ihren Armen und versuchte, das genaue Gefühl zu erspüren, das von der Plage ausging. Nur so hatten sie eine Chance die Kreatur unschädlich zu machen. Da war es! Begehren… Wollust… zügellose Gier. Sie versuchte die passende Welle zu wählen und setzte ihre Kräfte frei. Im gleichen Atemzug fühlte sie Justins Hände auf ihrem Rücken, er hielt sie fest, auf völlig verkehrte Weise zärtlich. Es hatte nicht geklappt.   Arianes Atmung war hektisch. Alles in ihr hatte danach geschrien, es Ewigkeit und Vitali gleichzutun und an Eriks Seite zu eilen. Aber sie wusste, dass er etwas anderes von ihr erwartete, dass etwas anderes jetzt wichtiger war. Serena war die einzige, die dem Wahnsinn Einhalt gebieten konnte! Doch die Aufregung behinderte Arianes Kräfteeinsatz. Endlich schien ihre Läuterung anzuschlagen. Serena kam wieder zu sich. „Wir brauchen dich!“, schrie Ariane hektisch. Mit ungewohnter Geschwindigkeit schnellte Serena in eine sitzende Position und starrte auf die gegenwärtige Situation, wie Justin und Vivien in inniger Umarmung miteinander verschlungen da standen, Erik am Boden kauerte, neben ihm Ewigkeit und Vitali, der ihn stützte. Vivien setzte gerade eine Energiewelle frei, doch Justin ließ sie dennoch nicht los. Arianes Stimme überschlug sich fast. „Du warst besessen. Jetzt ist Justin besessen.“ Augenblicklich verhärteten sich Serenas Züge, ihre Muskulatur verkrampfte sich und eine dunkle Aura baute sich um sie herum auf. Mit Entsetzen begriff Ariane, welche Kräfte Serena gerade heraufbeschwor. „Tiny!“, brüllte Vitali. Es endete. Die dunkle Energie um Serena löste sich wieder auf, die Anspannung ihrer Muskeln ließ etwas nach. Sofort war sie auf den Beinen und paralysierte Justin. Eriks angeschlagene Stimme ertönte. „Wenn die Plage merkt, dass sie in diesem Körper nicht weiterkommt, wird sie ihn wechseln.“ Ariane reagierte sofort und schloss ihn und die anderen in ihren Schutzschild ein. Nur Vivien konnte sie nicht schützen. Und wie Justin es zuvor gesagt hatte, Vivien besaß die Kräfte von ihnen allen. Das noch größere Problem war: Sie hatten keine Ahnung, wie sie diese Plage auflösen sollten! Ewigkeit flog zu Vivien, vielleicht um sie nicht alleine zu lassen. Aufgrund von Justins Paralyse war sie in seinen Armen gefangen. Vivien rief ihnen zu: „Unsere Kräfte wirken nicht, solange die Plage in jemandem ist.“ Keuchend wandte Erik ein: „Bevor ihr sie aus ihm löst, solltet ihr wissen, wie ihr sie beseitigt.“ „Die Plage fühlt sich an wie Gier oder Begehren. Versucht es mit selbstloser Liebe.“, antwortete Vivien. „Verstanden.“, sagte Ariane und sah zu Serena und zu Vitali. „Bereit?“ Die beiden wirkten alles andere als bereit, auch wenn Vitali Erik losließ und sich erhob. Ariane weitete den Schutzschild in die Richtung von Vivien und Justin hin aus. In dem Moment, in dem sie Justin komplett in den Schild einschloss, wurde die Plage aus seinem Körper getrieben. Wütend funkelte die Kreatur sie an, ihre lodernden Flammen hatten nun eine blaue Farbe angenommen, wie Feuer es tat, wenn es besonders heiß brannte. Doch ehe sie zu einem erneuten Angriff ausholen konnte, wurde sie bereits von Serena paralysiert. Groteskerweise blieb sie dabei in der Luft stehen. Ariane versuchte sich an der richtigen Welle. Die glitzernde Energie hüllte die Kreatur ein. Doch zu Arianes Entsetzen hatte sie nur einen Effekt – sie hob Serenas Paralyse auf! Die Plage wollte entfliehen. Ewigkeit war zur Stelle. Aber dieses Mal widmete ihr das Wesen keinerlei Beachtung. Eine weitere Welle traf die Plage. Die Flammen der Kreatur verschwanden, doch nicht als wären sie gelöscht worden, stattdessen wandelten sie sich zu einem hellen Leuchten. Die Plage veränderte sich unter dem Einfluss der Gefühlswelle zu einer Lichtgestalt, die an ein himmlisches Wesen erinnerte. Das Wesen drehte sich für eine Millisekunde den Beschützern zu, als wolle es ihnen danken. In einer sanften, fließenden Bewegung und mit seligem Gesichtsausdruck entschwand es dann, als würde es in seine Heimat zurückkehren. „Was ist passiert?“, rief Vivien, die aufgrund ihrer Position, an Justins Brust gedrückt, nicht hatte sehen können, was vorgefallen war. „Erledigt.“, sagte Erik knapp und kam wieder auf die Beine. Erleichtert atmete Vivien auf. Der Schutzschild verschwand. Ariane klang grüblerisch. „Meine Welle hat nicht funktioniert.“ Wissbegierig fixierte sie Vitali. „Was hast du benutzt?“ Triumphierend stand Vitali da wie der Held am Ende einer Schlacht. „Geduld und Selbstbeherrschung.“, verkündete er. Ariane und Erik gafften ihn so ungläubig an, dass Vitali die Beherrschung verlor. „Schaut nicht, als hätte ich so was nicht!!!“, schimpfte er unkontrolliert. Allein Serena wagte es nicht, in seine Richtung zu sehen. Ewigkeit machte mit lautem Glöckchenklang darauf aufmerksam, dass Justin noch immer paralysiert und Vivien in seinen Armen gefangen war. Ariane lief daraufhin zu ihnen und läuterte Justin. Sobald er wieder dazu in der Lage war, schreckte er panisch vor Vivien zurück und sah sie völlig verstört und reuevoll an. „Alles gut.“, versicherte Vivien in einem Ton und einer Gestik, als würde sie mit einem verängstigten Tier sprechen. Justin riss den Blick zu Erik herum. Dieser machte nicht den Eindruck, dass ihm ernsthaft etwas fehlte. Er streifte Justin nur kurz mit den Augen und drehte sich dann zu Serena um, als gäbe es nichts, was er mit Justin zu klären hatte. Auch Justins Blick schwenkte zu Serena. Sie hatte noch immer die Augen zwanghaft von Vitali weg gerichtet und ihrer Körperhaltung war anzusehen, dass die Erinnerung an die Geschehnisse sie nun in ihren Bann zog. Erik richtete das Wort an sie. „Das warst nicht du.“ Serenas Gesicht verzerrte sich. Justin verstand das nur zu gut. Das war keine Besessenheit gewesen. Er hatte sich zu keinem Zeitpunkt fremdgesteuert gefühlt. Stattdessen war jegliche Unsicherheit und jeder Zweifel in ihm ausgeschaltet und sein Wille gestärkt worden. Er erinnerte sich an alles, was er gerade getan hatte und schämte sich unsäglich. Dabei hatte er sich freiwillig der Plage ausgesetzt und war nur wenige Minuten besessen gewesen. Wie musste es da Serena gehen? Ariane sah zu Erik, er bemerkte ihren Blick und wandte sich ab, als wolle er ihr damit sagen, dass er ihre Heilkräfte nicht brauchte. Daher trat sie stattdessen zu Vitali. „Wie geht es dir?“ Sie machte den Ansatz, ihn am Arm zu berühren, doch Vitali zuckte vor ihr weg, als jage ihm die Geste Angst ein. Diese Reaktion bereitete ihr Sorgen. Vitali antwortete mit einem unbeholfenen Schulterzucken auf ihre Frage. „Was war das für ein Ding?“, forderte Erik zu erfahren. „Und warum habt ihr mir nichts davon erzählt?“ „Ich glaube, es gibt jetzt Wichtigeres!“, empörte sich Ariane. Vivien klinkte sich ein. „Serena und Vitali brauchen erst mal etwas Ruhe.“ Die beiden Genannten zogen ängstliche Gesichter, als fürchteten sie, Vivien könne von ihnen verlangen, sich in der Nähe des anderen aufzuhalten. Justin schüttelte seine eigene Befangenheit ab und konzentrierte sich darauf, ihnen zu helfen. „Ich denke, sie wollen jetzt lieber alleine sein.“ Vivien drehte sich zu ihm und schaute, als hätte sie doch genau das vorgeschlagen „Dafür haben wir doch die Zimmer.“ Sie lächelte. Dann wandte sie sich wieder Serena und Vitali zu. „Oder wollt ihr lieber nach Hause?“ Beide senkten den Blick und wirkten betreten. „Keine Angst, wir stehen vor euren Zimmern Wache.“, versicherte Vivien. Kapitel 134: Femme Fatale - Nachwirkende Gefühle ------------------------------------------------ Femme Fatale – Nachwirkende Gefühle   „Es ist schwerer, Gefühle, die man hat, zu verbergen, als solche, die man nicht hat, zu heucheln.“ (François de la Rochefoucauld)   Sie hatten Serena und Vitali in ihre Zimmer gebracht, während der Rest von ihnen sich in dem Gang dazwischen aufgestellt hatte. Ewigkeit war von dem Kampf mit der Plage so erschöpft, dass sie sich in die gläserne Konstruktion zwischen den Räumen gelegt hatte, die einer Wiege ähnelte. Auf die Frage, ob er auch lieber allein sein wollte, hatte Justin den Kopf geschüttelt. Sein Gesicht hatte dabei deutlich gemacht, dass die bloße Vorstellung, mit der Erinnerung an sein Verhalten alleine zu sein, ihm unerträglich war. Auf Arianes Nachfrage, wie es ihm ging, hatte er nicht geantwortet, sondern verstört zu Boden gestarrt, deshalb wechselten sie das Thema. „Was genau war das?“, verlangte Erik endlich zu erfahren. „Eine Plage.“, antwortete Justin mit gesenktem Blick. „Wieso habt ihr mir nichts davon erzählt? Wir hätten das verhindern können.“, behauptete Erik. „Serena war anders als sonst. Wenn ich gewusst hätte –“ Ariane unterbrach ihn. „Du würdest bei jedem ungewohnten Verhalten davon ausgehen, dass der Schatthenmeister damit zusammenhängt?“ Erik ging nicht auf ihre Worte ein, sondern wandte sich an Justin, der sich statt neben Vivien neben ihn gestellt hatte. „Ich muss dich das fragen. Wegen Serena. Wie hat sich das angefühlt?“ Etwas in Justin schien die Frage als Bedrohung wahrzunehmen, seine Muskeln spannten sich an. Kurz zuckten seine Augen ängstlich in Viviens Richtung. Erik hielt einen Moment inne und richtete das Wort dann an Vivien und Ariane. „Könntet ihr kurz im Aufenthaltsraum warten?“ „Was?“, rief Ariane alles andere als begeistert. Erik warf ihr einen strafenden Blick zu. Vivien sah in Justins Richtung und eröffnete ihnen: „Ich weiß es schon.“ Justin schreckte zusammen und sah völlig verängstigt aus. Vivien löste sich von Arianes Seite und trat zu ihm. Sie ergriff seine Hand. „Es ist alles gut.“, versicherte sie und versuchte sich an einem Lächeln. Doch ihre Augen drückten immer noch tiefe Sorge aus, was Justin sichtlich verunsicherte. Vivien drehte sich von ihm weg, ohne seine Hand loszulassen. „Es war wie eine Droge.“, erklärte sie. Erik und Ariane starrten sie an. Vivien sprach weiter: „Als hätte etwas die eigenen Gefühle von Angst und Scham ausgeschaltet. Und von Rücksicht.“ Erik schien von Justin eine Bestätigung dieser Behauptungen zu erwarten. Justin nickte. „Es…“ Er zögerte und zog den Kopf ein. „Es fühlte sich an, als könnte man sich alles nehmen.“ „Oder jeden.“, präzisierte Erik. Auf seine Worte hin machte sich Justin noch kleiner. Vivien legte ihm mitfühlend die noch freie Hand auf den Arm, doch die Berührung schien ihn nur zusätzlich zu verängstigen, weshalb sie von ihm abließ. „Du konntest nichts dafür.“, sagte Erik. Justin war anderer Meinung. Er hatte in diesem Moment entschieden, Erik dafür zu bestrafen, dass er sich zwischen ihn und Vivien stellen wollte. Dass er seine Telepathie auf so grausame Weise einsetzen konnte, war ihm völlig neu gewesen, aber in diesem Moment hatte er es getan. Einfach so, als wäre es ein innerer Impuls, ein unbewusstes Wissen in ihm. Und er hatte Vivien… Bang sah er sie an. Sie schien sich mehr Sorgen um ihn zu machen als um sich selbst. Und das nach dem, wie er sie eben behandelt hatte, nach allem, was er eben bereit gewesen war, ihr anzutun. Erik zog das Fazit: „Von dem, was wir wissen, hat Serena Annäherungsversuche bei Vitali gemacht. Und er hat als einziger gemerkt, dass etwas nicht stimmt.“ Schuldbewusst ließ Justin den Kopf hängen. „Wir hätten ihm helfen müssen.“ Vivien versuchte ihm gut zuzusprechen. „Er hat uns nicht gesagt, was genau passiert ist.“ „Wir hätten seiner Einschätzung vertrauen müssen!“, beharrte Justin. „Das haben wir doch.“, sagte Vivien. „Aber wir haben ihn ihr nachlaufen lassen!“, antwortet Justin lautstark. Erik sah Justin an. „Wir alle haben gedacht, dass Vitali sich nur blöd anstellt.“ Er schien etwas ergänzen zu wollen, sah kurz ihn und Vivien an und sprach dann nicht weiter. Ariane gestand. „Ich habe nur mitbekommen, dass sie am Montag sehr fröhlich war. Wenn sie Vitali nicht angegriffen hätte, hätte ich überhaupt nicht begriffen, dass sie besessen ist.“ Justins Stimme klang bitter. „Er hat dir auch nicht explizit gesagt, dass mit ihr etwas nicht stimmt.“ Geräuschvoll stieß Erik die Luft aus. „Wenn du denkst, du hast was falsch gemacht, dann geh zu Vitali und klär das.“ Völlig verunsichert sah Justin ihn an. „Er ist dein Freund.“, erinnerte Erik. „Nicht nur ein Beschützerkollege. Und deine Unsicherheit hilft ihm nicht.“ Getroffen verzog sich Justins Gesicht. „Wenn du für ihn da sein willst, musst du erst mal selbst stabil sein.“, gemahnte Erik. „Also hör auf, dir Selbstvorwürfe zu machen.“ Ariane horchte bei seinen Worten auf. Eriks Aussage ähnelte derjenigen, die Justin auf dem Jahrmarkt ihr gegenüber geäußert hatte, als sie wegen ihren Schuldgefühlen gegenüber Erik durcheinander gewesen war. Nur dass Justin sehr viel einfühlsamer geklungen hatte als Erik. Da Justin noch immer zögerte, sprach Erik weiter. „Vielleicht war diese Plage gerade nicht schön, aber sie hat gezeigt, dass du sehr viel entschlossener und willensstärker sein kannst als du es dir manchmal erlaubst.“ Justin biss die Zähne zusammen, als würde der Einsatz einer derartigen Stärke eine frevelhafte Pflichtverletzung darstellen. „Dir sollte eins klar sein.“, sagte Erik mit entschiedenem Blick. „Du bist für Vitali wichtiger als du denkst! Und wenn du diese Wahrheit nicht sehen willst, dann verletzt du nicht nur dich, sondern auch ihn.“ Justin stockte. „Und jetzt geh endlich.“, befahl Erik. Justin blieb noch einen Moment stehen, dann machte er sich auf den Weg zu Vitalis Zimmertür. Derweil wandte sich Ariane an Vivien. „Jemand von uns sollte auch mal nach Serena sehen.“ „Ich gehe.“, verkündete Erik. Ariane reagierte empört. „Damit warst nicht du gemeint.“ „Ich verstehe sie ja wohl am besten.“, entgegnete Erik überzeugt. „Das kannst du dir ja gerne einreden!“,  erwiderte Ariane. „Ich bin dafür.“, sagte Vivien leichthin. „Was?“, stieß Ariane entsetzt aus. Ehe sie noch etwas sagen konnte, war Erik schon zu Serenas Zimmer getreten. Ariane schürzte unzufrieden die Lippen. „Wieso unterstützt du ihn auch noch darin?“, beschwerte sie sich bei Vivien. Vivien lächelte. „Je mehr er sich miteinbezogen fühlt, desto weniger Grund hat er, zu Secret zu werden.“ Ariane war baff. Dass Vivien in dieser Situation an so etwas denken konnte, machte sie für einen Moment sprachlos. „Und ich glaube wirklich, dass er Serena gut versteht.“, ergänzte Vivien. „Aber nicht besser als wir.“, beklagte sich Ariane. Vivien kicherte. „Bist du eifersüchtig?“ „Auf was?“ „Du bist für sie genauso wichtig.“, versicherte Vivien. „Das weiß ich.“, murrte Ariane. Vivien verkniff es sich zu ergänzen, dass Erik Serena trotzdem sehr viel besser verstehen konnte als Ariane.   Die Zimmertür öffnete sich und Serena begab sich in Habachtstellung. „Ich bin’s bloß.“, sagte Erik ruhig und trat ein. Ein Hauch Erleichterung trat auf Serenas Gesicht und ihre Haltung entspannte sich ein wenig. Für einen Moment sah Erik sie stumm an, wie sie halb gebrochen auf dem Bett saß, dann schritt er zu ihr und setzte sich neben sie. „Wie geht es dir?“ Als Antwort schüttelte sie bloß den Kopf. „So schlimm?“ Sie nickte. „He.“, sagte er sacht. Verletzlichkeit stand auf ihrem Gesicht geschrieben. „Das wird schon wieder.“ Er sah, dass sie den Tränen nahe war und entdeckte neben ihr auf dem Bett schon eine Vielzahl benutzter Taschentücher. „Willst du mir erzählen, was passiert ist?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ist okay.“ Sie sah zu Boden und zog die Schultern an. Er ließ ihr Zeit. Schließlich presste sie Worte hervor: „Er hasst mich bestimmt.“ Erik stieß mit einem halb belustigten, halb mitfühlenden Ton die Luft aus. „Er hasst dich bestimmt nicht.“ „Woher willst du das wissen?“, fragte sie ihn wie ein kleines Kind. „Weil es Vitali ist.“ Leidend sah sie ihn an. „Was auch immer du getan hast, er wird es dir verzeihen. Beschämt zog sie den Kopf ein. „Ich weiß, das war nicht leicht für dich.“, sprach er weiter. „Das warst nicht du.“ Nun wieder den Tränen nahe, sah Serena ihn an, als müsse sie ihm ein Geständnis machen. „Justin hat es mir erklärt. Du konntest dich nicht kontrollieren. Auch wenn es deine Gefühle waren, heißt das nicht, dass du so etwas normalerweise tun würdest.“ Sie schlug die Augen nieder und zog die Schultern an. „Vitali weiß das auch.“ Unsicher lugte sie zu ihm auf und schniefte. „Aber um sicherzugehen, solltest du mit ihm reden.“ Schock trat in ihr Gesicht. „Du musst nicht, wenn du nicht willst.“, sagte Erik. Sie nickte und holte tief Luft. „Danke.“ „Bitte.“ Er lächelte sie an.   Nach weiteren Atemzügen war Justin endlich bereit. Zaghaft klopfte er an Vitalis Zimmertür. Es kam keine Antwort. Vorsichtig öffnete er die Tür und lugte hinein. „Darf ich reinkommen?“, fragte er behutsam. Vitali zuckte bloß mit den Schultern. Justin fasste sich ein Herz und trat ein. Hinter sich zog er die Tür zu. „Wie geht es dir?“ Wieder zuckte Vitali nur mit den Schultern. „Es tut mir leid.“, eröffnete Justin ihm. Verständnislos schaute Vitali ihn an. „Ich hätte das verhindern müssen.“ „Wie denn?“, spottete Vitali. Er sah zur Seite. „Heute wart ihr wenigstens da.“ Justin spürte den Stich des schlechten Gewissens. Er wagte sich näher heran und nahm einen Stuhl, der an einem Tisch an der Wand stand, um sich Vitali gegenüber zu setzen. Einen Moment lang schwieg er. „Das meintest du mit komisch.“, stellte er betreten fest. Vitali verzog den Mund. „Ist sie… Hat sie…“ Justin getraute sich nicht, die Frage zu stellen. „Sie hat bloß versucht mich zu küssen.“, antwortete Vitali und hielt kurz inne. „Glaub ich.“ Seine Augenbrauen zogen sich kurz zusammen und sein Mund verformte sich, offenbar erkennend, dass das wohl nicht alles gewesen war. „Wie geht es dir damit?“, fragte Justin taktvoll. „Ich komm mir blöd vor.“, gestand Vitali. „Sie hat mich…“ Er pausierte und zog einen Schmollmund. „Aber jetzt ist sie das Opfer.“ „Was meinst du?“, fragte Justin überrascht. „Sie wurde gezwungen, ausgerechnet mich anzufassen. Bestimmt ist sie jetzt total angewidert. Dabei kann ich doch nichts dafür!“ Er schürzte die Lippen. „Ich hab gar nichts gemacht...“ Justin war überrascht über die Schlussfolgerung, die Vitali gezogen hatte. „Ähm, Vitali?“, begann er. „Sie wurde nicht…“ Er überlegte, wie er es formulieren sollte. „…gezwung-“ Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Die Tür öffnete sich ohne Weiteres und Erik wurde sichtbar. „Serena will mit dir reden.“ Vitalis Gesicht zuckte. „Nie im Leben!“, schrie er, als wäre das unmöglich. „Ariane soll sie noch mal läutern! Sie ist vielleicht immer noch besessen!“ „Hat sie schon gemacht.“, informierte Erik. „Serena hat drauf bestanden. Und…“ Serena erschien mit gesenktem Haupt neben ihm, die Hände hinter dem Rücken. Eriks Stimme wurde tiefer. „Sie wollte dass ich ihr die Arme auf den Rücken binde, damit du keine Angst hast, dass sie dich paralysiert. Außerdem besteht sie darauf, dass Ewigkeit alle zwei Minuten nach euch schaut.“ „Übertreibt’s mal nicht!“, schrie Vitali aufgebracht. „Also willst du sie nicht sehen?“, fragte Erik mit strengem Blick. „Ich seh sie doch schon!“, schimpfte Vitali, schließlich stand sie direkt neben Erik. „Soll sie hier draußen stehen bleiben?“, fragte Erik gereizt. Vitali schnaubte.  Justin versuchte zu schlichten. „Vielleicht ist das noch etwas früh…“ Ihm fiel auf, wie gebrochen Serena da stand. Wie ein Häufchen Elend. So wie er selbst sich fühlte wegen dem, was er getan hatte. Er wandte sich an Vitali. „Ich glaube, sie möchte sich bei dir entschuldigen.“ „Sie kann doch gar nichts dafür!“, wetterte Vitali. „Das war doch alles die blöde Plage. Ich weiß gar nicht, was ihr alle für nen Aufstand macht!!!“ Eriks Stimme bekam einen scharfen Ton. „Der einzige, der hier einen Aufstand macht, bist du!“ „Du hast Serena die Arme auf den Rücken gebunden!“, keifte Vitali. „Weil sie Angst hat, dass du sie sonst nicht sehen willst, du Idiot!“, gab Erik zurück. „Checkst du eigentlich, wie peinlich das für sie ist!“ Trotzig wendete Vitali den Blick ab. „Dann lass es doch!“, kreischte Serena aufgelöst und rannte davon. „Toll gemacht.“, höhnte Erik und ging Serena nach, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Vitali fluchte. Sorgenvoll sah Justin ihn an. Er rang sich zu weiteren Worten durch. „Warum hast du sie nicht reingelassen?“ „Warum wohl!“, schnauzte Vitali ihn an. „Erst ist sie nett zu mir, dann greift sie mich an und jetzt lässt sie sich die Arme zusammenbinden, um mich zu sehen!“ Eine Veränderung ging in Vitalis Gesicht vor sich. Seine Stimme klang, als würde sie brechen. „Wie soll ich mich denn bitteschön verhalten?!“ Die Partie um seine Augen nahm eine purpurne Farbe an und Justin begriff, dass Vitali von der Situation völlig überfordert war. In einer brutalen Geste wischte sich Vitali mit dem Ärmel über die Augen, als wären seine Tränen etwas, für das er sich bestrafen musste. Justin tat der Anblick weh. Er wusste nicht, wie er seinen Freund trösten sollte, aber Vitali ging auch von völlig falschen Tatsachen aus. Justin ergriff das Wort. „Ich glaube, für Serena ist es wichtig, mit dir zu reden.“, begann er vorsichtig. „Das war nicht nur die Plage.“ Vitali zog einen Schmollmund wie ein verunsichertes Kind. „Was soll das heißen?“ „Es… Es war eher so, als stünde sie unter Drogen.“ „Hä?“ „Sie wurde nicht von der Plage kontrolliert. Sie hatte durch die Plage bloß keine Kontrolle mehr über … ihre Gefühle für dich.“ Vitali riss die Augen auf. „Hääääääääääääää?“   Die Mädchen und Erik standen im Gang um Serena herum. Erik hatte ihr die Fesseln wieder gelöst, woraufhin Serena ihr Gesicht hinter den Händen verborgen hielt. Vivien umarmte sie und Ewigkeit, die von dem Lärm aufgewacht war, umschwirrte sie. „Ich bin so blöd.“, wimmerte Serena. „Du bist nicht blöd.“, versuchte Ariane sie zu beruhigen. „Wenn hier jemand blöd ist, dann Vitali.“, knurrte Erik. Ariane verteidigte Vitali entschieden. „Für ihn ist das auch nicht leicht.“ „Das hab ich auch nicht behauptet.“, entgegnete Erik grimmig. Plötzlich hörten sie ein lang gezogenes „Hääääääääääääää?“ aus Vitalis Zimmer kommen, dessen Tür noch offen stand. Das bewegte sogar Serena dazu, die Hände vom Gesicht zu nehmen. Auch Vivien ließ von ihr ab und starrte wie die anderen zu Vitalis Zimmertür. Im gleichen Moment kam Vitali in den Gang gestürmt. Doch sobald er Serena sah, erstarrte er. „Ariane!“, rief Serena entsetzt, aus Sorge, sie habe ihn versehentlich paralysiert. Ariane sah zu Vitali, bemerkte aber, dass er nicht bewegungsunfähig war. Er schaute ziemlich betreten und griff sich mit der Hand an die Seite seines Halses. „Willst du jetzt doch mit ihr reden?“, fragte Erik streng. Vitali machte ein unzufriedenes Gesicht. „Ja oder nein!“, forderte Erik nachdrücklich. Viviens Stimme erschallte in wohlbekannter Unbekümmertheit. „Natürlich will er mit ihr reden!“, rief sie heiter. „Sie sind doch Partner!“ Serena und Vitali sahen beide betroffen zu Boden. „Ihr könnt in Serenas Zimmer gehen.“, schlug Vivien vor und schob Serena zur Tür. Vitali folgte zaghaft.   Als die anderen die Tür hinter ihnen schlossen, kam einen Moment lang Panik in Vitali auf. Er versuchte seiner Gefühle Herr zu werden und sah unschlüssig zu Serena. Geradezu verängstigt stand sie da und schwieg. Vitali seufzte. Das Geräusch schien sie noch mehr zu verschüchtern. Kurz überlegte er, was er sagen sollte. Er hatte doch gar nichts gemacht! Wenn sie ihm zu nahe getreten war, dann weil er nicht schnell genug reagiert hatte. Sie konnte doch deswegen nicht sauer sein! Außerdem hatte sie ihn angegriffen! Das– Serenas Stimme brach in seinen Gedankengang ein: „Es tut mir leid.“ Perplex starrte er sie an. Dann biss er die Zähne zusammen. „Nicht deine Schuld.“ Serenas Mimik wurde leidend. Vitali stockte. Stimmte es wirklich, dass sie … nicht kontrolliert worden war? „Justin hat gesagt…“ Er brach ab, hielt inne und tat einen weiteren Atemzug. Er verlieh seiner Stimme mehr Nachdruck. „Das warst nicht du. Ich hab gesehen, wie Justin sich verhalten hat, und das war nicht er.“ Serena sah zu ihm auf. „Also brauchst du dich nicht entschuldigen.“ Sie klang aufgeregt. „Natürlich muss ich mich entschuldigen!“ „Hä?“ Sie war den Tränen nahe. „Ich hab dir wehgetan!“ „Das bin ich doch gewöhnt.“, entgegnete er mit betont unemotionaler Stimme. „Das solltest du aber nicht…“ Vitali hob die Arme zur Seite. „Was kann ich dafür, dass du brutal bist?“ Serena reagierte anders als er es erwartet hatte. Statt sauer zu werden und dadurch nicht länger so verzweifelt zu wirken, zog sie wie unter Hieben den Kopf ein. Er bemerkte seinen Fehler und wurde kleinlaut. „Sollte ein Scherz sein.“ Serena lief zu ihrem Bett, setzte sich und fixierte den Boden. Vitali wusste nicht, was er noch sagen sollte. „Können wir nicht wieder normal miteinander umgehen?“ Serenas Stimme klang bitter. „Sind wir je normal miteinander umgegangen?“ „Du weißt, was ich meine.“, antwortete er ausweichend. „Keine Ahnung.“ Eine Pause entstand. „Ey, müssen wir das jetzt so überdramatisieren? Du warst besessen oder unter Drogen, auch egal, und hast was gemacht, das du sonst nie tun würdest!“ Er versuchte nochmals der Situation die Schärfe zu nehmen. „Ist ja nicht so, als wäre irgendwas passiert…“ Serena zischte: „Darüber bist du bestimmt froh.“ „Hä?“, machte Vitali. Serena wiederholte es nicht. „Bist du bescheuert?!!“, brüllte Vitali und konnte sich nicht länger beherrschen. Seine Emotionen brachen sich Bahn. „Was glaubst du, wie ich mich fühle?! Du bist immer gemein zu mir! Andauernd! Und auf einmal… Was glaubst du, wie scheiße das ist!!!“ Getroffen sah sie ihn an. Doch Vitali war noch nicht am Ende seiner Schimpftirade angekommen. „Was glaubst du, wie dämlich ich mir vorkomme!“ Wieder verkrampfte sich der Bereich um seine Augen und er spürte, wie die Tränen in ihm hochkamen. Serena sprang vom Bett auf und kreischte: „Was glaubst du, wie dämlich ich mir vorkomme!“ Wut überkam Vitali. „Du kannst wenigstens sagen, du warst nicht du selbst!“ „Du Idiot! Du hast nicht –“ Sie brach ab und sah zu Boden, die Hände zu Fäusten geballt. „Was?“, forderte Vitali zu erfahren. „Nichts.“ „Red keinen Scheiß!!!“, brüllte Vitali hilflos. „Du kannst mich doch überhaupt nicht leiden!“ Serena verkrampfte ihre gesamte Muskulatur. „An dir gibt es ja auch nichts zu leiden, du Vollidiot!“ Ihre Stimme klang völlig aufgelöst, kurz vorm Brechen.   „Genauso wenig wie an dir, du dumme Kuh!“ Sie kreischte schrill: „Das hast du mir deutlich gezeigt!“ Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Plötzliches Schweigen. Vitalis Stimme wurde wieder leiser. „Was laberst du da?“ Serena wendete sich ab. Mit heftigen Schritten eilte Vitali auf sie zu und packte sie grob am Oberarm. Verstört sah sie ihm in die Augen. Plötzlich verlegen ließ er von ihr ab und drehte das Gesicht zur Seite. „Tut mir leid.“, presste sie hervor. „Ich wusste, dass du …“, er unterbrach sich. „…nicht mich...“ Er sah so gekränkt aus. „Du Vollidiot!“ In einem Akt der Verzweiflung schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Als sie registrierte, was sie tat, überkam sie Panik. Panik, er würde sie von sich stoßen, so wie er es getan hatte, als sie ihn auf dem Lehrerpult festgehalten hatte. Sie war so dumm! So furchtbar dumm! Sie wusste doch, dass er – Jäh spürte sie seine Arme um ihre Taille.   Regungslos und angespannt standen beide da, voller Angst, der jeweils andere würde sie im nächsten Moment zurückweisen oder beschimpfen oder beides tun. Nichts dergleichen geschah. Vitali wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Wortlos verharrte er in der Umarmung. Das fühlte sich anders an, als während sie besessen gewesen war. Ganz anders. Serena spürte ihr Herz heftig pochen. Sie hatte keine Ahnung, wann sie loslassen sollte, was sie tun sollte! Was tat sie hier bloß?! Als sie geräuschvoll einatmete, löste Vitali langsam seinen Griff, ohne komplett von ihr abzulassen. Serena entfernte sich wieder etwas von ihm. Ihre Hände ruhten noch auf seinen Schultern. Beschämt schauten beide weg. Dann war die Neugier jedoch größer und sie sahen einander in die Augen. Beide waren planlos. Die Befürchtung, etwas völlig misszuverstehen und einen schrecklichen Fehler zu begehen, war viel zu groß. Hektisch stieß Serena das Erstbeste aus, das ihr in den Sinn kam. „Freunde?“ Wie in Trance nickte Vitali, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Weitere Momente sahen sie einander in die Augen, als warteten sie auf etwas – eine Reaktion, darauf, dass einer den ersten Schritt machte. Doch nichts davon trat ein. Ziemlich unbeholfen lösten sie sich schließlich voneinander. Vitali nahm wieder mehr Abstand ein und rieb sich nervös den Hals. Serena fühlte die Nervosität in ihren Wangen, jetzt noch schlimmer als in seinen Armen. Zögerlich fragte sie: „Es macht dir nichts aus, von mir berührt zu werden?“ Vitali schaute ziemlich verstört. „Nicht – nicht so!“ Sie zog den Kopf ein. Er sprach leise. „Natürlich nicht.“ Wieder standen sie schweigend da. „Wieso nicht?“, flüsterte sie. „Mann, bist du bescheuert?!“, schrie Vitali heftig. „Du bist bescheuert!“, schrie Serena. „Ihr seid beide bescheuert!“, kam Eriks donnernde Stimme durch die Tür. „Kommt ihr jetzt endlich raus oder wollt ihr euch da drin noch lange anschreien?“ Einen weiteren kurzen Blick austauschend gingen sie extrem beschämt gemeinsam zur Tür. Kapitel 135: Verbindende Gefühle – Teil des Teams ------------------------------------------------- Verbindende Gefühle – Teil des Teams   „Ein Freund ist ein Mensch, vor dem man laut denken kann.“ (Ralph Waldo Emerson)   Im Aufenthaltsraum setzten sich die sechs auf die große Couch. Serena und Vitali nahmen an entgegengesetzten Enden Platz, saßen dadurch jedoch einander gegenüber. „Wie geht es euch?“, erkundigte sich Ariane besorgt. Ewigkeit flog derweil an ihre Seite und musterte Serena und Vitali interessiert. Serena nickte bloß, Vitali zuckte mit den Schultern. Die beiden sahen kurz einander an und wandten dann deutlich verlegen den Blick ab. „Was ist denn genau pa-“ Ariane wurde von Erik unterbrochen „Was sind diese Plagen?“, forderte er nachdrücklich zu erfahren. Ariane warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, den er gekonnt ignorierte. „Das wissen wir nicht genau.“, antwortete Justin. „Wann habt ihr davon erfahren? Und wieso habt ihr mir nichts davon gesagt?“, hakte Erik weiter nach. Vivien meldete sich zu Wort. „Der Schatthenmeister hat uns erst am Sonntag darüber informiert.“ Ariane war froh, dass Vivien das Reden übernahm. Sie selbst hätte keine Ahnung gehabt, wie sie Erik eine glaubhafte Geschichte auftischen sollte. Ihre Befürchtung, dass er die ganze Sache mit seiner Gedächtnislücke von Samstag in Verbindung bringen würde, machte sie nervös. „Der Schatthenmeister?“, fragte Erik ungläubig. Vivien nickte unbekümmert. „Er hatte den Auftrag, diese Plagen zu finden, aber er wusste nicht, dass sie freigesetzt würden, wenn sie in die normale Welt kommen. Er weiß auch nicht, was genau sie machen.“ „Stopp.“, unterbrach Erik. „Der Schatthenmeister, der euch entführt und Schatthen auf euch gehetzt hat?“ „Genau der.“, antwortete Vivien leichthin. Eriks Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass er das für absolut absurd hielt. „Warum?“ Vitali antwortete. „Er hat keine Freunde.“ Erik fand das nicht lustig. „Was hat er davon, dass er euch Informationen zuspielt? Und wieso vertraut ihr ihm?“ „Wir vertrauen ihm nicht.“, stellte Justin klar. „Er hat uns damals bei den Allpträumen auch geholfen.“, erinnerte Vivien Justin und wandte sich wieder Erik zu. Lässig zuckte sie mit den Schultern. „Er informiert uns immer, wenn er einen Auftrag hat, mit dem er nicht alleine klarkommt.“ „Und ihr helft ihm?“ Erik war fassungslos. Ernst berichtigte Justin. „Wir verhindern, dass diese Dinger noch mehr Schaden anrichten. Wir helfen ihm nicht.“ Vivien fügte amüsiert hinzu: „Grauen-Eminenz ist wohl selbst kein Fan seiner Aufträge.“ Erik starrte sie unwillig an. „Ihr wollt mir allen Ernstes erzählen, dass er sich gegen seine Auftraggeber wendet? Das ist Unsinn. Er instrumentalisiert euch bloß für seine Zwecke!“ Vitali antwortete lapidar: „Nee, der ist einfach bloß bekloppt.“ Auch Vivien blieb locker, als wäre nichts dabei. „Besser wir sind vorgewarnt, als dass er wieder aus dem Hinterhalt angreift.“ „Das ergibt überhaupt keinen Sinn!“, schimpfte Erik. „Sagt ihr wirklich die Wahrheit?“ Ariane fuhr kurz zusammen, obwohl es den Tatsachen entsprach, dass der Schatthenmeister ihnen schon mehr als einmal geholfen hatte. Vivien lächelte „Wieso sollten wir dich anlügen?“ Erik richtete seinen Blick auf Ariane, als wüsste er, dass sie am schlechtesten darin war, ihm etwas vorzutäuschen. Ariane holte Luft: „Wir wissen nicht, warum er uns manchmal hilft.“, sagte sie kleinlaut. Das war definitiv nicht gelogen. Serena mischte sich ein und sah Erik durchdringend an. „Denkst du, ich würde dem Schatthenmeister vertrauen?“ Purer Argwohn sprach aus ihren Zügen. Das schien Erik zu beruhigen. „Wieso habt ihr es mir nicht gleich gesagt?“ Vitali alberte: „Hey Mann, da sind irgendwelche Plagen unterwegs, wir haben keine Ahnung, was die machen und ob das überhaupt stimmt, aber hey! Du wurdest gewarnt!“ Er deutete mit beiden Zeigefingern auf ihn. Erik seufzte. „Ab jetzt könntet ihr mich trotzdem informieren.“ Freudig fragte Vivien. „Willst du das?“ Erik zog die Augenbrauen zusammen, als verstünde er die Frage nicht. „Als wir dich eingeweiht haben, hast du gemeint, dass du es lieber nicht wissen würdest.“, erklärte Vivien. Erik widersprach nicht. Justin griff Viviens Gedankengang auf. „Wir wollen dich nicht unnötig in diese Dinge mit hineinziehen.“ „Dafür ist es ja wohl zu spät.“, entgegnete Erik. Auf seine Worte hin schwebte Ewigkeit zu ihm, als wolle sie ihn trösten. Er ging nicht darauf ein. Mit harter Stimme verkündete er: „Ich bin jetzt Teil dieses Teams und ich will auch so behandelt werden.“ Augenblicklich begann Ewigkeit zu strahlen und stieß euphorische Glöckchentöne aus. Zaghaft wandte sich Ariane nochmals an ihn. „Bist du dir wirklich sicher?“ „Du hast die ganze Zeit darauf bestanden, dass Secret ein Beschützer ist.“, erwiderte Erik abweisend. Prompt klebte Ewigkeit an seiner Wange. Er quittierte dies mit einem unzufriedenen Brummen, das die Kleine jedoch nicht mehr abschrecken konnte. Begeistert klatschte Vivien in die Hände und sprang von ihrem Platz auf. „Dann wirst du jetzt offiziell in unseren Teamruf eingeweiht!“ Sie positionierte sich und sah die anderen auffordernd an. Keiner der anderen tat ihr den Gefallen, ebenfalls aufzustehen. Vor Erik war es irgendwie peinlich. „Kommt schon!“, bettelte Vivien. „Erik gehört doch jetzt auch zum Team!“ Beschämt standen die anderen auf und Ewigkeit drehte fröhlich Pirouetten um Vivien. „Balaaaaaance….“ Während Vivien und Vitali ein lautes „Defenders!“ riefen, das die anderen nur flüsterten, streckten sie ihre Arme in die Höhe. Befangen schauten sie in Eriks Richtung. Dieser gaffte sie an, als wären sie eine Zirkustruppe. „Komm, mach mit!“, forderte Vivien ihn auf. Absolut ablehnend reagierte Erik. „Alles hat seine Grenzen.“ Vitali deutete schimpfend auf ihn. „Solange du den Teamruf nicht machst, bist du nicht Teil des Teams!“ „Ich überleg mir das noch mal mit dem Team.“, antwortete Erik. Ewigkeit wurde von dieser Aussage schwer getroffen. Sie wirkte, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Zur Überraschung der anderen erhob sich Erik daraufhin stöhnend. Er sah Ewigkeit miesepetrig an, dennoch lächelte sie nun wieder übers ganze Gesicht. Vivien kicherte und wiederholte den Gruppenruf. Dieses Mal waren auch die anderen mit mehr Elan bei der Sache, während Erik einfach nur zum richtigen Zeitpunkt den Arm in die Höhe streckte. Vitali neben ihm grinste ihn schelmisch an. „Willkommen im Team.“ Erik schaute, als würde er diese Entscheidung jetzt schon bereuen. Doch das brachte Vitali nur dazu, noch breiter zu grinsen und ihm spielerisch in die Seite zu boxen, um ihn aus der Reserve zu locken. Gekonnt wehrte Erik ihn ab. Vitali dagegen lachte enthemmt und entlockte Erik damit ein Schnauben, das entfernt belustigt klang. Kleinlaut ergriff Serena das Wort. „Ich müsste langsam nach Hause.“ „Okay!“, stimmte Vivien fast schon überdreht zu. Sie holte ihren Rucksack und reichte ihn ohne Umschweife Vitali, der sie ziemlich irritiert anschaute. „Bringst du den zu mir nach Hause? Ich will noch etwas frische Luft schnappen.“ „Ich bin doch nicht dein Packesel.“, merkte Vitali an, während er den Rucksack bereitwillig entgegennahm. „Danke schön!“, flötete Vivien und umarmte Vitali kurz. Unsicher blickte Justin zu ihr. Erik entging es nicht. „Willst du auch laufen?“ Ertappt wandte sich Justin ihm zu und zögerte. „Wir bringen deinen Rucksack auch zu Vivien, dann muss Vitali nicht zweimal teleportieren.“, schlug Erik vor, als sei es bereits entschiedene Sache. Vivien kicherte. Justin zog den Kopf ein. „Danke.“ Erik streckte seinen Arm aus, um Justins Rucksack an sich zu nehmen. Nachdem er seinen Haustürschlüssel herausgeholt hatte, tat Justin ihm den Gefallen, auch wenn er nicht ganz glücklich damit aussah. Anschließend wandte Erik sich an Ewigkeit „Möchtest du bei Serena bleiben?“ und drehte sich zu Serena. „Wäre das für dich okay?“ Serena nickte. Dann richtete er das Wort an Vitali. „Macht es für dich kräftetechnisch einen Unterschied, ob du eine Person teleportierst oder mehrere?“ Vitali zuckte mit den Schultern. „Nö.“ „Willst du uns dann alle zusammen teleportieren?“ Vitalis Gesichtsausdruck legte nahe, dass er Eriks Vorschlag nicht nachvollziehen konnte. Erik hob vielsagend die Augenbrauen und Vitali schien zu begreifen, dass er ansonsten – wenn auch nur für Sekunden – mit Serena alleine sein würde. „Klar.“, presste er hervor. „Dann bringen wir als erstes Serena nach Hause, anschließend Ariane, und ich helfe dir, die Sachen bei Vivien abzulegen.“ „Machst du für alles Pläne?“, fragte Vitali verdutzt. „Einer muss ja für dich mitdenken.“, entgegnete Erik und grinste, woraufhin Vitali das Gesicht säuerlich verzog. Gemeinsam verließen sie das Sofa. Vivien umarmte noch einmal Serena, als habe diese die Extraportion Liebe am nötigsten, dann verabschiedeten sie sich voneinander und Vitali teleportierte.   Erik war einmal mehr überrascht, wie schnell Vitali diese Teleportationskräfte einsetzen konnte. Wenn Ewigkeit nicht jedes Mal vorher noch hätte nachschauen müssen, ob die Luft rein war, wäre es noch schneller gegangen. Sie kamen in seinem Zimmer an. Ein Augenblick verstrich. „Du musst loslassen, sonst funktioniert das nicht.“, nörgelte Vitali. „Ich muss mit dir reden.“, sagte Erik und ließ seine Hand schließlich los. „Hä?“, machte Vitali. Erik ging nicht darauf ein, sondern widmete sich Ewigkeit. „Kannst du uns kurz allein lassen?“ Das Schmetterlingsmädchen nickte und war im gleichen Moment verschwunden. Vitali schreckte von ihm weg. Erik verdrehte die Augen. „Ich bin nicht besessen.“ Vitali schürzte beleidigt die Lippen, als hielte er es für boshaft, dass Erik sich darüber lustig machte.   „He.“, sagte Erik sachte. „Ich war vielleicht vorhin etwas streng zu dir, aber mir ist klar, wie schwer das für dich war.“ Vitali machte den Eindruck, nicht nochmals an die Situation denken zu wollen. Erik sprach weiter. „Auch wenn es nicht einfach für dich ist, solltest du wissen, dass sie solche Gefühle für dich hat.“ Vitali starrte ihn an. „Deshalb ist sie oft abweisend zu dir. Sie will nicht, dass du es merkst, weil sie Angst hat.“ Etwas ging in Vitalis Gesicht vor, seine Züge wurden hart. Erik konnte das nicht nachvollziehen. An Vitalis Verhalten war schon immer zu erkennen gewesen, dass er mehr als Freundschaft für Serena empfand. Das gestern hatte es nur noch deutlicher gemacht.  „Hast du mir gerade zugehört?“, fragte er irritiert. Die Anspannung in Vitalis Gesicht wandelte sich zu Trotz. „Ist mir egal!“, rief er lautstark. Wut kam in Erik auf. „Dir ist egal, was sie für dich fühlt?“ „Ja!“, schrie Vitali. Erik fühlte den Drang, ihn für diese Worte zu bestrafen. Wie konnte ihm egal sein, dass Serena unglücklich in ihn verliebt war?! Vitali schrie weiter. „Ihr ist doch auch egal, was ich fühle!!!“ Erik stockte. Vitali wirkte völlig aufgelöst. Es war offensichtlich, dass er vor Wut und Ohnmacht kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. „Es geht immer nur um Serena!“, brüllte er. „Dir und allen anderen!“ Erik konnte die Tränen in Vitalis Augen sehen. Seine Stimme wurde weich. „Denkst du das?“ Vitali wich seinem Blick aus. Daraufhin setzte Erik fort. „Ich dachte, es wäre leichter für dich, wenn ich dir das sage. Ich habe Serena nichts über deine Gefühle für sie erzählt.“ Mit einer unglaublichen Verletzlichkeit im Blick sah Vitali ihn an. Erik fühlte sich unwillkürlich an das Bild von Serena erinnert. Von diesen Moment, in dem sie ihm wie das unschuldigste Wesen vorgekommen war. Er hatte nicht geglaubt, ein zweites Mal einen solchen Eindruck von jemandem zu bekommen. Auch wenn er gewusst hatte, dass Vitali zu naiv und ehrlich war, wurde ihm erst in diesem Moment wirklich bewusst, wie verletzlich ihn das machte. Er rang sich zu weiteren Worten durch. „Mir ist wichtig, was du denkst.“ Vitalis Mund verzog sich. Dieser Junge hatte einfach ein so sprechendes Gesicht, dass man ihm viel zu oft ansah, was in seinem Herzen vorging. Wie hatte er so bloß bis zum heutigen Tag überleben können? Vitalis Stimme schrumpfte zusammen. „Versprichst du, dass du ihr nichts sagst?“ Erik war von Vitalis Arglosigkeit schockiert. Verstand er denn nicht, dass er dadurch vor ihm zugab, in Serena verliebt zu sein? Er war viel zu vertrauensselig! Fast als würde er keine bösen Hintergedanken kennen. Wahrscheinlich war es das, was Serena so zu ihm hinzog. Beide waren von einer so täppischen Aufrichtigkeit, dass es Erik unbegreiflich erschien, wie sie nicht längst daran zerbrochen sein konnten. Diese Welt war zu hart für solche Menschen. Viel zu hart. Ein halb trauriges, halb gerührtes Lächeln stahl sich auf Eriks Lippen. Diese beiden waren wirklich noch Kinder. Er holte tief Luft. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“, sagte er nüchtern. „Wieso stehen wir überhaupt noch hier? Ist dir langweilig?“ Das verführte Vitali tatsächlich zu einem Lächeln. „Gut, dass du so ein Gedächtnisproblem hast.“ Nun grinste er. Erik antwortete mit einem grimmigen Lächeln. Ein Lachen schien Vitalis Versuch zu sein, seine vorige Anspannung umzuwandeln. Ohne Umschweife rief Erik Ewigkeit herbei. „Schau, ob bei Verändern der Raum frei ist.“ Schon war sie wieder weg. „Erik?“ „Hm?“ Ewigkeit kam zurück. „Alles frei!“ Vitali nickte ihr zu, worauf sie wieder ging. „Wolltest du noch was sagen?“, fragte Erik. „Nö.“, meinte Vitali, blieb dann aber stehen, anstatt zu teleportieren. „Willst du mir noch eine Liebeserklärung machen?“, neckte Erik ihn. „Halt die Fresse.“, zischte Vitali und stieß die Luft aus. Einen weiteren Moment zögerte er. „Du bist ein echter Freund.“ Erik kam nicht in die Verlegenheit, darauf zu antworten. Im gleichen Moment war Vitali verschwunden.  Sprachlos stand Erik da. Etwas Leidendes trat in seinen Blick. Vitali war … – wirklich viel zu naiv! Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Doch auch das konnte nicht verhindern, dass das warme Gefühl, das er in der Nähe der anderen immer mehr empfand, sein Inneres einnahm. Kapitel 136: Aufbrechende Gefühle - das Geständnis -------------------------------------------------- Aufbrechende Gefühle – Das Geständnis   „Nichts ist so sichtbar wie das, was man verbergen will.“ (aus Japan)   Justin getraute sich nicht, in Viviens Richtung zu sehen. Stumm lief er neben ihr her. Im Gegensatz zu sonst hatte sie nicht den Ansatz gemacht, seine Hand zu halten, und er hatte den Eindruck, dass sie etwas bedrückte. Die Befürchtung, dass sie nun durchschaut hatte, was er wirklich für sie fühlte, drängte sich ihm auf. Nach dem, was er unter dem Einfluss der Plage getan hatte, war das wohl unumgänglich gewesen. Der bloße Gedanke daran machte ihn handlungsunfähig. In Kürze würden sie den Hauptweg des Kurparks erreichen und er hatte noch immer kein Wort herausgebracht, nur ab und zu zu ihr gelinst, als er plötzlich spürte, wie sie an seinem Ärmel zog und ihn zum Stehen brachte. Unsicher sah er sie an. Vivien hatte ihre Augen auf den Boden gerichtet. Kummer zeichnete sich auf ihrem rosigen Gesicht ab, dessen Sommersprossen jetzt im Winter verblasst waren. Angst packte ihn. Angst, dass jetzt der Moment gekommen war, in dem sie sein Herz brach. „Geduld und Selbstbeherrschung.“, flüsterte sie. Er stockte. Die Paralyse hatte ihn nicht daran gehindert zu hören, dass Vitali diese Qualitäten benutzt hatte, um die Plage zu erlösen. Wollte sie etwa darüber reden? Sie setzte fort. „Auf Dauer ist das … anstrengend.“ Sie zog den Kopf ein, als schäme sie sich, wobei ihr orangerotes knapp schulterlanges Haar etwas nach vorne fiel. „Sich dem anderen zuliebe zurückzuhalten.“ Die Angst kam zurück. Justins Atmung wurde schwer. Vivien sah mit ihren großen Kulleraugen zu ihm auf. „Woher…“, setzte sie an. „… weiß man, dass der andere dasselbe fühlt?“ Die Frage irritierte ihn. Ihre Stimme klang so ernst. Wollte sie ihn damit subtil darauf hinweisen, dass sie ihm nie Hoffnungen gemacht hatte? Er wich ihrem Blick aus. „Vielleicht von dem, wie der andere sich verhält.“ Ihre amethystfarbenen Augen umrahmt von ihren hellen Wimpern bekamen etwas Drängendes. „Und wie verhält der andere sich, wenn er einen auch mag?“ Die Frage und ihr Blick sorgten dafür, dass sein Magen sich zusammenzog. Er durfte nichts sagen, das ihn verriet. Er wandte sich ab. „Vielleicht macht er Andeutungen.“ „Was für Andeutungen?“ „Ich weiß nicht.“, antwortete er ausweichend. Ihre Stimme klang aufgewühlt. „Wie verhältst du dich, wenn du verliebt bist?“ Justin starrte sie an, Panik kam in ihm auf. Ihr wunderschönes Gesicht verzog sich geradezu leidend. „Würdest du es der Person zeigen?“ Wollte sie damit herausfinden, ob ihre Vermutung über die Art seiner Gefühle zutraf? Wusste sie es doch noch nicht mit Sicherheit? „Ja.“ Das war die einzige Antwort, die sie vielleicht davon abhalten konnte, ihm direkt zu sagen, dass sie anders fühlte. Dass sie nicht so für ihn empfand, wusste er doch! Hatte er die ganze Zeit schon gewusst! Er wollte es nicht auch noch aus ihrem Mund hören müssen! „Wie?“, rief sie aus. Er merkte, dass das eine Sackgasse war, und entschied sich, seine Taktik zu ändern. Vielleicht konnte er nicht verhindern, dass er aufgeflogen war, aber er konnte ihr klar machen, dass er sich keine Hoffnungen machte. „Ich glaube nicht, dass die Person es wollen würde.“ „Wieso nicht?“, forderte Vivien zu wissen. „Weil… sie etwas Besseres verdient hat.“ Vivien trat vor ihn. Obwohl sie so klein war, wirkte ihre Haltung entschlossen. „Es gibt niemand Besseren als dich!“ Wieso sagte sie das? „Aber...“ Sie schlug die Augen nieder. „Wenn du nicht an dich selbst glaubst, ist es egal, was … Du wirst es nicht glauben, nicht wahr?“ Er konnte ihr nicht folgen. „Deshalb gibt sie dir einfach Zeit und versucht, dich nicht mit ihren Gefühlen zu belästigen.“ Sie zog die Schultern an und sah mit einem Mal zerbrechlich aus.  Er wurde aus ihren Worten nicht schlau. „Was meinst du?“ „Dass … sie warten wird, bis du mehr an dich glaubst, weil sie an dich glaubt. Und sie es nicht ertragen könnte, wenn … wenn sie es dir explizit sagt und du ihr nicht vertraust.“ Noch immer sah sie zu Boden. Wer war ‚sie‘? Er durfte sich – nein – das… Vivien stöhnte und fasste sich an den Kopf. „Woher soll sie denn wissen, ob er wirklich nur unsicher ist und gar nichts versteht oder ob er einfach kein Interesse hat? Auch wenn sie es eigentlich wissen müsste…“ „Vivien, wovon reden wir?“ Sie schüttelte den Kopf. „Er würde es sowieso nicht verstehen.“ Selbst Justin konnte nicht entgehen, dass sie in Er-Form gesprochen hatte. „Vivien?“ „Könnte er ihr nicht deutlicher zeigen, was er fühlt?“ „Tut er das nicht?“ Er wusste selbst nicht, warum er das sagte. Er wollte doch nicht, dass sie über seine Gefühle Bescheid wusste. Ihre großen Augen tauchten für einen Moment in die seinen, dann wich sie ihm aus. „Tut mir leid.“, presste sie hervor. „Dass ich so unsicher bin.“ Sie und unsicher? „Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne.“ Ein tiefer Schmerz trat in ihren Blick. Ihre Stimme wurde schwach. „Warum hab ich dann solche Angst?“ Justin versuchte, das zu verstehen. „Wovor?“ Sie seufzte resigniert und ließ die Schultern hängen, wirkte dadurch noch kleiner. Er setzte zu weiteren Worten an. „Wenn dich irgendwas belastet…“ Sie antwortete nicht direkt. „Wenn du dich in jemanden verliebst,“ Sie sah ihn direkt an, ihre Stimme wurde zu einem Hauchen. „… lass es mich sein.“   Ihr Herz tat schrecklich weh bei den Worten. Eilig senkte sie den Blick und bereute ihren Vorstoß. Man konnte seinen Gefühlen doch nicht befehlen. Und man konnte niemandem für seine Gefühle Vorwürfe machen. Man fühlte einfach wie man fühlte, unabhängig von Logik. Und sie wusste doch, dass Justins Selbstzweifel ihn ihre Worte immer falsch verstehen ließen. Egal was sie sagte. Zögerlich sah sie auf, in Justins Gesicht. Er starrte sie an. Komplett fassungslos. Sie wollte sich einreden, dass er nur schockiert darüber war, dass sie die Andeutung machte, ihn auch zu mögen, und nicht weil er das nicht hören wollte, nicht so fühlte. Dabei hätte sie doch nach dem, was eben mit der Plage gewesen war, wissen müssen, dass er sie mochte! Wieso hatte sie trotzdem solche Angst? Sie wich einen Schritt zurück. Hektisch sprach sie weiter. „Entschuldige, das war übergriffig. – Vielleicht habe ich noch Nachwirkungen von dem Gefühl der Plage.“ Noch immer sagte Justin nichts. Sie hätte jetzt einen Scherz machen sollen, die Stimmung heben, irgendwas Leichtherziges sagen, damit er dachte, sie spaße nur. Es tat weh – sein Schweigen. „Vivien?“ Seine Stimme klang ungläubig. Sie hatte Angst davor, wie er sie jetzt anschauen würde. Wieder konnte sie seinem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob er mit sich rang, weil er ihr sagen musste, dass er sie nur als gute Freundin ansah, oder ob er sie … Er sah sie einfach nur an, als wisse er nicht, was er sagen sollte. Schließlich wich er ihrem Blick aus. Vivien fühlte Panik in sich aufsteigen, sie wollte heulen. Er ergriff das Wort. „Wäre dir das nicht unangenehm?“ Die Angst ebbte ab. Wieso misstraute sie seinen Gefühlen so sehr? Sie musste sich ein Herz fassen. „Ist es unangenehm, zurückgeliebt zu werden?“ Justin erstarrte. Hastig und kleinlaut fügte sie an: „Ich kann warten.“ Er schaute wieder so überfordert. „Und es ist ok, wenn es niemals –“ Sie konnte die Worte nicht aussprechen. Sie konnte es einfach nicht! Sie wollte ihn nicht anlügen. Seine Augen wanderten haltsuchend hin und her, als suche er nach Worten oder nach etwas, das Sinn ergab. Sie spürte den Impuls, ihm zu sagen, dass er vergessen sollte, was sie von sich gegeben hatte. Einfach weil sie die Situation nicht länger aushielt und befürchtete, das bisschen zu verlieren, das er ihr gab, und dass er sich nun völlig vor ihr zurückzog.   Vivien konnte doch nicht… Wieso sollte sie? Er suchte nach etwas, nach Worten, nach … er wusste nicht was. Seine Hand zuckte angesichts des Impulses, sie zu berühren, aber… Das konnte er nicht. Er durfte nicht! Was sollte Vivien denn an ihm mögen? Er war einfach langweilig und sie war so ausgefallen, ungewöhnlich und beeindruckend und der mutigste, einfallsreichste und aufgedrehteste Mensch, der ihm je begegnet war. Es ergab keinen Sinn, dass dieser Mensch irgendetwas in ihm sehen sollte, das sonst keiner sah, noch nie gesehen hatte. Wieso er? Vielleicht weil sie so viel Zeit miteinander verbrachten. Vielleicht war das eine Art Stockholm Syndrom. Und selbst wenn sie wirklich etwas für ihn fühlte, würde sie nicht bald merken, dass er ihr nicht gerecht werden konnte? Was hatte er ihr schon zu bieten? Sie würde doch früher oder später erkennen, wie langweilig und nichtssagend er war. Vielleicht würde sie das schon morgen bereuen und ihm sagen, dass das alles ein großes Missverständnis war und sie sich getäuscht hatte, ganz anders fühlte. Ja, vielleicht waren das gar nicht ihre Gefühle, sondern es war eine Nachwirkung von ihrem Kräfteeinsatz? Sie verwechselte vielleicht seine Gefühle mit ihren. Er biss die Zähne zusammen. „Das geht vorbei.“   Getroffen sah sie auf, starrte ihn an. „Das ist sicher eine Nachwirkung von der Plage und das ist … das sind nicht … Es geht bestimmt bald wieder weg.“ Vivien glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie griff sich an die Kehle, alles in ihr verkrampfte. Dann war die Gewalt ihrer Emotionen zu groß, übermannte sie. Nicht länger konnte sie das Schluchzen unterdrücken, erbrach jammervolle Laute des Leids. Es tat so weh. So schrecklich weh! Ihr Herz drohte zu zerspringen. Abrupt riss sie den Blick zu ihm hoch. Unbändige Wut und Verzweiflung übermannten sie. „Es geht immer nur um dich!“, kreischte sie schrill. „Es ist egal, was ich fühle!“ Sie war so hilflos, machtlos. „Ich kann nicht mehr.“, schluchzte sie. Sie hielt es einfach nicht mehr aus. Alles sollte aufhören! „Ich ertrage deinen Egoismus nicht mehr!“ Sie hatte so viel ausgeharrt, so viel ertragen. Aber … Er blieb einfach vor ihr stehen, als höre er ihre Worte nicht, schwieg sie an. Sie hatte nicht länger vor, ihm zuliebe zu schweigen und alles runterzuschlucken. Die Flut an unterdrückten Emotionen war zu gewaltig. „Es tut so weh. Jeden Tag...“, wimmerte sie. „Jeden Tag! Und ich dachte, ich muss nur Geduld haben und … irgendwann verstehst du es, aber das stimmt nicht.“ Sie wurde wieder laut. „Es ist dir völlig egal, was ich fühle! Es war dir die ganze Zeit egal! Ganz gleich was ich tue, du stößt mich immer weg. Wieder und wieder! Ich will das nicht mehr.“ Sie rang nach Atem. „Warum? Warum bin ich dir egal?!“ Ein erbärmliches Klagen tönte aus ihrem Inneren. Kein Laut der Welt konnte wiedergeben, was sie in diesem Moment erlitt.   Justin fühlte sich wie gelähmt, starrte sie verstört an. Endlich fand er seine Stimme wieder. „Du bist mir nicht egal.“ „Lügner!“, kreischte sie. Ihr Vorwurf macht ihn mundtot. Sie setzte ihre Hasstirade fort. „Ich bin seit dem ersten verdammten Tag, an dem ich dir begegnet bin, in dich verliebt und du … du ignorierst mich seit diesem Tag! Alles, was ich tue, ist nicht gut genug für dich! Nie bin ich gut genug für dich!“, spie sie bitter aus. Justin spürte, wie sich in seinen Augen Tränen bildeten. „Warum bin ich dir nicht gut genug?“, schluchzte sie. Justin atmete schwer. „Weil ich nicht gut genug bin.“ Vivien stoppte. Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. „Ich verstehe nicht, was du sagst. Ich … war die ganze Zeit … und ich hatte Angst, dass du es merkst… Ich dachte, dass du mich dann nie wiedersehen willst.“ Seine Sicht wurde durch Tränen getrübt. „Ich hab doch die ganze Zeit versucht, dir die Angst zu nehmen!“, antwortete Vivien lautstark. Seine aufgepeitschten Gefühle zogen ihn in ihren Bann. „An mir ist doch nichts, was du lieben könntest.“ Die Tränen rannen über seine Wangen. Gepeinigt krümmte er sich, wollte alles ausschließen, nichts mehr an sich ranlassen. Der Schmerz war dazu einfach zu groß. Alles zu viel. Ihre Stimme brach in sein Leid ein. „Ich liebe dich!“ Doch das konnte den Eindruck ihrer verzweifelten Tränen und ihrer verletzenden Worte nicht aus seinem Bewusstsein drängen. Er bekam nur am Rande mit, wie sie sich in seine Arme zu werfen versuchte. Es war ihm unerträglich. Er wollte das nicht! Dann waren Hände an seinem Gesicht. „Du bist der wundervollste Mann, den ich mir vorstellen kann.“ Ihr Gesicht war ihm so nah. Zu nah! Ein unkontrolliertes Zittern nahm seinen Körper ein. Er drohte zusammenzubrechen. „Justin, Justin, sieh mich an. Sieh mich an. Beruhige dich. Ich bin da. Atme.“ Nein… „Du musst richtig atmen.“ Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er sank zu Boden, Vivien nahm er kaum noch wahr. „Du atmest zu flach.“, hörte er erneut ihre Stimme wie etwas Übergriffiges. Er spürte, wie seine Arme anfingen zu kribbeln. Er fühlte sich so schwach. Seine Zähne klapperten. „Justin, du hast eine Panikattacke. Du musst dich beruhigen.“ Er konnte nicht mehr. Sie sollte weg gehen. Alles sollte … „Justin!“ Dass Vivien an ihm rüttelte, war nichts als ein Echo aus der Ferne. Sie schrie auf ihn ein. Ihre Stimme brach ab.   Gehetzt sah sich Vivien um, aber diese Stelle des Parks war leer, niemand war da. Sollte sie Vitali rufen? Aber was sollte er machen? Sie musste Justin irgendwie aus dieser Starre lösen. Irgendwie musste sie diesen Kreislauf durchbrechen! Mit irgendwas, das ihn ablenkte! Etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Aber was? Sie stockte und begriff. „Tut mir leid.“   Ihre Worte gingen in seinem Wahn unter. Er bekam kaum noch mit, wie sie sich ihm erneut näherte. Doch ihre nächste Berührung war zu intensiv, um sie auszublenden. Er spürte Viviens warme, weiche Lippen wie eine tröstende Wahnvorstellung. Vielleicht fantasierte er. Es fühlte sich schön an. Die Traum-Vivien konnte ihm nicht wehtun. Sie würde ihm nicht das Herz brechen. Wieder spürte er ihre Lippen auf seinem Mund, wie sie sein Gesicht festhielt. Sie war so sanft und fordernd. Er setzte ihr nichts entgegen. Dann endete die Berührung, aber er spürte die Wärme ihres Atems. Sie musste direkt vor ihm sein. Aber er fühlte sich zu schwach, um die Augen zu öffnen.   Vivien merkte, dass er nicht mehr atmete. Da er zuvor hyperventiliert hatte, war das nicht schlecht. Aber – wieso fand sie es trotz dieser Situation so schön, ihn zu küssen, trotz seiner eiskalten Lippen? War sie einfach egoistisch? Oder pervers? Sie sollte Hilfe holen statt über ihn herzufallen! Sie wusste nicht, was sie machen sollte, um ihn zu beruhigen. Also blieb sie mit dem Gesicht bei ihm und atmete mit ihm, wie um ihm damit dazu zu animieren, ebenfalls zu atmen. Es tat ihr in der Seele weh, ihn so zu sehen. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie schämte sich, nicht sofort auf die Idee gekommen zu sein. Sie konzentrierte sich darauf, sich selbst zu beruhigen und ließ das bisschen Ruhe, das sie noch in sich hatte, über ihre Hände in ihn fließen. Als wäre jegliche Spannung aus ihm gewichen, kippte Justin jäh auf sie. Sie versuchte ihn zu halten, aber er war zu schwer. Sie bemühte sich, seinem Körpergewicht Herr zu werden und bettete seinen Kopf behelfsmäßig auf ihren Schoß. Der Boden war eiskalt, aber Hauptsache, Justin atmete. Sie strich ihm über das Haar, in der Hoffnung, ihn dadurch zu beruhigen. Einige Momente lag er so da. Sie traute sich nicht, ihn anzusprechen, schließlich hatten ihre Worte bewirkt, dass er eine Art Panikattacke bekommen hatte. Sie fühlte sich schuldig. Sie hatte ihn überfordert.   Er bekam am Rande mit, wie er in eine andere Position gebracht wurde. Sein Kopf lag irgendwo. Er wusste nicht wo. Es war egal. Sein Körper spürte Kälte und Härte. Etwas strich über seinen Kopf. Er glaubte, Viviens Geruch wahrzunehmen. Ihren Geruch, er mochte ihn. So sehr. Die Luft tat gut. Wo war denn vorher die Luft gewesen? Es war egal. Er blieb liegen, dachte nicht weiter nach. Wie lange er so da gelegen hatte, konnte er nicht sagen, als er wieder zur Besinnung kam. Ihm wurde klar, dass er auf dem Boden lag. Aber sein Kopf? Er versuchte, sich aufzurichten, um zu verstehen, wo er sich befand. Die Person hinter ihm griff nach ihm und stützte ihn. Er erkannte, dass es sich um Vivien handelte. „Wir sollten Vitali rufen. Er kann uns heimteleportieren.“ Die Erkenntnis, was gerade geschehen war, traf ihn. Beschämt wich er Viviens besorgtem Blick aus und schüttelte den Kopf. Er wollte diese ganze Situation verdrängen! Das war nie geschehen. Wie konnte er vor ihr zusammenbrechen? Er wollte nicht, dass jemand anderes davon erfuhr. Auf keinen Fall. Auch noch nach allem, was heute geschehen war. „Justin.“ Was hatte er nur getan? Viviens Stimme erklang in ungekannter Hast. „Es tut mir leid. Es war gemein, dich zu küssen.“ Was? „Ich… Tut mir leid. Ich wusste nicht, wie ich dich sonst… Das war nicht in Ordnung. Ich werde es nie wieder machen. Nicht ohne Erlaubnis. Versprochen!“ Wovon redete sie da? Halluzinierte er immer noch? „Ich verstehe, wenn du böse bist. Ich hab es ausgenutzt, dass du dich nicht wehren konntest. Es tut mir so leid! Ich mach das nie wieder. Wirklich!“ Nochmals musste er sich klar machen, ob er wirklich bei Bewusstsein war. „Du hast mich… geküsst?“   Vivien riss die Augen auf. Hatte… hatte er das gar nicht mitbekommen? Hieß das, sie hatte ihm einfach den ersten Kuss geraubt und er erinnerte sich nicht einmal daran? Sie wusste zwar nicht mit Sicherheit, ob es sein erster Kuss gewesen war, aber sie ging einfach davon aus. Ihr selbst war nicht so wichtig, wo und wann und ob es der erste war, Hauptsache, der Kuss kam von Justin. Aber er war jemand, dem das etwas bedeutete. Bestimmt hätte er sich etwas Romantisches gewünscht. Und sie war einfach über ihn hergefallen! Und jetzt konnte er sich nicht einmal daran erinnern! „Es tut mir leid!“, rief sie außer sich. Justin sah zu Boden, auf dem sie immer noch saßen. „Das war einfach eine unglückliche Mund-zu-Mund-Beatmung. Unser nächster Kuss wird einfach der erste!“ Schockiert bedeckte Justin den Mund mit seiner Hand. Oh Gott, was hatte sie ihm angetan? Geradezu verstört starrte er auf den Boden und begann zu sprechen. „Die Allpträume. Als ihr den Schlafzauber anhalten solltet.“ Vivien verstand den plötzlichen Themenwechsel nicht. „Einer hat sich in dich verwandelt.“, presste er hervor. „Er … Er hat mich – geküsst.“ Vivien war wie erstarrt. Ein Allptraum. Aber… Aber hieß das nicht…? Justin sah sie schmerzlich an. „Es war das Schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte!“ Die Worte drohten ihr Herz zu zerquetschen. „Es tut mir leid!“, stieß Justin aus. „Es tut mir so leid!“ Sie ertrug es nicht, das zu hören, doch Justin sprach weiter. „Es tut mir leid, dass mein erster Kuss… Ich wollte, dass du es bist!“ Vivien horchte auf. „Ich wollte nicht. Ich wollte nicht, dass der Allptraum. Ich konnte mich nicht bewegen.“ Endlich begriff sie. Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie atmete die Luft aus, die sie angehalten hatte, und legte ihre Hand auf Justins. Er sah sie reumütig an, als hätte er sie betrogen. Sachte sagte sie: „Das war kein Kuss.“ Und lächelte beruhigend. Er schien nicht zu verstehen. „Wenn ein Hund einen abschleckt, ist es doch auch kein Kuss. Es war kein Mensch, also ist es kein Kuss.“, führte sie aus. Noch immer wirkte Justin verunsichert. Er senkte beschämt den Blick. Offenbar glaubte er, dass der Übergriff des Allptraums in ihrer Gestalt etwas Schamhaftes war. „Justin, es ist vorbei.“, versuchte sie ihn zu beruhigen, doch es schien nicht zu helfen, stattdessen verzog sich sein Gesicht noch mehr. „War es so schlimm?“, hakte sie nach. Justin sah sie an, als würde ihn die Antwort innerlich zerfressen. „Ich… für einen Moment.“ Er kniff die Augen zu, als könne er es nicht aussprechen. Sie versuchte, daraus schlau zu werden und ging alle Möglichkeiten durch, kam aber zu keinem Ergebnis. „Was?“ Justin schien sich in Grund und Boden zu schämen. Vivien versuchte, ihre Stimme so sachte wie möglich klingen zu lassen. „Gefiel es dir?“ Justin zuckte zusammen und schüttelte vehement den Kopf. „Ich … wollte, dass du es bist.“ Gequält presste er hervor: „Es tut mir leid.“ „Wieso entschuldigst du dich dafür?“, fragte sie vorsichtig. „Ich wusste, dass es der Allptraum ist. Trotzdem, für deinen Moment…“ „Justin. Du hast nichts falsch gemacht.“, versicherte sie ihm. Zaghaft blickte er sie an. Sie sprach weiter. „Ich habe dich geküsst, als du dich nicht wehren konntest. Das war nicht in Ordnung.“ Betreten senkte sie den Blick. „Und jetzt erinnerst du dich nicht mal.“ Eine Pause entstand.   Justin wurde seltsam zumute. Er erinnerte sich an das Gefühl ihrer Lippen und sein Herzschlag schien kurz auszusetzen. „Ich… Ich dachte, ich hab es mir nur eingebildet. Eben.“ Plötzlich kam wieder mehr Elan in Viviens Stimme, fast hoffnungsvoll rief sie aus: „Also erinnerst du dich?“ Justin spürte die wohlbekannte Hitze sein Gesicht einnehmen und wendete sich verlegen ab. Das war also wirklich geschehen? Vivien… Vivien hatte ihn wirklich…? Ihn? Dann kam die jähe Ernüchterung. „Tut mir leid, ich bin sicher kein guter Küsser.“ Vivien wurde laut: „Du warst halb ohnmächtig! Ich hätte das gar nicht tun dürfen! Aber…“, fügte sie in sanfterem Ton hinzu, „…ich war glücklich, dich zu küssen.“ Sie senkte ihr Haupt. „Tut mir leid. Ich muss nicht mal von einer Plage besessen sein, um dir was anzutun.“ Hatte sie gerade wirklich gesagt, sie war glücklich, ihn zu küssen? Er war sprachlos. Sie wurde wieder laut und sah ihm dabei direkt in die Augen. „Ich wollte das einfach schon so lange!“ Er fühlte sich so extrem geschmeichelt, dass er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Vivien hatte ihn küssen wollen? „Das versteh ich noch nicht so ganz.“, gestand er. „Wenn ich dürfte, würde ich dich den ganzen Tag küssen!“, rief sie. Sie klang so überzeugt, dass sein ganzer Körper von Hitze heimgesucht wurde. „War das zu viel?“, fragte sie unsicher. „Ein bisschen.“, flüsterte er beschämt. „Ich will dich nicht in Verlegenheit bringen.“, versicherte sie ihm. „Oder dass du dich schämst. Oder dich unwohl fühlst. Oder keine Ahnung.“ Justin schluckte. Er musste aufhören, sich wie ein kleines Kind zu benehmen. „Du kannst nichts dafür. Das ist meine Schuld.“, erwiderte er. „Ich stelle mich doof an.“ „Tust du nicht.“, widersprach sie. „Ich will deine Gefühle respektieren und immer auf dich Rücksicht nehmen.“, verkündete sie. Er fühlte den Impuls zu lächeln, aber durfte er das wirklich annehmen? Durfte er das wirklich glauben? Viviens Stimme erklang erneut. „Entschuldige, ich hab das so gesagt, als könnten wir zusammen sein. Aber ich … ich werde ... ich versuche dir Zeit und Raum zu lassen und dich nicht zu bedrängen! Versprochen! Egal, wie schwer es mir fällt!“ Justin spürte dieses leise Glücksgefühl in sich, das er sich seit Monaten immer wieder ausgeredet hatte, das er so unterdrückt hatte, weil es unmöglich erschien. Es war undenkbar gewesen, dass sich Vivien in ihn verliebte. Wirklich verliebte. „Du willst mit mir zusammen sein?“ Das war wohl eine blöde Frage, nach allem, was sie gerade gesagt hatte. Er wusste nur nicht, was er…, wie er … Sein Verstand schien nicht richtig zu arbeiten. „Natürlich!“, rief sie mit Nachdruck. „Ich will immer mit dir zusammen sein. Ich meine, ähm, ich freue mich über alles, was ich von dir aus darf. Wenn du Abstand brauchst...“ Sie brach ab und sah ihn ängstlich an. Das Gefühl in seiner Brust wurde immer stärker. „Du willst wirklich mit mir zusammen sein?“, „Ja!“ Ihre Hand legte sich auf die seine und ihr Blick war so aufrichtig und ehrlich. „Ich liebe dich.“ Wie konnte er dieser wundervollen Frau gerecht werden? „Ich bin bestimmt kein guter Freund. Ich hab keine Ahnung, wie … Ich mache dich sicher unglücklich.“ Vivien zog einen Schmollmund. Dann tat sie einen langen Atemzug. „Wenn du willst, können wir noch warten.“ Irgendwie klang es nicht so, als würde sie warten wollen. „Aber… Du bist der, den ich will. Mit allem, wie du bist. Ich will gar nicht, dass du anders bist. Verstehst du?“ Justin bemerkte wieder, wo sie sich eigentlich befanden. „Wir sollten nicht auf dem kalten Boden sitzen.“ Er stand auf und versuchte, sich zu sammeln. Vivien seufzte resignierend und tat es ihm gleich. „Vivien?“ Sie sah zu ihm und wirkte enttäuscht. Ihre vorige Reaktion kam ihm wieder in den Sinn. Wie sie gesagt hatte, dass sie ihn die ganze Zeit geliebt hatte. All das Leid nur wegen ihm?  „Es tut mir leid, dass ich … ich bin.“ „Sag so was nicht!“ Ihr Gesicht sah bei den Worten aus, als täte ihr das weh. Doch Justin ließ sich nicht beirren. „Du hast gesagt, dass ich egoistisch bin und nicht auf deine Gefühle eingehe. Und … ich hab das nicht verstanden, aber …“ Er stockte: „Du hast mich einen Lügner genannt.“ „Das –“ Justin gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie ihn ausreden lassen sollte. „Wieso willst du mit so jemandem zusammen sein? Der feige ist und immer nur an sich denkt.“ „Weil ich glaube, dass du nicht so bist!“, rief sie. „Es tut mir weh, wenn du bei allem, was ich tue, denkst, dass ich nur Scherze mache. Ich weiß manchmal nicht, warum du so über mich denkst.“  Sie sah zu ihm auf. „Ich will, dass du mich so siehst, wie ich wirklich bin. Es war so schwer, dir nicht einfach um den Hals zu fallen und dich zu küssen! Aber… ich wusste, dass du das nicht willst.“ Ihr Blick war durchdringend. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit du meine Gefühle ernst nimmst. Damit du mir vertraust!“ Justin begriff mit einem Mal, dass ihr ganzer Streit über ihre Vorgehensweise bezüglich Secret schon genau dieses Thema angeschnitten hatte. Sie hatte gewollt, dass er ihr vertraute. „Ich zweifle nicht an dir, ich zweifle an mir.“ „Das tut mir genauso weh!“, erklärte sie. Justin tat einen langen Atemzug, um Mut zu fassen. Entschlossen trat er auf Vivien zu. „Darf ich wirklich glauben, dass du mich willst?“ „Ja!“, rief Vivien, als wisse sie nicht, wie oft sie es noch wiederholen musste. Mit der Linken ergriff er sachte ihre Rechte. Er sah ihr fest in die Augen. „Ich will mit dir zusammen sein.“ Vivien grinste. Kurz war er unsicher, ob sie sein Verhalten lächerlich fand. Er schüttelte das Gefühl ab. Er hatte schon genug Zeit mit Unsicherheit verschwendet. „Darf ich?“   Sie nickte leicht belustigt. Dass er das nochmals fragen musste! Sie hatte doch jetzt oft genug gesagt, dass sie mit ihm zusammen sein wollte! Dennoch fand sie es süß und eigentlich hätte sie sich wohl denken können, dass er sie das noch mehrfach fragen würde. Erst im nächsten Moment begriff sie, welche Erlaubnis er in Wirklichkeit eingeholt hatte.  Er beugte sich zu ihr und … Seine Lippen trafen ihre. Sie waren nicht mehr kalt wie zuvor. Vivien konnte nicht anders, sie entriss ihm ihre Hand und schlang ihre Arme um seinen Hals. hielt ihn in dem Kuss gefangen. Gott! Endlich! Sie öffnete ihre Lippen. Justin zuckte zurück, was sie aufgrund des Größenunterschieds nicht unterbinden konnte. Mit völlig fassungslos scheuem Gesichtsausdruck starrte er sie an. Sie konnte nicht umhin spitzbübisch zu grinsen, was ihn noch verschämter werden ließ. Aber man konnte ihr doch nicht verdenken, dass sie sich nach all der Zeit nicht mehr hatte zurückhalten können! „Unangenehm?“, hakte sie nach. Justin zog ein komisches Gesicht, als wisse er nicht, was er darauf antworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Krieg ich jetzt jeden Tag einen?“, freute sie sich. Justin schien darauf nicht antworten zu können, noch immer wirkte er von der Situation überfordert. Daher sprach Vivien in sanfterem, möglichst beruhigendem Ton weiter. „Wir machen einfach, was uns beiden gefällt.“ Auf diese Worte hin schaute er jedoch noch beschämter und errötete erneut. Sie konnte nicht unterdrücken, einen kurzen belustigten Ton von sich zu geben. Die absurde Idee, er könne dabei an mehr gedacht haben, freute sie einfach unverhältnismäßig stark, schließlich war er immer so furchtbar kontrolliert, wenn es um körperliche Nähe ging. Aus einem Impuls heraus, warf sie sich in seine Arme und schmiegte sich an ihn, auch wenn das wegen ihrer Winterjacken nicht ganz befriedigend war. Er erwiderte die Umarmung nicht sofort, aber das war okay. Endlich spürte sie, wie er seine Arme um sie legte. „Ich liebe dich auch.“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ihr das noch nicht gesagt hatte. Sie versuchte, sich noch mehr an ihn zu kuscheln und ihre Freude entlud sich in einem Kichern. „Ich bin so glücklich!“ Sie entfernte sich ein wenig von ihm, um sein Gesicht sehen zu können. Er lächelte ein sanftes, stilles Lächeln. Und für sie drückte das noch viel mehr aus, als es Worte getan hätten. Sie ergriff seine Hand. „Wollen wir nach Hause?“ Er nickte. Kapitel 137: Gefühlsknospen - Viviens und Justins Kennenlernen --------------------------------------------------------------  Gefühlsknospen – Viviens und Justins Kennenlernen   „Es gibt Begegnungen mit Menschen, die uns vom ersten Augenblick ein Interesse abgewinnen, bevor wir noch ein Wort mit ihnen gesprochen haben.“ (Fjodor Michailowitsch Dostojewski in: Schuld und Sühne)   Vivien war innerlich völlig aufgedreht. Wenn er sie gelassen hätte, hätte sie nicht gewusst, was sie mit ihm angestellt hätte. Sie wusste einfach nicht, wohin mit all diesen Gefühlen, die sie seit einer gefühlten Ewigkeit unter Kontrolle hatte halten müssen. Sie wollte ihm auf tausend verschiedene Arten und Weisen zeigen, dass sie ihn liebte, es ihn spüren lassen, begreifen lassen. Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte! Am liebsten wäre sie freudig kreischend durch die Gegend gesprungen! Wohin nur mit all dieser Energie?! Stattdessen strahlte sie einfach über das ganze Gesicht und konnte nicht anders, als während des Weges freudig zu hüpfen, während er ihre Hand hielt. Von außen sah das bestimmt komisch aus. Wie ein älterer Junge, der sich um sein kleines aufgedrehtes Geschwisterchen kümmerte. Aber das war ihr egal! Sie konnte ja nichts dafür, dass sie durch ihre Größe immer auf jünger geschätzt wurde – und aufgrund ihres Verhaltens – während Justin so eine verantwortungsvolle, erwachsene Ausstrahlung hatte und dadurch irgendwie älter wirkte. Nur wenn er so beschämt schaute, hatte er etwas von einem kleinen Jungen. Sie liebte es, dass er einfach beides sein konnte. So reif und erwachsen und gleichzeitig so süß und unschuldig. Das war es, was ihr schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. „Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?“, fragte sie Justin. Verlegen nickte er, als wäre das selbstverständlich.   Vier Monate zuvor, Anfang August: Vivien bog in ihre Straße ein und sah ihre Mutter sich mit einer Dame unterhalten, die sie nicht kannte. Neben dieser stand ein Junge, ungefähr in ihrem Alter, mit im Sonnenlicht rötlich schimmernden braunen Haaren. Stumm verfolgte er das Gespräch und hielt dabei im Arm eine Papiertüte und in der anderen Hand einen Stoffbeutel. Er wirkte dabei ernst und supererwachsen. Ungeniert gesellte sich Vivien einfach zu dem Gespräch hinzu. „Hallo!“ Als hätte sie ihn erschrocken, starrte der Junge sie mit großen Augen an. Gut gelaunt lächelte sie zurück. Zu ihrer Überraschung wurde er augenblicklich rot und sah verlegen zu Boden. Noch nie hatte ein Junge auf diese Weise auf sie reagiert. Das war irgendwie aufregend! Unwillkürlich musste sie kichern. Er trug ein kurzärmliges Karohemd und zerschlissene Jeans. Nicht die Art von Jeans, die absichtlich ramponiert aussah, sondern so als hätte er darin schon viel Arbeit verrichten müssen. Irgendwie war das attraktiv. Die Erklärung ihrer Mutter, dass es sich um die neuen Nachbarn handelte, lenkte sie kurz ab. „Das ist meine älteste Tochter, Vivien.“, stellte ihre Mutter sie vor. Vivien entging nicht, dass der hübsche Junge zu ihr linste. Doch sobald sie in seine Richtung sah, schaute er schleunigst wieder weg. Was war das niedlich! Als wäre er ein scheues Reh oder so was. Während sich ihre und seine Mütter wieder mit anderen Themen beschäftigten, versuchte sie, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. „Du wohnst also jetzt gegenüber?“ Er nickte bloß und sah weiterhin zu Boden. „Dann werden wir uns bestimmt öfter sehen!“ Wieder nickte er. „Soll ich dir mit den Einkäufen helfen? Wir können sie doch reinbringen.“ Die unpraktische Papiertüte besaß keinen Tragegriff, weshalb er sie an sich gedrückt halten musste. Ohne Umschweife griff sie danach, um ihm die Last abzunehmen, dabei streifte sie mit ihrer nackten Haut seinen Arm. Er fühlte sich unglaublich warm an. Augenblicklich zuckte er so heftig zusammen, dass ihm die Tüte aus der Hand rutschte und sich die Äpfel darin über den Boden verteilten. Eilig bückte er sich, um die Äpfel wieder einzusammeln. Vivien tat es ihm gleich. Doch als sie nach demselben Apfel greifen wollte und sich ihre Finger begegneten, zuckte er zurück und sah sie direkt an. In diesem Moment erst fielen ihr seine sanften braunen Augen auf. Dieser Junge strahlte etwas so Argloses und Aufrichtiges aus, dass es sofort Vertrauen in ihr weckte. Das breite Lächeln, das auf ihre Lippen trat, war nicht mal intendiert. Anstatt den Blick erneut zu senken, starrte er sie ängstlich an. Daraufhin musste sie noch freudiger lächeln. Aber offenbar verstand er das falsch und dachte, sie fände sein Verhalten belustigend. Sofort konzentrierte er sich wieder auf die Äpfel und packte sie zurück in die Tüte. Sie wollte ihm dabei helfen. Doch jedes Mal, wenn sie dazu näher an ihn herankam, wirkte er verlegen. Sie fand das unsagbar niedlich, denn seine Augen suchten dennoch immer wieder ihren Anblick. „Ich kann dir die Tür aufschließen.“, schlug sie begeistert vor und konnte es kaum erwarten, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Als Antwort blickte er zu seiner Mutter, ohne etwas zu sagen. Folgerichtig wendete sie sich an diese und bekam auf die Nachfrage hin den Haustürschlüssel überreicht. Wie von der ungewohnten Situation nervös ging er mit etwas steif wirkenden Bewegungen zur Haustür und machte ihr Platz. Aus dem Hausinneren schlug ihr eine angenehme Kühle entgegen. Sie trat ein. Dann erst sprach er zum ersten Mal. „Danke.“ Und auf Anhieb verliebte sie sich in seine Stimme. Er klang auf eine Art und Weise männlich, die nichts mit der Stimmtiefe zu tun hatte, sondern mit etwas Beschützendem darin. Sie kicherte. „Du hast eine schöne Stimme.“ Sofort wurde er wieder scheu. „Ich fände es schön, mehr von deiner Stimme zu hören.“, ergänzte sie. Allerdings machte er sich daraufhin klein, als habe sie ihm etwas Gemeines gesagt. Er schlug hastig den Weg in die Küche ein, wohin sie ihm folgte. Dort angekommen, stellte er den Stoffbeutel und die Papiertüte auf die Arbeitsfläche. „Ich meine, ich fände es schön, dich besser kennenzulernen!“, erklärte sie, um Missverständnisse auszuschließen. Sie wollte auf keinen Fall, dass er ihre kichernde Art missverstand. Einen Moment lang sah er sie an, als spräche sie eine andere Sprache. Dann verzog sich sein Gesicht kurz, als würde er mit sich ringen. „Ich mich auch.“ Jäh geriet er in Eile. „Also nicht mich besser kennenzulernen, sondern –“ Er brach ab und wirkte beschämt. „Du würdest mich gerne besser kennenlernen?“, hakte sie mit schelmischer Freude nach. Wieder machte er ein Gesicht, als würde er annehmen, dass sie sich über ihn lustig machte. „Hast du was zu schreiben?“, fragte sie strahlend, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Als wäre er froh, etwas zu tun zu haben, brachte er ihr eilig Stift und Notizblock. Sie notierte ein paar Zahlen und ihren Namen. Freudig streckte sie ihm den Block hin. „Das ist meine Handynummer.“ Zaghaft nahm er den Notizblock entgegen, als verstünde er nicht, was das zu bedeuten hatte. „Aber du kannst auch einfach mal zu uns rüberkommen. Ich wohne ja direkt gegenüber.“ Wieder kicherte sie. Und merkte, dass ihre Aufgeregtheit, etwas zu heftig wurde. „Oder wir unternehmen etwas zusammen. Nur wir zwei.“ Wieder schaute er sie so an, als hielte er sie für eine Geisterscheinung. „Ich könnte dir Entschaithal zeigen!“, schlug sie eifrig vor. Leise antwortete er: „Ich komme aus Entschaithal.“ „Achso.“ Wieder drang ihr Kichern aus ihr heraus wie eine Verlegenheitsgeste. „Dann zeigst du mir Entschaithal.“, scherzte sie. Zu ihrem Leidwesen ging er nicht darauf ein. „Wir finden schon was!“, rief sie übertrieben euphorisch, um ihre gute Laune aufrechtzuerhalten. In dem Moment fiel ihr ein, dass manche Menschen ihre aufdringliche Art unangenehm fanden. Sie wurde kleinlauter. „Also, wenn du willst, meine ich...“   Endlich erklang wieder seine schöne, ruhige Stimme, wenn auch leise. „Gern.“ Sie konnte nicht umhin, begeistert in die Hände zu klatschen. Sofort erinnerte sie sich daran, dass die anderen Mädchen bei den Pfadfindern diese Eigenart von ihr als nervig ansahen. Doch dieser Junge schaute nicht genervt. Er lächelte. Ein verhaltenes, liebes Lächeln, als fände er sie süß. Das brachte ihr Herz endgültig zum Schmelzen. Sie wurde sogar ein wenig verlegen, was sie so von sich nicht kannte. „Ich sollte dann wohl mal wieder gehen.“, sagte sie mit einer etwas zu hektischen Bewegung ihres Arms. „Ich zeige dir, wo es rausgeht!“, sagte er entschlossen und lief an ihr vorbei zur Küchentür. Sie unterdrückte ein Lachen, aber ihm wurde wohl in dem Augenblick auch so klar, dass die Aussage ziemlich komisch klang. Dennoch führte er sie zur Haustür, wo sie erkannte, dass er wieder rot geworden war. Sie blieb stehen und sah ihn nochmals an, wollte den Moment in die Länge ziehen. „Du hast mir deinen Namen noch gar nicht verraten.“ Peinlich berührt antwortete er „Justin.“, als würde er sich für den Namen schämen. „Ich bin Vivien.“ „Ich weiß.“ Justin riss den Blick zu ihr. „Ich meine, deine Mutter hat das vorhin gesagt!“, rief er aus, als fürchte er für einen Stalker gehalten zu werden. Vivien kicherte. „Ich mag dich.“ Justins Augen wurden groß. Er schaute, als hätte ihm das noch nie jemand gesagt. Wie konnte jemand nur so männlich und so süß zugleich sein? „Ich freu mich drauf, dich wiederzusehen!“, fuhr sie fort. Sie wollte noch nicht gehen.  Zögerlich antwortete er: „Ich mich auch.“ Eilig ergänzte er: „Dich wiederzusehen!“ Wieder schien er sich zu schämen. Sie sog seinen Anblick einen weiteren Moment in sich auf. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, einen weiteren Schritt auf ihn zu zu machen, nochmals die Wärme seiner Haut zu spüren, aber eine plötzliche Nervosität verhinderte das. Sie war so aufgeregt. „Bis bald.“ Sie wartete darauf, dass er den Abschiedsgruß erwiderte. Schon allein, um nochmals seine Stimme zu hören. „Bis bald.“, sagte er in seinem ruhigen Ton. Nochmals strahlte sie ihn an, hoffte, eine Reaktion von ihm zu bekommen. Tatsächlich stahl sich ein schwaches, geradezu ängstliches Lächeln auf seine Lippen. Davon musste sie umso breiter grinsen. Eilig wandte sie sich ab und hüpfte vor freudiger Erregung nach draußen.   „Weißt du, dass ich wochenlang darauf gewartet habe, dass du mir schreibst? Du hättest ruhig sagen können, dass du kein Handy hast!“, eröffnete sie ihm und zog einen Schmollmund. „Tut mir leid.“, sagte Justin, als befürchte er, dass sie wirklich sauer deswegen war. Vivien lachte und schmiegte sich an seinen Arm. Offensichtlich wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte, er lief einfach weiter. Vielleicht war es ihm auch peinlich, dass andere Leute sie sehen konnten. Aber ihr war das egal. Sie hatte zu lange hierauf gewartet. Sie kicherte vor Glück. Kapitel 138: Unverstandene Gefühle - Kollision ---------------------------------------------- Unverstandene Gefühle – Kollision   „Was Alleinsein heißt, weiß, wer sich unverstanden fühlt, und das fühlen wir uns alle zuweilen.“ (Paul Schibler)   „Wir sind zusammen!“, schrie Viviens überschwängliche Stimme durch das Telefon. „Was?“, fragte Serena, als verstünde sie überhaupt nicht, worum es ging. Vivien rief überfreudig: „Justin und ich!“ Sie hatte eine Telefonkonferenz mit Ariane und Serena ins Leben gerufen, mit der Begründung, sie habe ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen und wolle nicht bis morgen warten. Einen kurzen Moment war Ariane von der Eröffnung zu sehr geplättet, um etwas darauf zu entgegnen. „Wie das?“, fragte Serena gerade heraus. Ariane fand das ziemlich taktlos, auch wenn sie selbst von Viviens Behauptung völlig irritiert war. „Also das war so.“, begann Vivien und erzählte ihnen bis ins Detail genau, was zwischen ihr und Justin vorgefallen war. Ariane hatte Vivien noch nie so viel erzählen hören. An manchen Stellen konnte sie Viviens Gedankengänge allerdings nicht nachvollziehen. Vivien hatte Justin einfach so geküsst, obwohl er gerade eine Art Nervenzusammenbruch gehabt hatte? Das war … übergriffig. Aber offenbar war sich Vivien dessen bewusst. „Und jetzt sind wir ganz offiziell zusammen!“, beendete Vivien ihre Ausführungen und kicherte noch viel aufgedrehter als sonst. Ariane hatte nicht geglaubt, dass das überhaupt möglich war. „Glückwunsch.“, sagte sie etwas betreten. Sie wusste nicht recht, wie sie sonst darauf reagieren sollte. Sie hatte zwar schon öfters mitbekommen, wenn Freundinnen in jemanden verliebt gewesen und dann mit der Person zusammengekommen waren – in diesen Fällen hatte sie auch aus vollem Herzen sagen können ‚Ich freue mich für dich.‘ – aber irgendwie hatte Vivien vorher noch nie mit ihr darüber gesprochen, was sie für Justin empfand. Solange sich Ariane erinnern konnte, hatte Vivien nur angedeutet, dass sie über Justins Gefühle im Bilde war. Aber dass sie umgekehrt genauso fühlte, war Ariane neu. Irgendwie fühlte sie sich davon ziemlich überrumpelt. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass Vivien Justins Nähe suchte und ihn mehr als einmal in … nunja, persönliche Situationen brachte, aber von ihrem Verhalten her war für Ariane nicht ersichtlich gewesen, ob Vivien es nicht einfach nur genoss, Justin verlegen zu machen und ihre weiblichen Reize an ihm auszutesten. Da Vivien eine Vorliebe dafür hatte, andere aus ihrer Komfortzone zu holen, hatte Ariane auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Vivien ihn mit ihrem Verhalten gezielt an die Nähe zu weiblichen Personen gewöhnen wollte, damit er seine Schüchternheit allmählich ablegte und es ihm dadurch irgendwann gelang, eine Beziehung einzugehen. Alles in allem hatte Ariane daher angenommen, dass Justin Viviens bester Freund war, aber nicht mehr. Serenas Stimme ertönte. „Hast du Justin darauf angesprochen? Auf diese Reaktion?“ War das ernsthaft die Frage, die sie Vivien jetzt stellen wollte? Ariane hielt das für ziemlich unangebracht, auch wenn Serenas Stimme ungewohnt sanft klang. „Nein.“, gestand Vivien leise. Serena sprach weiter. „Offenbar ist etwas in seiner Vergangenheit passiert, weswegen er so reagiert hat.“ Vivien gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Ich wollte ihn nicht an etwas Unangenehmes erinnern.“ Ihre Stimme war nun gedämpft, fast bedrückt. Ariane fürchtete, dass Serena mit ihren Fragen Viviens Laune noch ganz verderben würde, und rang sich nun selbst zu Worten durch: „Serena, anstatt über solche Dinge zu reden, solltest du dich mit ihr freuen.“ „Ich freue mich doch für sie.“, murrte Serena verstimmt und fügte dann geradezu beleidigt hinzu: „Wirklich!“ Vivien kicherte wieder. „Danke!“ Einen Moment herrschte Stille, dann erhob Vivien nochmals die Stimme, allerdings klang sie so ungewohnt unsicher, dass Ariane sie fast nicht erkannt hätte. „Denkt ihr, ich kann Justin wirklich darauf ansprechen? Ich will nicht, dass er sich irgendwie unwohl fühlt oder traurig wird.“ Ariane war von Viviens Worten überrascht. Auch wenn sie gelernt hatte, dass Vivien sehr viel sensibler und bedachter war, als ihr aufgedrehtes Verhalten es vermuten ließ, war es so ungewohnt, dass Vivien diese Seite offen zeigte. Irgendwie wurde ihr jetzt erst bewusst, dass sie noch nie ein wirkliches Gespräch mit Vivien geführt hatte. Vivien war immer auf eine gewisse Art auf Abstand geblieben. Oder kam ihr das nur so vor? Serena antwortete: „Du hast bestimmt noch genug Gelegenheiten, Justin darauf anzusprechen. Und vielleicht hat sich das ja erledigt und ich sehe das einfach nur wieder zu negativ. Du kennst mich doch.“ „Du bist nicht negativ.“, meinte Vivien liebenswürdig. „Du bist einfühlsam.“ Ariane war sich nicht ganz sicher, ob sie dem zustimmte. Allerdings fand sie es lieb von Serena, dass sie nun versucht hatte, etwas sensibler zu sein. „Es ist sicher besser, keine alten Wunden aufzureißen.“, klinkte Ariane sich ein. „Wenn Justin darüber reden will, wird er es schon tun.“ Serena widersprach: „Man erzählt so etwas doch nicht ohne Anlass. Justin denkt doch eh immer, dass er andere nur belastet und alles mit sich selbst ausmachen muss. Vivien muss ihn schon darauf ansprechen und ihm das Gefühl geben, dass sie für ihn da sein will.“ Ariane war kurz von Serenas Aussage baff. Hatte Serena tatsächlich so einen Einblick in Justins Charakter gehabt? Viviens Stimme klang hoffnungsvoll, doch keineswegs aufgedreht. „Ich will ihm zeigen, dass er bei mir er selbst sein kann.“ Serena antwortete: „Solange er Angst hat, dich damit nur zu belasten, wird er sich dir nicht öffnen. Wenn er sich selbst nicht gestattet, dir seine Schwäche zu zeigen, kannst du nichts machen.“ Vivien gab ein trauriges „Hm“ von sich. Ariane meldete sich zu Wort. „Serena, du machst Vivien nur traurig. Dabei sollte sie sich doch freuen, dass Justin ihre Gefühle angenommen hat.“ „Vielleicht geh ich direkt zu ihm!“, rief Vivien plötzlich. „Was?“, stieß Ariane entsetzt aus. „Ich will ihm sagen, dass er mir alles erzählen kann und dass ich ihn verstehen will!“, verkündete Vivien überzeugt. „Vivien, so einfach ist das nicht.“, wandte Ariane ein. „Man kann sich nicht so plötzlich einem anderen Menschen öffnen, egal wie gut derjenige es meint. Das kostet Überwindung.“ „Ich will ihm zumindest zeigen, dass es mich interessiert, auch wenn er sich dann nicht öffnet.“, entgegnete Vivien. „Ich weiß wirklich nicht, ob das eine gute Idee ist.“, versuchte Ariane sie nochmals davon abzuhalten. „Danke!“, rief Vivien aus. „Bis dann!“ „Vivien!“ Die Verbindung brach ab. Das… das durfte doch nicht wahr sein! Eilig wählte Ariane Viviens Nummer. Vivien nahm nicht ab. Sie wollte doch jetzt nicht wirklich direkt zu Justin rübergehen! Ariane stieß die Luft aus, Empörung kam in ihr auf. Sie wählte Serenas Nummer. Ohne ein Wort des Grußes fuhr sie Serena direkt an: „Wie konntest du ihr solche Flausen in den Kopf setzen? Denkst du nicht, dass Justin von der ganzen Situation eh schon überfordert ist?“ „Es geht mir aber nicht um Justin, sondern um Vivien.“, antwortete Serena hart. „Ist dir überhaupt klar, dass sie sich ihm zuliebe die ganze Zeit zurückgehalten hat? Sie hat dauernd Rücksicht genommen, um ihn nicht zu überfordern. Es wird langsam Zeit, dass er ihr das auch mal zurückgibt!“ „Wovon redest du?“, verlangte Ariane zu erfahren. „Vivien zeigt keinem von uns ihre Schwäche. Aber sie ist eigentlich sehr verletzlich. Sie versucht bloß immer stark zu wirken, weil sie niemanden damit belasten will.“, entgegnete Serena. „Denkst du nicht, dass du da zu viel reininterpretierst?“, fragte Ariane. Serena schwieg, als wäre sie sauer über die Unterstellung. Ariane unterdrückte ein lautstarkes Seufzen. „Was soll das bringen, wenn sie jetzt zu ihm geht? Das wird im Chaos enden!“ „Denkst du nicht, dass Justin sicherer wird, wenn er sieht, dass sie auch nur ein Mensch ist?“, hielt Serena ihr entgegen. „Er versteht gar nicht, wie sehr sie ihn liebt!“ Kurz hielt Ariane inne und fragte sich, woher Serena über Viviens Gefühle Bescheid wusste, dann besann sie ich auf den Anlass des Telefonats. „Sie will ihn jetzt ohne Vorwarnung auf seine Vergangenheit ansprechen. Wir sollten sie davon abbringen!“ „Dafür ist es wohl schon zu spät.“ Frustriert warf Ariane den Kopf in den Nacken. „Nur weil du ihr das eingeredet hast.“ Serena stöhnte. „Du verstehst einfach gar nichts.“ „Was soll das heißen?“, forderte Ariane zu erfahren. „Vivien kann nicht für immer auf Justin Rücksicht nehmen! Er muss auch mal ertragen, dass sie Dinge tut, die ihn nicht schonen.“ „Und das von dir.“, murrte Ariane. Serena zischte: „Ich weiß es ja wohl am besten.“ Ariane bemühte sich, sich wieder zu beruhigen und ihre Aufregung nicht an Serena auszulassen. „Tut mir leid.“, sagte sie versöhnlich. „Ich mache mir einfach nur Sorgen.“ „Warum?“, fragte Serena unverständig. „Weil… Ich weiß nicht. Ich möchte nicht, dass etwas passiert, das Vivien bereut. Gerade jetzt, wo Justin sich ihr geöffnet hat.“ Wenn es stimmte, was Vivien gesagt hatte – und sie hatte keinen Grund gehabt zu lügen – war sie schon so lange in Justin verliebt gewesen. War es da nicht wahnwitzig, ihn direkt mir so etwas zu konfrontieren? „Manchmal muss man Menschen aus ihrer Komfortzone holen, damit sie über sich hinauswachsen können.“ Ariane konnte nicht fassen, dass so ein Satz ausgerechnet von Serena kam. Nun wurde Serenas Stimme kleinlaut und sanft: „Das habt ihr bei mir getan. Wenn ihr mich nicht gefordert hättet, dann wäre ich immer noch so.“ Ariane stockte. Serenas Worte waren so ungekannt aufrichtig. Das kannte sie so nicht von ihr. Serena fuhr fort„Vitali und Vivien haben mich immer genötigt, mich zu öffnen. Du und Justin habt mich so sein lassen, wie ich war. Und Erik hat mich verstanden. Alles zusammen hat mir geholfen, anders zu werden. Weil ihr mir Vertrauen geschenkt habt.“ Ariane glaubte, aus Serenas Stimme herauszuhören, dass sie kurz den Tränen nahe war. „Ich möchte, dass Justin auch sieht, dass er so sein darf wie er ist. Und ich möchte, dass auch Vivien sich zeigen darf wie sie ist.“ Ihre Tonlage kam Ariane regelrecht liebevoll vor. Dass Serena plötzlich so offen, ehrlich und mitfühlend war, überforderte Ariane für einen Augenblick. „Danke.“, sagte sie vorsichtig. „Dass du mir das gesagt hast.“ Serena schwieg.. Die Erkenntnis, dass sie Serena völlig unterschätzt hatte, traf Ariane. Irgendwie hatte Serena auf sie immer so gewirkt, als wäre ihre größte Sorge, sich selbst zu schützen. Aber nun musste sie einsehen, dass sie sich das eingeredet hatte. Genau wie bei Erik. Hatte sie nicht ihnen beiden vorgeworfen, härter zu sein als sie waren? Und auch den anderen… Justin war der einzige gewesen, von dem sie geglaubt hatte, so sanftmütig zu sein. Dass Vitali viel sensibler war, als er zeigte, war ihr zwar schon von Anfang an aufgefallen, aber erst bei ihrem Gruppengespräch hatte sie erkennen dürfen, dass Vitali sich viel mehr Gedanken machte, als es schien, und dass Vivien viel unsicherer war, als Ariane es jemals für möglich gehalten hatte. Irgendwie schämte sie sich, dass sie ihre eigenen Freunde so wenig kannte und so falsche Bilder von ihnen hatte. „Du und Vitali“, sagte Serena leise. „Ich verstehe nicht, was ihr denkt.“ Ariane war verwundert, dass Serena das ansprach. „Wie meinst du das?“, fragte sie. „Wie soll ich das wohl meinen?“, schimpfte Serena, jäh wieder übellaunig. „Wie ich es gesagt habe. Ich kapiere nicht, was Vitali und du denkt. Als wärt ihr Aliens!“ ‚Freundlich.‘, dachte Ariane verkniffen. Dabei waren doch Vitali und sie diejenigen, die am deutlichsten zeigten, was sie dachten. Vitali war schließlich so expressiv und extrem ehrlich, ihm war immer anzusehen, was er fühlte. Auch wenn er manchmal furchtbar trampelig sein konnte. Mittlerweile ging Ariane davon aus, dass das eine Art Schutzmechanismus von ihm war. „Wir sagen doch, was wir denken.“ „Tut ihr nicht.“, widersprach Serena. „Und das kannst du beurteilen, weil?“, verlangte Ariane empört zu wissen. „Weil Vitali nicht sagt, was er denkt. Und du.“, Serena unterbrach sich. „Du zeigst überhaupt nicht, was in dir vorgeht.“ Ariane stockte. Was sollte denn das heißen? Sie war immer ehrlich im Gegensatz zu Serena! Sie zeigte sehr wohl, was sie fühlte! Sie war immer ehrlich! „Vergiss es.“, wisperte Serena. „Tu ich auch!“, antwortete Ariane patzig. Dass ausgerechnet Serena ihr Unehrlichkeit vorgeworfen hatte, empörte sie. Sie hasste es zu lügen und – Es machte sie so wütend, dass Serena ihr so etwas unterstellte! „Ich bin nicht unehrlich!“, schimpfte sie. Serena reagierte nicht. Das brachte Ariane nur noch mehr auf. „Nur weil ich nicht so negative Empfindungen habe wie du, heißt das nicht, dass ich nichts fühle! Ich zeige, was ich fühle! Ich – Ich bin ehrlich!!!“ Wieder sagte Serena nichts. Ariane spürte Tränen der Wut in sich aufsteigen. Wie konnte ausgerechnet Serena ihr Unehrlichkeit vorwerfen! Serena, die einfach nie ehrlich mit ihren Gefühlen war! Serena, die immer alle ausschloss und von dem Schlechtesten ausging! Serena, die immer gemein zu Vitali war, obwohl sie ihn wohl doch irgendwie mochte, so absurd das Ariane auch erschien. Die Unehrliche war Serena, nicht sie! „Du bist diejenige, die nie sagt, was sie fühlt!“, schrie sie. Serenas Stimme blieb unerwartet ruhig. „Es tut mir weh, wenn du das sagst.“ Ariane stockte. Serena setzte fort. „Nur weil du nicht ehrlich mit deinen Gefühlen bist, heißt das nicht, dass du besser bist als ich.“ Ihr Ton wurde abschätzig. „Aber du bist ja immer die Liebe, Nette.“ „Jetzt reicht es!“, kreischte Ariane. „Nur weil ich nicht so gemein wie du bin, heißt das nicht, dass ich keine Gefühle habe!“ „Ich hab dir nie vorgeworfen, keine Gefühle zu haben!“, schrie Serena zurück. Ariane spürte eine unbändige Wut in sich. Sie war so verdammt wütend! „Was hast du mir dann vorgeworfen?!“, verlangte sie zu erfahren. „Ich hab dir gar nichts vorgeworfen! Ich habe nur gesagt, dass ich nicht weiß, was in dir vorgeht! Du hast daraus gemacht, dass nichts in dir vorgeht.“, verteidigte sich Serena. „Du hast gesagt, ich sei unehrlich!“ „Habe ich nicht!“ „Du hast gesagt, ich bin nicht ehrlich mit meinen Gefühlen!“, schrie Ariane. „Warum schreist du so?“, schrie Serena zurück. „Weil…“ Ariane schnappte nach Luft. „Weil das gemein ist. Ich bin nicht… Ich bin keine Lügnerin.“ Ihr traten Tränen in die Augen. Serenas Stimme wurde weicher. „Ich hab dich nicht Lügnerin genannt.“ Ariane schwieg. „Hat dich schon mal jemand so genannt?“, fragte Serena. „Das geht dich nichts an!“, blaffte Ariane. Jähes Schweigen von der anderen Seite. Ariane rang nach Atem. Serena sagte nichts mehr. Plötzliches Tuten. Serena hatte aufgelegt. Ariane nahm ihr Handy vom Ohr. Es war ihr egal, dass Serena das Telefonat beendet hatte. So was von egal! Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie konnte sie nicht zurückhalten und wusste nicht einmal wieso. Sie weinte einfach.   Erik hörte sein Handy vibrieren. Er griff danach und sah, dass es sich bei dem Anrufer um Serena handelte. Eilig nahm er ab. „Alles ok?“, fragte er besorgt. „Ich hab mich mit Ariane gestritten.“, jammerte Serena. „Mit Ariane?“ Serena antwortete nicht. „Das ist neu.“ Wieder sagte Serena nichts. „Was ist denn passiert?“ „Sie hat gedacht, dass ich ihr unterstelle, eine Lügnerin zu sein. Und dann hat sie gesagt, dass es mich nichts angeht, als ich danach gefragt habe.“ Ihre Stimme ging ins Weinerliche über. „Das sagt Ariane oft.“, meinte er gelangweilt. Er kannte es nicht anders von ihr. Wieder Schweigen von Serena. Erik fühlte sich zu einer Erklärung genötigt: „Das soll heißen, dass sie das nicht auf dich bezogen hat.“ Erneut wartete er vergeblich auf eine Reaktion von Serena. „Wie geht es dir?“, fragte er. Er hörte ein Atemgeräusch. „Ich…“, setzte Serena an, brach aber erneut ab. „Das war heute alles etwas viel für dich.“, sagte Erik. „Du warst besessen, du hast dich mit Vitali gestritten. Du hast dir etwas Ruhe verdient.“ „Ich will mich nicht mit Ariane streiten.“, presste Serena hervor. Erik seufzte und dachte nach. Sollte er Ariane anrufen, um das zu klären? War das nicht übergriffig? Aber Serena war definitiv nicht in der Lage, heute Abend noch ein klärendes Gespräch zu führen. Und sie nahm sich diesen albernen Streit offenbar viel zu sehr zu Herzen, um die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Nach allem, was heute geschehen war, war das wohl auch nicht verwunderlich. Ihre Nerven lagen sicher blank und ihr zu versichern, dass Ariane morgen schon nicht mehr sauer sein würde, war gerade wohl nicht ausreichend. Er seufzte lang. „Ich klär das.“ „Was?“, fragte sie ungläubig. „Vertraust du mir?“ Serenas Zögern war viel kürzer als er angenommen hatte. Es war überhaupt nicht vorhanden. „Ja.“ Aus irgendeinem Grund fühlte sich dieses Ja so viel gewichtiger an, als er es je für möglich gehalten hatte. Er war doch davon ausgegangen, dass sie die Frage bejahen würde! Dennoch brauchte er einen Moment, um dieses Wort zu verarbeiten. „Kannst du so lange warten, bis ich es geklärt habe?“, fragte er. Serena gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Ich meld mich dann. Denk solange nicht mehr daran, ok?“ „Danke, Erik.“ Ihre Stimme klang wirklich von Herzen aufrichtig. Irgendwie rührte ihn das. Es war seltsam, dass sie ihm so vertraute. „Bis dann.“ Erik legte auf. Erst in diesem Moment wurde ihm wirklich bewusst, dass Serena von allen anderen ausgerechnet ihn angerufen, ihn um Hilfe gebeten hatte. Er erinnerte sich, dass sie seine Einweihung in die Wege geleitet hatte. Bisher hatte er sich nichts weiter dabei gedacht, aber nun wurde ihm allmählich bewusst, dass es für Serena einen Unterschied machte, ob er zum Team gehörte oder nicht. Weil er sie ohne Worte verstand. Irgendwie erfüllte es ihn fast schon mit Stolz, etwas für sie tun zu können.   Kapitel 139: Unergründliche Gefühle - Ausgeschlossen ---------------------------------------------------- Unergründliche Gefühle – Ausgeschlossen   „Menschenherz und Meeresboden sind unergründlich.“ (Jüdisches Sprichwort)   Arianes Tränen waren versiegt. Sie war erschöpft und wollte von niemandem etwas sehen oder hören. Ihr Handy mochte ihr den Wunsch allerdings nicht erfüllen, es begann zu klingeln. Sie seufzte und sah nach, ob es sich um Serena handelte. Vielleicht wollte sie sich vertragen oder sich entschuldigen, schließlich war sie diejenige gewesen, die einfach aufgelegt hatte. Doch stattdessen zeigte das Display Eriks Namen an. Ariane legte das Handy wieder weg und ignorierte den Klingelton. Als der Ton noch immer nicht abreißen wollte, stöhnte sie und packte das Handy missgestimmt. „Was willst du?“, zürnte sie. „Alles ok?“, fragte Erik mit entwaffnend sanfter Stimme und brachte sie damit aus dem Konzept. Sie hatte nicht den Nerv, ihm etwas vorzugaukeln. „Nein.“ „Bevor du irgendwas sagst.“, unterbrach er. „Serena hat mich angerufen. Sie hat gesagt, dass ihr euch gestritten habt.“ Ariane zischte: „Das geht dich gar nichts an.“ „Als würde mich das interessieren.“ Ariane schürzte grimmig die Lippen, obwohl Erik das ja ohnehin nicht sehen konnte. „Und was willst du jetzt von mir hören?“ Eine Pause entstand. „Es ist nicht deine Art, dich zu streiten.“ „Du meinst, außer mit dir?“ „Du weißt, wir streiten nicht.“, sagte er ruhig. Der Satz brachte sie durcheinander. Kleinlaut gestand sie: „Sie hat mich einfach wütend gemacht.“ „Sie oder was sie gesagt hat?“ Ariane stieß entnervt die Luft aus. „Wenn du von ihr gehört hast, was war, dann frag doch nicht so blöd!“ Wieder trat eine Pause ein. Das Schweigen machte Ariane nur noch aggressiver. Sie hatte überhaupt keine Lust, mit Erik zu reden! „Es geht mich nichts an.“, bestätigte Erik ihre Worte von zuvor. Was sollte sie denn darauf bitte antworten? Er sprach weiter. „Wir müssen nicht darüber reden. Wir können auch auflegen.“ Was zum? Wieso hatte er sie überhaupt angerufen?! „Ja, leg einfach auf.“, schimpfte sie gereizt. Noch immer klang Eriks Stimme so unpassend sanft. „Willst du das?“ „Wieso fragst du das?“, schrie sie aufgebracht. „Weil es dir schlecht geht.“ Wieder spürte Ariane die Tränen kommen. „Mir geht es nicht schlecht!“ Wieso klang ihre Stimme jetzt so gebrochen? Wieder ließ sich Erik Zeit mit seiner Antwort, als müsse er darüber nachdenken, was er sagte. Wieso verhielt er sich nicht einfach so rücksichtslos wie sonst, damit sie sich nicht so furchtbar unkontrolliert vorkam? Ariane rang nach Atem. Erik seufzte. „Geht’s dir besser, wenn du wütend bist?“ „Was?!“, schrie Ariane ihn an. „Geht es dir damit besser, wenn du wütend bist?“, wiederholte Erik. „Das geht dich gar nichts an!“ „Ja, das hab ich schon verstanden. Ich frage dich auch nicht, damit du mir antwortest. Du brauchst mir gar nichts sagen.“ Ariane war verwirrt. War das sein Ernst? Was dachte er sich dabei? „Was willst du?“, forderte sie verstimmt zu wissen. „Ich will gar nichts.“, antwortete er. „Warum …“ Sie beendete die Frage nicht. „Ich weiß nicht.“, antwortete er. Sie musste daran denken, dass er sie damals, als er so wütend gewesen war – ja, ihr richtige Angst gemacht hatte – sie auch gefragt hatte, warum sie das tat – bei ihm zu bleiben trotz seines aggressiven Verhaltens. Auch sie hatte es nicht gewusst. „Schön blöd…“, maunzte sie, weniger aggressiv, als vielmehr resignierend. Er gab ein kehliges Lachen von sich. Ariane seufzte abgekämpft. „Ich bin einfach wütend!“ „Das ist ok.“ „Daran ist nichts ok!“, rief sie empört. „Ich hasse es, wütend zu sein! Ich will nicht wütend sein! Ich kann mich nicht leiden, wenn ich wütend bin!“ „Aber es gehört nun mal dazu. Manchmal darf man auch wütend sein.“ „Ich nicht.“, sagte Ariane trotzig. „Wieso?“ „Weil ich eben nicht wütend bin!“, schimpfte sie. Wieder lachte Erik. „Das ist nicht witzig.“, schnaubte sie. „Warum darfst du nicht wütend sein?“, fragte Erik nun wieder ernst. „Weil“ Ariane unterbrach sich. „Weil ich eben so nicht bin. Ich bin nicht wütend.“ „Warum nicht?“ „Weil wütende Menschen verbittert und gemein sind!“ Jetzt drang das Lachen aus Eriks Kehle ganz nach oben. „Gut zu wissen.“ „Das ist immer noch nicht witzig!“ „Doch ist es.“ „Nein.“, beharrte Ariane leicht beleidigt. Seine Stimme war bestimmt. „Wütende Menschen wehren sich gegen etwas, das ihnen wehtut.“ „Mir tut nichts weh.“, widersprach Ariane und spürte dabei, dass ihre Brust schmerzte. „Du bist ja auch nicht wütend.“, meinte Erik belustigt. „Ach ja?“, stieß sie aus. „Das hast du doch eben selbst behauptet.“ „Dreh mir nicht das Wort im Mund rum!“, meckerte sie. Gott, sie war gerade wirklich unausstehlich. „Ich hasse es, dass du mich so erlebst!“ „Ich könnte ja auch auflegen.“, entgegnete er leichthin. Ariane seufzte. „Mich macht gerade einfach alles wütend! Ich hasse das!“ „Vielleicht solltest du aufhören, das zu hassen und es einfach hinnehmen.“, empfahl er ihr. „Anscheinend macht es das Ganze nur schlimmer, wenn du dich über dich selbst ärgerst.“ „Sag mir nicht, was ich tun soll.“, murrte Ariane. „Tu ich nicht. Wenn du wütend sein willst, sei wütend. Wenn du dich über dich selbst ärgern willst, dann tu das.“ Ariane gab ein entnervtes Geräusch von sich. „Ich hasse es, dass du gerade der Erwachsenere von uns beiden bist!“ Wieder lachte Erik. „Soll ich lieber wieder kindisch sein?“, fragte er mit diesem provokativ süffisanten Tonfall, den er so oft hatte, wenn er mit ihr sprach. „Mir egal.“, stieß Ariane aus. „Das könntest du bereuen.“, ergänzte Erik. „Als würde ich es nicht jetzt schon bereuen, überhaupt mit dir zu reden.“ Plötzlich seufzte Erik. „Ariane. Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Es geht mich ja offensichtlich auch nichts an. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, damit es besser wird. Und ich habe keine Lösung. Ich will einfach nur für dich da sein.“ Seine Worte brachten sie ins Wanken. Sie wollte ihm sagen, dass er das nicht musste, dass es unnötig war, aber … Irgendwie fand sie es nett, dass er das gesagt hatte. Auch wenn sie immer noch mies gelaunt war. Sie seufzte. „Ich weiß nicht, was los ist. Ich… Als Serena gesagt hat, ich sei nicht ehrlich mit meinen Gefühlen, hat mich das so wütend gemacht! Ich hätte ausrasten können.“ Erik antwortete nicht. Ariane sprach weiter. „Es ist einfach so unfair, mir das vorzuwerfen! Es macht mich so wütend! Sie hat nicht das Recht, mir so was zu sagen!“ „Nein, hat sie nicht.“ Ariane war verblüfft. Sie hatte geglaubt, dass Erik auf Serenas Seite sein würde, schließlich hatte Serena ihn angerufen und nur deshalb hatte er sich bei ihr gemeldet. „Sie hat keine Ahnung, wie du fühlst.“, sprach Erik weiter. Noch immer war Ariane davon überfordert. Wieso gab er ihr denn Recht? Und irgendwie kamen seine Worte ihr bekannt vor. Hatte Serena nicht gesagt, dass sie keine Ahnung hatte, was sie fühlte? „Es macht mich wütend, dass sie nicht sieht, was ich fühle!“, presste sie hervor. „Und was fühlst du?“, fragte er. Ariane antwortete ausweichend. „Es geht nicht darum, dass ich etwas Bestimmtes fühle. Es tut nur weh, gesagt zu bekommen, man könne nicht sehen, was ich fühle. Als wäre ich ein Roboter. Das ist doch gemein.“ „Denkst du, Serena hat das so gemeint?“ „Ja!“, rief Ariane. „Sie versteht nie, was ich fühle! Es geht immer um sie.“ „Und nie um dich?“ Ariane seufzte. „Das klingt so egoistisch.“ „Jeder will sich verstanden fühlen.“, antwortete Erik. „Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Serena mich jemals verstehen könnte. Sie ist… so mit sich selbst beschäftigt und versteht gar nicht, wie ich denke und fühle.“, klagte Ariane. „Und was denkst und fühlst du?“ „Keine Ahnung!“, schrie sie lauter als geplant. „Ich… ich weiß es nicht.“ Wieder war ihr zum Heulen zumute. „Nur weil ich nicht weiß, was ich fühle, bin ich nicht unehrlich.“ „Nein, bist du nicht.“, stimmte Erik ihr zu. „Bin ich unnormal?“, stieß sie aus. Sie wartete auf Eriks Antwort und hörte ihn tief ausatmen. „Ariane, an dir ist alles gut.“ „Warum bin ich dann nicht so wie die anderen?“ Wieder traten ihr Tränen in die Augen. „Ich... ich habe den Eindruck, ich kann sie nicht verstehen. Als Serena vorhin gesagt hat, was Vivien oder Justin fühlt, da… Ich kam mir so dumm vor! Als würde ich das alles nicht sehen. Wieso kann ich das nicht sehen?“ „Musst du das denn?“, fragte Erik. „Ja!“, rief Ariane entschieden. „Ich muss doch sehen, was die anderen fühlen und was in ihnen vorgeht. Aber ich komme mir vor, wie ein Eisklotz, der gar nichts versteht und alles komplett falsch sieht!“ Eriks Lachen erklang. „Das ist nicht witzig.“, wiederholte sie. „Ariane, du bist sehr einfühlsam.“, sagte er sanft. „Bin ich nicht. Ich verstehe überhaupt nicht, was in den anderen vorgeht.“ „Du verstehst doch auch nicht, was in dir vorgeht.“, hielt Erik entgegen. „Na danke…“, brummte sie. „Das ist noch schlimmer.“ „Wieso ist dir das so wichtig?“ „Weil“, setzte Ariane an. „Jeder von euch scheint den anderen irgendwie verstehen zu können. Heute hast du mit Serena geredet, sie vertraut dir so sehr, dass sie dich jetzt angerufen hat, damit du mit mir redest. Du hast mit Justin gesprochen, weil er sich Vorwürfe wegen Vitali gemacht hat. Serena hat offenbar Vivien viel besser verstanden als ich, und anscheinend sogar Justin. Und ich… ich komme mir so ausgeschlossen vor. Ich verstehe gar niemanden und bin niemandem eine Hilfe. Ich fühle mich total nutzlos.“ „Ist es denn das Wichtigste, die Gefühle anderer zu verstehen?“, wollte Erik von ihr wissen. „Ich verstehe gar niemanden.“, klagte Ariane. Erik stieß geräuschvoll die Luft aus. „Das redest du dir ein. Und das weißt du. Serena hat mich nicht angerufen, weil sie dich für einen Eisklotz hält, sondern weil du ihr wichtig bist. Jeder der anderen mag dich. Dafür musst du nicht die Beweggründe von jedem von ihnen verstehen können. Serena und Vitali verstehen einander überhaupt nicht, trotzdem mögen sie einander.“, erklärte er. „Es ist nicht wichtig, immer alles zu verstehen.“ Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Doch etwas ließ Ariane innehalten. „Ich hätte nie geglaubt, dich so einen Satz sagen zu hören.“ Erik schnaubte belustigt. „Denkst du, ich verstehe alles?“ „Nein, aber dass du den Anspruch hättest.“, gestand sie. Erik schwieg einen Moment. Seine Stimmlage änderte sich. „Ich mag es nicht, was du in mir auslöst.“ Ariane stockte. Ihr wurde komisch zumute. Erik fuhr fort: „Trotzdem suche ich deine Nähe.“ Sie musste schlucken. Irgendwie lösten seine Worte und der ungewohnte Klang seiner Stimme etwas in ihr aus. Er sprach weiter. „Ich hasse es, es zuzugeben. Aber ich verstehe auch nicht alles, was ich fühle.“ Ihr wurde so warm. Unangenehm warm. Sie wollte nicht so fühlen. Es war zu warm. Und es stieg ihr zu Kopf. Sie wollte, dass das aufhörte! Aber wieder ging ein Wärmeschauer über sie. Und sie merkte, dass sie zu flach atmete. Sie hörte Erik fortfahren: „Es ist ok, wenn du nicht alles verstehst. Irgendwann wirst du es verstehen.“ „Und wenn ich es nicht verstehen will?!“, rief sie. Plötzliches Schweigen. Eriks Stimme klang resigniert. „Dann wirst du deine Gründe haben.“ „Vielleicht sind es dumme Gründe!“, begehrte sie auf. Erik seufzte. „Was auch immer du für Gründe hast, du wirst dich davon nicht aufhalten lassen. Du bist stärker als du denkst.“ Wieder spürte Ariane etwas in ihrer Brust. Nicht diese unangenehmen Hitzeschauer, sondern etwas angenehm Warmes. Wie ein Nebel aus Geborgenheit. Und das obwohl Secret ihr dieselben Worte gesagt hatte. Aus Eriks Mund hatten sie eine ganz andere Wirkung. „Denkst du das wirklich?“, fragte sie zaghaft. Wieder dieses belustigte Schnauben. „Ja.“ Seine Stimme war wieder so neckend. Jetzt tat ihr wieder die Brust weh. Warum war sie auf einmal so traurig? Sie verstand das nicht. Erik hatte doch etwas Liebes gesagt! Warum freute sie sich nicht? Sie wollte nichts sagen, auch nicht, dass er etwas sagte. Für einen Moment wollte sie ihn einfach am Hörer haben, ohne dass sie etwas sagen mussten. Der Gedanke war doch lächerlich! Was dachte sie da nur und wieso machte es sie wieder so traurig? Sie wollte nicht traurig sein. Es gab keinen Grund dazu. „Wie geht es dir jetzt?“, fragte Erik, nachdem sie einige weitere Sekunden geschwiegen hatte. „Das ist eine etwas ungeschickte Frage, nachdem dir jemand gesagt hat, dass er meistens nicht weiß, wie er sich fühlt.“, antwortete sie. Belustigt antwortete Erik. „Da siehst du, wieviel ich dir zutraue.“ Wieder brachten seine Worte sie aus dem Konzept. Wieder spürte sie die Wärme in ihrer Brust, die anfing wehzutun, sobald sie versuchte, sie zu unterdrücken. „Erik?“ „Ja?“ „Ich mag dich. Wirklich.“ Gott, was redete sie da? Das – Hätte sie das nicht besser formulieren können? Dass er ein wichtiger Freund für sie war? Ach, das wäre doch genauso falsch gewesen. Oder dass er ein besonderer Mensch war? Egal, wie sie es formuliert hätte, es wäre doch falsch rübergekommen. „Ich dich auch.“ Ariane konnte es nicht fassen. Wieso sagte er so was? Das klang einfach so falsch! So falsch aus Eriks Mund! Er sollte so etwas nicht sagen! Das war unangenehm. Und schon war sie wieder traurig.Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er das nie wieder sagen sollte! Dabei hatte sie doch zuerst so etwas Dummes gesagt. Aber sie – menno! Sie hatte es doch gar nicht so gemeint! „Ich meine als Mensch!“, rief sie. „Als Haustier wäre ich auch zu schwierig.“, scherzte Erik leichthin. „Als würde ich dich als Haustier wollen.“, gab Ariane patzig zurück. Er klang äußerst amüsiert. „Das wäre auch anstrengend, wenn du nie verstehen würdest, was ich will.“ Ariane verzog das Gesicht. Wie fies, dass er die Schwäche, die sie ihm gerade anvertraut hatte, nun gegen sie verwendete. „Dann müsstest du dir eben alles selbst holen.“ Seine Stimme driftete in diese Tiefe ab, die sie ihn bisher nur bei ihr hatte benutzen hören. „Ich gebe mir die größte Mühe.“ Warum sprach er nur ihr gegenüber so? Andererseits hatte er ja auch eine Vorliebe, sie zu ärgern. Obwohl er sonst so reif sein konnte. Wobei er auch Vitali oft neckte. „Bist du noch wütend auf Serena?“, fragte er jäh wieder ernst. Ariane seufzte. „Ich weiß nicht. Ich komme mir einfach so blöd vor.“ „Das brauchst du nicht. Du bist gut so wie du bist.“ Ihr Gesicht verzog sich. „Es ist echt komisch, dich das sagen zu hören.“ „Achja?“ „Ja. Weil …“ Die Worte kamen schneller als sie wollte. „du nicht der Typ zu sein scheinst, der jemanden einfach so nimmt, wie er ist.“ Erik schwieg und Ariane bereute, das gesagt zu haben. „Tut mir leid. Das war dumm!“, rief sie eilig. „Du denkst, ich bin wie mein Vater.“ Entsetzen machte sich in Ariane breit. Das war das Schlimmste, was sie Erik jemals hätte vorwerfen können! Wieso hatte sie nur so etwas Dummes gesagt?! „Nein!“, schrie sie aufgelöst. „Du bist nicht – Ich hab nicht – Du – Ich meinte das ganz anders! Du bist zu dir selbst immer so hart!“ Erik sagte nichts. Sie musste sich beeilen, bevor er auflegte! „Du verlangst von dir selbst immer, perfekt zu sein, deshalb dachte ich, dass du das auch von anderen erwarten würdest. Es tut mir leid!“ Noch immer schwieg Erik. „Erik? Bitte sprich mit mir. Es war so dumm, das zu sagen. Bitte verzeih mir!“ „Es wird von mir erwartet.“, sagte er trocken. „Das ist keine Entscheidung.“ Ariane wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Erik stand natürlich durch seine Familie unter einem ganz anderen Druck als sie. Unversehens sprach er weiter: „Deshalb sage ich es dir. Du hast keinen Grund, dich kaputt zu machen, weil du nicht perfekt bist.“ Seine Worte schmerzten sie. „Und du hast Grund dazu?“ Er antwortete wieder nicht. „Erik, ich …“ Wieso konnte sie die Worte nicht aussprechen? Sie konnte ihm nicht sagen, dass er so gut war wie er war. Als würde er es ihr stumm verbieten. Und das obwohl sie sein Gesicht doch gar nicht sehen konnte. Sie holte Luft. „Für mich bist du gut genug.“ „Wo ich herkomme, bist du nicht gut genug.“ Seine Worte waren wie eine Ohrfeige. Ihre Stimme verlor an Kraft. „Ich bin nicht gut genug für dich?“ „Das habe ich nicht gesagt.“, antwortete Erik nüchtern. „Aber du hast es gemeint.“ Aus einem ihr unerfindlichen Grund war sie nicht einmal entrüstet darüber. Sie fühlte sie einfach nur müde. Als könne sie ohnehin nichts daran ändern. „Für mich“, Erik legte eine bedeutungsschwere Pause ein. „bist du gut genug.“ „Aber nicht für Erik Donner.“, stellte Ariane fest. Er widersprach nicht. Sie legte so viel Überzeugung wie möglich in ihre Stimme. „Für mich brauchst du nicht Erik Donner sein.“ Eriks Stimme driftete in einen fast drohenden Ton ab. „Du solltest aufpassen, was du sagst.“, warnte er sie. „Du weißt nicht, wer ich sonst wäre.“ Ariane stockte, jäh begreifend, wer er sonst war. Kapitel 140: Geduld und Nähe ---------------------------- Geduld und Nähe   „Die junge Liebe ist ein zartes Pflänzchen, zum Überleben muss es so manche Dürreperiode überstehen.“ (Michael Dur)    Justin hörte das Klingeln an der Haustür und seufzte. Er war es gewöhnt, dass alle davon ausgingen, er würde sich darum kümmern. Schicksalsergeben stand er auf und machte sich auf den Weg. Jähe Anspannung erfasste ihn, als auf sein „Hallo?“ von der anderen Seite Viviens Stimme kam. „Ich bin’s!“ Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er eine ausgeleierte Jogginghose und einen alten Pulli trug und nun wirklich keinen schönen Anblick bot. Aber er konnte Vivien ja schlecht draußen stehen lassen! Eilig schloss er die Tür auf und stand Vivien gegenüber, die bibbernd da stand. Sie hatte keine Jacke mitgenommen und da es Dezember und schon nach acht Uhr abends war, waren die Temperaturen alles andere als angenehm. „Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. „Kann ich reinkommen?“, bat Vivien. Sie hatte die Arme schützend um sich gelegt, aber natürlich konnte das nicht viel gegen die Kälte ausrichten. Justin ging zur Seite und ließ sie eintreten. Er schloss die Tür hinter ihr.   Vivien war nervös und wusste nicht, ob das Zittern wirklich von der Kälte oder nicht vielmehr daher rührte. Die Frage, wie Justin darauf reagieren würde, dass sie einfach hereingestürmt kam, nahm ihre Gedanken ein. Vielleicht kam ihm das ungelegen. „Können wir reden? Allein?“ Sofort erkannte sie an seiner Gestik und Mimik, dass ihn die Frage verunsicherte. Er blickte zu einer der Zimmertüren. „Störe ich?“ Irgendwie kam es ihr vor, als würde sie nur die Worte aus irgendwelchen Filmen wiederholen, die sie irgendwann mal gesehen hatte. Sie musste doch wissen, dass sie Justin nicht störte! Oder? Justin wirkte so überrumpelt, dass ihr wieder angst und bange wurde. „Ich … meine Eltern.“, druckste er. „Tut mir leid, ich wollte nicht nerven.“ „Nein.“, rief Justin hastig. „Ich muss bloß fragen, ob das in Ordnung geht.“ Mit diesen Worten machte er sich auch schon auf den Weg zu einer der Türen.   Justin war nervös. Worüber wollte Vivien mit ihm sprechen? War es wegen vorhin? Hatte sie sich umentschieden? Vielleicht waren das doch nur die Nachwirkungen der Plage gewesen. Ach, was dachte er da schon wieder! Er musste aufhören damit. Seine Eltern saßen gemeinsam im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schauten einen Krimi. Es war ihm unangenehm, sie stören zu müssen, ,. „Entschuldigung.“ Seine Eltern sahen ihn an. „Ähm. Tut mir leid. Vivien. Ähm, Vivien wollte mit mir reden. Ich wollte fragen, ob das ok ist.“ „Natürlich.“, sagte seine Mutter, als verstünde sie nicht, warum er überhaupt danach fragte. „Du hast doch ein Zimmer.“, sagte sein Vater ebenso verständnislos. Justin spürte Verlegenheit in sich aufkommen. „Achso.“, sagte sein Vater. „Wegen der ganzen Bücher in deinem Zimmer. Wir müssen uns mal darum kümmern. Willst du lieber mit ihr ins Esszimmer sitzen?“ Vivien hatte gesagt, dass sie mit ihm alleine sprechen wollte. Die Vorstellung, dass seine Eltern nur einen Raum entfernt waren, war ihm unangenehm. „Nein. Danke. Macht es euch wirklich nichts aus?“ „Nein, Justin.“, sagte sein Vater fast schon frustriert von seiner Frage und stellte den Ton des Krimis demonstraiv lauter. Das hieß wohl, dass er gehen sollte. Justin verließ den Raum und trat zurück in die Diele. Vivien hatte immer noch die Arme um sich gelegt. „Möchtest du… ähm… Wir können in mein Zimmer gehen.“ Er schämte sich, ihr das anzubieten. „Es sei denn es ist dir unangenehm!“, fügte er eilig an. Beim ersten Besuch bat man ein Mädchen doch nicht einfach in sein Zimmer! Nicht dass sie dachte, er habe irgendwelche Hintergedanken! Das war so peinlich! Er wollte nicht, dass sie so über ihn dachte. „Danke.“, sagte Vivien stattdessen und wartete. Justin begriff, dass sie ja nicht wusste, wo es lang ging, oder sie schlug aus Höflichkeit nicht den Weg ein, den sie vermutete. Er war es so gewöhnt, dass sie immer vorausging, die Situation kam ihm dadurch umso seltsamer vor. „Wir müssen hoch.“, sagte er, um die Stille zu durchbrechen, und ging voraus. Je näher er seinem Zimmer kam, desto nervöser wurde er. Was wollte Vivien ihm sagen? Noch immer befürchtete er das Schlimmste. Zudem war Vivien doch anders als sonst, oder? Sie wirkte so still. Sonst strahlte sie ihn immer an, aber jetzt... Er öffnete seine Zimmertür und erinnerte sich daran, dass er keine Sitzmöglichkeiten anzubieten hatte. Es gab nur den einen Schreibtischstuhl und das Bett. Hastig räumte er den Stuhl frei, damit sich Vivien darauf setzen konnte. Doch während er noch nach einem Platz für die Sachen suchte, war Vivien an ihm vorbeigegangen und hatte auf dem Bett Platz genommen. Irritiert sah er sie an. Vivien zuckte zusammen und machte den Ansatz, wieder aufzustehen. „Ist dir das unangenehm?“ Justin wandte eilig den Blick ab. „Nein.“ Es war ein seltsamer Anblick, Vivien auf seinem Bett. Er durfte nicht daran denken! Er atmete tief durch und konzentrierte sich darauf, dass sie mit ihm reden wollte. Vielleicht ging es ja um Beschützerangelegenheiten. Ja, daran hatte er gar nicht gedacht! Er benahm sich wirklich kindisch. Er stellte die Bücher auf den Boden und setzte sich auf den Stuhl, nun gezwungen, Vivien doch wieder in Augenschein zu nehmen. Sie sah ungewohnt unsicher aus, das verunsicherte wiederum ihn. „Justin.“, setzte sie an. Er versuchte ihr mit einem Blick zu zeigen, dass er ihr zuhörte. „Wieso – “ Sie brach nochmals ab und sah ihn dann verletzlich an. „Darf ich dich umarmen?“ Von der Frage völlig überrumpelt wich sein ernster Gesichtsausdruck einem schüchternen Schweigen. Er wusste nicht, wie sie sich das vorstellte. Unbeholfen stand er auf. Vivien tat es ihm gleich und warf sich in seine Arme. Sie drückte sich an ihn, wie sie es sonst nur tat, wenn sie Angst hatte oder Halt brauchte. „Hab ich was falsch gemacht?“, fragte er besorgt. Vivien löste sich von ihm. „Nein!“, versicherte sie. Sie senkte wieder den Blick. „Ich wollte nur fragen, …“ Sie holte Luft. „Vorhin … du bist so panisch geworden, als ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe. Warum?“ Auf diese Frage war er nun wirklich nicht gefasst gewesen. Was sollte er denn darauf antworten? Er wusste es ja selbst nicht. „Ist irgendwas passiert, weshalb du gedacht hast, dass ich dich nicht lieben könnte?“, fragte sie in einem Ton, als fürchte sie ihn zu verschrecken. Justin sah sie verwirrt an. „Etwas von früher.“, präzisierte Vivien und sah wieder zu Boden. „Hat irgendeine andere Person dir wehgetan?“ Justin trat wenige Schritte zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl. Er legte seine Hände zusammen und seufzte. Einen Moment lang starrte er zu Boden, sein Kopf senkte sich. Es war nicht so, dass ihm jemand wehgetan hatte... Mit Mühe rang er sich zu Worten durch. „Du ... Dir ist sicher nicht entgangen, dass ich immer gleich rot werde. Das war früher noch schlimmer.“ Er holte tief Luft und holte aus. „Als ich zwölf war, bin ich jedes Mal rot geworden, wenn ein Mädchen in meine Nähe gekommen ist. Und wenn ich aus irgendeinem dummen Grund den geringsten Körperkontakt mit ihr hatte, war mein ganzer Kopf rot. Eines der Mädchen in meiner Klasse war sehr nett. Sie hat sich auch mit mir unterhalten, obwohl ich in ihrer Nähe kaum ein Wort rausgebracht habe. Einmal hat sie mich am Arm berührt und ich bin knallrot geworden. Und weil mir das so peinlich war, ist es nur schlimmer geworden. Die anderen Schüler haben es wohl mitbekommen. Jedenfalls haben die anderen Mädchen danach angefangen, mich extra zu berühren, um meinen roten Kopf zu sehen und darüber zu lachen. Irgendwann hat eine angefangen und hat durchs ganze Klassenzimmer gerufen: Justin, ich liebe dich. Und ich wurde knallrot. Die ganze Klasse hat darüber gelacht, inklusive ihr. Das war mir einfach furchtbar unangenehm.“ Er machte eine kurze Pause. „Mit vierzehn bekam ich starke Akne. Die Mädchen haben dann aufgehört, mich aufzuziehen. Auf einmal war es, als wäre ich giftig für sie geworden. Eklig.“ Er biss die Zähne zusammen. „Irgendwie hab ich wohl gedacht, dass du … dass du mich auch nur…“ Plötzlich kam eine Hand in sein Sichtfeld und legte sich auf seine. Er hob den Blick und sah in Viviens amethystfarbene Augen, die in dem kargen Licht seines Zimmers dunkel wirkten. Sie hatte sich wieder auf das Bett gesetzt und wirkte besorgt, als hätte er ihr eine sehr traurige Geschichte erzählt. Dabei hatte er sich einfach nur immer schon wie ein Trottel aufgeführt, wenn es um Mädchen ging. Viviens Ton klang anders als er es von ihr gewöhnt war. Da war keine Fröhlichkeit, nur Ernst. „Ich würde mich nie über dich lustig machen.“ Plötzlich zeichnete sich Leid auf ihren Zügen ab. „Ich hab es immer ernst gemeint.“ Justin begriff, wie oft sie ihm gesagt und gezeigt hatte, dass sie ihn mehr mochte als es üblich war. Doch er hatte immer gedacht, das wäre einfach ihre Art und dass sie sich nichts dabei dachte. Vivien sprach weiter. „Es tut mir leid, dass ich meine Scherze mit dir mache. Ich hab es aber immer ernst gemeint. Wirklich.“ Justin nickte bloß. Vivien zog ihre Hand zurück. „Du dachtest, ich will dich beschämen?“ Justin dachte darüber nach. „Manchmal.“ Bei einem Blick zu ihr, begriff er, dass sie das kränkte. Hastig versuchte er zu erklären: „Ich dachte vor allen Dingen, dass du einfach extrem nett bist, so nett, dass man fälschlicherweise was hineininterpretiert, das nicht da ist. Du bist einfach zu allen so nett und herzlich und …“ Er sah sie an. „Ich dachte, du bist einfach zu gut für mich.“ Vivien zog die Schultern an, als hätte er ihr etwas Schmerzhaftes gesagt. Er konnte das nicht deuten. Sie schwieg. Hatte er etwas Falsches gesagt? „Ich bin nicht…“ Sie unterbrach sich. „Ich bin nicht die, für die du mich hältst.“, presste sie hervor, ihre Augen waren auf den Boden fixiert, als würde sie sich schämen. Er verstand nicht und gab ihr die Zeit weiterzusprechen, aber das tat sie nicht. „Wovon sprichst du?“, fragte er schließlich nach. „Ich bin nicht so stark und toll wie du denkst.“ Ihre Stimme klang gepresst. „Ich bin überhaupt nicht so, wie du dachtest.“ „Ich verstehe nicht.“, sagte Justin wahrheitsgemäß. „Ich bin klein und ängstlich und ich zeige dir nicht, was ich fühle, weil ich solche Angst davor habe, dass du mich dann nicht mehr magst.“ Sie klang, als wäre sie den Tränen nahe. „Vivien...“ Sie sah nun zu ihm auf. Ihre Augen schwammen in Leid. „Ich bin gar nicht so fröhlich und unbeschwert. Ich.. “ Sie rang nach Atem. „Vivien.“ Er rückte mit dem Stuhl näher zu ihr und legte seine Hände auf ihre. „Ich bin gar nicht wie du denkst.“, schluchzte sie. Justin sah sie nur an. „Vielleicht magst du mich nicht mehr, wenn du merkst, wie ich wirklich bin.“, japste sie. Ihre Worte trafen ihn mitten ins Herz. War das nicht genau dasselbe, das er gedacht hatte? Was er noch immer dachte? Dass Vivien sich von ihm trennen würde, wenn sie mehr Zeit mit ihm verbrachte und erkannte, was für eine langweilige Person er war, die nicht zu ihr passte. „Vivien.“ Er rutschte an den Rand seines Stuhls, sodass er Vivien mit den Armen umfassen konnte. Er zog sie an sich. „Egal, was ich noch von dir erfahre, ich mag dich so wie du bist. Auch wenn du nicht fröhlich und stark bist. Ich mag dich, nicht irgendwas an dir.“ Vivien zog sich zurück und starrte ihn an, als könne sie nicht glauben, was er da sagte. „Warum glaubst du das nicht?“, fragte Justin, nachdem er sich daran erinnert hatte, dass Vivien oft Fragen stellte, die sie selbst gerne gestellt bekommen wollte. Das war damals bei dem Gruppengespräch auch der Fall gewesen. „Du bist der erste Junge, der…“ Sie sah ihm in die Augen. „Du warst der erste, der mich so angesehen hat.“, eröffnete sie ihm. „Die anderen Jungs fanden mich immer nur nervig. Eigentlich … nicht nur die Jungs. Als ich klein war, wollten alle mit mir spielen, weil ich die besten Ideen hatte, aber als wir Teenager wurden, wollten die anderen erwachsen sein und fanden es kindisch, dass ich immer noch spielen wollte und mich nicht für Make-up, reale Jungs und irgendwelches Teenager-Zeug interessierte. Oft haben sie mich angeschaut, als wäre ich geistig zurückgeblieben, weil ich nicht bin wie die anderen in meinem Alter.“ Justin musste mit Erschrecken feststellen, dass Vivien die gleiche Angst äußerte, die er selbst immer gehabt hatte. Er hatte sich immer dafür geschämt, nicht so zu sein wie die anderen in seinem Alter. Er hatte sich immer wie ein Kind gefühlt im Vergleich zu den anderen. Er legte die Rechte auf die Seite ihres Gesichts. Ihre Augen suchten die seinen. „Ich will dich so wie du bist.“ Er schien die richtigen Worte gesprochen zu haben, denn sie sah zwar verletzlich aus, aber auch als würde sie sich ihm öffnen. Sie näherte sich seinem Gesicht. Er kam ihr entgegen. Im letzten Moment stoppte er in der Bewegung. Plötzliche Verlegenheit schoss in seinen Kopf. „Darf ich?“ Vivien kicherte. Er zog sich nochmals zurück, in einem Versuch, an ihrem Gesichtsausdruck ablesen zu können, warum sie gelacht hatte. Anscheinend hatte dieser Zug sie verunsichert, denn sie wich seinem Blick aus. „Du musst nicht, wenn du nicht willst.“ Justin schluckte. Natürlich wollte er sie küssen! Aber sie saßen hier im Halbdunkel in seinem Zimmer und Vivien saß auf seinem Bett. War das nicht eine unpassende Situation? Er wollte nicht, dass das verfänglich wurde. Er wollte nicht, dass sie dachte, er sei nur an ihrem Körper interessiert.   Vivien musste mit Ernüchterung feststellen, dass Justin keinen neuen Versuch startete, sie zu küssen. Das frustrierte sie, dabei wusste sie, dass sie sich nichts erhoffen durfte, um nicht enttäuscht zu werden. Es war doch gut genug so wie es war. Er saß so nah bei ihr, dass sie seine Körperwärme spüren konnte. Seine Beine waren direkt links und rechts um ihre herum. Wenn sie es recht bedachte, schloss er sie dadurch regelrecht ein und seine Hände ruhten nun auf ihren Schultern. Auch wenn er sein Gesicht zurückgezogen hatte, er war ihr dennoch ganz nah und das war alles, was zählte. Nicht? Wieso war sie dennoch so unsicher? Sie war doch bisher nie so kleinmütig gewesen wie jetzt. Dabei hatte er ihr doch gesagt, dass er auch so für sie empfand. Wieso zweifelte sie jetzt daran? Viel schlimmer als je zuvor. Justin zog seine Arme zurück. „Tut mir leid.“ Sie wusste nicht, wofür er sich jetzt entschuldigte. Dafür, dass er sie nicht küssen wollte? Für etwas anderes? Er begriff wohl jetzt erst, wie nahe er ihr war und rutschte auf seinem Stuhl zurück, um sich von ihr zu entfernen. Vivien versuchte, die Enttäuschung niederzuringen. Sie brauchte nicht enttäuscht sein. Sie durfte einfach nicht so viel erwarten. Auch wenn Justin gesagt hatte, dass er mit ihr zusammen sein wollte, hieß das nicht, dass sich viel geändert hatte. Sie konnte nicht erwarten, dass er von jetzt auf gleich seine Angst vor körperlicher Nähe ablegte. Egal wie sehr sie sich diese wünschte. „Es ist sicher unangenehm in diesem Zimmer.“, sagte Justin und rückte mit dem Stuhl sogar noch weiter von ihr weg, als wolle er genug Abstand zwischen sie bringen. Vivien starrte ihn nur an. Wollte er sie überhaupt noch hier haben? „Ist es dir unangenehm, dass ich da bin?“, fragte sie. Justins Gesichtsausdruck änderte sich. „Nein.“ Er klang wieder ängstlich. Als wolle er nichts falsch machen. „Aber es ist dir unangenehm, wenn du in meine Nähe kommst?“ Sie schien den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Justin wirkte ertappt und beschämt. „Vivien, ich…“ Sein Blick schweifte kurz über sie, um sich danach wieder auf den Boden zu heften. Gerade war ihr schleierhaft, was in ihm vorging, daher versuchte sie, die Situation in ihrer Gänze neutral zu betrachten. Sie saß auf seinem Bett und er auf einem Stuhl ihr gegenüber. Draußen war es dunkel und die Lampe in seinem Zimmer spendete ein gelbes, aber nicht besonders helles Licht. Und nun saß er beschämt vor ihr, als hätte er etwas Verwerfliches gedacht. Mit einem Mal begriff sie. Sie saß auf seinem Bett im Dämmerlicht, sie waren allein, draußen war es längst dunkel, es war schon spät, und Justin war so extremst übertrieben anständig, dass ihm das wohl schon verwerflich vorkam. Oder hatte er… Sie durfte nicht daran denken! Sonst wollte sie das! Wenn sie die Hoffnung zuließ, würde sie bloß wieder umso enttäuschter sein, weil er niemals etwas in diese Richtung tun würde! Nicht mal wenn sie den ersten Schritt tat. Verdammt. Der Gedanke war schon da und er war einnehmend. Der Gedanke, mit ihm auf seinem Bett zu knutschen und sich aneinander zu kuscheln, seine Hände, seine Lippen, seine Wärme... Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie durfte sich darauf einfach keine Hoffnungen machen! Das musste doch auch nicht jetzt sein! Irgendwann würde er ihr das bestimmt gestatten. Zumindest hoffte sie das… Irgendwann, aber nicht heute. Einfach wieder auf das konzentrieren, was er ihr gab, statt auf das, was er ihr eben nicht gab. „Justin, möchtest du einen Spaziergang machen?“ Er schaute verdutzt. „Bitte?“, sagte sie in dem süßesten Ton, den sie zuwege brachte. „Du hast keine Jacke.“, druckste er. „Willst du?“ Er nickte.   Justin wartete darauf, dass Vivien ihre Jacke bei sich drüben geholt hatte. Eigentlich war es schon zu spät für einen Spaziergang. Schon neun Uhr. Sie hätten sich ausruhen und bald ins Bett gehen sollen, schließlich war morgen Schule und es war ein langer Tag gewesen. Dennoch hatte er das Angebot nicht ausschlagen können, noch mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Er war wirklich ein Träumer. Vivien kam ihm entgegen gesprungen. Sie strahlte ihn an, noch heller als die Weihnachstbeleuchtung an den Fenstern ihres Hauses. Als würde sie sich über die Maßen freuen, dass er sich dazu bereit erklärt hatte, noch eine kleine Runde spazieren zu gehen. „Wo möchtest du lang?“, fragte er. Sie kicherte. „Mir egal. Hauptsache, du bist da.“ Ihre Worte verursachten Herzklopfen bei ihm. Sie griff nach seiner Hand. Zwar hatte sie das schon oft gemacht, auch als Beschützer, aber das war immer etwas anderes gewesen. Jetzt bedeutete es, dass sie zusammen waren. Ein Liebespaar. Justin wurde bei dem Gedanken warm, obwohl die Außentemperatur dem entgegen stand. Der Atem bildete kleine Wölkchen. Vivien lief los und zog ihn mit sich. „Willst du nicht Handschuhe anziehen?“, fragte Justin. Sie schüttelte den Kopf. „Ich will dich spüren.“ Justin schoss das Blut in den Kopf. Wieso musste sie das denn so formulieren? Beziehungsweise: Wieso machte sein Hirn daraus etwas ganz anderes? Er lugte nochmals zu ihr und brachte den Mut auf, ihre Hand mit in seine Jackentasche zu stecken. Vivien sah zu ihm auf und lächelte. In diesem Moment war er trunken vor Glück. Die Straßen waren teilweise mit Weihnachtsbeleuchtung versehen, die eine heimelige Atmosphäre bescherte. Vielleicht war es kindisch von ihm, aber zu so später Stunde im Schein der weihnachtlichen Lichter mit ihr zusammen den Weg entlang zu schlendern, fand er unheimlich romantisch. Vivien führte ihn zu einem kleinen Spielplatz in der Nähe, der zu dieser Zeit menschenleer war. Zielsicher steuerte sie auf zwei Schaukeln zu, die groß genug für Erwachsene waren. Sie ließ seine Hand los und setzte sich auf die eine Schaukel und wies ihn an, neben ihr auf der anderen Platz zu nehmen. Sobald er ihrem Wunsch nachgekommen war, reichte sie ihm wieder die Hand. Er konnte sie jetzt nicht mehr in seine Jackentasche stecken, aber seine Hände waren zumindest für den Moment noch warm. Vivien begann zu schaukeln, und da sie seine Hand festhielt, hatte er gar keine andere Wahl, als es ihr gleichzutun. Er bemühte sich, den gleichen Rhythmus wie sie zu finden und errötete erneut, als sein Hirn daraus eine völlig unangebrachte Metapher machte. Was war nur mit seinem Hirn kaputt? Das war doch alles total unschuldig! Oder nicht? Der Gedanke brachte ihn erneut aus dem Rhythmus, sodass er sich wieder aufs Schaukeln konzentrieren musste. Plötzlich bremste Vivien ab und ließ seine Hand los. Er stoppte ebenfalls, wusste nicht, was in sie gefahren war, dann stand sie plötzlich direkt vor ihm. Sie legte ihre Hand auf die, mit der er sich an der kalten Kette der Schaukel festhielt, und beugte sich zu ihm. Ihr Mund traf seinen. Ihr Gesicht und ihre Lippen waren kalt, aber weich. Dann spürte er ihre Hände seinen Kopf ergreifen. Er musste sich mit der anderen Hand irgendwo festhalten, um nicht von der Schaukel zu kippen und griff instinktiv nach ihr ihrer Taille. Vivien ließ nicht von ihm ab und presste nur weiter ihre Lippen gegen seine, immer nur kurz unterbrochen. Ihm war trotz der Kälte unglaublich heiß. Nachdem sich Vivien wieder kurz entfernt hatte, wollte er nach Luft schnappen und öffnete dafür den Mund, stattdessen spürte er im nächsten Moment Viviens Zunge. Er zuckte zurück und wäre fast von der Schaukel gefallen, hätte Vivien ihn nicht geistesgegenwärtig an der Jacke gepackt. Verschüchtert sah er zu ihr auf. „Zu viel?“ Justin nickte und kam sich wie ein Kind vor. „Ich mach’s nicht mehr.“, versicherte Vivien. „Es ist nur… ungewohnt.“, entgegnete er verlegen, nachdem er sich wieder richtig hingesetzt hatte. „Entschuldige.“, sagte sie hastig und zog den Kopf ein. „Ich hab nur immer noch Angst, dass du mir das morgen nicht mehr erlaubst.“ Justin schluckte. Hatte er nicht den gleichen Gedanken gehabt? Er erhob sich von der Schaukel, was Vivien dazu zwang, ihm Platz zu machen. Dieses Mal zögerte er nicht. Er legte seine Hände auf ihre Wangen und hauchte ihr einen kurzen sachten Kuss auf die Lippen. „Ich will das nicht nur heute.“, beteuerte er und spürte, wie aufgewühlt er innerlich war. „Versprochen?“, fragte Vivien so ungewohnt schwach, dass er im ersten Moment nichts darauf entgegnen konnte. „Solange du mich willst.“ Vivien umarmte ihn.   Sie drückte sich an ihn, wollte nicht, dass er jemals wieder losließ und hatte solche Angst, dass er es tat! Warum jetzt? Warum hatte sie jetzt solche Angst? Es war leichter gewesen, sich die ganze Zeit zu kontrollieren. Jetzt fühlte sie sich so ungeschützt und verwundbar! Bisher war sie immer darauf gefasst gewesen, dass Justin sich wieder vor ihr zurückzog und ihre Annäherungsversuche ins Leere liefen. Aber jetzt hatte sie Angst. Noch nie hatte sie sich irgendwem gegenüber so verletzlich gefühlt wie ihm. Sie hatte immer gewusst, egal was kam, sie hatte sich selbst. Und das war das Wichtigste. Aber sie wollte Justin! Sie wollte ihn so sehr, dass dieses Verlangen den Trost, dass sie doch immer noch sich selbst hatte, nicht zuließ. Sie wollte ihn und konnte ihn nicht davon abhalten, sich ihr zu entziehen. Sie hatte sich ewig nicht mehr so abhängig gefühlt. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Justin sanft. Offenbar hatte er an ihrem festen Griff bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie schüttelte den Kopf. „Vivien?“ Justin klang besorgt. „Ich fühle mich so hilflos.“ Er löste sich aus ihrer Umarmung und sah sie ernst an. Vivien schloss die Augen und schämte sich. „Kann ich etwas für dich tun?“ Sie sah zu ihm auf. „Lass mich nicht allein.“   Justin erinnerte sich, dass das die Angst war, die auch die Allpträume Vivien gezeigt hatten. Er wusste nicht, woher sie diese Verlustängste hatte, aber sie schienen sie wirklich zu quälen. „Ich lass dich nicht allein.“, versicherte er. Doch sie sah nicht so aus, als würde sie ihm glauben. Wovor hatte sie nur solche Angst? „Vertraust du mir?“, fragte er. Vivien senkte den Blick. Sie antwortete nicht. Für einen Moment war er erschüttert, ehe ihm einfiel, dass er selbst auf ihre Frage, ob er ihr vertraute, ständig ausweichend geantwortet hatte. Und das hatte nichts mit ihr zu tun gehabt. Hieß das, in Vivien gab es etwas, das sie davon abhielt, ihm zu vertrauen? „Was quält dich?“, erkundigte er sich behutsam. „Dass ich dich nicht für immer haben kann.“ Die Antwort verwirrte ihn. Vivien zog den Kopf ein. „Du bist kein Gegenstand.“ Sie sagte das so, als würde sie mit sich selbst reden. „Ich kann dich nicht besitzen und ich kann dich nicht halten. Ich bin davon abhängig, dass du mich magst und mich nicht verlässt. Das macht mir Angst. Ich habe Angst, dass ich kaputtgehe, wenn ich dich nicht mehr habe.“ „Vivien, wovon redest du da?“ „Ich habe Angst, weil ich dich so sehr liebe und nicht weiß, ob du mich jemals auch so lieben wirst.“ Sie war den Tränen nahe. Ihre Worte schockierten ihn. Er war immer davon ausgegangen, dass er sie mehr liebte als sie ihn. Zumal er bis heute ja nichts von ihren Gefühlen gewusst hatte. Doch auch jetzt, nachdem sie ihm ihre Liebe gestanden hatte, hielt er es für eine Selbstverständlichkeit, mehr Gefühle für sie zu haben als sie für ihn. „Vivien, was –“ Seine Hand wurde von ihr ergriffen und er spürte, wie sie ihre Kräfte auf ihn anwandte. Plötzlich spürte er einen tiefen Schmerz in seiner Brust, aber vor allem eine unglaubliche Wärme, und er wusste, dass diese Wärme ihm galt. Er konnte es schlecht beschreiben. Es fühlte sich an, als würde Vivien ihn für den wundervollsten Menschen auf der ganzen Welt halten. Er war davon überwältigt. Vivien ließ wieder von ihm ab und tat einen Schritt von ihm weg. Diesen Schritt tat er wieder auf sie zu, packte ihr Gesicht und küsste sie. Nicht länger vorsichtig wie zuvor. Er hielt sich nicht zurück, gab ihr ungehemmt seinen Mund. Vivien stieß augenblicklich ein geradezu furchtsames Geräusch aus. „Tut mir leid.“, sagte er hastig, im Glauben, er habe etwas für sie Unangenehmes getan. „Hör nicht auf.“, hauchte sie. Wieder ging eine Hitzewelle durch ihn hindurch. Er schämte sich erneut, musste schlucken. „Vivien, ich kann es dir vielleicht nicht immer zeigen, aber ich kann dir versichern, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemanden mehr …“ Er unterbrach sich, befürchtend, dass es zu pathetisch klang, ihr auf diese Weise seine Liebe zu beschreiben. Kleinlaut wich er der Aussage aus. „Auch wenn ich nicht immer das mache, was du dir vielleicht wünschst.“ Er stockte und fügte an: „Aber wenn du dir etwas wünschst, dann sag es mir bitte. Ich weiß nicht, ob ich es erfüllen kann, aber ich will es versuchen.“ Vivien klang regelrecht aufgelöst. „Ich bin so unsicher, dass ich… Ich will nur vergessen, dass ich diese Angst habe. Aber ich weiß, dass ich mich damit nur ablenken will.“ Justin verstand nicht so ganz, was sie meinte. Wollte sie auf etwas Bestimmtes hinaus? Sie wirkte reuevoll. „Es tut mir leid, dass ich so viel von dir verlange.“ „Tust du nicht.“, versicherte er. „Wenn du wüsstest, dass ich die ganze Nacht nur von dir geküsst werden will, ...“ Die Eröffnung traf Justin und ließ ihn rot anlaufen. Er konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, die daraufhin in seinem Kopf abgespult wurde. Ihm wurde schwummrig davon, als hätte er Alkohol getrunken. „Tut mir leid, ich will mich dadurch nur davon ablenken, dass ich Angst habe.“ Und ihn die ganze Nacht zu küssen, machte ihr keine Angst? Vergeblich versuchte Justin die Vorstellung aus seinem Kopf zu schütteln. „Justin, du liebst mich?“, fragte Vivien. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. „Ja.“, bestätigte er. Vivien nickte bedächtig. Dann fuhr sie mit einem Mal hektisch auf. „Das hilft gar nichts! Ich will dich trotzdem die ganze Nacht küssen!“ Hilflos rief Justin. „Kannst du aufhören, davon zu sprechen?“ Sein Gesicht musste wieder puterrot sein. Vivien schien das jetzt erst zu bemerken. „Ist die Vorstellung so schlimm?“ „Vivien…“, flehte Justin inständig. „Wenn du so süß bist, wird es nicht besser.“, beanstandete sie. „Vivien, ich bin ein Mann!“, rief er aufgebracht, um ihr die Lage klarzumachen, in der er sich befand. Er bemühte sich, seine Lautstärke zu drosseln. „Sag so was nicht.“ „Was?“ „Dinge wie was du eben gesagt hast.“ „Dass du süß bist?“ „Nein.“ Vivien schien zu begreifen. Dann verzog sich ihr Gesicht. „Du sagst das so, als dürfte ich nicht so fühlen. Und als wärst du ein Monster, das über mich herfallen könnte. Dabei stößt du mich die ganze Zeit weg! Nicht umgekehrt!“ „Was denkst du, warum ich das mache!“, stieß er lautstark aus. Vivien sah ihn stumm an. Dann wirkte sie fast verlegen. „Wirklich?“ Was sollte er darauf antworten. Es war zu peinlich. Was musste sie jetzt von ihm denken? Er wollte nicht, dass sie sich darauf reduziert fühlte. „Ich dachte, ich bin die einzige, die so denkt.“, gestand Vivien. „Ich bin froh, dass es nicht so ist.“ Freute sie sich etwa über diese beschämende Enthüllung? Er hätte am liebsten rückgängig gemacht, diese Andeutung fallen gelassen zu haben. Er fühlte sich schrecklich deswegen! „Ich träume die ganze Zeit davon, wie es wäre – “ „Bitte hör auf.“ sagte Justin entschieden. „Ich kann das nicht.“ Vivien zog den Kopf ein. „Tut mir leid.“ Justin schämte sich. Er wollte nicht an so etwas denken. Für ihn war das furchtbar. „Es tut mir wirklich leid.“, betonte Vivien. Justin schüttelte den Kopf. Er wollte nicht länger darüber reden. „Bist du mir böse?“ „Nein.“, sagte er gröber als geplant. Getroffen sah Vivien ihn an. „Können wir bitte das Thema wechseln.“, sagte er noch immer gereizt klingend. Vivien ließ den Kopf hängen. Justin seufzte. „Tut mir leid. Mir ist das unangenehm.“ Vivien nickte bloß. „Ich wollte dich nicht verletzen.“, versuchte er, sie wieder zu Worten zu bewegen. Er spürte die Kälte jetzt umso deutlicher und Viviens Gesichtsausdruck war anzusehen, dass seine Worte ihr wehgetan hatten. „Ich kann damit nicht umgehen.“, erklärte er nochmals. Doch das schien Viviens Zustand bloß zu verschlechtern. „Können wir das nicht einfach vergessen?“ Nun ließ sie wieder den Kopf hängen. Justin seufzte. „Vivien, ich weiß nicht, was ich machen soll, damit du wieder fröhlich bist.“ „Ist es so unangenehm, dass ich solche Gefühle für dich habe?“ Justins Augenbrauen senkten sich kurz. „Das… So hab ich das nicht gemeint.“ Sie wirkte wieder so verletzlich. „Vivien, du erfrierst doch, wir sollten zurückgehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nichts dafür!“, rief sie, als müsse sie sich verteidigen. „Was ist daran so schlimm?“ „Ich habe nicht gesagt, dass es schlimm ist!“, gab Justin zurück. „Aber du hast mich angesehen, als wäre es schrecklich, was ich gesagt habe!“, begehrte Vivien auf. „Weil ich damit nicht umgehen kann!“, schrie Justin. „Was ist daran so schwer zu verstehen?“ Viviens Lippen schürzten sich gekränkt. „Es klingt, als könntest du mit mir nicht umgehen.“ „Das hab ich nie gesagt.“, verteidigte sich Justin. „Aber das ist ein Teil von mir!“, schrie Vivien. Justin starrte sie an. Sie schob die Lippen vor. „Es ist mir egal, ob du das nicht sehen willst, aber ich… für mich ist es wichtig. Und ich möchte das nicht unterdrücken.“ „Was willst du damit sagen?“, forderte Justin zu wissen. „Dass ich von dir akzeptiert werden will, auch wenn dir nicht alles an mir gefällt.“ „Warum akzeptierst du es dann nicht, dass ich nicht darüber reden will?“ „Ich will doch gar nicht darüber reden. Ich will nur, dass du mir sagst, dass es okay ist, dass ich so empfinde, und du mich deshalb nicht verurteilst!“ Justin stockte. „Ich hatte nie vor, dich zu verurteilen.“ „Und kannst du es akzeptieren, dass ich so fühle?“ „Natürlich!“, sagte Justin, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt. Vivien sprang in seine Arme. Er hielt sie fest. Für Momente sagte keiner von ihnen irgendwas. „Wir sollten wirklich zurückgehen. Es ist schon viel zu spät.“ Vivien löste sich von ihm. Schweigend liefen sie zurück, Vivien hatte nicht nochmals nach seiner Hand gegriffen und sie lief weiter von ihm entfernt als sonst. Schließlich bogen sie in die Blumenallee ein. „Vivien, bist du böse auf mich?“ Vivien schüttelte den Kopf. „Ich habe das Gefühl, es ist nicht alles geklärt.“, sagte Justin. Sie widersprach ihm nicht. „Ich komme gerade nur mit mir selbst nicht klar.“, entgegnete sie. Justin seufzte. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass alles einfacher sein würde, wenn man wusste, dass der andere die eigenen Gefühle erwiderte, aber dem war nicht so. Er hatte den Eindruck, dass jetzt alles nur umso komplizierter war. Er ergriff erneut das Wort. „Es tut mir leid, dass ich so ausgerastet bin. Das ist ein Problem von mir. Ich hätte das nicht an dir auslassen sollen.“ „Ich mache mir einfach zu viele Gedanken.“, antwortete Vivien. „Dass du mich nie an dich ranlassen wirst. Aber das ist Unsinn.“ „Ich hab doch nicht gesagt, -“ Er unterbrach sich. „Kannst du mir nicht Zeit geben?“ Vivien nickte. „Tut mir leid, dass ich heute alles so persönlich nehme. Ich weiß, das ist unangenehm.“ „Es war ein langer Tag und es ist spät. Morgen wird es wieder besser sein.“ Vivien nickte wieder und lächelte ihn an, aber nicht auf die unbeschwerte Weise wie sie es sonst tat. „Danke.“ Er erwiderte das Lächeln. „Wir schaffen das, oder?“, fragte Vivien, als hätten sie eine schwere Ehekrise zu bewältigen. „Natürlich.“, entgegnete Justin. „Du machst dir wirklich zu viele Gedanken.“ Vivien holte tief Luft und atmete aus. Justin griff nach ihrer Hand. „Alles wird gut.“ Vivien nickte, aber ihr gewohntes Lächeln wollte nicht erscheinen. „Es ist doch normal, dass nicht alles sofort glatt läuft, oder?“, hakte Justin nochmals nach. Wieder nickte Vivien und ließ seine Hand los. „Gute Nacht.“ „Gute Nacht.“, erwiderte er. Sie wandte sich nicht nochmals um, als sie zu ihrer Tür ging und aufschloss. Justin sah ihr nach, dann ging er zu seiner Haustür.  Kapitel 141: Am Ende der Selbstbeherrschung ------------------------------------------- Am Ende der Selbstbeherrschung   „So ehrlich kann ein Mensch gar nicht sein, dass er sich nicht selbst belügt.“ (Rupert Schützbach)   Mit dem Erwachen war alles wieder da. Die bedrückenden Gedanken des Vorabends drangen mit unveränderter Intensität auf sie ein und erneuerten das Leid. Dabei hatte sie so sehr gehofft, dass die Enttäuschung, die Schwere und Erschöpfung, die sie mit in den Schlaf genommen hatte, am nächsten Morgen verschwunden sein würden. Sie spürte das einnehmende Gefühl auf ihr lasten, welches ihr das logische Denken wie eine Sinnlosigkeit erscheinen ließ. Es war doch unbedeutend, wie sehr sie sich anstrengte, wie extrem sie sich zusammenriss und wie geduldig sie ausharrte. Es hatte alles keinen Zweck. Es änderte nichts daran, dass … Sie wusste, dass sie diese Gedanken nicht zulassen durfte! In einem Versuch ihrem Kopf zu entkommen, setzte sie sich auf und schwang ihre Beine aus dem Bett. Es waren doch nur Gedanken! Nichts als unglückselige Interpretationen! Ihr Gesicht verzog sich in Pein. Der Schlaf hätte ihr doch die Kraft zurückgeben sollen, sich gegen ihre Gedankengänge zu wehren! Doch dem war nicht so. Der Schmerz der Enttäuschung presste ihr das Herz zusammen. Sie ließ den Kopf hängen. Zu lange hatte sie gegen all das angekämpft. Zu lange hatte sie verzweifelt versucht, aufrecht stehen zu bleiben, egal was passierte. Fast hätte sie vor lauter Erschöpfung geschluchzt. Kurz zog sie den Kopf ein. Sie ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich aufzustehen.   Während Vivien aus der Haustür trat, fühlte sich alles an ihr und in ihr wie eine ungeheure Last an. Ihre Gesichtsmuskeln waren mit einem Mal so schwer, sie zu einem Lächeln zu bewegen ein Ding der Unmöglichkeit. Bei dem verbissenen Versuch verzog sich ihre Miene zu einem völlig anderen Ausdruck. Sie ging nicht hinüber zu Justins Haus wie sie es sonst tat. Reglos stand sie da, zu sehr von ihren Emotionen belastet, als dass sie die Kraft besessen hätte, bei ihm zu klingeln und sich seinem Anblick zu stellen. Sie blieb einfach stehen und wartete. Die Verkrampfung um ihr Herz ließ nicht nach. Es dauerte nicht lange, dann bekam sie mit, wie jemand aus der Tür von Justins Haus trat. Sie ging davon aus, dass er es war. Den Blick heben wollte sie nicht. Der vertraute Klang seiner Schritte.  „Vivien…?“ Sorge schwang in seiner Stimme. Auch einen Hauch Angst glaubte sie herauszuhören. Sie zwang sich, aufzusehen, aber es war ihr unmöglich, ihn anzulächeln. Justins Gesichtsausdruck spiegelte seine Bestürzung wider. Er schien nach Worten zu ringen, machte den Ansatz, sie mit der Linken zu berühren, stockte jedoch in der Bewegung, als halte er das für etwas, das er nicht tun durfte. Die Erkenntnis schmerzte und peitschte die grausigen Gefühle in ihrem Inneren zusätzlich auf. Sie glaubte, kurz davor zu stehen, die Kontrolle zu verlieren. „Ist… Willst du mir was sagen?“ Vivien atmete frustriert aus. Sie hatte keine Lust, ihm etwas zu erklären. Allein die Vorstellung fühlte sich unendlich mühsam an. Sie schüttelte nur den Kopf. „Geht es dir nicht gut?“ Sie schwieg. Er wartete. Wieder seufzte sie stumm. Sie versuchte, Worte hervorzupressen. Es kam ihr entsetzlich schwierig vor. Alles war so unsäglich anstrengend. Ihr entwich ein weiterer Seufzer. Sie spürte den Schmerz in ihrer Brust. „Möchtest du lieber zu Hause bleiben?“ Vivien holte Luft und sah wieder zu ihm auf. Sie schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich einfach zum Gehen. Sie wusste, dass es Justin verletzen würde, dass sie ausgerechnet heute nicht seine Hand nahm. Das tat ihr leid, aber sie konnte nicht mehr.   Serenas und Arianes Streit hatte den Gedanken an Viviens Situation in den Hintergrund gedrängt. Am Morgen hatte die Aufmerksamkeit beider nur darauf gelegen. Den ganzen Schulweg über hatten sie sich bei einander für ihr Verhalten entschuldigt und die Missverständnisse geklärt. Da Vivien sich nicht mehr bei ihnen gemeldet hatte, waren sie davon ausgegangen, dass ihr Gespräch mit Justin gut verlaufen war. Doch als Vivien das Klassenzimmer betrat, war offensichtlich, dass etwas Unerfreuliches vorgefallen sein musste. Weder rief Vivien ihr überschwängliches Hallo, an das die anderen so gewöhnt waren, noch hob sie überhaupt den Blick, um irgendjemanden in Augenschein zu nehmen. Sie wirkte erschöpft und bedrückt, als hätte man sie ihrer Lebensfreude beraubt. Justin neben ihr sah sie voller Sorge und Reue an. „Ey, was is’n mit euch los?“, rief Vitali irritiert zu den beiden. Justin sah kurz zu ihm und machte den Eindruck, als würde ihn eine schwere Last zu Boden drücken. Sein Blick ging zurück zu Vivien, die nicht auf Vitalis Frage reagiert hatte, sondern sich einfach an ihren Platz begab, als hätte sie nicht mehr die Kraft, stehen zu können. Keiner antwortete Vitali. Vitali verzog das Gesicht in Unglauben. „Ist wer gestorben?“ Justin hatte sich ebenfalls gesetzt und senkte bloß den Blick, als könne er nicht darauf antworten. Sofort sprang Vitali von seinem Platz auf und trat an Viviens Seite, während Serena und Ariane sich besorgt zu ihr umdrehten. Er versuchte seiner Stimme, einen sanften Klang zu verleihen. „Hey, was ist denn?“ Vivien sah zu ihm auf und wirkte blasser und sogar noch kleiner als sonst. Ihre Stimme hatte nicht halb so viel Kraft wie üblich. „Mach dir keine Sorgen.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, sah damit aber nur umso trauriger aus. Vitalis Versuch, mit ihr zu reden, wurde vom Eintritt des Klassenlehrers unterbrochen. „Vitali, setzen.“, forderte Herr Mayer in knappem Befehlston. Unwillig folgte Vitali der Anweisung. Nochmals sah er besorgt zu Vivien. Erik flüsterte ihm zu: „Sie wird es dir später erzählen.“ Doch Vitali wollte darauf nicht warten. Viviens Zustand nahm ihn offensichtlich mit.   Als die Wirtschaftsdoppelstunde endlich vorbei war, wandte sich Serena umgehend an Vivien. „Kommst du kurz mit raus?“ Erschöpft sah diese sie an, als würde sie das zu viel Kraft kosten. „Bitte.“, ergänzte Serena. Entkräftet erhob Vivien sich. Ariane stand ebenfalls auf. „Du nicht.“, sagte Serena streng, nahm Vivien an der Hand und führte sie nach draußen. Es war Ariane anzusehen, als wie kränkend sie das empfand. Während Vitali in Windeseile an Justins Seite stürmte, trat Erik neben sie und schenkte ihr einen stummen Blick. Als das nichts half, legte er ihr kurz die Hand auf die Schulter. Da ihr vertraut war, wie sehr er körperliche Nähe sonst mied, verfehlte dies seine Wirkung nicht. Vitali setzte sich auf Viviens nun freien Platz. „Was ist los?“ Betrübt blickte Justin auf die Schulbank, er antwortete nicht. Als er immer noch schwieg, sprach Ariane. „Ihr seid doch gestern zusammengekommen. Was ist passiert?“ „Hä?“, stieß Vitali verwirrt aus. „Wie zusammengekommen?“ „Als Paar.“, antwortete Ariane. Vitali schaute verständnislos. „Die sind doch schon die ganze Zeit ein Paar.“ Ariane schüttelte den Kopf, wie um Vitali klarzumachen, dass er damit falsch lag. Daraufhin gaffte Vitali Justin fassungslos an. „Hääää? Wieso hast du nichts gesagt?!!“ Justin schaute, als verstünde er nicht, warum er Vitali etwas hätte sagen sollen. Vitali verzog daraufhin beleidigt das Gesicht. „Du musst nicht darüber reden.“, sagte Erik und bekam von Vitali einen eindeutigen Blick zugeworfen. Er war anderer Meinung! Ariane versuchte, Justin einen Punkt zu geben, an dem er ansetzen konnte. „Sie wollte dich gestern auf deine Vergangenheit ansprechen.“ Die Betroffenheit ließ Justins Stimme zusammenschrumpfen. „Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.“ „Habt ihr euch gestritten?“, hakte Ariane nach. „Nicht… wirklich.“, antwortete Justin, weiterhin ohne einen von ihnen anzusehen. „Aber was hat sie dann?“, fragte Ariane. Justins Gesicht verzog sich gequält. Eriks Tonfall war nüchtern. „Vielleicht hat es gar nichts mit dir zu tun.“ Nun blickte Justin auf und sein Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass er davon überzeugt war, dass er für Viviens Zustand verantwortlich war. „Ich kapier das nicht.“, stieß Vitali aus. „Wenn ihr vorher nicht zusammen wart, aber jetzt zusammen seid, warum freut ihr euch dann nicht?“ Justin machte sich klein. Vitali sah verwirrt zu Ariane und Erik. „Freut man sich dann nicht?“ Die beiden antworteten nicht „Freust du dich?“, wollte Vitali von Justin wissen. Justin schien von der Frage völlig überrumpelt, als wäre er unfähig sich zu freuen, solange Vivien so niedergeschlagen war. „Hat sie irgendwas zu dir gesagt?“, fragte Erik. Justin schüttelte den Kopf. „Nicht mehr seit gestern Abend. Sie war heute Morgen völlig anders. Ich hab mehrfach gefragt, ob es ihr nicht gut geht, aber sie meinte nur, dass ihr heute nicht nach Reden zumute ist.“ „Und wieso beziehst du das dann auf dich?“, wollte Erik von ihm wissen. Justin ballte die Hände zu Fäusten und blieb ihm eine Antwort schuldig.   Serena brachte Vivien in eine möglichst stille Ecke des Schulhauses. „Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. Vivien zuckte mit den Schultern. „Willst du nicht mit mir reden?“ Viviens Mund verzog sich gequält. Sie sagte immer noch nichts. Serena zog sie kurzerhand in eine Umarmung. „Es tut mir leid, dass ich gesagt hab, dass du mit ihm reden sollst, das war eine dumme Idee. Es tut mir so leid!“ Serena spürte, wie Vivien eine Bewegung mit ihrem Kopf machte. Sie konnte allerdings nicht einordnen, ob es sich um ein Kopfschütteln oder ein Nicken handelte. Dann spürte sie, wie sich Viviens Finger an ihr Oberteil krallten. Einen Moment lang hielt Serena sie einfach. Mit ihrer Größe, einen ganzen Kopf kleiner als Serena, wirkte Vivien zerbrechlich, obwohl sie eher kurvig als zierlich gebaut war. Serena ging wieder einen Schritt zurück und sah sie an. Vivien wich ihrem Blick aus. „War es so schlimm?“ Vivien schüttelte den Kopf. „Was ist es dann?“, fragte Serena hilflos. Erneut antwortete Vivien nicht. Serena seufzte. „Du weißt nicht, was los ist?“ Vivien schwieg, ihr Blick war weiter zu Boden gerichtet. Serena war am Ende ihres Lateins. Sie wusste nicht, wie sie Vivien beistehen sollte, wenn Vivien sich ihr nicht öffnete. Vielleicht lag es ja auch an ihr. Vielleicht war sie zu ungeschickt darin, Vivien zu helfen, nicht einfühlsam genug. Sie verzog den Mund. „Willst du wieder rein?“, fragte sie vorsichtig. Vivien nickte.   Zurück im Klassenzimmer sah Vivien, dass die anderen wie zu einer Notsitzung um ihren Tisch herum standen. Sie fühlte einen Stich in ihrer Brust. War es so schlimm, dass sich jeder um sie sorgte? Vitali räumte ihren Platz und auch Erik ging zur Seite. „Wir müssen rüber.“, sagte Erik zu Ariane. Der Spanisch-Unterricht fand im Zimmer der Parallelklasse statt. Vivien setzte sich und getraute sich nicht, Justins Blick zu erwidern. Es war ihr nicht entgangen, wie entsetzlich von Kummer zerfressen er aussah. Das tat ihr im Herzen weh. Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte, aber sie konnte ihn nicht anlächeln. Nicht heute. Sie wollte nicht, dass die anderen mitbekamen, wie es ihr ging, aber sie hatte nicht die Kraft, sich den Anschein zu geben, alles wäre bestens. Sie fühlte sich so erschöpft und enttäuscht von sich selbst. Sie wollte einfach nur den Schultag hinter sich bringen. Als Justin sie heute Morgen gefragt hatte, ob sie lieber zu Hause bleiben wollte, hatte die Aussicht, alleine zu sein, allerdings ebenso bedrückend und einschnürend gewirkt wie jetzt die Nähe zu ihren Freunden. Sie hatte das Gefühl, keine Luft zum Atmen zu haben, egal ob allein oder in der Gesellschaft anderer.   Während der Französischstunde, in der sie sich sonst immer zu Serena setzte, blieb Vivien dieses Mal an ihrem Platz sitzen. Einfach weil es sie zu viel Überwindung gekostet hätte, irgendetwas zu tun. Während des Unterrichts waren die anderen wenigstens auf etwas anderes als ihren Gemütszustand konzentriert. Sie ertrug es kaum zu sehen, wie viel Kummer sie allen bereitete. Das schlechte Gewissen peinigte sie. Normalerweise war sie so gut darin, ihre Gefühle zu kontrollieren. Sie war eine Meisterin darin, eine Schauspielerin, aber sie fühlte sich so ausgelaugt.   In der Pause kamen Erik und die anderen zurück ins Klassenzimmer und wieder sahen sie direkt zu ihr. Vivien erhob sich. Dieses Mal rang sie sich ein möglichst natürliches Lächeln ab und versuchte ihrer Stimme den gewohnt quirligen Klang zu verleihen: „Ich geh kurz aufs Klo.“ Es klang sehr viel schwächer als sie gehofft hatte. Sie musste mehr Energie in ihre Gesten und ihre Stimme legen! Aber allein Justins Anblick ließ sie sich so schwach fühlen, geradezu ohnmächtig. „Ich komme mit.“, rief Serena und wollte aufstehen. Vivien legte so viel Energie wie nur möglich in ihre Stimme. „Nicht nötig!“ Sie kicherte und tänzelte in ihren üblich fröhlichen Bewegungen schnell aus dem Zimmer. Auf dem Flur rannte sie, aus Sorge, die anderen könnten ihr doch noch hinterherkommen. Sie brauchte einen Moment ohne die Beobachtung von ihnen, einen Moment, um Kraft zu tanken, die sie dringend brauchte, um den restlichen Tag und besonders den Heimweg mit Justin zu überstehen. Allein der Gedanke daran, zog ihr das Herz zusammen.   „Wir sollten direkt in den Park gehen.“, verkündete Serena den anderen, nachdem Vivien den Raum verlassen hatte. Solange sie in der Schule waren, versuchte sie sich möglichst unverfänglich auszudrücken und vermied das Wort Hauptquartier. Die anderen sahen sie verwirrt an. „Sie ist doch offensichtlich besessen!“, rief sie, zu spät merkend, dass diese Wort alles andere als normal wirkte. „Ich glaube nicht, dass …“, druckste Justin. „Natürlich!“, rief Serena. „Ihr seht doch, wie sie sich verhält. Das ist nicht normal. Ich habe es auch nicht gemerkt, als ich…“ Kurz unterbrach sie sich. „Ich war total wütend, als Vitali Ewigkeit auf mich angesetzt hat!“ Vitali verzog kurz den Mund. Die noch allzu frische Erinnerung ging ihnen beiden nach. Erik wirkte wenig überzeugt. „Denkst du nicht, dass sie dann genauso wütend sein wird?“ „Doch.“, gab Serena zu. „Trotzdem. Ich will nicht, dass sie… ich will nicht, dass es ihr so geht wie mir.“ Ihr war anzusehen, wie sehr sie Vivien beschützen wollte. Justin presste hervor: „Sie ist einfach nur enttäuscht von mir.“ „Das glaubst du doch selbst nicht!“, blaffte Serena ihn an. „Keiner ist wegen jemand anderem so drauf!“ Ariane warf ihr einen zweiflerischen Blick zu. „Das hat immer persönliche Gründe.“, ergänzte Serena halblaut mit verschränkten Armen. „Okay.“, antwortete Vitali. „Und ihr wollt ihr das wann sagen?“, fragte Erik mit deutlicher Skepsis in der Stimme. „Nach der Schule.“, entschied Serena.   Vivien fuhr den Computer herunter, der Unterricht in Textverarbeitung war überstanden. Endlich war das Ende des Schultags erreicht. „Vivien?“ Sie blickte zu Serena neben ihr. „Wir gehen noch ins … Hauptquartier.“, eröffnete Serena ihr. Vivien antwortete mit einem irritierten Blick. „Okay?“, hakte Serena nach. Vivien antwortete nicht, sie fühlte sich nicht in der Lage zu widersprechen. Die Situation kam ihr surreal vor. Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl und zog sich an. Aus Einfachheitsgründen hatten die anderen entschieden, dass Vitali sie alle teleportierte. Vivien sagte nichts dazu. Im Hauptquartier angekommen, wandte sich Serena direkt an sie. „Es könnte sein, dass du besessen bist.“ Vivien spürte, dass sich ihre Augenbrauen senkten, ohne dass sie das willentlich gewählt hätte. „Ich hab das auch nicht gemerkt.“, sprach Serena weiter, wie um sie von dieser Idee zu überzeugen. „Aber du benimmst dich seltsam und –“ Viviens Augenbrauen zogen sich noch weiter zusammen. Sie sah zu den anderen und musste feststellen, dass alle der Meinung zu sein schienen, dass nur eine Besessenheit ihren heutigen Zustand erklären könnte. Nur Justin senkte den Blick. Natürlich bezog er wieder alles auf sich und bildete sich ein, dass er an allem Schuld war! Vivien biss die Zähne zusammen. Serena redete einfach weiter. „Ariane, kannst du deinen Schutzschild rufen?“ Vitali rief dazwischen: „Wir wissen doch noch nicht, welche Welle!“ Vivien ballte die Hände zu Fäusten. Nun erschien auch Ewigkeit. „Was ist los?“, fragte sie aufgeregt. „Vivien ist besessen.“, sagte Vitali, als wäre das etwas, worauf man sich einfach einigen konnte, um es wahr zu machen. Nun trat auch auf Ewigkeits Züge dieser mitleidige Ausdruck. „Vivien, wie fühlst du dich denn?“, drängte Ariane zu erfahren. Das war zu viel: die Blicke der anderen, die Erwartungen, der Druck. Vivien hielt es nicht länger aus. „Lasst mich in Ruhe!“, kreischte sie kraftlos.   Alle sahen sie an, als hätte sie sich vor ihren Augen in etwas Fremdartiges verwandelt und dadurch bestätigt, dass nicht sie selbst die Ursache für ihr Verhalten sein konnte. Alle bis auf Erik. Sein Blick war gefasst und ruhig. Er trat festen Schrittes zu ihr. „Komm.“ Ohne Umschweife führte er sie mit einer flüchtigen Berührung ihres Arms weg von den anderen. Vivien wehrte sich nicht. Dazu hatte sie nicht die Kraft. Wenn sie doch nur die Energie besessen hätte, den anderen vorzugaukeln, dass es ihr gut ging! Aber … etwas in ihr wollte nicht mehr, war nicht nur erschöpft, sondern auch wütend. Alles in ihr verkrampfte bei der Frage, auf wen oder was. Erst als sie im Trainingsbereich angekommen waren, nahm Erik wieder einen größeren Abstand ein. Sie machte sich auf eine weitere Befragung gefasst, denn offensichtlich würden die anderen keine Ruhe geben, bevor sie nicht wieder so war, wie sie sie kannten. Doch wie durch ein Wunder waren sie ihnen nicht gefolgt. Ohne sie anzusehen, lehnte Erik sich an die Wand neben dem Eingang und seufzte. Es war seltsam, dass er sie nicht zwang zu sprechen, noch ihr seine Aufmerksamkeit aufdrängte. Doch den Raum, den er ihr ließ, nahmen ihre erstickenden Gefühle und Gedanken ein. Davor wäre sie gerne davongelaufen. Vor sich selbst. Erik drehte nun doch sein Gesicht ihr zu. „Was hat Justin zu dir gesagt?“   Er konnte Viviens Gesicht ansehen, dass sie nicht darüber reden wollte. „Ich verrate niemandem, was du mir hier anvertraust.“, versicherte er ihr und wartete ab. Doch auch das schien sie nicht zum Reden bewegen zu wollen. „Vivien.“, sprach er sie daher an. „Die anderen haben mir erzählt, dass du gestern noch mit Justin reden wolltest. Er wollte uns nicht sagen, worum es ging, aber er hat gemeint, dass du danach so warst wie jetzt. Worüber habt ihr geredet?“ Offenbar hatte er den wunden Punkt getroffen, denn etwas Leidendes trat in ihre Züge. Er ließ ihr Zeit. Ihre Körperhaltung verkrampfte sich, schließlich presste sie hervor: „Sex.“ Erst im nächsten Moment wurde Erik klar, dass er ziemlich blöd aus der Wäsche gucken musste. Hastig änderte er seinen Gesichtsausdruck. Es war bloß so seltsam, Vivien das sagen zu hören. Justin und sie waren doch gestern erst zusammengekommen. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. „Wolltest du…“ Er wusste nicht recht, wie er das ausdrücken sollte, zumal er sich nicht wirklich vorstellen konnte, dass Vivien nach all ihrer Geduld mit Justin so überstürzt nach vorne geprescht war. Dazu kannte sie Justin doch viel zu gut. Entschieden schüttelte Vivien den Kopf. „Es ging nur ums Knutschen und dann… Er hat so darauf reagiert, als ich gesagt habe, dass ich mir -“ Sie seufzte. „Es ging doch nur darum, dass ich solche Gedanken habe, nicht dass ich irgendwas machen würde.“ „Und Justin hat das falsch verstanden.“, nahm er an. Vivien ließ den Kopf hängen. „Das ist sein Problem. Es hat nichts mit dir zu tun.“, versuchte er sie zu beruhigen. Aber seine Worte schienen Vivien nur zusätzlich zu schwächen. „Vivien?“, sagte er eindringlich. „Worum geht es wirklich?“ Sie sah getroffen zu ihm auf. Sie wirkte so zerbrechlich wie nie zuvor. „Ich kann nicht mehr.“, hauchte sie atemlos. Aus der jähen Sorge heraus, sie könne im nächsten Moment zusammenbrechen, machte er einen Schritt auf sie zu. Sie begann zu zittern. „Vivien…“ Ein innerer Kampf fand offenkundig in ihr statt. Er getraute sich nicht, sie zu berühren. Sie schien das nicht zu wollen. „Ich kann nicht mehr.“, schluchzte sie. Er konnte nicht einmal sagen, worauf sie das bezog. Meinte sie damit ihre Beziehung zu Justin? Nein, dafür machte sie zu sehr den Eindruck, als würde sie mit sich selbst hadern. Das hier ging viel tiefer als Zweifel an einer Beziehung. Auf einmal sank Vivien zu Boden, als könne sie sich nicht länger auf den Beinen halten. Sie zitterte, als würde sie von einem heftigen Schüttelfrost heimgesucht. Vorsichtig kniete er sich zu ihr. „Vivien?“ Er hatte Serenas nahen Nervenzusammenbruch wegen Amanda mitbekommen, aber das hier… Das war ... „Ich kann nicht mehr.“, schluchzte sie erneut und krümmte sich zu einer Kugel zusammen. Erik legte ihr nun doch die Hand auf den Rücken. „Du musst nichts tun.“ Er wusste gerade nicht, welche Worte die passenden waren. Eigentlich wollte er nur wissen, was sie nicht mehr konnte. Vivien gab ein Wimmern von sich. Er legte ihr beide Hände auf die angezogenen Schultern. „Vivien, was kannst du nicht mehr?“ Vivien hob ihr schmerzverzerrtes Gesicht. Sie gab jämmerliche Geräusche von sich. „Vivien.“, sagte er deutlich strenger als beabsichtigt. Ihr bitterliches Weinen war ihm unerträglich. Endlich drangen Worte aus ihrem Mund, mehr geschluchzt als gesprochen. „Ich kann nicht mehr ich sein.“ Reflexartig riss er seine Hände von ihren Schultern zurück. Diese Worte... „Alle“, schluchzte sie. „erwarten, dass ich wieder fröhlich bin. Aber ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“ Erik zwang sich, seinen hektisch gewordenen Atem zu kontrollieren. „Das erwarten sie bestimmt nicht.“, sagte er ernst. Ruhe bewahren. Viviens Zustand durfte er nicht zu nahe an sich heranlassen. „Sie denken sogar, ich bin besessen.“, wimmerte Vivien. „Das denken sie nur, weil das gestern passiert ist. Sie machen sich Sorgen um dich. Das heißt nicht, dass du nicht auch mal traurig sein darfst.“ Vivien schüttelte den Kopf. „Justin.“ „Was ist mit Justin?“ „Er kann das nicht ertragen.“ „Justin gibt sich die Schuld, dass es dir schlecht geht. So wie er sich immer gleich die Schuld gibt. Das ist nicht das Gleiche wie dass er es nicht ertragen kann. Er denkt einfach, dass er der Grund dafür ist.“ Wieder schluchzte Vivien. Ein Gedanke formte sich in Eriks Kopf. Oder kam er aus einem Gefühl? Seine Stimme wurde fast unsicher. „Er ist nicht der Grund… Justin ist der Anlass.“ Das Zittern kam wieder. „Vivien, was geht in dir vor?“ Sie schüttelte vehement den Kopf. „Solange du dich dagegen wehrst, wird es nur schlimmer!“, schimpfte er. Plötzlich sprang Vivien in seine Arme und begann regelrecht zu schreien vor Leid. Sie erbrach solch erbärmliche Schluchzer, dass Erik sie nur hilflos festhielt. Sie schien sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen. Erik schnappte nach Atem. Aus einem ihm unerfindlichen Grund gingen ihm Viviens Tränen näher als alles Bisherige. Ihm war auf einmal selbst zum Heulen zumute. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und atmete durch den Mund aus und ein, in einem Versuch, sich zu beruhigen. ‚Ich kann nicht mehr ich sein‘ Die Worte hallten durch seinen Geist. Er schluckte. „Du brauchst nicht immer fröhlich sein.“, sagte er mit beherrschter Stimme. „Du bist viel mehr als das.“ Auf seine Worte hin erbebte ihr ganzer Körper erneut, als wehre sie sich vehement gegen das, was er sagte. Erik konnte nicht fassen, dass es ihm die ganze Zeit entgangen war! Ja, er hatte gewusst, wie clever Vivien war und dass sie ein unheimliches Talent besaß, Menschen und Situationen zu lenken. Aber was für eine enorme Selbstkontrolle sie dafür brauchte, ja, wie extrem selbstbeherrscht sie die ganze Zeit über gewesen war, wurde ihm nun erst angesichts ihres aufgelösten Zustandes wirklich begreiflich. Dabei hielt er sich selbst für einen Experten auf dem Gebiet der Selbstkontrolle. Schließlich war er dazu erzogen worden, sich selbst stets im Griff zu behalten und nicht zu zeigen, was wirklich in ihm vorging. Aber die Art von Selbstbeherrschung, die er kennengelernt hatte, war immer kalt gewesen, distanziert und abweisend. Vivien dagegen nutzte ihre Selbstbeherrschung völlig anders. Deshalb hatte er es bisher nicht verstanden. Wenn Vitali fröhlich war, dann aus der Situation heraus, unkontrolliert, ohne Hintergedanken. Vivien dagegen war selbst in ihrer Fröhlichkeit kontrolliert, auf eine Art und Weise, die Erik so nicht kannte. Sie lenkte ihre Gefühle offenbar stets mit ihrem Verstand. Er wusste nicht, wie genau sie das machte. Vielleicht durch ihre Gedanken. Doch jetzt, in diesem Zustand, waren ihre Gedanken völlig außer Kontrolle geraten, weil sie nicht mehr die Kraft hatte, sie willentlich zu steuern oder sich von ihnen frei zu machen und selbst zu wählen. Er konnte nicht sagen, woher diese Einsicht kam, doch er wusste dennoch, dass sie der Wahrheit entsprach. Wie musste jemand sich fühlen, der sich immer so extrem kontrollierte und jetzt all dem ausgeliefert war, das er sonst durch pure Willenskraft in Schach hielt? War sie überhaupt noch in der Lage einzuschätzen, was in ihr vorging? Für einen Moment kam es ihm reichlich töricht vor, dass er bisher geglaubt hatte, derjenige zu sein, der am wenigsten zeigte, wer er wirklich war. Wusste überhaupt einer von ihnen, was in Vivien vorging? Was sie dachte und fühlte? Vivien wirkte immer so aufgedreht, selbstbewusst und fröhlich. Sie schämte sich nicht, mit Konventionen zu brechen oder sich in den Augen anderer lächerlich zu machen. Es war, als gelten für sie andere Regeln. Regeln, die sie selbst aufstellte. Aber was, wenn ihre Offenheit nichts als eine besonders geschickte Maskerade war, die keiner durchschaute, weil sie ja nichts geheimzuhalten schien, sondern umso mehr zeigte? Der Gedanke war belastend. Mittlerweile hatten Vivien wohl die Kräfte verlassen, sie schluchzte nicht mehr, sondern lag nur noch wie leblos in seinen Armen. Erik hielt sie fest, während er darüber sinnierte, was sie an diesen Punkt gebracht haben mochte. Offensichtlich war Justin bisher immer so etwas wie Viviens Fels in der Brandung gewesen, von dem es sich jetzt herausgestellt hatte, dass er sie nicht erlösen konnte. Wenn er so darüber nachdachte… Vivien hatte sich immer so sehr um Justin bemüht und Justin hatte das einfach abgetan. Und jetzt, wo sie zusammen waren, hielt er sie offenbar immer noch von sich fern. Nicht mit böser Absicht. Es ging ihm ja selbst nicht gut dabei, soweit Erik das einschätzen konnte. Aber Vivien war nun wohl völlig desillusioniert und mit ihren Kräften am Ende. Nach all den Anstrengungen, die sie unternommen hatte, um mit ihm zusammen zu sein, war die Hoffnung, sich endlich in einem perfekten Happy End ausruhen zu dürfen, an den Klippen der Realität zerschellt. Diese Erkenntnis hatte ihr wohl schmerzhaft klar gemacht, dass ihre Bemühungen nicht zu einem finalen paradiesischen Zustand führen würden. Justin konnte ihr nicht das geben, was sie sich selbst schenken musste. Keiner von ihnen konnte das. Und in gewisser Weise hatte das Gegenteil der Plage, von der Serena besessen gewesen war, Vivien in diese missliche Lage gebracht. Erik ergriff das Wort. „Vivien, Geduld und Selbstbeherrschung sind auch irgendwann mal zu viel. Du brauchst eine Pause.“ Sie reagierte nicht. „He.“, sagte er sachte und versuchte, sie etwas aufzurichten, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Er hielt sie an ihren Oberarmen fest. „Vergiss die anderen mal für einen Moment und schau, was dir gut tut, ok?“ Sie machte ein Gesicht, als dürfe sie das nicht. „Die anderen kommen damit klar. Du musst sie nicht immer schonen.“ Etwas trat in ihr Gesicht, als verstünde sie nicht, dass sie jemand anderem etwas zumuten konnte, sich zumuten, in all ihrer Unvollkommenheit. „Vivien, es hilft niemandem, wenn du dich verstellst, um nicht zu zeigen, wie es dir wirklich geht.“ Sie senkte wieder den Blick. „Sieh mich an.“, forderte er. „Du gehst jetzt nach Hause und ruhst dich aus. Ich rede mit den anderen und erkläre ihnen alles.“ Nun trat Verunsicherung in ihr Gesicht. Offenbar fürchtete sie, dass er ihnen ihr Geheimnis anvertraute. „Ich sage ihnen, dass du nicht besessen bist. Du hast dich einfach übernommen und brauchst Ruhe.“, präzisierte Erik. „Keine Sorge.“ Vivien nickte resignierend. Kapitel 142: Am Ende des Selbst – Begehren und Leid --------------------------------------------------- Am Ende des Selbst – Begehren und Leid   „Aus Angst verletzt zu werden, glaubst du schon an das Ende, bevor es angefangen hat.“ (Unbekannt)   Die anderen hatten tatsächlich keine Widerworte von sich gegeben, als Erik mit Vivien zurückgekommen war und Vitali ohne weitere Erklärung beauftragt hatte, sie nach Hause zu bringen. Obwohl die anderen drei ihn mit fragenden Blicken musterten, wagte keiner ihm eine Frage zu stellen, bevor Vitali schließlich zurück war. Erik atmete geräuschvoll aus. „Sie ist nicht besessen.“ „Und woher weißt du das?“, forderte Serena zu erfahren. Sie wirkte fast schon wütend darüber, dass Erik Vivien einfach alleine hatte gehen lassen.   „Wenn sie es ist, dann sollte ihr ihr trotzdem erst mal Ruhe gönnen.“, gab Erik zurück. Der Argwohn wich nicht von Serenas Zügen. Ariane schaute besorgt. „Was ist denn mit ihr?“ Justin zog automatisch den Kopf ein, als wisse er bereits, dass alles seine Schuld war. Erik wandte sich an ihn. „Nein, es ist nicht deine Schuld.“, sagte er streng. „Das war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“ Justin sah ihn bestürzt an. Erik seufzte. „Sie ist am Ende ihrer Kräfte.“ „Wie meinst du das?“, fragte Ariane. „Vivien ist immer fröhlich, egal, was ist, richtig?“ Eriks Ton wurde vorwurfsvoll. „Glaubt ihr, dass irgendein Mensch wirklich so sein kann?“ Vitali kommentierte leichthin: „Sie ist halt kein normaler Mensch.“ Erik ließ ihm einen strafenden Blick zukommen. „Sie denkt offenbar, dass ihr das von ihr erwartet.“ „Das tun wir nicht.“, dementierte Ariane. „Doch tun wir!“ Die anderen starrten Serena an. Ihr Gesichtsausdruck war hart. Mit geballten Fäusten starrte sie zu Boden.  „Das haben wir doch letztens schon gemerkt.“ Leid zeichnete ihr Gesicht. „Sie kann langsam nicht mehr, aber sie hat sich nicht getraut, es uns zu zeigen.“ „Aber wieso nicht?“, fragte Ariane verständnislos. Serena rang nach Atem. „Damals im Schatthenreich…“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, Vivien wäre komplett gaga und würde nicht verstehen, dass wir in Lebensgefahr sind! Sie war so durchgeknallt und nervig.“ Ihr Gesicht verzog sich schuldbewusst. „Aber in Wirklichkeit ... Ich hab es erst verstanden, als ich sie mit ihren Geschwistern erlebt habe. Sie hat sich einfach so verhalten, wie sie es vor ihnen tun würde. Um sie abzulenken. Sie hat gedacht, sie müsste unsere große Schwester sein. Die ganze Zeit über.“ Jäh wurde sie laut. „Als könnten wir nicht auf uns selbst aufpassen!“ Aufgewühlt blickte sie auf, schien den Tränen nah. „Sie weiß gar nicht mehr, was in ihr selbst vorgeht!“ Ariane und Vitali starrten Serena an. Justin dagegen blickte schuldbewusst zu Boden. Es herrschte kurzes Schweigen.  „Gestern…“, ergriff Justin zaghaft das Wort. „Sie hat angedeutet, dass sie anders ist als ich denke.“ Erik stöhnte. „Sogar ich denke, dass du sie idealisierst.“ Serena nickte zustimmend. Justin schaute getroffen. Erik sprach weiter. „Vivien ist nicht naiv und unschuldig oder dauerfröhlich und unbekümmert. Ich dachte auch, dass sie wirklich glaubt, was sie sonst redet, dass alles positiv ist und … Vielleicht sagt sie das auch nur, um sich selbst zu überzeugen.“ Serena weihte Erik in das ein, was er noch nicht über Vivien wusste: „Sie hat Angst, alleine zu sein.“ Gequält eröffnete Justin: „Das hat sie auch gestern gesagt.“ Erik holte tief Luft. „Alleinsein wird jetzt trotzdem das Beste für sie sein. Es ist nicht gut, dass sie die ganze Zeit auf euch fixiert ist.“ Ariane klang unsicher: „Wir sollen sie also alleine lassen?“ „Ja.“, antwortete Erik überzeugt. „Sie ist viel zu sehr darauf bedacht, euch keinen Kummer zu bereiten, und achtet überhaupt nicht auf sich. Und wenn sie es tut, dann erwartet sie, dass ihr sie trösten könnt, aber das könnt ihr nicht. Nicht mal Justin. Das frustriert sie nur umso mehr und dann denkt sie erst recht, dass sie falsch ist.“ „Woher weißt du das?“, fragte Ariane ungläubig. „Ich weiß es einfach.“, sagte Erik überzeugt, ohne sich auf Diskussionen einzulassen. Er wandte sich an Justin. „Mit dir will ich kurz alleine sprechen. Ihr anderen könnt schon gehen.“ „Wir sollen uns also nicht bei ihr melden?“, hakte Serena nochmals nach. Es war offensichtlich, dass sie glaubte, Vivien dadurch im Stich zu lassen. „Wenn ihr euch nach ihr erkundigt, wird sie sich nur unter Druck fühlen, wieder ‚normal‘ zu sein, damit ihr sie nicht mit euren Sorgen belästigt.“, sagte Erik und wandte sich dann ab, um Justin in den Trainingsbereich zu führen wie Vivien zuvor.   Justin fühlte sich schlecht. Er war so ein Versager. Dass er nicht mal gemerkt hatte, wie schlecht es Vivien eigentlich ging! Und wegen ihm ging es ihr jetzt noch schlechter… „Es ist nicht deine Schuld.“, wiederholte Erik nachdrücklich. Justin war anderer Meinung. Eriks Stimme klang wütend. „Justin, du bestimmst nicht, wie es Vivien geht! Und wenn du dir weiter einredest, dass du das könntest, belastest du sie damit.“ Entsetzt sah Justin zu ihm. Eriks Blick war streng. „Was Vivien jetzt von dir braucht, ist Vertrauen. Sie ist gerade verunsichert und zweifelt daran, dass du sie so akzeptieren kannst, wie sie sich dir noch nie gezeigt hat. Denkst du nicht, dass du ihr genau das demonstrierst, wenn du wie ein Häufchen Elend schaust?“ Schuldbewusst starrte Justin zu Boden. Erik stöhnte. „Es hilft nichts, wenn du dich noch schlechter fühlst! Du tust doch alles, damit es ihr gut geht, oder?“ Justins Gesicht verzog sich. Eriks Stimme wurde mit einem Mal leise und vorsichtig. „Sie hat angedeutet, worum es gestern ging.“ Schock trat in Justins Gesicht. „Justin, ich glaube nicht, dass sie irgendetwas wollte, für das ihr beide nicht bereit seid. Sie wollte einfach nur gesehen und akzeptiert werden.“ Justin biss die Zähne zusammen. Wieso war er wieder der Fehler? Wieso konnte er nicht einfach normal sein? Dann wäre… „Noch mal, es hat nichts mit dir zu tun, dass sie so denkt! Dass sie glaubt, sie dürfe nicht traurig sein oder ihren Schmerz zeigen, ist viel älter als das mit euch. Bezieh es nicht auf dich. So wie ich das sehe, hat deine Reaktion ja auch nichts mit ihr zu tun. Jeder von euch hat sein Päckchen zu tragen. Mach ihres nicht zu deinem.“ „Aber wie soll ich ihr …“ „Indem du selbst stabil bleibst, anstatt sie wie ein begossener Pudel anzuschauen. Du sollst ihr vertrauen und ihr das Gefühl geben, dass du an sie glaubst, auch wenn sie es gerade nicht tut. Verstehst du?“ Justin war sich unsicher, ob er wirklich dazu in der Lage war. „Justin! Hör zu. Du …“ Erik unterbrach sich und stöhnte. Justin hatte das Gefühl, dass selbst Erik langsam zu dem Schluss kam, dass bei ihm Hopfen und Malz verloren war. Er zog den Kopf ein. „Wenn du nicht an dich glaubst, zweifelt sie an sich.“ Justin horchte auf. „Ich weiß nicht wieso, aber jedes Mal, wenn du unsicher wirst, verunsichert das sie.“ Durch Eriks Worte erinnerte sich Justin daran, wie Vivien ihm eröffnet hatte, dass sie sein Vertrauen brauchte, seinen Glauben an sie, weil sie sonst nicht länger an sich glaubte. Er hatte es vergessen. Aber… Er musste den Kloß in seinem Hals hinunterschlucken. Jäh spürte er Eriks Hand auf seiner Schulter. Er versuchte die aufkommenden Tränen wegzublinzeln und verkrampfte sich noch mehr. „Du musst aufhören, dich selbst fertigzumachen.“ Sein Gesicht verzog sich automatisch, er konnte nichts dagegen tun. Ihm war nach Heulen zumute. „Wie soll ich denn…“, presste er hervor und musste erneut schlucken. „Ich will ihr doch vertrauen, wirklich, ich…“ „Du vertraust dir selbst nicht, schon klar.“, sagte Erik, als wäre das mehr als offensichtlich, und zog die Hand zurück. Justin konnte nicht verstehen, wie er diesen Zusammenhang so schnell hatte erkennen können. „Justin, genau deshalb hat dir Vivien monatelang nicht gesagt, dass sie in dich verliebt ist. Sie dachte, du würdest sie abweisen. Ist dir das klar?“, fragte Erik. „Sie dachte, du würdest sie abweisen.“, wiederholte er bedeutungsvoll. Justin konnte dem nicht folgen. „Aber…“ „Sie hat die ganze Zeit übertrieben offensichtliche Annäherungsversuche gemacht, um zu testen, wie du darauf reagierst. Sie hat sich nicht getraut, es dir einfach zu sagen, weil sie Angst hatte.“ Die Eröffnung traf ihn. Vivien hatte Angst gehabt? Wie konnte… Vivien hatte doch keine …, nicht wie er! Sie war doch immer mutig! „Allein wenn ich es mitbekommen habe, bist du ihren Annäherungsversuchen dauernd ausgewichen oder hast sie als Scherz abgetan. Du hast reagiert, als wollte sie sich nur über dich lustig machen. Was glaubst du, wie schmerzhaft es ist, von der Person, die man liebt, dauernd abgewiesen zu werden? Und auch noch unterstellt zu bekommen, man sei boshaft! Sie hat nur deshalb nicht aufgegeben, weil sie an dich geglaubt hat. Egal, wie oft du mit deinem Verhalten das Gegenteil ausgedrückt hast, sie hat an das geglaubt, was sie in dir gesehen hat. Kannst du dir vorstellen, wie hart das für sie war? Wie viel Mut und Vertrauen das erfordert hat?“ Das schlechte Gewissen peinigte ihn. „Wenn sie so lange an dich geglaubt hat, dann könntest du ihr das langsam mal zurückgeben und nicht in Selbstmitleid versinken.“ Justin war unfähig, darauf zu antworten. Er hatte den Eindruck, viel zu schwach dafür zu sein. Zu schwach und unfähig, diesem Anspruch zu genügen. „Warum gibst du immer dir die Schuld und redest dir ein, du wärst nicht gut genug?“ Er verstand die Frage nicht. Die Härte wich aus Eriks Gesicht. „Ich weiß nicht, was in deinem Leben passiert ist, aber Vivien sieht etwas anderes in dir.“ Justin ballte die Hände zu Fäusten und versuchte sich zusammenzureißen. Genau das war doch das Problem! Sie sah etwas in ihm, das er nicht war! Er konnte ihr nicht gerecht werden! Erik stöhnte. „Justin, du kannst dir weiterhin einreden, dass du klein und ungenügend und was weiß ich was bist. Aber das macht es nicht wahr. Du bist ein besonderer Mensch mit einem großen Herzen und viel mehr Stärke als du dir eingestehst. Und irgendwo in dir weißt du das. Du kannst dir einreden, dass Vivien nicht dich will, aber in Wahrheit sieht sie bloß viel deutlicher, wer du wirklich bist. Das hat sie von Anfang an getan. Während du dich vehement dagegen wehrst! Was hält dich davon ab, diese Selbstzweifel einfach loszulassen?“ Die Frage brachte ihn aus dem Konzept. Er wusste es nicht. Was hielt ihn davon ab, seine Selbstzweifel loszulassen? Vivien hatte ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Die Person, von der er sich das am meisten gewünscht hatte! Und doch redete er sich ein, dass sie nicht ihn meinen konnte, dass sie einer Wunschvorstellung hinterher jagte, obwohl er doch wissen musste, dass sie ihn besser kannte als sonst jemand! Sie hatte ihn in seinen schlimmsten Momenten erlebt, als er sich selbst nicht mehr zu helfen gewusst hatte. Er war ihr gegenüber ungerecht geworden, hatte ihr schlimme Vorwürfe gemacht, sie zum Weinen gebracht. Und trotzdem… Trotzdem hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebte, so wie er war, und dass er jetzt schon die Person war, die sie wollte! Warum zweifelte er noch daran? „Es ist…“, begann er zögerlich. „…zu gut, um wahr zu sein.“ Unsicher sah er in Eriks Gesicht, um zu erkennen, ob Erik das verstehen konnte. Mitgefühl wurde auf Eriks Zügen sichtbar. „Weil du das nicht kennst.“ Justin nickte. „Irgendwie… Ich warte immer noch darauf, aufzuwachen und zu merken, dass es nur ein Traum war.“ Er musste weitere Tränen runterschlucken. Eriks Stimme war sanft. „Ich weiß, das ist neu. Und alles Neue macht einem Angst. Aber … Es wird besser werden. Das verspreche ich dir.“ Eriks Mimik schien sich kurz zu ändern, als er weitere Worte sprach: „Du bist nicht mehr der kleine Junge von damals.“ Justin konnte nicht sagen, was es war, aber die Worte fühlten sich von Erik gesprochen nach etwas Gewaltigem an. Etwas, das einen Moment der Ehrfurcht gebot. Justin holte tief Luft. „Danke.“ Ein Wort, in dem so viel lag. Erik nickte ihm zu. „Es wird alles gut.“ „Danke.“, wiederholte Justin. Er wusste nicht, wie er anders ausdrücken sollte, was er gerade empfand. Worte schienen dem nicht gerecht werden zu können. Erik lächelte schwach und gab ihm einen kumpelhaften Klopfer gegen die Schulter. Nach einem weiteren Blick in sein Gesicht stieß Erik die Luft aus, als fühle er sich zu etwas genötigt, das ihm widerstrebte. „Komm her.“, sagte er griesgrämig. Justin verstand nicht. Im gleichen Atemzug umarmte Erik ihn. Justin war zu überrascht über die Geste, um sich zurückzuhalten. Für einen Moment hielt er sich an Erik fest, ohne darüber nachzudenken. Erik ließ es geschehen und trat erst einen Schritt zurück, als Justin ihn losließ. Keiner sagte ein Wort. Justin wusste, wie Erik damals am ersten Schultag auf Arianes Umarmung reagiert hatte. Er hatte sie ihnen gegenüber als Belästigung beschrieben. Für Erik war diese Art von Nähe keine Kleinigkeit. „Wir sollten Ewigkeit rufen, damit sie Vitali holt.“, meinte Erik. Justin nickte. Sein Herz war erfüllt von Dankbarkeit, die für einen Moment durchbrochen wurde von Reue, als er sich daran erinnerte, dass er wenige Tage zuvor in Erwägung gezogen hatte, Secret in der Nebendimension zurückzulassen.   Vivien lag zu Hause auf ihrem Bett. Nachdem Vitali sie herteleportiert hatte, hatte sie sich vor lauter Erschöpfung direkt hingelegt und eine Runde geschlafen. Sie hatte ihren Kopf extra an das Fußende des Bettes gelegt, damit sie nicht zum Fenster und in Justins Zimmer sehen musste. Ihre Geschwister hatten ihr sogar das ganze Kinderzimmer überlassen. Doch jetzt wo sie wieder wach war, wusste sie nichts mit sich anzufangen. Ein Seufzer folgte dem nächsten. Am liebsten wäre sie vor ihrem eigenen Kopf davongelaufen. Oder vor den Empfindungen, die sie nicht abstellen konnte. Ihr war nicht mal danach, sich abzulenken. Es kam ihr so sinnlos vor. Sie griff nach ihrem Handy und schrieb eine Nachricht an Erik. Einfach weil ihr das das Gefühl gab, mit ihren Gedanken nicht komplett alleine zu sein. Ich weiß nicht, wie man sich um sich kümmert. Sie seufzte lang. Es war so viel einfacher, sich um jemand anderen zu kümmern. Das hätte sie wirklich bevorzugt.   Ihr Handy vibrierte. Tu etwas, das dir Spaß macht. Ihr Mund verzog sich. Das Problem war, dass ihr gerade nichts Spaß machte. Sie war einfach zu frustriert und konnte das nicht loslassen. Sie fühlte sich schlicht mies. Ich weiß nicht was., antwortete sie. Mit Erik zu schreiben kam ihr oberflächlich genug vor, um sie nicht wieder einem emotionalen Ausbruch nahezubringen, und ablenkend genug, um nicht zu verzweifeln. Warte. Vivien verstand nicht, was er damit sagen wollte. Vielleicht war er gerade noch mit etwas anderem beschäftigt. Sie starrte auf das Handydisplay, darauf wartend, dass er ihr gleich wieder schrieb. Aber es kam keine weitere Nachricht. Resignierend legte sie das Handy weg. Minutenlang lag sie ausgestreckt auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie seufzte. Und seufzte nochmals. Eigentlich war es auch ein Zeitvertreib, die Decke anzustarren und zu seufzen. Sie atmete durch ihren Mund aus und lauschte dem Geräusch, das dadurch erzeugt wurde. Weitere Minuten verstrichen. Das Klingeln der Haustür drang zu ihr. Sie gab ein unglückliches Geräusch von sich. Ihre Mutter war noch arbeiten und Kai und Ellen fragten zwar üblicherweise, wer an der Tür war, riefen dann aber sie, weil ihnen gesagt worden war, dass sie Fremden nicht die Tür öffnen durften. Das hieß, sie musste aufstehen. Schwerfällig erhob sie sich. Sie hatte keine Lust, der Weg kam ihr so lang vor. Auf der Bettkante blieb sie nochmals sitzen und wartete darauf, dass Kai und Ellen nach ihr riefen. Waren sie etwa nicht zur Tür gegangen? Sie seufzte nochmals und erhob sich. Draußen hörte sie Schritte. Die schnellen, lebhaften Schritte konnte sie zuordnen, das waren ihre Geschwister. Aber da waren auch noch deutlich schwerere. Was? Eilig ging sie zur Zimmertür und riss sie auf. Im Gang stand in Begleitung ihrer Geschwister - „Justin will dich sehen.“, rief Ellen. Da ihre Geschwister ihn kannten, hatten sie ihn wohl einfach hereingelassen. Vivien sah ihn an. Zu ihrer Verwunderung senkte er nicht beschämt und verängstigt den Blick, stattdessen wandte er sich ungewohnt überzeugt an Kai und Ellen. „Würdet ihr uns kurz alleine lassen?“ „Okaaaay.“, maulte Kai und lief zurück zur Treppe. Ellen rannte ihm hinterher. Vivien trat zurück, um den Durchgang nicht länger zu versperren. Ihr wurde klar, dass es in diesem Zimmer auch nur die Betten und einen kleinen Tisch mit Stuhl gab. Bei dem Gedanken ließ sie den Kopf hängen. Sie wartete nur darauf, dass Justin fragte, ob sie sich woanders unterhalten könnten. Einen weiteren Moment lang schwieg er und sie sah ihn nicht an. „Darf ich mich auf dein Bett setzen?“ Als sie ihn ansah, wirkte er etwas verlegen, aber nicht so verstört wie sie es vermutet hatte. „Wenn du willst.“, antwortete sie tonlos. Justin trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er nahm nahe der oberen Bettkante Platz. Vivien wusste nicht, ob sie sich jetzt auch setzen durfte. „Soll ich wieder gehen?“, fragte er, nicht verängstigt, sondern als würde er ihre Meinung einholen. Dennoch machte sie die Frage wütend. Sie biss die Zähne zusammen und antwortete nicht. Doch auch er sagte nichts weiter, sodass sie schließlich hervorpresste: „Erik meinte, ich soll mich um mich kümmern.“ Sie klang selbst in ihren eigenen Ohren extrem abweisend und bissig. Justin wirkte äußerst überrascht. Er sah kurz zu Boden, dann wieder zu ihr auf. „Erik hat mich angerufen und gesagt, ich soll zu dir kommen.“ Vivien konnte es nicht fassen. Was hatte Erik sich dabei gedacht? Das war doch das Gegenteil von dem, was er ihr zuvor gesagt hatte! Justins Stimme wurde leise. „Wir brauchen nicht... Ich wollte nur…“ Er unterbrach sich. Anschließend klang seine Stimme wieder fester. „Ich wollte in deiner Nähe sein, egal ob du traurig oder wütend bist oder irgendetwas anderes, das ich bisher nicht an dir kenne. Ich… Ich wollte nur da sein. Damit du das weißt.“ Vivien starrte ihn an, er wirkte überzeugt. Dann wandte sie den Blick ab. Sie ging nicht davon aus, dass er diesem Vorsatz treu bleiben würde. Sie durfte sich ja nicht mal neben ihn auf das Bett setzen. „Willst du dich nicht setzen?“ Sie reagierte nicht. „Wenn es dir unangenehm ist, -“ „Nein!“, fuhr sie ihn an. „DIR ist es unangenehm! Nicht mir!“ Justin sah sie getroffen an. Sie wich seinem Blick aus. Wieder hörte sie ihn die Luft ausstoßen. Er griff nach ihrer Hand, sie wehrte sich nicht. „Setz dich.“, bat er sachte. Noch immer regte sie sich nicht. Seine Hand ließ los. Sie hörte, wie er aufstand, offenbar um zu gehen. Bei dem Geräusch hätte sie am liebsten losgeheult. Plötzlich stand er vor ihr und legte seine Hände auf ihre Oberarme. Sie durchbohrte ihn mit ihren Blicken, doch er ließ sich nicht davon abbringen, sie sanft, aber bestimmt zu ihrem Bett zu führen und sie mit behutsamem Druck dazu zu bringen, sich zu setzen. Noch immer stierte sie ihn argwöhnisch an. Er setzte sich neben sie. Ihr war das unangenehm. „Tut mir leid, was ich gestern gesagt habe.“, sagte Justin. „Du wolltest doch nicht reden.“, unterbrach sie ihn. Oh Gott, sie klang wirklich giftig. Sie hörte Justins tiefe Atemzüge, als müsse er sich zur Ruhe mahnen. „Es ist mir egal, wenn du wütend bist.“, sagte Justin langsam, dann kam plötzliche Hektik in seine Stimme. „Ich meine, es ist mir nicht egal! Ich… Es ist mir nicht wichtig! Also - Es ist okay!“ „Ich bin nicht wütend.“, zischte sie beleidigt. Justin holte Luft. „Ich wollte damit sagen: Ich erwarte nicht, dass du immer fröhlich bist. Ich bleibe auch so bei dir.“ Seine Hand legte sich auf ihre. Ruckartig riss sie sich von ihm los und starrte ihn an, als wolle er ihr ein Leid antun. Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er das nicht deuten konnte. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn gar nicht dahaben wollte. Aber… Sie konnte nicht. Wieder hörte sie Justin seufzen. Das Geräusch schmerzte sie. Wieso ging er nicht einfach? So wie immer, wenn ihre Gefühle ihn überforderten! Warum musste er ihre falschen Hoffnungen auch noch nähren?! „Ich kann mich auch einfach in eine Ecke setzen und was anderes machen, wenn dir das lieber ist.“, bot er an. Sie gaffte ihn an. Er schien das wirklich ernst zu meinen. Ihre Augen wanderten zu ihren Händen, die sie zu Fäusten geballt auf ihren Beinen liegen hatte. Sie wusste nicht, was sie wollte. Sie hatte viel zu große Angst, irgendetwas von Justin zu wollen, das doch nur wieder enttäuscht wurde. Ihre Atmung wurde hektisch. „Vivien?“ „Ich weiß nicht.“, stieß sie aus wie ein beleidigtes Kind. „Okay.“, sagte Justin langsam. „Ist es in Ordnung, wenn ich hier sitzen bleibe?“ „Ist mir doch egal!“ Himmel, sie klang immer mehr wie ein trotziges Kind! Sie rang nach Atem. Justin sagte nichts. Ihre Atemgeräusche bekamen etwas Weinerliches. Aber Justin berührte sie nicht. Das wollte sie auch gar nicht! Er sollte sie in Ruhe lassen! So wie immer... Bei dem Gedanken steigerte sie sich noch mehr in ihr stummes Jammern hinein. Sie wollte Justin von sich stoßen. Sie wollte – Sie wusste nicht, was sie wollte! Sonst war sie immer über ihren Schatten gesprungen, hatte ihren Stolz hinter sich gelassen und hatte sich in seine Arme geworfen. Aber … Sie konnte nicht. Sie hatte solche Angst davor, wieder abgelehnt zu werden. Wieder und wieder. Sie wollte nicht zulassen, dass er ihr wieder wehtun konnte. Was wollte sie eigentlich? Schluchzend sog sie die Luft ein. Sie wollte Justin! Aber … das ging nicht. „Vivien, ich bin da.“, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. Sie durfte das nicht zulassen. Er würde ihr wieder wehtun. Sie durfte sich keine Hoffnungen machen. Sie… Sie hatte nicht mehr die Kraft für all diese Gedanken. Stumm starrte sie auf das Doppelbett ihrer Geschwister. Alles war egal. Alles sollte egal sein. Sie schloss die Augen. Sie hörte nur noch ihren eigenen und Justins Atem. Warum war er noch hier? Es war egal. Sie musste atmen. Sie fühlte sich so schwach. So hilflos und ausgeliefert. Ohne darüber nachzudenken, ließ sie sich zur Seite kippen und lehnte sich gegen Justin, immer noch schwer atmend. Wenn es eh wehtat, war das hier doch auch egal. Auf ihre Nähe hin nahm Justin ihre Hand und drückte sie. Ihre Aufmerksamkeit galt allein ihrer Atmung. „Du musst richtig atmen.“, sagte er. Entfernt erinnerte sie sich daran, dass sie das zu ihm gesagt hatte. Sie hatte keine Lust, zu hyperventilieren und bemühte sich, die Atemintervalle zu verlängern. Aber sie war so schwach, so erschöpft. „Justin…“ Sie konnte sich nicht mehr so halten und ließ sich hinter ihm aufs Bett fallen. Sie spürte, wie seine Hand ihre Wange berührte. „Vivien?“ Ihre Beine wurden aufs Bett gehievt. Dann versuchte Justin offenbar ihr ein Kissen unter den Kopf zu schieben, das er von der anderen Bettseite geholt hatte. Noch immer mit Atmen beschäftigt, öffnete sie die Augen und sah Justin an. „Justin…“, flüsterte sie hilflos, immer noch im Kampf mit sich selbst. Er kniete besorgt vor dem Bett. Atemlos hauchte sie: „Ich liebe dich.“ Ihr Gesicht verzog sich angesichts der widerstreitenden Gefühle in ihrem Inneren, dem Anspruch, ohne ihn leben zu müssen, und der verzehrenden Verzweiflung, ihn zu verlieren. Er legte seine große warme Hand auf die Seite ihres Gesichts und sie schloss die Augen. „Geh nicht weg…“, winselte sie. „Ich gehe nicht weg.“, sagte er mit sanfter Stimme.   Langsam fragte sich Justin, ob das Ganze nicht doch etwas mit einer Plage zu tun hatte. Vivien schien es wirklich schlecht zu gehen. Sollte er die anderen rufen? Er hatte Angst, etwas falsch zu machen. Was, wenn er zu spät handelte? Er konzentrierte sich wieder auf Vivien und bemerkte, dass sich ihre Atmung angesichts seiner Berührung langsam beruhigte. Mit geschlossenen Augen lag sie da, als wäre sie einfach nur todmüde und kurz davor, einzuschlafen. Wie sie so da lag, sah sie aus wie ein Engel. Ein schwacher, entkräfteter Engel, der nicht mehr konnte.   Kurz überlegte er, sich zu ihr zu legen. Aber… Das ging doch nicht! Er schluckte. Es war besser, wenn er einfach nur so bei ihr blieb, auch wenn es unbequem war, auf dem Boden zu knien. Ihre Atmung wurde wieder schwerer. „Vivien?“ Sie öffnete schwerfällig die Augen. „Kann…“ Er musste die Augen niederschlagen. „Kann ich mich zu dir legen?“ Das war so peinlich... Sie antwortete nicht. Zu seiner Verwunderung hörte er dann, wie sie sich bewegte und sah, dass sie ihm Platz im Bett machte. Übergroße Scham überkam ihn. Wenn ihre Geschwister reinkommen würden, was würden sie denken? Vivien sah ihn an. Sie wirkte so zerbrechlich. Da er sich schon am Hauseingang seiner Schuhe entledigt hatte, konnte er sich einfach zu ihr legen. So wie er sich dabei fühlte, war er vermutlich wieder ziemlich rot im Gesicht. Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Das Bett war nicht superbreit, sie konnten nur beide darin Platz finden, wenn sie jeweils auf der Seite lagen. Vivien sah ihn aus ihren amethystfarbenen Augen an. Justin hob den Arm, um ihn um sie zu legen, und hatte das Gefühl, als stünde er kurz davor zu zittern. Noch immer sah sie ihn so verletzlich an, als wolle sie ihm etwas sagen. Er nahm allen ihm verbliebenen Mut zusammen und rückte näher zu ihr. Als hätte er damit einen Bann gebrochen, kam sie daraufhin etwas näher, hielt sich mit ihrer Linken an seinem Oberteil fest und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Er legte den Arm schützend um sie. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Einige Momente blieben sie so liegen, während Justins Herz massenweise Blut durch seinen Körper pumpte. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Justin hatte den Impuls aufzuspringen, doch bevor er das tun konnte, fragte Ellens Stimme bereits: „Was tut ihr da?“ Die Situation war ihm so peinlich, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Er war nur dazu gekommen, sich auf seinen Ellenbogen zu stützen und sich halb zu Ellen zu drehen. „Vivien geht es nicht gut.“, japste er. Ellen kam heran und besah sich die Situation genauer. Justin glaubte, vor Scham im Erdboden versinken zu müssen. Wie die Kleine so fachmännisch begutachtete, wie er mit Vivien im Bett lag, war einfach ein Albtraum! „Sie –“ Ellen unterbrach ihn mit strengem Blick und legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Ssch!“ Verdutzt sah er die Kleine an. Sie deutete mit ihrer Hand auf Vivien und formte dann mit beiden Händen ein Kissen, das sie sich an ihr Gesicht hielt, um ihm gestisch verständlich zu machen, dass Vivien schlief. Dann nickte sie ihm zu und ging wieder aus dem Zimmer. War das gerade wirklich passiert? Verschämt legte er sich wieder und versuchte nicht länger über die Situation nachzudenken, was ihm natürlich nicht gelang! Plötzlich schlang Vivien ihren Arm um seinen Brustkorb. Von wegen sie schlief! Sie gab ein Kichern von sich. Das war echt gemein! Schließlich hätte sie Ellen erklären können, was vorging! Dennoch stahl sich ein Lächeln auf Justins Lippen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit er Viviens Lachen zuletzt gehört hatte. Er legte seinen Arm wieder um sie und spürte, wie sie sich an ihn kuschelte. „Soll ich dich zudecken?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, an seine Brust gelehnt. „Kann ich sonstwas für dich tun?“ Wieder kicherte sie. Irgendwie ließ ihm das warm ums Herz werden. Ja, er mochte es, wenn sie fröhlich war. Er wollte einfach, dass sie glücklich war. Aber er wollte auch für sie da sein, wenn sie es nicht war. „Willst du etwas schlafen?“ „Ja.“, sagte sie sanft. „Dann sollte ich dich doch zudecken.“, meinte er und löste sich von ihr. Die Decke hatte sie zusammengerollt gegen die Wandseite des Bettes gelegt. Er breitete sie über Vivien aus. Dann legte auch er sich darunter und nahm die Position von zuvor ein. „Danke.“, flüsterte Vivien in niedlichem Ton. „Ich pass auf dich auf.“ Was redete er denn da? Das klang bestimmt lächerlich in ihren Ohren. Aber Vivien sagte nichts, sie lachte auch nicht. Justin schloss ebenfalls die Augen.   Justin kam zu sich und stellte bestürzt fest, dass er eingenickt war. Als er die Augen öffnete, sah er sich Vivien gegenüber, die ihren Platz an seinem Brustkorb verlassen und sich auf die Höhe seines Gesichts gelegt hatte. Sie lächelte und machte den Eindruck, als habe sie ihn schon länger beobachtet. Normalerweise wäre er errötet, aber er war noch zu verschlafen dafür. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und setzte sich auf. „Wie geht es dir?“, fragte er. Vivien stützte sich ebenfalls auf den Unterarm und lächelte ihn als Antwort lieblich an. Im Zimmer war es relativ dunkel. Der Blick aus dem Fenster verriet, dass es bereits dämmerte. „Danke.“, sagte Vivien. Er wandte sich wieder ihr zu. „Ich habe nichts gemacht.“ Vivien lächelte zärtlich. „Doch hast du.“ Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Etwas verlegen stand Justin auf und setzte sich auf die Bettkante. Er wollte nicht auch noch von Viviens Mutter mit ihr im Bett überrascht werden. Plötzlich wurde er von hinten von Vivien umarmt, sie kicherte vergnügt, und lehnte ihr Gesicht gegen seines. Irgendwie gefiel ihm das sehr. „Ich hab dich lieb.“, lachte sie fröhlich. „Ich dich auch.“, erwiderte er. Wieder gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und ließ ihn dann los. „Danke, dass du gekommen bist.“ Sie hatte wohl begriffen, dass er gehen wollte. Er stand auf und lächelte sie an. „Ich würde dann…“ Er deutete mit dem Daumen an, dass er sich auf den Heimweg machen wollte. „Justin.“ Er hielt noch mal inne. Vivien kam aus dem Bett geklettert und stellte sich mit erwartungsvoll funkelnden Augen vor ihn. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, mit klopfendem Herzen beugte er sich zu ihr und gab ihr einen vorsichtigen Kuss auf den Mund. Sie strahlte daraufhin glückselig. „Bis morgen.“, sagte er. Sie nickte fröhlich und er konnte nicht in Worte fassen, wie glücklich es ihn machte, dass ihr wunderschönes Lächeln zurückgekehrt war. Er wollte sich umwenden, als er nochmals innehielt. „Vivien. Ich… Wenn irgendwas ist… Egal was ist…“ Er wusste nicht, wie er das am besten ausdrückte. Er rang nach Worten. „Du brauchst nichts sagen.“, unterbrach sie ihn. „Tut mir leid, dass ich…“ Ihr Gesicht verzog sich einen Moment. „… an dir gezweifelt habe.“ Justin schnaubte belustigt. „Nicht so oft wie ich.“ Sie ergriff mit beiden Händen seine Linke. „Ich will nicht an dir zweifeln.“ „Das ist okay. Hauptsache, du zweifelst nicht an dir.“ Er sah sie mit festem Blick an. „Du bist wundervoll.“ Aus irgendeinem Grund entzog sie ihre Augen den seinen. Geradezu als wären seine Worte zu viel für sie, als könne sie damit nicht umgehen. War Vivien so unsicher? Er hatte geglaubt, sie wüsste, wie großartig und wertvoll sie war. Hatte er die ganze Zeit übersehen, wie es wirklich um sie stand? Er besann sich des Ratschlags, den Erik ihm gegeben hatte. „Ich werde…“ Er holte nochmals Luft. „Ich versuche an mich zu glauben, auch wenn das neu ist und ich nicht weiß, wie gut mir das gelingt, aber … Ich gebe mir Mühe.“ Vivien sah zu ihm auf. Er konnte ihren Blick nicht deuten. Er rang sich zu weiteren Worten durch. „Glaub… bitte auch an dich. Ich tue es.“ Irgendwie schien sie das zu Tränen zu rühren. Hatte er etwas Falsches gesagt? Vielleicht war das dumm gewesen oder peinlich. Vielleicht… Sie ließ seine Hand los und schlang ihre Arme um seine Taille. „Danke.“, sagte sie. Er erwiderte die Umarmung, auch wenn er nicht wusste, wofür sie sich bedankte. Er spürte, dass sie leicht bebte, als würde sie Schluchzer unterdrücken. Hatte er sie wieder traurig gemacht? Wäre er nur still geblieben! Eben war es ihr doch so gut gegangen! Sie stieß die Schluchzer nun hörbar aus. Er hielt sie fest, doch ihre Schluchzer wurden nur lauter. „Vivien.“ Er schob sie sacht von sich, um ihr Gesicht zu sehen. „Danke.“, schluchzte sie. Er konnte das nicht nachvollziehen. Wovon redete sie? Sie verdeckte ihr Gesicht mit ihren Händen, als wolle sie ihn ihre Tränen nicht sehen lassen. Behutsam umfasste er ihre Handgelenke und gab ihr mit einer sachten Bewegung zu verstehen, dass sie sich nicht verstecken brauchte. Mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. „Was hast du?“, fragte er. „Ich bin so froh.“, schluchzte sie. Er verstand nicht. „Dass du an dich glauben willst.“, antwortete sie, ohne dass er die Frage laut ausgesprochen hatte. Er war von ihren Worten einen Moment überfordert. „Das macht mich glücklich.“, weinte sie und wischte sich Tränen aus den Augen. „Glaubst du mir?“ Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte. „Dass du der wundervollste Mann auf der ganzen Welt bist?“ Er errötete. Das war für den Anfang doch etwas viel verlangt. „Dass du für mich der wundervollste Mann bist?“, verbesserte Vivien. Er reagierte nicht sofort. Zum einen fühlte er sich immer noch mehr wie ein kleiner Junge als wie ein Mann, zum anderen klang das immer noch so abwegig, aber… wenn sie das sagte, musste er ihr doch glauben. Zögerlich nickte er. „Wenn du mir glaubst, dass du… für mich…“ Er schämte sich, es in Worte zu fassen. Klang das nicht alles zu kitschig? Vivien gab ein ersticktes Lachen von sich und nickte. „Ich würde dich küssen, aber dann kriege ich keine Luft mehr.“ Nun musste auch Justin lachen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Du bist so wundervoll.“, wimmerte Vivien. Er hörte nicht auf seinen Kopf, der ihm das Gegenteil weismachen wollte, und lächelte sie an. Obwohl sie ihm gesagt hatte, dass sie keine Luft bekommen würde, beugte er sich zu ihr und gab ihr einen langen Kuss. Kapitel 143: Geduld und Selbstannahme ------------------------------------- Geduld und Selbstannahme   „Sei, wer du bist und sag, was du fühlst! Denn die, die das stört, zählen nicht - und die, die zählen, stört es nicht.“ (Theodor Seuss Geisel)   Als Justin aus Viviens Haustür trat, erinnerte er sich an Eriks Worte: „Wenn du bei Vivien warst, ruf Vitali an. Ich weiß, du siehst das nicht, aber für ihn ist es wichtig, dass du ihn wie einen Freund behandelst.“ Justin hatte sich nicht getraut zu sagen, dass er nicht wusste, wie man einen Freund behandelte. Außerdem hatte er sich mehr Sorgen um den Besuch bei Vivien gemacht. Er war vom Schlimmsten ausgegangen, nämlich davon, dass sie ihn gar nicht empfangen würde. Ihm wurde jetzt erst bewusst, wie pessimistisch das wieder gewesen war. Dabei hatte er Erik gegenüber doch gesagt, dass er Vivien vertrauen wollte. Er betrat das Haus und begab sich ins Wohnzimmer, wo das Festnetztelefon stand. Dort hatte er die Nummern seiner Freunde hinterlegt, sodass er Vitalis Nummer bloß ablesen brauchte. Vitalis Mutter nahm den Hörer ab, es dauerte allerdings nicht lange, ehe Vitali an den Apparat kam. Statt eines Hallos rief Vitali direkt: „Wie geht’s dir?“ Justin fragte sich, ob er Vitali nicht einen unnötigen Schreck mit seinem Anruf eingejagt hatte, schließlich war dieser es nicht gewöhnt, dass er sich bei ihm meldete. „Ähm, gut.“ „Sicher?“, hakte Vitali nach. Irgendwie war Justin nicht davon ausgegangen, dass Vitali sich solche Sorgen um ihn machen würde. „Ja.“, antwortete er zögerlich. „Ich war gerade bei Vivien.“ „Wie geht’s ihr?“, rief Vitali noch lauter als zuvor. „Gut.“, antwortete Justin leise. „Wirklich?!“ Justin zögerte und schüttelte dann den Kopf, um den aufkommenden Zweifel zu verscheuchen. „Ja.“ Er hörte Vitali erleichtert aufatmen. „Kann ich das den anderen schreiben?“, fragte er aufgeregt. Justin horchte auf. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, die anderen zu informieren. Dabei hatte er doch gesehen, dass sie sich ebensolche Sorgen um Vivien gemacht hatten. „Ich denke schon.“ „Warte, ich hol mein Handy.“ Justin war überrascht, dass Vitali das direkt in die Tat umsetzen wollte, andererseits war es Vitali und wahrscheinlich war es besser, die anderen schnellstmöglich darüber in Kenntnis zu setzen. „Okay, erledigt.“, sagte Vitali, als er wieder am Apparat war.  Es herrschte kurzes Schweigen. Vitali durchbrach die Stille. „Also du und Vivien, ihr wart vorher kein Paar?“ Justin verneinte beschämt. „Aber ihr seid doch immer Hand in Hand gelaufen und habt euch wie ein Pärchen benommen!“, rief Vitali. „Ihr habt euch dauernd so angeschmachtet und umarmt und Vivien hat dir auf dem Jahrmarkt doch diese Lebkuchenherz gekauft, auf dem ‚Mein Schatz‘ stand! Und sie hat sich dauernd an dich gekuschelt!“ Justin stockte. Aus Vitalis Mund klang das tatsächlich komplett anders als das, was er wahrgenommen hatte. Wenn er jetzt darüber nachdachte: Was war er nur für ein begriffsstutziger Trottel gewesen? Vitali sprudelte weiter. „Und ihr wart doch beide ineinander verknallt. Oder nicht? Und Vivien wusste doch, dass du sie magst. Ich kapier das nicht. Wieso wart ihr dann nicht zusammen?“ Kleinlaut gestand Justin: „Ich dachte nicht, dass sie mich auch mag.“ „Häääääää?!“, rief Vitali fassungslos. „Noch offensichtlicher geht ja wohl nicht!“ Irgendwie war es frustrierend, das von Vitali zu hören. Justin rang sich dazu durch, ihm zu offenbaren, woran es wohl schlussendlich gelegen hatte. „Ich dachte nicht, dass ich gut genug bin.“ „Hä? Wieso sollst du nicht gut genug sein?“ Vitali schien das überhaupt nicht nachvollziehen zu können, als wäre es für ihn selbstverständlich, dass Justin für alles gut genug war. „Sie ist doch komplett verrückt nach dir. Wenn es um dich geht, ist sie total aufgedreht und hat dieses krasse Leuchten in den Augen, als würde sie am liebsten über dich herfallen und dich die ganze Zeit abknutschen.“ Justin konnte nicht fassen, dass Vitali das so deutlich erkannt haben sollte. „Vitali.“ „Ja?“ „Fällt dir immer so viel auf?“ „Hä?“ „Diese ganzen Kleinigkeiten.“ „Das sind doch keine Kleinigkeiten.“, meinte Vitali verständnislos. „Kleinigkeiten fallen mir nie auf.“ Justin fragte sich, was Vitali als Kleinigkeiten definierte. Vitalis Stimme nahm wieder einen ruhigeren Klang an. „Und Vivien geht’s wirklich wieder gut?“ „Ich hoffe es.“, meinte Justin kleinlaut. Konnte er sich da wirklich sicher sein? „Also habt ihr euch wieder vertragen.“, schlussfolgerte Vitali. „Ich denke schon.“ „Was heißt denn ‚Ich denke schon‘? Du musst doch wissen, ob ihr euch vertragen habt!“, schimpfte Vitali. Justin wurde unsicher. „Ich glaube ja.“ „Mann! Vivien ist doch voll anzusehen, ob sie wieder glücklich ist oder nicht. Also war sie wieder glücklich?“ „Ich glaube schon.“, antwortete Justin. „Justiiiin!“, rief Vitali. „Wieso glaubst du nur und weißt es nicht?“ „Woher soll ich denn wissen, was wirklich in ihr vorgeht?“, klagte Justin verunsichert. „Ich habe es vorher doch auch nicht erkannt.“ Er ließ den Kopf hängen. „Sogar du hast es besser verstanden als ich.“ „Was heißt denn, ‚sogar‘ ich?“, maulte Vitali. „Äh, so war das nicht gemeint!“ rief Justin eilig. „Es… Es ist nur, dass ich doch mehr Zeit mit ihr verbracht habe, aber ich habe gar nichts verstanden.“ Vitali stöhnte. „Mann, Justin, du bist einfach so unsicher.“ Justin schwieg. Vitali sprach weiter. „Ich weiß manchmal nicht, wer schlimmer ist, du oder Tiny.“ Justin stockte. Vitali verglich ihn mit Serena? Das… – Sie waren doch ganz unterschiedlich. „Ihr redet euch immer irgendeinen Mist ein. Ihr denkt zu viel!“ Diesen Satz von Vitali zu hören, war irgendwie nicht wirklich dazu geeignet, Justin dazu zu bewegen, weniger zu denken. Vitali gab ein wütendes Geräusch von sich. „Du denkst auch, ich denke zu wenig.“ Woher? Justin konnte dem nicht widersprechen. Vitali setzte fort. „Ich weiß nicht, was daran so toll sein soll, sich über Dinge Gedanken zu machen, die man eh nicht ändern kann.“ Justin wandte ein: „Aber man muss sich Gedanken machen, damit man nichts Dummes macht.“ „Ja klar.“, sagte Vitali geradezu beleidigt. „Deshalb bist du ja auch erst gestern mit Vivien zusammengekommen.“ Das saß. Justin kam sich wie ein Trottel vor. Vitalis Stimme nahm wieder einen versöhnlicheren Ton an. „Wieso glaubst du immer, alles kontrollieren zu müssen?“ „Weil man sich nicht auf gut Glück irgendwo hineinstürzen kann.“, antwortete Justin. „Die meisten Sachen kann man doch eh nicht im Voraus wissen.“, entgegnete Vitali. „Außerdem ist es ein Unterschied, ob man über was nachdenkt wie Vivien oder ob man sich alles schlecht redet wie du und Tiny.“ Ein weiterer Treffer. Justin fragte sich, ob Vitali das mit Absicht tat oder ob er unbeabsichtigt seine wunden Stellen attackierte. „Wieso vergleichst du mich mit Serena?“, fragte er. Vitalis Stimme wurde ungewohnt ruhig. „Weil ihr beide nicht glaubt, dass man euch mag.“ Justin musste schlucken. Vitali wurde noch leiser. „Egal wie sehr man sich anstrengt...“ Justin war zu bestürzt über Vitalis Worte, um etwas entgegnen zu können. Er fühlte sich daran erinnert, wie Vivien ihm am Tag zuvor vorgeworfen hatte, dass nichts, was sie tat, gut genug für ihn war. Vitali fuhr fort. „Ich kapier ja, dass ihr das nicht mit Absicht macht. Aber … könntet ihr nicht einfach aufhören, euch fertigzumachen?! Das ist echt anstrengend!“ „Tut mir leid.“, sagte Justin bedrückt. „Ey, du sollst dich nicht entschuldigen!“, ermahnte Vitali ihn. „Das ist es doch! Ihr braucht euch nicht immer dafür entschuldigen, dass ihr so seid wie ihr seid! Keiner von uns hat damit ein Problem!“ Justin wusste nicht, was er darauf antworten sollte. „Sei einfach wie du bist.“, verlangte Vitali. Aber war das nicht der Grund, warum Vivien die ganze Zeit gelitten hatte, weil er so war wie er war? Wenn er anders gewesen wäre, wäre das nicht besser gewesen? „Hörst du mir eigentlich zu?!“, rief Vitali. „Ich… Wenn ich so bin wie ich bin, dann bin ich… dann zweifle ich an mir. Du hast doch gesagt, ich soll das nicht.“ Vitali stöhnte. „Alter, warum machst du dich wieder selbst fertig?“ „Weil… Ich hab Vivien dadurch doch nur Ärger gemacht…“ Vitalis Stimme triefte nur so vor Ironie. „Ja klaaar, deshalb ist sie auch volle Kanne in dich verknallt, weil du ihr niiiiichts als Ärger machst!“ Er wurde wieder lauter. „Erde an Justin! Hörst du dir eigentlich zu? Vivien hat kein Problem damit, dass du so bist wie du bist. Das hast du! Du redest dir dauernd ein, dass du schlecht bist! Jetzt schon wieder!“ Die Erkenntnis traf Justin. Dabei hatte er Vivien gegenüber doch eben noch behauptet, an sich glauben zu wollen. Und nun tat er schon wieder das Gegenteil! Er ließ den Kopf hängen und schwieg. Vitali sprach tief und drohend. „Justiiiiiin… Es ist okay! Mann, dann machst du dich eben manchmal fertig. Aber du machst dich auch noch dafür fertig, dass du dich fertig machst! Chill doch mal!“ Justin wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Vitali fuhr fort. „Jedem geht mal was schief. Das gehört halt dazu.“ Er wurde wieder lauter: „Ey, alle reiben mir dauernd unter die Nase, dass ich alles falsch mache! Und weißt du was: Na und?! Die sollen’s doch besser machen!“ Die Aussage brachte Justin zum Schmunzeln. „Du bist du, und keiner weiß, wie das ist. Außer dir! Du brauchst nicht machen, was jemand anderes sagt.“, verkündete Vitali. „Du willst dich weiter fertig machen, dann mach! Sei einfach du!“ Justin war von diesem Vorschlag einen Moment überfordert. Einfach er sein? „Wirklich?“ „Ja!“, bestätigte Vitali. „Wir mögen dich so.“ Verlegen rang Justin nach Worten. „Danke.“ „Jo.“, machte Vitali. Justin zögerte einen Moment. Doch nach all den lieben Worten, die Vitali ihm gerade gesagt hatte, wollte er noch etwas klarstellen. „Ähm, Vitali.“ „Hm?“ „Wenn ich dich manchmal … Wenn ich dich tadle, …“ Vitali lachte. „Ich bin ich.“ Justin musste lächeln. Ja, Vitali war Vitali. Und Justin war froh darüber.   Nach dem Abschied blieb Vivien mit einem stillen Lächeln in ihrem Zimmer zurück und setzte sich wieder auf ihr Bett. Ihr Blick fiel auf ihr Handy. Mit einer sachten Bewegung nahm sie es zur Hand und lächelte beseelt. Danke, tippte sie und schickte die Nachricht an Erik. Sie atmete erleichtert auf. Zu ihrer Überraschung signalisierte ihr Handy ihr, dass sie eine Nachricht erhalten hatte. Dabei war sie nicht davon ausgegangen, dass Erik ihr darauf antworten würde. Wir sollten reden. Ein mulmiges Gefühl wurde in Vivien wach. Wenn Erik reden wollte, dann… Sie versuchte, die Unsicherheit abzuschütteln. Es war ihr doch gerade erst gelungen, endlich aus diesem Albtraum an Gefühlen aufzuwachen! Sie wollte nicht riskieren, dass sie wieder in diesen Strudel gesogen wurde. Nicht jetzt! Sie war noch zu instabil dafür. Sie atmete aus. Wieso hatte sie solche Angst davor, mit Erik zu reden? Kurz hielt sie inne. Weil er sie durchschauen konnte und sie sich davor fürchtete, dass er mehr sah, als sie gerade zu ertragen im Stande war. Weitere Momente zögerte sie. Sie war noch nicht in der Lage, die Wahrheit zu verschleiern, das wusste sie. Wenn sie jetzt mit ihm sprach, war sie komplett ungeschützt seinem prüfenden Scharfsinn ausgesetzt – dafür brauchte er sie nicht einmal sehen. Er würde alles erkennen, was sie bisher verborgen gehalten hatte. Vivien seufzte. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich vor ihm zu verstecken. Vielleicht wollte sie das auch nicht mehr. Nach allem, was er heute für sie getan hatte. Die Rührung löste kurz das Gefühl von Tränen in ihr aus. Sie zog die Nase hoch und wählte Eriks Nummer für einen Anruf aus. Ihre Nervosität wuchs, während sie darauf wartete, dass er abnahm. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass er es nicht tat, weil sie noch nicht dazu bereit war, nicht wusste, wie sie es jemals sein sollte. Es war zu viel die letzten beiden Tage passiert. Nein. Die letzten Wochen seit Secret aufgetaucht war! Und doch spürte sie die tiefe Zuneigung, die sie für ihn empfand, weil er trotz all dem ein so guter Mensch war. Sie hörte wie der Anruf entgegengenommen wurde, doch es fiel kein Wort. „Erik?“ Ihre Stimme hörte sich in ihren eigenen Ohren unsicher an. Wieder schwieg er. „Alles okay…?“, fragte sie nun noch kleinlauter. Keine Antwort. Vivien bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Endlich erklang seine Stimme – fest und streng: „Du musst aufhören, den anderen nur deine Maske zu zeigen.“ Ein Satz. Keine Einleitung, keine Vorwarnung. Umso tiefer ging seine Aussage. Für einen Augenblick war sie unfähig, darauf zu reagieren. Auch von der anderen Seite kam kein weiterer Laut. Momente verstrichen, in denen keiner von ihnen etwas sagte. Dann hörte sie ein Seufzen von Erik kommen. Hatte … hatte er das überhaupt auf sie bezogen oder auf sich? Wollte er in Wirklichkeit mit ihr über etwas reden? Darüber hatte sie nicht nachgedacht. Aber… etwas sagte ihr, dass Erik sich ihr nie auf diese Weise mitteilen würde. Vor allem nicht wenn er wusste, dass es ihr zuvor noch so schlecht gegangen war. „Vivien, denkst du, die anderen haben nicht längst gemerkt, dass du die ganze Zeit versuchst, sie fernzuhalten?“ Sie wollte ihm widersprechen, sie hielt niemanden …. – Sie konnte nicht. „Du versuchst, alles mit dir alleine auszumachen. Der einzige, den du noch halbwegs an dich ranlässt, ist Justin. Denkst du, es ist fair von dir, von allen zu erwarten, sich dir zu öffnen, aber umgekehrt, alle auf Abstand zu halten?“ Sie spürte das Kribbeln in der Nase und das unangenehme Gefühl in ihren Augen, das Tränen ankündigte. „Du spielst die Oberflächliche, damit andere nur deine Oberfläche sehen, aber Serena hat längst verstanden, wie verletzlich du wirklich bist, und Vitali – er sieht dich wohl am klarsten so wie du bist, weil er als einziger nicht ständig damit beschäftigt ist, sich selbst zu schützen.“ Vivien stockte bei Eriks Worten. „Serena hat immer noch Angst, verletzt zu werden, Justin hat Angst, sich zu blamieren, und Ariane versucht dauernd, perfekt zu sein. Jeder von ihnen interpretiert aus dieser Perspektive heraus dein Verhalten.“ Kurz pausierte Erik und sie glaubte, dass er für einen Moment darüber nachgedacht hatte, ihr mitzuteilen, warum er ihre Nähe anfangs unangenehm gefunden hatte. Auch wenn sie das längst wusste. Er wollte genauso wenig gesehen werden wie sie. „Und Vitali.“ Er stöhnte. „Der stellt sich bloß blöd an, weil er denkt, männlich würde bedeuten, sich wie ein Neandertaler aufzuführen.“ Vivien konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Eriks Stimme wurde nun ruhiger. „Du weißt, warum du Justin liebst, oder?“ Vivien wurde von dieser Frage überrumpelt. Es gab Millionen Gründe, Justin zu lieben! „Ihr seid euch schrecklich ähnlich.“, verkündete Erik bedeutungsvoll. „Ihr wollt immer das Beste für andere und vergesst dabei eure eigenen Gefühle.“ Seine Stimme sank ab in einen abschätzigen Ton. „Ihr seid so bescheuert.“ Vivien spürte wieder Tränen in ihren Augen. Nicht nur weil seine Worte ihr etwas bewusst machten, das sie bisher verdrängt hatte, sondern auch weil Erik genauso war. „Du vertraust ihnen nicht.“, sagte Erik ihr auf den Kopf zu. „Warum?“ Vivien bemerkte, wie ihre Atmung sich beschleunigte. Ihre Augen wanderten suchend über ihre Umgebung, wie auf der Flucht vor der Frage, deren Antwort ihr Angst einjagte. Sein Ton wurde sacht. Offenbar hatte er ihr schwerer werdendes Atmen auf der anderen Seite gehört. „Du bist wirklich wie Justin.“ Vivien schluchzte auf und bemühte sich sogleich wieder, ihre Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Erik gab ein Grollen von sich. „Es macht mich wütend, dass du so über dich denkst.“ Auf seine Worte hin konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Doch sie weinte nicht hemmungslos, dazu hatte sie zuvor schon zu viele Tränen vergossen. „Vivien.“ Er klang fast tadelnd. „Sie alle“, sagte er mit fester Stimme, dann unterbrach er sich. Sie lauschte, doch erst nach mehreren Sekunden sprach er weiter, verbesserte sich: „Wir alle“ Um einen weiteren Augenaufschlag verzögert, folgten seine nächsten Worte: „… lieben dich.“ Es verschlug ihr den Atem. Nie hätte sie geglaubt, ausgerechnet Erik diese Worte aussprechen zu hören. Sie fühlte ihr Herz pochen. Sie schwankte zwischen Emotionalität und Gleichgültigkeit, zu heftig war der Eindruck, den Eriks Zug auf sie machte. Sie fühlte sich wie taub. Als würde ein Teil von ihr glauben, dass seine Worte alltäglich wären, während ein anderer Teil von ihr überhaupt nicht damit klarkam. Nicht damit klarkam, dass irgendwer sie lieben sollte. „Auch wenn du es nicht glaubst.“ Vivien verzog das Gesicht. Ein Teil von ihr begriff, dass er ihr die Worte sagte, die er sich selbst hätte sagen können. Wieder entfloh ihr ein kurzer hoher Laut, der nur aus dem Kontext als Seufzer zu erkennen war. Hieß das nicht, dass Erik begriffen hatte, dass die anderen auch ihn liebten, dass auch er keine Rolle mehr spielen brauchte, dass auch seine Zweifel, nichts daran änderten? Sie schluchzte auf. Noch lauter. War Erik nun endlich wirklich Teil der Gruppe? Natürlich nicht vollständig. Er brauchte seine Zeit, er war immer noch er. Er würde nicht aus seiner Haut können. Aber … sie fühlte sich ihm so nah wie nie zuvor. Dass er von ‚Wir‘ gesprochen hatte, dass er damit gesagt hatte, dass auch er sie liebte. Sie schluchzte. „Vivien, du bist gut genug.“ Sie erzeugte lautstarke Atemgeräusche, bei dem Versuch zu atmen, klammerte sich an das Handy, wie um dadurch Halt zu bekommen, um dem Schwall an Emotionen standhalten zu können. „He.“, sprach Erik behutsam, mit sanfter Stimme. „Glaub an dich.“ Vivien gab ein tränenersticktes Lachen von sich und nickte, auch wenn Erik das nicht sehen konnte. „Danke.“, japste sie. „Ich brauche keinen Dank.“, antwortete er harsch. „Ich erwarte, dass du tust, was ich sage.“ Wieder musste sie lachen. „Mach ich.“, presste sie mit belegter Stimme hervor. „Gut.“, antwortete Erik knapp, was Vivien abermals zum Lachen brachte. „Wir sehen uns morgen.“ „Erik…“, setzte sie an, ehe er auflegen konnte. „Ich hab dich lieb.“ „Du erwartest nicht, dass ich das erwidere.“, entgegnete Erik fast tadelnd. Sie lachte, wissend, dass er das längst getan hatte. Kapitel 144: [Training mit ...] Flugstunden ------------------------------------------- Flugstunden   „Leichtigkeit ist oft das Schwerste...“ (Klaus Ender)   Während sich Justin am nächsten Morgen für die Schule fertig machte, kam die kurze Sorge in ihm auf, dass es Vivien heute wieder schlechter gehen könnte. Hastig schüttelte er die Befürchtung ab. Doch sofort war da wieder die Angst, er könne sich irgendwie falsch verhalten und sie dadurch kränken oder verletzen und erneut traurig stimmen. Ja, Vitali hatte ihm gesagt, dass er so sein sollte, wie er war, aber das sagte sich so leicht. Er zögerte hinauszugehen, um Vivien abzuholen, und sog die Luft tief ein, um Mut zu schöpfen. Es klingelte an der Haustür. Gary rief von oben, dass Justin an die Tür gehen solle. Als würde er das nicht ohnehin immer tun, dachte Justin missmutig. Wie gewöhnlich tat er seine Pflicht, zumal es höchstwahrscheinlich Vivien war. Seine Vermutung bestätigte sich. Fröhlich lächelnd stand Vivien vor der Tür. Ihre Mimik hätte ihn wohl aufatmen lassen, hätte der Tritthocker, den sie in Händen hielt, nicht seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Grinsend stellte Vivien diesen vor ihn. Sie bedeutete Justin mit einer Handbewegung, näherzutreten. Wollte sie, dass er auf diesen Hocker stieg? Er konnte dem nicht folgen. Nun schritt sie auf die Schwelle vor der Haustür und stieg kurzerhand selbst auf den Tritthocker. Es war komisch, ihr dadurch in die Augen sehen zu können, ohne dafür nach unten schauen zu müssen. „Heute ist Nikolaus!“, verkündete sie. Doch was das mit dem Hocker zu tun hatte, erschloss sich Justin nicht. Vivien grinste breit und ging auf die Zehenspitzen, um nun ungefähr so groß wie er zu sein. Unversehens packte sie mit beiden Händen seinen Kopf und zog ihn in einen leidenschaftlichen Kuss, was ihr sonst aufgrund ihrer geringen Größe nicht gelungen wäre. Davon überrumpelt, kam Justin erst im nächsten Moment dazu, seine Arme um ihre Taille zu schlingen, damit sie ja nicht Gefahr lief, das Gleichgewicht zu verlieren und von dem Hocker nach hinten auf den Asphalt zu stürzen.   Vivien entfleuchte ein atemloser Laut. Ihr war nicht klar gewesen, wie stark Justin eigentlich war. Sonst agierte er immer so behutsam und vorsichtig. Noch nie hatte er sie so kraftvoll an sich gezogen. Sie löste sich wieder etwas von seinem Gesicht und holte Atem. Sanft und leicht besorgt erklang seine Stimme: „Pass auf, du fällst noch nach hinten um.“ Oh. Hatte er sie deshalb so fest gehalten? Für einen Moment war sie darüber enttäuscht. Dann kicherte sie. Sie hatte sonst nie die Chance, ihm fast auf Augenhöhe gegenüberzustehen und die Arme so vollständig um seine breiten Schultern zu legen. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihre Finger durch sein Haar fahren zu lassen. „Wir… wir sollten zur Schule.“, sagte Justin und senkte verschämt den Blick. Vivien zog einen Schmollmund und gab ein unzufriedenes Geräusch von sich. „Noch einen.“, bettelte sie. Völlig verlegen sah er ihr ins Gesicht. Natürlich war er wieder rot geworden und getraute sich anscheinend nicht, sie zu küssen. Vivien ließ sich davon nicht beirren und ergriff selbst die Initiative. Sie presste ihren Mund auf seine warmen, vollen Lippen und versuchte sich an einer fordernden Bewegung. Da sie selbst keinerlei Erfahrung damit hatte, brach sie über ihre eigene Ungeschicktheit schließlich in ein Lachen aus. Es war lustig, sich mit und an ihm austesten zu können. Verdutzt sah Justin sie an, wohl meinend, er habe etwas falsch gemacht. Mit einem liebevollen Lächeln gab sie ihm zu verstehen, dass alles wunderbar war. Er erwiderte das Lächeln und sie musste sich schwer zusammenreißen, sich nicht nochmals seiner Lippen zu ermächtigen. Dass er Angst hatte, sie könne von dem Hocker fallen, hatte auf jeden Fall seine Vorteile. Noch immer hielt er sie fest in seinen Armen. „Willst du runter?“, fragte er. Vivien kicherte, schließlich war es schon ziemlich verrückt, einen Tritthocker zu benutzen, um ihn zu küssen. Zu ihrer Überraschung hob Justin sie im nächsten Moment mit ungeahnter Leichtigkeit hoch und ließ sie neben dem Hocker wieder auf den Boden. Gott, er war wirklich stark! Sie musste darüber grinsen und spürte ihr Herz glückselig in ihrer Brust auf und ab hüpfen. Nur dass sie nun wieder einen ganzen Kopf kleiner als er war. Sie kicherte noch einmal beseelt. „Du solltest den wieder rübernehmen. Wir sind spät dran.“, sagte Justin. Vivien nickte und strahlte ihn an. „Danke für das Nikolaus Geschenk!“ Mit diesen Worten eilte sie mit dem Hocker wieder zu ihrem Haus. Begreifend, was sie unter ihrem Nikolaus Geschenk verstand, wurde Justin abermals rot.   Die anderen waren wie üblich bereits vor Vivien und Justin in der Schule eingetroffen. Vitalis Nachricht, dass es Vivien wieder besser ging, hatte sie zwar beruhigt, dennoch warteten die vier gespannt auf ihre Ankunft. Schließlich war die Interpretationsspanne von ‚besser‘ sehr weit. Endlich kam Vivien mit Justin an der Hand ins Klassenzimmer geeilt. Sie riss einen Arm in die Höhe und rief lautstark: „Wir sind zusammeeeen!!!!“ Es war unklar, ob Vivien davon ausging, dass sie das noch nicht erfahren hatten oder ob sie nur dringend nachholen wollte, wonach sie sich am Vortag so gar nicht gefühlt hatte. Zumindest tilgte Viviens Überschwänglichkeit und Begeisterung jeden Zweifel daran, dass sie wieder ganz die Alte war. Justin indes lief augenblicklich knallrot an, schließlich hatte sie das gerade nicht nur ihren Freunden, sondern der gesamten Klasse verkündet. Ohne zu zögern sprang Vitali von seinem Platz auf und eilte zu ihnen, blieb abrupt wieder stehen und schaute etwas unbeholfen, als wisse er nicht, ob dieser Impuls unangebracht war. Vivien lachte und nahm ihm die Entscheidung ab. Sie ließ Justin los und warf sich an Vitalis Brust – was aufgrund ihres Größenunterschieds von anderthalb Köpfen ziemlich niedlich aussah. Über Vivien hinweg warf Vitali Justin einen Blick zu, als müsse er erst seine Erlaubnis einholen, um Vivien zu umarmen. Justin lächelte sanft und brachte Vitali damit zum Strahlen. Anscheinend hatte sich Serena an Vitali ein Beispiel genommen, denn sie stand ebenfalls auf und trat auf den Gang, um Vivien in Empfang zu nehmen. Schüchtern stand sie da. Vivien löste sich von Vitali und sah sie an. Serena blieb wie angewurzelt stehen. Offenbar kam sie sich nun albern vor. Doch Vivien wollte ihr nicht den Gefallen tun, sie einfach zu umarmen. Erst als Serena zaghaft ihre Arme öffnete, kuschelte sie sich an sie. Derweil streckte Vitali Justin den erhobenen Daumen entgegen und grinste, um ihm stumm zu gratulieren. Justin wurde davon verlegen. Vitali störte das nicht. Er nahm wieder seinen Platz neben Erik ein. „Willst du nicht zu ihr?“, fragte er, während auch Ariane Vivien mit einer kurzen Umarmung begrüßte. Erik hob die Augenbrauen und ließ Vitali einen gönnerhaften Blick zukommen. „Das Kuscheln überlasse ich dir.“ Vitali schaute daraufhin verstimmt, was Erik deutlich amüsierte. Zur Strafe stieß Vitali ihm mit dem Ellbogen leicht in die Seite. Dies entlockte Erik bloß ein belustigtes Schnauben. Verstohlen sah Erik in Viviens Richtung und fing ihr warmes Lächeln auf. Offenbar verstehend, dass er die körperliche Nähe gerade nicht wollte, begab sie sich mit Justin an ihren Sitzplatz. Erik musste schmunzeln und ihm wurde klar, dass er ihr Manipulationsgeschick nicht länger fürchtete.   „Wann ist das nächste Training?“ Ariane starrte Erik an. Die anderen wirkten nicht minder irritiert von der plötzlichen Frage, die aus dem Nichts zu kommen schien. Die Pause hatte gerade erst begonnen. „Möchtest du… dabei sein?“, fragte Ariane zögerlich. Das klang allzu abwegig und ihrer Stimme war der Unglaube anzuhören. Erik ließ ihr einen abschätzigen Blick zukommen. „Es geht nicht darum, was ich möchte.“, sagte er abfällig. „Nur weil Vivien nicht besessen war, sind diese Plagen nicht aus der Welt. Und offenbar habt ihr noch keine Ahnung, wie ihr gegen sie vorgehen sollt.“ Sie hasste es, wenn er in diesem Ton mit ihr redete. „Jo, und was willst du machen?“, fragte Vitali, als wäre Erik dabei völlig nutzlos. Ariane hielt sich hastig die Hand vor den Mund, um das belustigte Geräusch zu unterdrücken, das ihr entfuhr. Davon sichtlich pikiert antwortete Erik an Vitali gewandt: „Mehr Verstand wird euch gut tun.“ „Hey!“, stieß Vitali beleidigt aus. Zur Überraschung Arianes wandte sich Serena an Vitali. „Wenn jemand andeutet, du seist dumm, dann reagier nicht drauf!“ „Hä?“, machte Vitali. Serena verdrehte nur die Augen. „Mann, dann dürfte ich nie auf dich reagieren!“, rief Vitali. Serenas Gesicht verzog sich auf eine Weise, die Ariane nicht deuten konnte. Sie schien es zu vermeiden, nochmals in Vitalis Richtung zu sehen. Das war ungewohnt. Justin wandte sich indes an Erik. „Was hast du im Sinn?“ „Ich mag keine Kräfte haben, aber ich bin Teil des Teams.“, sagte Erik schroff. Vivien strahlte über das ganze Gesicht. Sie kicherte und klatschte euphorisch in die Hände. „Morgen Nachmittag!“ Ariane warf Vitali einen zweiflerischen Blick zu, auf den dieser mit einem lockeren Schulterzucken antwortete.   Es war komisch, sich in Eriks Gegenwart zu verwandeln. Desire fühlte sich dabei entblößt. Und aus irgendeinem Grund war es ihr peinlich, ihm in ihrer Beschützeruniform gegenüberzustehen. Die anderen schienen damit deutlich weniger Probleme zu haben. Wenn sie es recht bedachte, hatte er sie ja auch in Destinys Seelenwelt schon einmal in ihren Anzügen gesehen.  Wenigstens richtete Erik seine Aufmerksamkeit nicht auf sie, sondern wandte sich direkt an die Gruppe. „Um diese Plagen in Schach zu halten, müsst ihr schneller und geschickter im Einsatz eurer Kräfte werden.“ Desire konnte nicht fassen, dass er sich herausnahm, das zu beurteilen. Sie suchte Changes Blick, doch der ergriff bereits das Wort. „Ich muss üben, gleichzeitig zu teleportieren und zu fliegen.“, verkündete er bestimmt. Ariane war überrascht, dass Change bereits mit einem Plan für sein Training aufwartete. Das war bisher noch nie vorgekommen. Erik beäugte Changes Vorschlag zunächst kritisch, doch weil er seine Initiative wohl ebenfalls ungewöhnlich fand, ließ er ihn gewähren. Change wartete auch erst gar nicht auf eine Erlaubnis, sondern drehte sich prompt zu den anderen. „Hey Unite, kannst du mir nen Ball organisieren?“ Unite lächelte. „Hinter dir.“ Change hob einen dort erschienenen Ball auf. Er grinste Unite an. „Danke.“ Im gleichen Moment war er verschwunden. In einem weiter hinten gelegenen Bereich erschien er wieder. Desire sah, wie er weit in die Höhe flog, den Ball fallen ließ und teleportierte. Zu ihrer aller Schrecken verfehlte er den Ball nicht nur bei Weitem, nein, als hätte der Teleport seine Levitationskräfte außer Kraft gesetzt, fiel er wie ein Stein dem Boden entgegen,. Jemand packte Desire am Arm. Sie war jedoch zu sehr von dem Anblick gebannt, den Change bot, um direkt zu erfassen, dass Destiny vor Schreck nach ihr gegriffen hatte. Gerade noch rechtzeitig konnte Change sich fangen und seinen Körper wieder schweben lassen. Desire atmete auf und wandte sich Destiny zu. Die Sorge stand dieser ins Gesicht geschrieben. Desire überlegte, was sie sagen sollte, um Destinys Schuldgefühle zu zerstreuen, schließlich war es offensichtlich, dass Changes Trainingsvorhaben im Zusammenhang mit Destinys Absturz in der Nebendimension stand. Doch ehe ihr etwas einfallen konnte, ließ Destiny von ihr ab und wandte sich an Unite. „Kannst du Matten oder so was …“ Sie sprach nicht weiter und sah extrem beschämt aus. Unite kicherte. „Du kannst Seelenwelten beeinflussen.“ Destiny wirkte peinlich berührt und zögerte. Schließlich ballte sie die Hände zu Fäusten. Desire blickte wieder an die Stelle, an der Change trainierte und erkannte, dass der Boden nun weich ausgepolstert war für den Fall, dass Change abstürzte. Destiny hatte eindeutig etwas übertrieben. Das waren keine Sportmatten. Das sah aus wie eine Bettlandschaft, die mit unzähligen weichen Kissen dazu einlud, sich auf sie zu werfen und sich einzukuscheln. Der Ball fiel erneut von oben herab und blieb in den weichen Matratzen stecken, Change verfehlte ihn bei Weitem und wurde abermals von der Erdanziehungskraft gepackt. Er fing sich wieder, bemerkte die Landschaft unter ihm und warf einen völlig irritierten Blick in ihre Richtung. Desire sah, dass Destiny neben ihr sich klein machte und den Kopf einzog, als würde sie sich unsäglich schämen. „Sind wir jetzt fertig damit, Change zu beobachten?“, kommentierte Erik streng. Desire hätte ihm dafür gerne die Meinung gesagt! Es war ja wohl verständlich, dass sie sich um Change Sorgen machten, schließlich wirkten seine Versuche alles andere als erfolgsversprechend! Erik dagegen schien von solchen Gedanken verschont zu bleiben. Er fixierte Destiny. „Du solltest üben, Ewigkeit zu paralysieren.“ Destiny blickte verwirrt auf. Erik rief Ewigkeit herbei, die sofort vor ihm stand. „Schicksal soll dich paralysieren.“ Desire musste zugeben, dass sie es ziemlich beeindruckend fand, dass er stets daran dachte, Ewigkeit gegenüber ihre deutschen Beschützernamen zu verwenden.. Ewigkeit nickte eilfertig, als wäre sie stolz darauf, zu Diensten sein zu können. Erik sah wieder zu ihnen und erklärte: „Ewigkeit ist klein und schnell wie eine Plage. Sie kommt am ehesten an das ran, was uns erwartet.“ Desire blickte zu Destiny neben sich. Sie sah nicht begeistert aus. „Was?“, forderte Erik von ihr zu erfahren. Destiny murrte leise. „Sie könnte runterfallen und sich verletzen.“ Desire hielt das für einen gerechtfertigten Einwand, doch Erik machte ein Gesicht, als wäre er davon genervt. Er stellte sich seitlich zu Destiny und hielt die Hände vor sich. „Hierher.“, befahl er Ewigkeit. Sofort schwebte sie über seine ausgebreiteten Handflächen. Mit einem Blick, als wolle er Destiny einen Vorwurf machen, sah er sie an. „Versuch es.“ Da die Kleine bei einem Absturz nun in Eriks Händen landen würde, zögerte Destiny nicht länger und lähmte sie. Zu ihrer aller Überraschung blieb Ewigkeit in der Luft schweben, wie es die Plage getan hatte. Erik klang überzeugt. „Sie hat mehr Ähnlichkeit mit den Plagen als ihr denkt.“ Desire stockte. Woher hatte er das wissen können? Die ganze Zeit waren sie davon ausgegangen gewesen, dass er Secrets Fähigkeiten nicht einsetzen konnte, aber das klang eindeutig nach seinem sechsten Sinn. „Was meinst du damit?“, hörte sie Trust fragen. Desire schüttelte ihre Gedanken ab und trat zu Erik, um Ewigkeit zu läutern. Erik unterbrach sie. „Unite soll das machen. Bei dir ist der Schutzschild wichtiger.“ Einmal mehr schluckte Desire ihre Empörung über seinen Tonfall hinunter. Damals im Schatthenreich hatte er seine Befehle zwar auf ähnlich unsensible Weise gegeben, aber damals hatte sie nicht gewusst, dass er durchaus in der Lage war, auch anders zu sein. Er hätte sich ruhig etwas freundlicher ausdrücken können! Unite gesellte sich zu ihr und lächelte aufmunternd. Desire begriff, dass man ihr ihre Laune wohl ansehen konnte. „Zeigst du mir noch mal, wie es geht?“, bat Unite. Desire nickte und reichte ihr die Hand, um sie an dem Gefühl teilhaben zu lassen, das ihren Kräfteeinsatz begleitete. Dafür musste sie allerdings erst ihre Verstimmung loslassen.   Erik wandte sich Trust zu. „Du kannst Gedanken lesen, richtig? Das könnte wichtig sein, um herauszufinden, ob jemand besessen ist. Versuch Ewigkeits Gedanken zu lesen. Vielleicht kannst du bei den Plagen auf diese Weise herausfinden, welche Welle ihr braucht, um sie aufzulösen.“. Trust nickte, auch wenn er nicht überzeugt war, dass ihm etwas Derartiges im Kampf mit den Plagen gelingen würde. Erik drehte sich so, dass auch die anderen sich angesprochen fühlen konnten. „Ist Desires Schutzschild auch für andere Menschen durchlässig?“ „Wir wissen es nicht.“, sagte Trust an Desires Stelle, da sie gerade Unite im Einsatz ihrer Läuterungskräfte unterwies Erik wandte sich darauf wieder ihm zu. „Wir sollten dafür sorgen, dass ihr Schild undurchlässig wird.“ Trust stockte. Dass ausgerechnet Erik die Schwachstelle ansprach, die ihnen die größten Probleme bei der Abwehr von Secret bereitet hatte, war … seltsam. „Was ist?“, fragte Erik ihn argwöhnisch und Trust begriff, dass er etwas zu ungläubig geschaut haben musste. „Wir… wissen nicht wie.“, antwortete er ausweichend. Eriks Blick ging zu Desire. „Denkst du, du kannst das?“ Desire reckte das Kinn und sprach in stolzem Ton, als hätten Eriks Worte sie provoziert: „Ich kann es nicht wissen, bevor ich es nicht probiert habe.“ Trust glaubte, dass Eriks Mundwinkel sich zu einem kurzen Lächeln verzogen. Doch die Regung war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. „Dann übe ich das mit dir.“, entschied Erik. Er wandte sich wieder um. „Ihr anderen –“ Er wurde davon unterbrochen, dass Change plötzlich in ihrer Mitte auftauchte. Change stöhnte lautstark. „Das funktioniert nicht.“ „Gibst du immer so schnell auf?“, tadelte Erik ihn. „Jap.“, antwortete Change lässig, als wäre das nichts Verwerfliches. „Ich muss das anders machen.“ Mit neuem Elan richtete er das Wort an Unite. „Ich kann versuchen, dich schweben zu lassen und du übst dabei Fliegen!“, rief er aus. Trust versuchte ihn zu bremsen: „Sie soll Ewigkeit läutern, wenn Destiny sie paralysiert hat.“ „Hä?“, machte Change. Erik stöhnte und erklärte nochmals den Plan. „Also soll sich Ewigkeit so schnell wie möglich bewegen.“, hakte Change nach. „Ja.“, antwortete Erik. Change grinste. „Dann hat Unite genug Zeit. Tiny wird ewig brauchen, um Ewigkeit zu erwischen.“ „Hey!“, rief Destiny aufgebracht und geradezu beleidigt. „Ewigkeit ist voll schnell.“, rechtfertigte sich Change in beschwichtigendem Ton. Dennoch schaute Destiny, als habe seine Aussage sie gekränkt. Change blieb locker und versuchte, sie mit einem seiner Scherze wieder gnädig zu stimmen: „Kannst du versuchen, nicht mich zu paralysieren?“ Destiny schürzte die Lippen. „Ich weiß.“ Wieder grinste er. „Ich bin dein Lieblingsopfer.“ „Das ist –“ Destiny unterbrach sich, offenbar realisierend, dass sie keine Argumente gegen diese Unterstellung hatte, schließlich hatte sie niemanden bisher so oft paralysiert wie Change. „Ich gehe dort in die Ecke.“, maunzte sie mit einem Schmollmund. „Ewigkeit, komm.“ Das Schmetterlingsmädchen schloss sich ihr an. Trust nahm das als Aufruf, den beiden zu folgen, schließlich sollte er ja Ewigkeits Gedanken ausfindig machen. Bei einem letzten Blick zurück zu den anderen sah er wie Change Unite an der Hand nahm und zu dem Bereich teleportierte, in dem er vorher schon geübt hatte.   Change sah auf die Bettlandschaft, dann auf Unite. „Zu viel an Trust gedacht, was?“ Unite konnte das Lachen nicht zurückhalten. Über diese Reaktion erfreut grinste Change. Er wusste, dass er mit Unite solche Scherze machen konnte. Trust dagegen wäre bei so einer Unterstellung vor Scham im Erdboden versunken. „Das war Destiny.“ Sein Grinsen erstarb. Unite kicherte amüsiert. Change war für einen Moment unfähig, darauf zu reagieren. Schließlich bemühte er sich, möglichst genervt und vorwurfsvoll zu klingen. „Alter, hat sie gedacht, ich will schlafen?!“ Unites schelmisches Grinsen wurde noch breiter, ihre Stimme nahm einen spitzbübischen Klang an. „Zu viel an dich gedacht.“ Verdammt. Sein Gesicht verzog sich. Daraufhin brach Unite erneut in ein Lachen aus. „Mann!“, beschwerte er sich lautstark und schwor sich, nie wieder einen solchen Scherz ihr gegenüber zu machen. Die Gefahr einer derartigen Retourkutsche war einfach zu groß. Weiterhin grinste Unite vielsagend, als warte sie darauf, dass er sich noch mehr Blößen gab, an denen sie sich weiden konnte. Er nahm es ihr nicht übel, denn schlussendlich hätte er es wohl umgekehrt genauso unterhaltsam gefunden. Ein kurzer Blick zu den anderen machte ihm klar, dass sie zwar nicht in direkter Hörweite sein mochten, aber auch nicht weit genug entfernt, als dass er wirklich ein offenes Gespräch mit Unite hätte führen können. Themenwechsel! Er sah zurück zu Unite. „Ich versuche, dich schweben zu lassen.“ Unite nickte und trat auf die Bettlandschaft. Change streckte ihr seine Arme gebieterisch entgegen. Zwar hatte er keine Ahnung, ob das irgendwie dabei half, aber immerhin kam ihm die Geste irgendwie gewichtig vor, und das konnte nicht schaden. Die Fähigkeit, etwas schweben zu lassen, hatte er bisher nur bei Mikadostäbchen benutzt, also hatte er keinen Plan, ob das bei einem Menschen so gut funktionieren würde. Die anderen hatten zwar behauptet, er habe sie damals im Schatthenreich alle schweben lassen, aber er selbst konnte sich daran nicht erinnern und wusste daher nicht, wie er das gemacht hatte.   Er bewegte die Arme nach oben wie Secret, als dieser Unite einhändig in die Höhe gehoben hatte. Allerdings hatte das bei ihm nicht die gleiche Wirkung. Tatsächlich hatte es gar keine. Change stöhnte. Vielleicht musste er sie ganz fest anstieren! Nichts tat sich. Er grollte. „Warum geht das nicht?!“ „Vielleicht musst du erst selbst fliegen.“, war Unites Vorschlag. Er gab ein nachdenkliches Geräusch von sich, dann teleportierte er in die Höhe. Doch statt direkt in der Luft stehen zu bleiben, wurde er von der Erdanziehungskraft abermals nach unten gerissen und konnte sich erst im letzten Moment vor einer Bruchlandung retten. Er drehte sich in der Schwebe vorsichtig in eine aufrechte Haltung, was immer noch einige Selbstbeherrschung brauchte, und landete mit den Füßen auf den Matratzen. Mist. Er hob den Blick in die Höhe und teleportierte nochmals – mit dem gleichen Ergebnis. Das flaue Gefühl in seinem Magen hatte zwar etwas von einer Achterbahnfahrt, aber das brachte ihm herzlich wenig, wenn er sich nicht rechtzeitig wieder auf seine Kräfte besinnen konnte. Naja, zumindest hatte seine Beschützerpartnerin mit dieser Bettlandschaft dafür gesorgt, dass er sich bei einem Absturz nicht sämtliche Knochen brechen würde. Okay, noch mal! Dieses Mal landete er nicht, sondern teleportierte sich aus seiner schwebenden Position weiter nach oben, wo er erstmals in der Luft stehen blieb. Yes! „Erst fliegen, dann teleportieren.“, stellte er fest. Unite applaudierte ihm, was ihm ein stolzes Grinsen entlockte. Etwas wacklig begab er sich erneut in eine aufrechte Position und stand nun in der Luft. Er hob die Arme und streckte sie Unite entgegen in einem erneuten Versuch, sie schweben zu lassen. Er konzentrierte sich. „Ich merke was!“, rief Unite begeistert aus. Ha-hah! …Waaah! Er kam ins Straucheln und wäre fast erneut gen Boden gerissen worden. Die Zähne zusammenbeißend teleportierte er neben Unite und seufzte. Dann ergriff er ihre Hand.    Unite spürte wie Changes Leichtigkeit auf sie über ging und sie in die Schwerelosigkeit brachte. Er schwebte mit ihr etwas höher, eher er oberhalb der Matratzen stehen blieb. „Magst du versuchen, dich allein in der Luft zu halten?“, fragte er. Offenbar hatte er wieder seine Pläne geändert. Vielleicht weil er nicht wollte, dass sie sich langweilte. Sie nickte. „Ich muss nur noch mal nachspüren, wie du das machst.“ Über ihre Hand verband sie sich mit dem Gefühl, das von Changes Kräften ausging. Augenblicklich spürte sie die Leichtigkeit und Unbeschwertheit noch intensiver. Changes Gabe und sein ganzes Wesen waren so locker, fluffig. Sie musste heiter kichern. Dieses Gefühl passte so gut zu ihm. Es war wirklich schön. Anders als die Festigkeit und Geborgenheit, die Trust ausstrahlte, aber nicht minder schön. „Soll ich dir irgendwas erklären?“, fragte er. „Wie es funktioniert?“ Sie fand es süß, dass er sie einweisen wollte, außerdem war sie neugierig, wie Change seine eigenen Kräfte beschreiben würde. „Gern!“ „Also, du stellst dir vor: Du bist ganz leicht. So leicht wie die Luft. Und … die Luft trägt dich. So als ob – hm. Also. Du verschmilzt halt mit der Luft und die Luft hält dich.“ Unite lächelte. Im gleichen Moment ließ Change sie los. Kurz fürchtete sie abzustürzen, obwohl sie seine Gabe doch schon einmal eingesetzt hatte. Sie spürte, wie fragil ihr Halt in der Luft war, und bemühte sich, durch ihre Atmung die Verkrampfung zu lösen, von der sie spürte, dass sie ihren Stand in der Luft gefährdete. Doch es misslang ihr. Sie strauchelte und sank immer tiefer, wenn auch weniger rasant als es die Schwerkraft allein bewirkt hätte. „Schon voll gut!“, lobte Change sie. Unite dagegen fragte sich, wie sie es geschafft hatte, in der Nebendimension alle in der Luft zu halten, wenn sie es jetzt nicht mal bei sich selbst hinbekam. „Denk nicht dran, dass du fallen könntest.“, sagte Change. Wieder nahm er ihre Hand und ließ sie höher steigen. Sie mochte dieses Gefühl und atmete tief ein. Das hatte etwas von Freiheit! Wieder ließ seine Hand von ihr ab und sie fürchtete zur Seite wegzukippen. „Halt die Körperspannung.“, rief Change. „Das ist … uhm, so ähnlich wie beim Schwimmen. Nur in der Luft.“ „Soll ich mir was Schönes ausdenken?“, rief sie zurück, vor allem um sich irgendwie von dem unsicheren Gefühl in ihrem Körper abzulenken. „Hä?“ „Bei Peter Pan. Da hieß es, man soll sich was Schönes ausdenken, um zu fliegen.“ Okay, sie stand noch, das war ein gutes Zeichen. Am besten weiterreden. „Aber da brauchte man Feenstaub.“ „Soll ich Ewigkeit rufen?“, lachte Change. Vivien stimmte in sein Lachen ein. Die innere Anspannung ließ etwas nach, aber sie fühlte sich noch nicht wirklich sicher in der Luft. Doch immerhin hielt sie sich auf derselben Höhe. „Gut.“, lobte Change, der derweil etwas weiter nach oben geflogen war. In diesem Moment spürte sie, dass er ihr mit seinen Kräften Unterstützung zu geben versuchte. Doch sogleich brach dieser Halt wieder weg. Change schimpfte leise, offenbar war es wirklich nicht leicht, gleichzeitig zu fliegen und jemand anderen schweben zu lassen. „Bin ich zu schwer?“, scherzte sie. „Du solltest mehr Helium essen.“, alberte Change grinsend. Unite lachte. Erst im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass es ihr dabei deutlich leichter fiel, sich in der Luft zu halten. Begeisterung machte sich in ihr breit. Sie streckte die Arme von sich in der Hoffnung, dass ihr das weiterhalf. Es fühlte sich lustig an, so in der Luft zu stehen. „Wie steigst du auf?“, wollte sie wissen. Change schien kurz zu überlegen. „Beim Einatmen trägt dich die Luft nach oben. Und beim Ausatmen wirst du noch leichter, und schwebst noch höher.“ Unite ging davon aus, dass er damit meinte, dass sie sich auf ihre Atmung konzentrieren sollte. Sie atmete tief in den Bauch, wie Eternity es sie gelehrt hatte. Plötzlich spürte sie, wie sie ein Stück nach unten sank. „Was ist passiert?“, fragte sie. Change lachte und flog an ihre Seite. Er tippte ihr gegen die Stirn. „Du denkst zu viel.“ Sie lachte ausgelassen. „Am Anfang kann man dabei nicht denken.“, informierte Change sie. „Sonst zieht es einen runter.“ Unite begriff, dass mit dem Gedanken an Eternity gleichzeitig die Reue gekommen war, sie damals angegriffen und sie wohl für immer verloren zu haben. Sie sank noch tiefer. Changes Hand berührte ihren Scheitel und sorgte dafür, dass sie wieder nach oben schwebte. Sie lächelte ihn an. „Vielleicht kannst du damit anfangen! Also jemanden durch Berührung schweben zu lassen!“ „Das mache ich doch immer.“, meinte Change verständnislos. „Ja, aber du könntest versuchen, die Distanz zu vergrößern. Also nur noch eine Fingerspitze den anderen berühren lassen, dann nur Millimeter von ihm entfernt und so.“ „Hm.“, machte Change und berührte sie mit dem Zeigefinger an ihrem Oberarm. Sie spürte, wie sie weiter nach oben schwebte, an Change vorbei, der den Arm hob, um den Kontakt zu halten. Sie mochte dieses Gefühl und drückte dies in einem abermaligen Lachen aus. Doch sobald Changes Berührung abriss, kam wieder die leichte Unsicherheit auf. Sie musste sich darauf konzentrieren, in der Luft zu bleiben. „Du bist auf jeden Fall schon echt gut darin.“, meinte Change. „Echt?“ Sie sah zu ihm runter. Bei dem Anblick der Höhe, drohte sie das Gleichgewicht zu verlieren. Sofort war Change an ihrer Seite und hielt sie am Arm fest, um sie vor einem Absturz zu bewahren. Sie lachte. Change grinste. „Tiny könnte sich nicht mal ne Sekunde in der Luft halten.“ „Was soll das heißen?!“, schimpfte Destiny lautstark. Offenbar hatte sie Changes Behauptung auch auf die Entfernung gehört. Unite stieß belustigt die Luft aus. Natürlich, Destiny hörte immer alles, was Change von sich gab. Offensichtlich war es ihr jedoch noch nicht gelungen, Ewigkeit zu paralysieren. Sie wirkte ziemlich frustriert. Change drehte sich in Destinys Richtung und ließ Unite dafür los. Unite strauchelte und versuchte, sich ebenfalls umzudrehen. Da dies nicht funktionierte, griff sie nach Changes Arm und hangelte sich mithilfe seiner Schwebekräfte weiter, sodass sie nun auch in die Richtung von Destiny und Trust sehen konnte. Change antwortete Destiny: „Dass du dich selbst immer runterziehst und deshalb nicht fliegen könntest.“ Destiny verzog missmutig das Gesicht. „Ey, nicht paralysieren!“, rief er hastig und hob die Arme, als habe sie ihm mit ihrem Gesichtsausdruck gedroht. Destiny schnaubte und drehte sich wieder in die Richtung der Wand, wo Ewigkeit immer wieder an einer anderen Stelle auftauchte. Sie stieß ein tobsüchtiges Schreien aus, weil die Kleine einfach viel zu schnell war. Unite konnte sehen, wie Changes Gesicht strahlte. Es war so süß, wie sehr er Destiny mochte. Allzu gerne hätte auch Unite sie Tiny genannt, aber sie hatte den Eindruck, dass Change gerne der einzige war, der diesen Spitznamen für sie verwenden durfte. Und sie hatte nicht vor, ihm diese Sonderstellung zu nehmen. Schließlich räumte Destiny ihm nicht oft Sonderrechte ein, die ihm hätten verdeutlichen können, was sie ihm mit ihrer übertrieben zickigen Art doch eigentlich die ganze Zeit zeigte. Unite schmunzelte. Ja, Change hatte wirklich die Gabe, sich immer wieder selbst hochzuziehen, auch wenn andere ihn niedermachten. Und trotzdem erlaubte er sich, auch mal wütend und negativ zu sein. Das hatte er Unite voraus. Er strahlte nicht für die anderen, sondern aus sich selbst heraus. Unite spürte, wie der Gedanke sie wieder runtergezogen hätte, hätte sie nicht von Changes Kräfteeinsatz profitiert. Change flog vor sie und griff nach ihrem anderen Arm, offenbar war ihm nicht entgangen, dass ihr das Umdrehen in der Luft extrem schwer gefallen war. Mit einer leichten Bewegung drehte er sie wieder in die andere Richtung und zog sie etwas weiter über die Matratzenlandschaft. Unerwartet beugte er sich flüsternd zu ihr. „Kannst du Trusts Telepathie benutzen?“ Sofort war ihre Neugier geweckt, wollte er ihr etwa ein Geständnis machen? Vielleicht wegen Destiny? Sie grinste breit. „Ich kann es versuchen!“ Sie schloss kurz die Augen, musste sie aber nochmals öffnen. „Kannst du mich solange halten?“ Change nickte belustigt. Sie schloss wieder die Augen und konzentrierte sich. Bei der Verbindung mit Trusts Kräften war ihr schon mehrfach aufgefallen, dass Trust eine ganz andere Herangehensweise hatte als sie. Er machte das mit dem Verstand. Da ihre Talente, aber mehr mit Gefühlen verbunden waren, versuchte sie über den Körperkontakt mit Change seine Gedanken ausfindig zu machen. „Versuch was zu denken.“, sagte sie. „Also an mich gerichtet.“ Als Worte in ihrem Geist erschienen, war sie kurz irritiert. Es handelte sich nicht um Changes Stimme. Das klang wie ihre eigenen Gedanken: Ist zwischen dir und Trust wieder alles okay? Für einen Moment zweifelte sie daran, dass die Worte von Change stammten. Hatten ihre Ängste sich etwa wieder aus den Winkeln ihres Kopfes zurück in ihr Bewusstsein geschlichen? Wenn Trust seine Telepathie einsetzte, war immer klar zu unterscheiden, wessen Gedanken es waren, man hörte die Stimme desjenigen. Doch sie konnte Changes Stimme nicht hören.   Sie sah zu ihm auf. Abermals kam ihr ein Gedanke: Er meint es nicht böse, wenn er an eurer Beziehung zweifelt. Sie versuchte, sich zu beruhigen und sich klarzumachen, dass sie tatsächlich Changes Gedanken empfing und sich das nicht nur einbildete. Sie besann sich auf das, was sie eben von Change empfangen zu haben glaubte, und bemühte sich, ihm eine Antwort zu senden. Er zweifelt an der Beziehung? Change zog jäh ein entsetztes Gesicht. Neeein!!! Ich meine, also … wenn er … du weißt schon,… Wenn er eben er ist. Unite kicherte. Der nächste Gedanke überraschte sie. Er liebt dich wirklich. Die Worte fühlten sich so sanft an. Dass Change ihr das mitteilen wollte, rührte sie tief. Offenkundig hatte er sich wegen ihres Zustandes zwei Tage zuvor wirklich große Sorgen um sie gemacht. Unite lächelte ihn liebevoll an. „Danke.“ Es war ihr ein Anliegen gewesen, das nicht nur in Gedanken zu sagen.  Er lächelt zurück, dann verzog sich sein Gesicht und es formte sich ein weiterer Gedanke in ihrem Kopf. Sag ihm nicht, dass ich dir das gesagt habe. Unite lachte. Dann schienen Changes Gedanken bereits in eine neue Richtung zu schwenken. Dieses Mal sprach er laut. „Du bist diejenige von uns, die sich am besten mit Gefühlen auskennt, vielleicht wäre es besser, du übst schon mal verschiedene Gefühle in Attacken umwandeln. Wegen den Plagen. Dann kannst du es uns zeigen.“ Sie fand es süß, dass er das vorschlug. Auf die anderen wirkte Change wohl oft sprunghaft, aber das lag daran, dass er so viele Ideen im Kopf hatte. Sie ging davon aus, dass er sich oft mit seinen Einfällen zurückhielt, weil es mittlerweile sein Part geworden war, lustige Kommentare abzugeben und sie und die anderen die Pläne schmieden zu lassen. Dass er sich offenbar nicht länger darauf beschränken wollte, machte ihr Mut, auch über ihre bisherige Position hinauswachsen zu dürfen. Schließlich hatte sie durch ihren nahen Zusammenbruch erkennen müssen, dass es auf Dauer nicht funktionierte, ausschließlich die heiter-ausgelassene und energiegeladene Optimistin zu spielen. Sie musste lernen, ohne diese Rolle klarzukommen. So sehr sie sich auch an sie gewöhnt hatte. Ihr Blick bewegte sich automatisch in Trusts Richtung, doch sie beherrschte die Levitation nicht ausreichend, um die Drehung zu vollführen. Change war sofort zur Stelle, um sie zu halten. Einen Moment sah sie Change an. Zögerlich sprach sie dann: „Es ist gut, wenn Dinge sich verändern, nicht?“ Change blinzelte und zuckte mit den Schultern. Unite schüttelte den Kopf. Sie dufte sich von ihren Unsicherheiten nicht runterziehen lassen. Das war es, was Changes Kräfte auch physisch erfahrbar machten. Aber ihre Gabe waren Gefühle. War es da nicht ihre Pflicht, sich mit ihnen auseinanderzusetzen? Bisher hatten ihre Gefühle sie geleitet und vieles verstehen lassen, doch momentan schienen sie ihr im Weg zu stehen. „Was ist?“, fragte Change. Unite schüttelte hastig den Kopf und setzte ein Lächeln auf, als wäre nichts. Change riss die Augen weit auf, wobei er seinen Kopf in ihre Richtung bewegte. Diese alberne Geste brachte sie zum Lachen. Daraufhin traute sie sich zu fragen: „Ist es manchmal zu viel?“ „Was?“ Sie zuckte mit den Achseln, da sie nicht wusste, wie sie das ausdrücken sollte. Sie meinte, seine Anlagen zur Leichtigkeit und Schnelligkeit, so wie bei ihr die Tendenz, die Welt durch Gefühle zu erfassen. Momentan fürchtete sie, dass es ihr zu viel war. Wieder stupste Change ihre Stirn an. Eine subtile Erinnerung daran, dass sie wieder zu viel dachte. Das bemerkte sie jetzt erst. Ja, in letzter Zeit machte sie sich sehr viele Gedanken, auch über all die Gefühle, die sie manchmal zu überwältigen drohten. „Konzentrier dich auf den Moment.“, sagte Change, wohl in Bezug auf das Schweben. „Du kannst den nächsten eh nicht planen.“ Sie nickte. „Hey, färbt Trust auf dich ab?“, scherzte Change. Unite horchte auf. Sie wusste, dass Trust nicht gut damit umgehen konnte, wenn sie leichtfertig schwierige Situationen handhabte und die Dinge allzu spielerisch anging. Sie wollte ihm keinen Anlass geben, an ihrer Ernsthaftigkeit zu zweifeln und daran, dass sie ihn und seine Bedenken wertschätzte. „Du kannst vielleicht alle unsere Kräfte übernehmen, aber keiner von uns deine.“ Unite senkte den Blick. Ihre Kraft war es, die der anderen anzuzapfen und zu verbinden. Der Nutzen dieser Fähigkeit war davon abhängig, dass es etwas im Außen gab, das sie übernehmen oder koppeln konnte. In gedämpftem Ton wandte sich Change nochmals an sie. „Hey.“ Es klang, als wolle er nicht, dass die anderen seine Worte hörten. „Du bist das –ein– in Vereinen.“ Er grinste sie spitzbübisch an. Das –ein– in Vereinen? Der Satz verunsicherte sie. Change seufzte. Jäh schoss er mit ihr in die Höhe. Sie musste vor Überraschung lachen. Doch im nächsten Moment änderte er den Kurs und sie rasten im Sturzflug in die Tiefe. Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken oder zu schreien, das Adrenalin schoss durch ihre Adern. Plötzlich teleportierte er. Keine Sekunde und sie wurden rücklings nach unten gerissen, sie konnte nicht mal sehen, wie weit der Boden noch entfernt war. Sie schrie automatisch, dann stoppte Change den freien Fall. Er brachte sie wieder in eine senkrechte Schwebeposition. Unite schnappte nach Atem und griff unbewusst auch mit dem zweiten Arm nach seinem, hielt sich an ihm fest. Dann entlud sich ihre Anspannung in einem Lachen. Dabei lehnte sie sich an Change und fühlte sich sicher – und frei.   Kapitel 145: Grenzüberschreitung -------------------------------- Grenzüberschreitung   „Jeder Freund eröffnet uns eine neue Welt, die erst durch die Begegnung mit ihm geboren wird.“ (Anais Nin)   Trust hatte sich sitzend hinter Destiny platziert und versuchte vergeblich, Ewigkeits Gedanken ausfindig zu machen. Ihre ständigen Ortswechsel waren nicht das einzige Problem. Destinys Frustration, die er auch ohne Telepathie und Unites Kräfte überdeutlich spüren konnte, zog seine Aufmerksamkeit immer wieder auf sich. Nicht nur weil sie dauernd aufgebrachte Geräusche ausstieß. Ihre Wut löste das drängende Gefühl in ihm aus, irgendetwas unternehmen zu müssen, um ihr das Leben zu erleichtern. Nur konnte er das nicht. Und Destiny in dieser Stimmung anzusprechen, hätte sicher nur dazu geführt, dass sie ihre Laune an ihm ausließ. Bei einem Blick in die Richtung von Erik und Desire konnte er erkennen, dass auch bei Desire keine Fortschritte zu verzeichnen waren. Wieder stieß Destiny einen lauten Schrei aus und riss dabei die Arme von der Mitte ihrer Brust nach außen, als wolle sie eine Stichflamme erzeugen. Zu Trusts völliger Überraschung blieb Ewigkeit tatsächlich in der Luft stehen. Automatisch kam er auf die Beine, um zu kontrollieren, ob Ewigkeit sich nicht nur aus Schabernack nicht bewegte. Auch Destiny starrte fassungslos auf Ewigkeit, als zweifle sie daran, wirklich erfolgreich gewesen zu sein. Doch, soweit Trust es einschätzen konnte, war das Schmetterlingsmädchen wirklich paralysiert! „Du hast es geschafft.“, entfuhr es ihm. Destiny schaute geradezu ängstlich, als zweifle sie noch immer an ihrem Erfolg oder hielte das Ganze für einen Zufall. Trust dagegen nahm an, dass es ihr gelungen war, den Radius ihrer Attacke auszuweiten. Er schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln und sah, dass ihre Anspannung endlich etwas nachließ. Sie wirkte jedoch zu erschöpft, um sich wirklich über diese Errungenschaft zu freuen. Trust drehte sich in die Richtung von Change und Unite und rief ihnen telepathisch zu, dass Unite jetzt Ewigkeit läutern könne.   Destinys Muskeln schmerzten von dem ganzen Kräfteeinsatz. Die Anspannung war auf Dauer einfach anstrengend. Durfte sie sich wirklich loben? Wahrscheinlich war es ja doch nur ein Glückstreffer gewesen. Ewigkeit war aber auch schnell! Plötzlich hörte sie Unite laut und euphorisch ihren Namen schreien. Ziemlich verlegen drehte sie sich in ihre Richtung, darum bemüht, nicht zu zeigen, wie viel es ihr bedeutete, dass Unite ihren Erfolg feierte. Im nächsten Moment waren Unite und Change verschwunden. Destiny drehte ihren Kopf wieder in Ewigkeits Richtung und erkannte, dass die beiden auf Höhe von Ewigkeit schwebten. „Wow!“, rief Unite an Change gewandt. Dieser grinste Destiny breit an. Ihr Mund verzog sich. Wollte er sie etwa beschämen? Nur weil er es immer in Windeseile schaffte, seine Fähigkeiten zu verbessern, musste er sich nichts darauf einbilden! Ein Schmerzenslaut riss sie aus ihren missmutigen Gedanken. Geschockt wirbelte sie zu Trust herum. Im gleichen Moment standen Change und Unite neben ihm. „Was ist?“, rief Change hektisch und legte Trust eine Hand auf den Rücken, Unite hatte sofort Trusts Arm ergriffen. Trust hielt sich den Kopf. „Nichts. Ich… Da war etwas Seltsames, als ich versucht habe, Ewigkeits Gedanken zu lesen.“ Destiny sah zurück auf Ewigkeit. Die Kleine war noch immer paralysiert. Derweil waren auch Desire und Erik zu ihnen gerannt gekommen. „Es ist alles gut.“, versicherte Trust. Die Aufmerksamkeit war ihm sichtlich unangenehm. „Was war?“, drängte Erik zu erfahren. „Er konnte Ewigkeits Gedanken nicht lesen.“, antwortete Unite, wohl um Trust zu entlasten. Destiny erinnerte sich daran, dass Ewigkeit sich schon in der Vergangenheit dagegen gewehrt hatte, Unites Gefühlsübertragung anzunehmen. Aber das hatte Unite keine Schmerzen bereitet. „Es war nichts Schlimmes.“, versuchte Trust nochmals die Besorgnis der anderen zu mildern. Erik warf ihm einen tadelnden Blick zu, als missbillige er es, dass Trust den Vorfall herunterspielte. Desire wandte sich an Trust. „Was genau hast du denn gespürt?“ Trust schien darüber nachzudenken. „Es war wie ein Stechen.“ Ohne Vorwarnung teleportierte Change zu Desire, nahm sie an der Hand und verschwand. Destiny drehte sich zu Ewigkeit. Wie sie vermutet hatte, schwebten die beiden auf der nötigen Höhe, um Ewigkeit zu läutern. Wenige Momente später standen Change und Desire mit Ewigkeit neben ihr. „Alles okay?“, erkundigte sich Trust bei Ewigkeit. Sie kam nicht dazu zu antworten, denn auch Erik richtete das Wort an sie. „Darf Vertrauen deine Gedanken lesen?“ Ewigkeit blinzelte, statt wie üblich freudig zu nicken, antwortete sie nicht. Das machte Destiny stutzig. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ewigkeit Trust absichtlich Schmerzen zufügte. Erik teilte Trust seine Vermutung mit: „Vielleicht gibt es eine Art Rückstoß, wenn du versuchst die Gedanken von jemandem zu lesen, der das nicht möchte.“ Irgendwie wirkte Trusts Gesichtsausdruck sehr ernst. Sein Blick war auf Ewigkeit fixiert. Glaubte er etwa an eine tiefere Bedeutung hinter Ewigkeits seltsamer Abwehr seiner Kräfte? „Die Plagen werden auch nicht zulassen, dass ich ihre Gedanken lese.“, sagte Trust gedämpft. Destiny stockte. Erik nickte. „Was wollt ihr damit sagen?“, fragte Desire in einem so empörten Ton, als wisse sie genau, was die beiden damit andeuten wollten. Eriks Miene blieb kalt. „Dadurch ist sie das beste Übungsobjekt.“ „Das ist doch nicht euer Ernst!“, rief Desire aufgebracht. Trust sah sie nicht an. „Das könnt ihr nicht machen!“, begehrte sie auf. Erik fuhr sie grob an. „Kümmere du dich lieber um deinen Schutzschild!“ Desire funkelte ihn wütend an. „Ewigkeit hat es nicht verdient, so behandelt zu werden!“ Die Diskussion ging zu schnell, als dass Destiny sich positionieren konnte. Sie wollte Ewigkeit auch nicht opfern, aber ... „Und wie soll Trust es sonst üben?“, donnerte Erik. „Hast du daran vielleicht schon mal gedacht?“ Desires Erregung erreichte ihren Gipfel. Sie schrie: „Er könnte ja deine Gedanken lesen! Du willst das sicher auch nicht!“ Entsetzen packte Destiny. Sie riss ihren Kopf herum, um Eriks Gesicht zu sehen. Seine Miene war zu einer abweisenden Maske geworden. Wie konnte Desire nur so unglaublich unsensibel sein, wenn es um ihn ging? Destiny fürchtete, dass die Situation noch mehr eskalierte, wenn niemand etwas unternahm. Sie erhob die Stimme. „Hört auf euch gegenseitig anzuschreien!“ „Sagt die Richtige!“, blaffte Desire, wie sie es eben tat, wenn sie keine Kontrolle mehr über ihre Gefühle hatte. Dennoch fühlte Destiny den Treffer. Sie durfte sich davon nicht beirren lassen! Die beiden sollten einander nicht noch mehr verletzen, daher wandte sie sich an Trust, Mit klopfendem Herzen presste sie Worte hervor: „Ich möchte nicht, dass du meine Gedanken liest. Aber ich weiß, sie sind bei dir sicher.“ Trust wirkte auf ihre Worte hin regelrecht schockiert.  Ihre Schultern hoben sich unwillkürlich an. Am liebsten wäre sie weggelaufen. „Wenn du an jemandem üben willst, dann tu es an mir.“ Plötzlich starrten alle sie an. „Bist du wieder besessen?“, fragte Change ungläubig und legte ihr die Hand auf die Stirn, als wolle er ihre Temperatur fühlen. „Halt die Klappe!“, fauchte Destiny und schlug seine Hand weg. Wie konnte der Trottel sie einfach so anfassen?! Der dachte auch nie nach, was das in ihr auslöste, dieser – Change zuckte so abrupt zurück, als habe sie ihm plötzlich Angst eingejagt. In seinen Augen stand eine Verletzlichkeit, die Destiny den Atem raubte. Reuevoll zog sie den Kopf ein und unterdrückte den Impuls, in Tränen auszubrechen. Was sie ihm unter dem Einfluss der Plage angetan hatte, wirkte noch immer nach. Sie schämte sich unsäglich dafür. Kurz herrschte Schweigen. Dann schwebte Ewigkeit zu ihr und landete auf ihrem Kopf, dabei feine Glöckchenlaute erzeugend. Vielleicht kam es Destiny nur so vor, aber vielleicht wollte die Kleine sich ja auch wirklich bei ihr dafür bedanken, dass sie sie davor bewahrt hatte, ihre Gedanken offenbaren zu müssen. „Bist du jetzt zufrieden?“, knurrte Erik Desire an. Er klang immer noch extrem gereizt. Destiny verstand das. Dass ausgerechnet Desire ihn so angegriffen hatte, musste ihm schwer zugesetzt haben. Desire antwortete nicht. Es war offensichtlich, dass sie wütend auf Erik war. Wie sehr sie ihn gerade verletzt und sein Vertrauen missbraucht hatte, begriff sie wohl nicht. Wortlos wandte sie sich um und ging zurück an die Stelle, an der sie zuvor trainiert hatten. Übellaunig folgte Erik ihr. Destiny hatte kein gutes Gefühl dabei, aber sie wusste auch nicht, was sie noch hätte tun sollen. Desire und Erik waren beide zu stolz und dickköpfig, um die Sache auf sich beruhen zu lassen.   Desire war erzürnt und erinnerte sich daran, dass Secret behauptet hatte, dass sie dadurch den Schutzschild stärker machen konnte. Doch eigentlich war ihr das gerade völlig egal! Am liebsten hätte sie Erik angeschrien, was ihm einfiel, über Ewigkeits Kopf hinweg entscheiden zu wollen! Was bildete er sich ein?! Oh, sie hätte ausrasten können! Sie rief ihren Schutzschild und drehte sich mit feindseligem Blick zu Erik um. Dieser sah genauso grimmig aus und schritt ohne Probleme durch den Schild hindurch. Das war so frustrierend!!! Egal was sie machte, er konnte einfach hindurchgehen! „Hast du schon mal daran gedacht, dass dein Problem ist, dass du immer die Gute, Nette sein willst?“, spie Erik aus. Desire biss die Zähne zusammen. Ein neuer Schutzschild entsprang ihrer Körperoberfläche und sie weitete ihn rasant aus, in einem Versuch, Erik damit von sich zu schleudern. Doch der Schild machte ihm gar nichts. Das ärgerte sie entsetzlich! „Du kannst nicht immer lieb und nett sein.“, zischte Erik, während er auf sie zu lief. Wieder rief Desire einen Schild und ließ ihn auf Erik zurasen, doch noch immer nützte es nichts. Erik ging einen weiteren Schritt auf sie zu, stand nun direkt vor ihr. Sein Gesicht war voll Verachtung. „Wenn du nicht willst, dass jemand deine Grenzen überschreitet, solltest du lernen, sie zu verteidigen.“ Desire spürte den Impuls ihn mit den Händen von sich wegzustoßen: „Hör auf!“, verlangte sie. „Das wird dir bei den Plagen nichts nützen!“, schrie er sie drohend an. Desire biss sich auf die Unterlippe. Sie war kurz davor, vor lauter Frustration und Wut zu weinen. Sie rief einen weiteren Schutzschild, aber hatte gar nicht mehr die Kraft, ihn überhaupt aufzubauen. Vergebens versuchte sie, das Gefühl der Ohnmacht unter Kontrolle zu bringen.   Desires verzweifelte Miene machte Erik schlagartig klar, dass er zu weit gegangen war. Dass sie vorgeschlagen hatte, Trust solle seine Gedanken lesen, war einfach zu empörend gewesen, als dass er noch Rücksicht auf sie hätte nehmen wollen. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, wusste aber nicht was, und musste mit seinen eigenen Gefühlen ringen. Schließlich holte er nochmals Luft, um seine Wut zu kontrollieren. Sein Ton wurde gefasst. „Stell dir vor, ich wäre dein Feind.“ Desire hob den Blick und er meinte, jähes Entsetzen in ihren Augen zu lesen. Was? „Ich brauche eine Pause!“ Überstürzt eilte sie davon und verschwand hinter der Tür, die zu den Zimmern führte. Er konnte das beim besten Willen nicht nachvollziehen. Entnervt stöhnte er und wollte sich auf den Weg machen, ihr zu folgen. „Erik.“ Trusts Stimme. Zu seiner Verwunderung kam der Beschützer in seine Richtung. „Ich rede mit ihr.“ Erik atmete aus und musste sich eingestehen, dass er gerade nicht in der Lage war, mit Desire zu sprechen. Dazu war er selbst noch viel zu aufgebracht. „Tu das.“, sagte er hart. Trust entfernte sich und gab ihm dadurch Zeit, erst mal wieder zu sich selbst zu finden. Auch wenn er sich einzureden versuchte, dass Desire nur aus Wut gesagt hatte, Trust solle seine Gedanken lesen, spürte er immer noch den Impuls, sie dafür zu bestrafen. Verdammt! Dann fiel ihm wieder ihr Gesichtsausdruck ein, als er gesagt hatte, sie solle sich vorstellen, er wäre ihr Feind. Er hob den Blick und ging schnellen Schrittes zu den anderen. „Was hat das zu bedeuten?!“, forderte er zu erfahren und merkte, dass sein Tonfall zornig klang. Destiny, Change und Unite konnten seine Frage offensichtlich nicht zuordnen. Erik stieß die Luft aus und überlegte, wie er das erklären konnte. War es nicht naheliegend, dass Desire Angst hatte, dass er zu ihrem Feind wurde? Schließlich wussten sie nicht, was der Schatthenmeister mit ihm gemacht hatte. Dennoch wirkte ihre Reaktion zu heftig. „Wieso hat Desire Angst, dass ich euer Feind werde?“ Die anderen sahen ihn nur an, ohne zu antworten. „Was ist damals im Schatthenreich wirklich passiert?“, präzisierte er seine Frage. Unite und Change wechselten einen kurzen Blick aus, schwiegen jedoch. Ewigkeit schien genauso planlos zu sein wie er und Destiny ließ den Kopf hängen. Einen weiteren Moment musste er warten. In gepresstem Ton eröffnete Destiny: „Ich habe euch angegriffen.“ Ein erschrockener Glöckchenklang kam von Ewigkeit. Erik konnte das nicht glauben. Sofort widersprach Change: „Mann, du warst nicht du selbst!“ „Ich war ich selbst!“, beharrte Destiny. Erik fühlte sich jäh an die Begebenheit mit der Plage erinnert. Auch von ihr war Destiny nicht im eigentlichen Sinne kontrolliert worden. Change blieb vehement. „Warst du nicht! Das waren die Spiegel! Sonst hättest du das nicht gemacht!“ Die Reue war Destiny deutlich anzusehen. Auch wenn Erik keine Ahnung hatte, was damals vorgefallen war. „Tiny!“, schimpfte Change, als ärgere er sich darüber, dass sie sich Vorwürfe machte. Destiny schrie: „Ich hätte euch fast umgebracht!“ Noch immer fiel es Erik schwer, sich das vorzustellen, sicher übertrieb Destiny bloß wieder. Ewigkeit war derweil zu ihm geschwebt, als sei sie genauso bestürzt über diese Enthüllung wie er. „Mann, das ist schon ewig her.“, grummelte Change geradezu eingeschnappt. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Damals hast du nicht so ein großes Drama drum gemacht.“ Destiny schaute unglücklich. „Hör auf, darüber nachzudenken!“, forderte Change lautstark. Destiny kreischte in einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. „Weil du es so magst, wenn ich dich angreife!“ Change verzog das Gesicht und drehte den Kopf weg. Beschämt und reuevoll senkte Destiny den Blick. Erik unterdrückte ein Stöhnen. Diese beiden waren wirklich unfähig, miteinander umzugehen! Glücklicherweise erbarmte sich Unite und klärte ihn und Ewigkeit darüber auf, was damals geschehen war. „Im Schatthenreich sind wir voneinander getrennt worden. Wir sind in Spiegelräumen aufgewacht. Und … diese Spiegel haben uns schmerzhafte Erinnerungen gezeigt.“ Sie legte eine Pause ein. „Destiny – sie“ Nochmals unterbrach sich Unite. „ Sie ist dadurch … Sie hat alles als Bedrohung angesehen und hat unkontrolliert ihre Energie freigesetzt.“ Ihre Stimme schrumpfte zusammen. „Sie wäre fast gestorben.“ Das war nicht geschauspielert, das konnte Erik sehen. Und wenn schon Unite ein so leidendes Gesicht bei der Erinnerung zog… Erik drehte sich zu Destiny. Diese machte den Anschein, als wolle sie auf keinen Fall, dass ihr jemand ansah, wie sehr diese Situation sie noch immer belastete. Ihre Stimme sollte wohl kontrolliert klingen, doch in Wirklichkeit bebte sie. „Klar will sich Desire nicht vorstellen, gegen dich kämpfen zu müssen.“ Erik ließ seinen Blick über sie und die anderen schweifen. Geräuschvoll atmete er ein und aus. „Bei den Plagen müsst ihr darauf gefasst sein, einander als Feind gegenüberzustehen. Das sollte euch klar sein.“ Ewigkeit schlug betreten die Augen nieder. Change versuchte auf seine gewohnte Art, Destiny aufzumuntern. „Siehst du, durch dich sind wir schon auf alles gefasst!“, scherzte er und grinste. Doch wie üblich fand Destiny das nicht witzig. Das wiederum regte mal wieder Change auf. „Hör auf, so negativ zu sein!“ Wie so oft, wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie sonst reagieren sollte, wurde Destiny patzig. „Ich kann so negativ sein wie ich will!“ Change schürzte unwillig die Lippen, wie immer beleidigt, dass seine Bemühungen von ihr nicht honoriert wurden. Davon durcheinander gebracht, wirkte Destiny jäh geradezu ängstlich. „Es tut mir einfach leid.“ Okay, das war neu. Sonst war Destiny nie so ehrlich Change gegenüber. Jedenfalls hatte Erik das bisher noch nicht erlebt. Normalerweise wurde sie in solchen Momenten nur noch lauter und giftiger zu ihm. Dafür reagierte Change leider allzu gewohnheitsmäßig. „Keinen interessiert das mehr.“, knurrte er, anstatt den Moment zu nutzen, um Destiny etwas Liebevolleres zu sagen und dadurch ihre Gunst zu gewinnen. Erik unterdrückte ein Seufzen. Destiny sprach kleinlaut: „Mich interessiert es.“ Eine weitere Chance! Erik warf Change einen fordernden Blick zu, den dieser jedoch gekonnt ignorierte. „Du bist nicht mehr wie damals!“, rief Change. „Du hast dich verändert!“ Abrupt verzog sich sein Gesicht, als wäre ihm etwas peinlich. „Oder Schicksal oder so.“, fügte er kleinlaut hinzu. Erik schwankte zwischen Belustigung und Mitleid. Ohne Changes Ergänzung wäre sicher niemandem aufgefallen, dass er das Wort ‚verändert‘ auf sich und seinen Beschützernamen bezogen hatte. Doch nun hatte es wirklich jeder verstanden, auch Destiny, die mit einem Mal verlegen wirkte. Erik wusste ehrlich nicht, ob er darauf hoffen sollte, dass die beiden sich endlich ihre Gefühle für einander eingestanden, oder ob er sich davor fürchten sollte. Denn ganz offensichtlich waren sie noch viel zu unreif, um eine Beziehung zu führen, die nicht in einem melodramatischen Chaos mit zahllosen Missverständnissen und Tränen endete. Er verdrehte die Augen. „Wir haben uns alle verändert!“, rief Unite – wohl in einem Versuch, die Situation zu retten. Kurz fragte er sich, wie oft sie das schon gemacht hatte, wenn die beiden sich mit ihrem unkontrollierten Temperament und ihrem tölpelhaften Ungeschick wieder in eine ausweglose Situation manövriert hatten. Unite kicherte und klopfte Change anerkennend gegen den Oberarm – um seine Schulter zu erreichen, hätte sie sich zu sehr strecken müssen – und deutete damit wohl an, dass das sein Verdienst war. Sofort kam auch Ewigkeit herbeigeflogen, wie um Changes Leistung zu würdigen. „Ich hab damit nichts zu tun.“, knarzte er. Es war wirklich paradox, dass Change ständig Aufmerksamkeit verlangte, aber nicht wirklich damit klarkam, wenn er welche bekam. Unite lachte, als wolle sie damit Change widersprechen. Auch wenn Erik davon ausging, dass Unite das tat, um Changes Gefühl von Selbstwirksamkeit zu stärken, konnte er nicht umhin, ihre Andeutung kurz zu hinterfragen. Ja, sie alle hatten sich verändert seit dem Tag ihrer Begegnung. Doch nicht nur Change, sondern jeder einzelne von ihnen hatte dazu beigetragen. Auch wenn er nicht wusste, ob diese Veränderung immer zum Guten gewesen war, konnte er nicht umhin, eine leise Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass aus diesen fünf Fremden Menschen geworden waren, deren Nähe er suchte. So unwahrscheinlich ihm dies rückblickend auch erscheinen mochte. Der Gedanke verleitete ihn zu einem leisen amüsierten Schnauben. Kapitel 146: Eigenbeschuss -------------------------- Eigenbeschuss „Jede Moral verübt Grausamkeiten.“ (Otto Weiß) Desires aufgepeitschte Gedankenschwingung war so heftig zu Trust geschwappt, dass er sich gar nicht mehr auf etwas anderes hatte konzentrieren können. Sie war offenkundig sehr aufgelöst gewesen und er konnte sich denken, woran das lag. Die Sache mit Erik und Secret nahm sie auf andere Weise mit als ihn und die anderen. Nicht mehr, aber anders. Das konnte er mittlerweile an der Form ihrer Gedanken ablesen. Er fand sie in dem Gang zwischen ihren Zimmern. „Desire.“ „Du brauchst mich nicht tadeln.“, sprach sie schneidend. Trust schwieg. In diesem Ton sprach Desire nur, wenn sie sehr wütend war, und das war sie üblicherweise nur Erik und Destiny gegenüber. Aufgebracht funkelte Desire ihn an, ihre Stimme wurde ungestüm. „Du wärst sogar bereit gewesen, Secret in der Nebendimension zurückzulassen!“ Die Erregung in ihrer Stimme nahm noch zu, schwankte zwischen Wut und Unglaube. „Und jetzt willst du schon Ewigkeits Gedanken gegen ihren Willen lesen!“ Trust musste schlucken. Ihre Vorwürfe trafen ihn wie Messer. „Ich will das nicht!“ Es klang, als schrie Desire gegen ihre eigene Verzweiflung an. „Ich will nicht so sein!“ Dann verlor sich ihre Stimme. Leid zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Trust war von ihrem Ausbruch zunächst wie gelähmt. Sein Haupt senkte sich. Er wusste nicht, was er sagen sollte und so wählte sein Verstand was er glaubte, das von ihm erwartet wurde, noch bevor die Worte in seinem Herzen wirklich angekommen waren. „Tut mir leid.“ Desire wirbelte zu ihm herum. „Ich will nicht, dass es dir leid tut! Ich will, dass das aufhört!“ Ihre Stimme begann zu beben. „Es ist wie damals, als Secret vorgeschlagen hat, Serena im Schatthenreich zurückzulassen!“ Trust war von diesem Vergleich bestürzt. „Auch wenn das für euch das Richtige ist, ist es noch lange nicht richtig!“, rief sie inbrünstig. Trust schluckte. Der Blick in Desires Augen war fast noch schmerzhafter als ihre Worte. Er riss sich zusammen. Es brachte nichts, wenn er nun in Schweigen verfiel, denn offenbar hatte Desire Redebedarf. Auch wenn sie das auf sehr unschöne Weise zum Ausdruck brachte. Ein weiterer Atemzug und er stellte sich der Antwort, die er gerne verdrängt hätte, weil sie das Gefühl wieder in ihm wachrief. „Ich hatte Angst.“ „Und das rechtfertigt es?“, schrie Desire. Noch nie hatte sich ihre Wut so gegen ihn gerichtet. Trust unterdrückte den Impuls ebenfalls mit Wut und Vorwürfen zu reagieren und sprach mit beherrschter Stimme. „Ich wollte nicht, dass jemandem von euch etwas zustößt. Und es schien leichter zu sein, Secret zu opfern, als euch wohlbehalten durch dieses ganze Chaos zu bekommen.“ Desire sah ihn strafend an, als wolle sie keine Ausreden hören. Trust fiel es schwer, damit umzugehen. Desire war sonst immer auf seiner Seite gewesen. Oder zumindest nie gegen ihn. Sie plädierte immer für das moralisch Richtige, egal wie übermenschlich es war. Das hatte er immer an ihr geschätzt. Aber seit der Situation mit Secret war alles anders als zuvor. Er ballte die Hände zu Fäusten, rang mit sich und atmete tief aus. „Ich lag falsch.“   Trusts Eingeständnis besänftigte Desire augenblicklich und ließ Ruhe in den Sturm ihrer Gefühle einkehren. Erst jetzt konnte sie überdeutlich sehen, wie sehr die Situation Trust mitnahm. Er sprach weiter. „Ich hätte nie Eriks Leben unter das unsere stellen sollen. Aber…“ Sie erkannte, wie er mit sich kämpfte. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ Sie verlieh ihrer Stimme einen möglichst sachten, aber entschiedenen Klang. „Das brauchst du auch nicht. Es ist nicht deine Aufgabe, immer alles zu entscheiden. Ich weiß, dass Vivien mal behauptet hat, dass du der Anführer bist, aber das bist du nicht.“ Trust sah sie voller Zweifel an. „Du bist einer von uns und du kannst nicht für uns anderen entscheiden.“, sagte sie behutsam. „Du bist nicht unser großer Bruder.“ Trust wirkte getroffen und senkte den Blick. Sie trat zu ihm und legte ihm sachte die Hand auf die Schulter. „Du kannst niemanden beschützen, außer dir selbst.“ Trust horchte auf. „Das hast du mir gesagt.“, erinnerte sie ihn. Trust wandte den Blick ab. „Du weißt, dass das leichter gesagt ist als getan.“ „Das weiß ich.“, sagte sie und nahm die Hand von seiner Schulter. „Aber du vergisst, dass wir anderen auch dich beschützen wollen. Du hast gesehen, was dieser ständige Druck in Vivien ausgelöst hat. Was, denkst du, macht es mit dir?“ Trusts Augenbrauen zogen sich zusammen. „Es geht nicht um mich.“ „Für Vivien tut es das.“ Bestürzt sah er sie an. Mit sanftem Lächeln erklärte Desire. „Ich habe vielleicht vorher nicht verstanden, was Vivien für dich fühlt, aber… ich wusste immer, dass du für sie … dass du ihr am nächsten stehst. Wenn du nicht auf dich selbst aufpasst, dann leiden die Menschen, denen du wichtig bist.“   Trust schluckte und musste widerwillig zustimmen. Er wollte sich einreden, dass er stärker war, dass er das alles tragen konnte, aber was machte er sich da vor? Dieser ganze Druck hatte mehr als einmal dazu geführt, dass er Vivien böswillige Unterstellungen gemacht und seinen Frust an ihr ausgelassen hatte. Nur weil er sich im Recht gefühlt hatte. Weil er geglaubt hatte, er würde das moralisch Richtige tun – das, was die Gruppe schützte. „Wie macht man das?“, fragte er resigniert.   Desire stockte, wollte Trust gerade ernsthaft nahe legen, dass er nicht wusste, wie man auf sich selbst aufpasste? Diese Offenbarung traf sie. „Justin…“ Wieder schluckte Trust und wagte es nicht, sie anzusehen. Desire musste das erst verarbeiten. Sie hatte gewusst, wie schüchtern und verletzlich er war, wenn es um Vivien ging, und dass er in bestimmten Bereichen alles andere als ein großes Selbstbewusstsein besaß, aber dass er sich selbst so wenig wertschätzte, war einen Moment zu viel für sie. „Du… du versucht dich wie deinen besten Freund zu behandeln.“, versuchte sie es zu erklären. „Weil du wertvoll bist.“ Trust sah sie mit ernstem Gesichtsausdruck an, als müsse er angestrengt darüber nachdenken. „Aber ich bin doch nicht –“ „Das sagt man doch nur so. Du… du mutest dir zu viel zu.“ Immer noch wirkte Trust unverständig. Wie erklärte man jemandem, der noch nie auf sich selbst Rücksicht genommen hatte, wie das ging? „Du musst dich einfach wichtiger nehmen.“ Trusts Blick wurde noch ernster, als zweifle er diese Idee an. Er schüttelte den Kopf. „Du hast doch selbst eben noch angemerkt, dass ich meine Sicht der Dinge zu wichtig genommen habe.“ „Das ist doch etwas anderes. Darum geht es nicht. Wenn du aufhören würdest, ständig zu denken, was du tun musst, und darauf achten würdest, was du brauchst, würde es nicht so weit kommen.“ Trust schien diesen Einwand nicht verstehen zu können. „Du wirst hart, wenn du dir zu viel zumutest.“, versuchte Desire es ihm nochmals begreiflich zu machen. Wieder wirkte Trust nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. „Jemand muss –“ „Niemand muss.“, sagte Desire überzeugt. „Als wir mit den anderen dieses Gruppengespräch hatten, hat Vivien es mir klar gemacht. Ich dachte, ich wäre von euren Entscheidungen abhängig, aber das bin ich nicht. Es ist meine Entscheidung, ob ich das tue, was ihr für richtig haltet oder nicht.“ Trust schien anderer Meinung zu sein. „Man kann nicht immer tun, was man gerne möchte.“ „Hast du das überhaupt jemals?“ Desire wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, aber irgendwie … Trust hatte in letzter Zeit immer wieder so verbissen gewirkt, als würde er auf eine Weise agieren, die ihm antrainiert worden war. Auf gewisse Weise erinnerte sie das an Erik. Wenn sie zu sich ehrlich war, hatte sie wohl kein Recht, ihm das zum Vorwurf zu machen, schließlich war sie selbst immer streng zu sich, wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nicht genügte. Genau das hatte sie ja immer an Trust bewundert: diese felsenfeste moralische Integrität. Nichts schien seine Werte ins Wanken bringen zu können. Sie hätte nie geglaubt, dass genau das ihn einmal hart und unerbittlich machen würde. „Ich bin nicht egoistisch.“, sagte Trust. „Es ist nicht egoistisch, auf sich zu achten.“, beanstandete Desire. Trusts Blick wurde hart. „Und es ist nicht egoistisch, dass du davor davonläufst, den Schild undurchlässig zu machen?“ Desire stockte. Sein Ton hatte so vorwurfsvoll geklungen. Sie konnte darauf nichts entgegnen. Trust biss die Zähne zusammen. Desire rang sich zu einer Antwort durch. „Nicht egoistischer als anderen seinen Willen aufzuzwingen.“ Sie sah, dass Trust seine Hände zu Fäusten ballte und den Kopf einzog. „Es wäre nicht nötig gewesen, mich anzugreifen.“, sprach Desire weiter. Trust drehte das Gesicht weg. Sie hätte ihn gerne gefragt, warum er sich von ihren Aussagen so in die Enge getrieben gefühlt hatte, dass er sich schon wie Destiny benahm, wenn man ihr unliebsame Widerworte gab. Doch das erschien ihr gerade wenig zielführend. „Erik wartet.“, sagte sie, um das Gespräch zu beenden und klar zu machen, dass sie nie vorgehabt hatte, vor dieser Aufgabe davonzulaufen. Noch einmal sah sie zu Trust, um ihm die Chance zu geben, noch etwas zu sagen, aber er schien immer noch mit sich zu hadern. Normalerweise hätte sie ihm versichert, dass alles okay war, aber … irgendwie hatte sein Vorwurf sie härter getroffen als erwartet. Es hatte nicht an der Aussage an sich gelegen, sondern daran, dass ausgerechnet er sie ihr entgegengeschleudert hatte. Derjenige, dem sie noch immer das größte Feingefühl zuschrieb. Und sie wollte nicht glauben, dass sie sich so in ihm getäuscht hatte, dass er sich seiner Tat nicht bewusst gewesen wäre. Sie schritt an ihm vorbei zurück in den Trainingsraum.   Unite bemerkte als erste, wie Desire zurückkam. Sie war allein. Und so stolz wie sie schritt – erhobenen Hauptes, als müsse sie sich gegen etwas wappnen – musste etwas vorgefallen sein. Sorge breitete sich in Unite aus, denn das konnte nur eines bedeuten: Trust hatte wieder diese starre Härte gezeigt, von der er sich nicht abbringen ließ. Unite spürte ihr Herz sich zusammenziehen. Nein! Sie war noch nicht gefestigt genug, um ihm in solch einer Verfassung angemessen zu begegnen. Sie fürchtete, in Tränen auszubrechen und sich unnötig verletzt und abgewiesen zu fühlen, wenn sie ihn jetzt so erlebte. Was sollte sie tun? Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dass Trust wirklich Ewigkeits Gedanken gegen ihren Willen gelesen hätte, glaubte sie nicht. Dafür kannte sie ihn zu gut. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er bereit gewesen wäre, sich dazu zu zwingen, weil er glaubte, das sei das Notwendige. Sie wusste wirklich nicht, ob sie die Kraft hatte, sich ihm zu nähern, wenn er so war. Plötzlich stand Destiny vor ihr und berührte sie kurz am Arm. „Ich schaue nach ihm.“ Ein Blick in Destinys Gesicht machte Unite klar, dass sie bemerkt hatte, wie es um ihre Gefühlslage stand. Destiny schenkte ihr ein kurzes aufmunterndes Lächeln und verließ dann den Trainingsraum. Unite wurde von der Seite angestupst. Es war Change. Er sagte nichts, sondern hatte sie wohl nur durch diese kleine Berührung ablenken wollen. Kurz spürte Unite den Impuls vor Rührung zu weinen, weil ihre Freunde sich solche Mühe für sie gaben. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Desire, die zu Erik trat. Beide wirkten immer noch distanziert einander gegenüber. Erik sprach, ohne Desire anzusehen. „Die anderen haben mir erzählt, was mit Serena im Schatthenreich war.“ Verständlicherweise war Desire davon etwas irritiert. Sie sah fragend zu Unite. „Dass sie uns angegriffen hat.“, half Unite ihr aus. Desire nickte unmerklich. Erik sprach weiter. „Deshalb ist es umso wichtiger, den Schutzschild undurchlässig zu machen.“ Der Satz verärgerte Desire offensichtlich. Dass Desire es hasste, Befehle von Erik entgegenzunehmen, war kein Geheimnis. Glücklicherweise ergriff Change das Wort. Unite hielt es für möglich, dass er das nur tat, um die angespannte Stimmung aufzulockern. Sie wusste ja, dass er deutlich cleverer handelte als die anderen glaubten. „Desire könnte sich doch von Tiny zeigen lassen, wie man es macht. Tiny ist auf jeden Fall super darin, andere von sich fernzuhalten.“ Unite musste grinsen und entschied sich, ihn bei seinem Ablenkungsmanöver zu unterstützen. „Der Destiny Experte hat gesprochen!“, rief sie. „Ha-haaa!“, rief Change pathetisch. „Keiner kennt ihre Paralyse besser als ich!“ Erik zog die Augenbrauen zusammen. „Wie oft hat sie dich schon paralysiert?“ „Frag nicht.“, antwortete Desire stoisch. Einen Moment schwieg Erik. Dann drehte er sich wieder zu Change und fixierte ihn. „Du ziehst die falschen Schlüsse. Destiny kann paralysieren, aber das heißt nicht, dass sie andere von sich fernhalten kann.“ Change zuckte locker mit den Schultern: „Jo. Sie ist so empfindlich, dass für sie alles direkt zu nah ist. Darum kann sie in Seelenwelten eindringen. Und deshalb braucht sie ihre Paralyse, um sich zu schützen.“ Unite musste ein Auflachen unterdrücken. Die fassungslosen Blicke von Desire und Erik bei Changes unerwarteter Zurschaustellung seines Scharfsinns waren Gold wert! „Was?“, rief Change, als würde er Widerspruch erwarten. Unite klopfte ihm anerkennend auf den Rücken und strahlte ihn überfreudig an. Change war das offensichtlich unangenehm. Erik hakte nach: „Du meinst, eure Kräfte sind da, um eure Stärken hervorzuheben und eure Schwächen auszugleichen?“ „Klar.“, sagte Change. „Desire ist immer so kontrolliert, als müsste sie die ganze Zeit ein Schutzschild tragen. Und um die ganze Anspannungen wieder aufzulösen hat sie ihre Läuterung.“ Desire machte große Augen. „Das ergibt Sinn.“, sagte Erik auf eine Weise, die nahelegte, dass auch er nicht damit gerechnet hatte, dass eine solch wertvolle Erkenntnis von Change stammte. In einem Ton, der deutlich machte, dass sie mit Changes Interpretation überhaupt nicht einverstanden war, widersprach Desire: „Nach der Logik sollte ich doch gar kein Problem damit haben, den Schutzschild undurchlässig zu machen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Nee.“, antwortete Change. „Dein Schild ist innen.“ „Was?“, rief Desire. „Na, innen lässt du niemanden an dich ran. Aber nach außen bist du offen. Bei Tiny ist es umgekehrt. Ihr geht alles zu nah. Aber nach außen schlägt sie um sich.“ Wieder waren die Blicke aller auf ihn gerichtet. Erik studierte Changes Gesicht. „Hast du heute Morgen irgendwas anders gemacht als sonst?“ Er legte eine kurze Pause ein. „Das solltest du auf jeden Fall beibehalten.“ Dieses Mal konnte Unite das Lachen nicht länger zurückhalten. „Fresse!“, schimpfte Change. „Ich bin nicht blöd!“ „Das hast du uns grade bewiesen.“, meinte Erik gleichmütig. Change wurde davon noch verstimmter. Unite konnte nicht aufhören zu grinsen. Die Interaktion war einfach zu komisch! Und schon setzte Desire noch einen drauf, indem sie regelrecht beleidigt ausrief: „Ich bin nicht innerlich verschlossen!“   Erik drehte sich zu ihr und sein Gesicht schien zu fragen, ob sie das ernsthaft behaupten wollte. Desire schaute pikiert. Er gab ihr mit seiner Mimik zu verstehen, dass er das, was er ihr gerne geantwortet hätte, nicht vor den anderen laut aussprechen wollte. Sie begriff, dass ihr fehlendes Verständnis für ihre eigenen Gefühle, das sie ihm offenbart hatte, wohl als innere Verschlossenheit gedeutet werden konnte. Sie hielt das nicht für fair! Und wieso unterstellte ausgerechnet Change ihr so etwas?! Als habe er ihren Gedankengang durchschaut, ergriff Change nochmals das Wort. „Ey, ich hab ja nicht gesagt, dass du so verschlossen bist wie unser Muskelprotz.“, stellte er mit einem Daumenzeig auf Erik klar. Erik schaute nur gelangweilt. Unite nutzte die Gelegenheit, um einen albernen Witz zu reißen: „Geheim eben!“ Change quittierte das mit einem breiten Grinsen. Erik ging darüber hinweg. „Und wie, denkst du, kann Desire ihren Schild undurchlässig machen?“, fragte er Change. Change zuckte mit den Schultern. „Dafür brauchen wir Tiny.“     Im Gang zwischen ihren Zimmern fand Destiny Trust mit gesenktem Haupt stehend vor. Er wirkte geknickt. Ihre Schritte verlangsamten sich. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte! Ein zaghafter Schritt und noch einer. Sie blieb stehen, sagte nichts, wartete einfach.  In mühevoll wirkender Langsamkeit hob Trust den Blick. „Alles okay?“, fragte sie unsicher. Er nickte bloß, doch alles in ihr schrie, dass das nicht stimmte. Im Geiste ging sie hastig ihre Handlungsmöglichkeiten durch. Doch sie hatte keine Ahnung, was Trust brauchte. „Kann ich irgendwas für dich tun?“ Er sah sie nochmals an und zeigte ihr ein fast trauriges Lächeln. Er schüttelte den Kopf. Das verunsicherte sie zusätzlich. Vielleicht wollte er ja alleine sein und sie störte ihn oder ihre Anwesenheit ließ ihn sich noch schlechter fühlen! Würde er ihr das sagen? Oh, hätte sie doch bloß Unites Rat eingeholt! Aber Unite hatte selbst so zerbrechlich gewirkt. Nein, Destiny wollte ihre Freundin entlasten, denn das hatte Unite verdient. Gleichzeitig wollte sie ihr Bestes tun, um Trust eine Stütze zu sein. Schweigend blieb sie bei ihm stehen und warf ab und an einen Blick auf ihn. Sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, angestarrt zu werden. Sollte sie ihn etwas fragen? Aber was? Vielleicht war ihm das unangenehm. Wenn er reden wollte, würde er dann den Anfang machen? Sie wollte ihm doch nur irgendwie das Gefühl geben, dass er nicht allein war! Aber vielleicht wollte er ihre Nähe ja gar nicht… Andererseits sah er so traurig aus. Das machte sie auch traurig. Trust war so ein lieber und herzensguter Mensch! Sie wollte für ihn da sein, wie er schon so oft für sie da gewesen war, vielleicht ohne es zu merken, einfach indem er er war, mit seiner vertrauenerweckenden, sanftmütigen Art. Sie wollte ihn irgendwie aufmuntern, ihm sagen, dass … dass er wundervoll war. Dass sie an ihn glaubte. Aber das war ja doch bloß Geschwätz… Amanda hatte ihr einstmals vorgeworfen, immer nur schöne Worte von sich zu geben, während ihr Verhalten das Gegenteil ausdrücken würde. Destiny ließ den Kopf hängen. Worte brachten nichts. Schon gar nicht ihre. Trust war so erwachsen. Was hätte sie ihm schon sagen können, das ihm irgendetwas gab? Bestimmt würde er es kindisch finden. Außerdem wusste sie ohnehin nicht, welche Worte oder welches Verhalten er gebraucht hätte. Unite hätte ihn sicher einfach angestrahlt und umarmt. Change hätte einen blöden Witz gerissen und Trust mit seinem Grinsen und seiner offenen, lockeren Art abgelenkt. Und Erik hätte die richtigen Fragen gestellt und irgendwie verstanden, was in Trust vorging, so wie er es immer bei ihr tat. Sie dagegen hatte keine Ahnung, wie sie Trust helfen konnte. Sie war total nutzlos. Betrübt sah sie zu Boden. Was gab es, was sie tun konnte? Was keiner der anderen konnte? Da gab es nichts. Ihn zu paralysieren oder einschlafen zu lassen, war schließlich wenig hilfreich. Destiny seufzte. Trust blickte wieder auf. „Entschuldige.“ Oh nein, das hatte sie nicht gewollt! „Du brauchst dich nicht entschuldigen!“, sagte sie hastig. Mit ernstem Blick starrte Trust vor sich. Offenkundig nötigte ihn etwas dazu, sich in Gedanken zu rechtfertigen. Jedenfalls glaubte Destiny an seiner plötzlich wieder härter werdenden Miene erahnen zu können, dass er versuchte, den Zwiespalt in sich niederzuringen. Vielleicht hätte sie ihn fragen sollen, was ihn belastete, aber das getraute sie sich nicht. Sie schwieg. Trust machte den Ansatz, etwas zu sagen und Destiny horchte auf, um kein Wort zu verpassen. „Was…“ Sein Gesicht verzog sich. „wenn ich kein guter Mensch bin?“ Die Frage war so absurd, dass Destiny nicht sofort darauf reagierte. Einen Moment wartete sie darauf, dass Trust selbst bemerkte, was für einen Unsinn er da redete. Bestimmt war das nur die Einleitung zu irgendwelchen Gedanken gewesen. Doch Trust sprach nicht weiter. „Was?“, fragte Destiny in Ermangelung einer besseren Antwort. Etwas Leidendes trat in Trusts Gesicht. „Ich …“ Er schien mit den Worten zu hadern. „Ich verletze die Menschen, die mir wichtig sind, und treffe falsche Entscheidungen.“ Destiny fühlte sich auf unangenehme Weise an ihre eigenen Erfahrungen erinnert, als würde Trust ihr dadurch indirekt sagen, dass sie ein schlechter Mensch war. Sie sah, wie sein Gesicht sich noch mehr mit Leid und Reue füllte. In ihrem Wunsch, Trust irgendwie zu trösten, fiel ihr ein, was das einzige war, das sie beruhigte, wenn sie so sehr an sich zweifelte und unsinniges Zeug dachte. Sie nahm all ihren Mut zusammen, trat vor Trust und umarmte ihn eilig, bevor sie zögern und den Plan abbrechen konnte. Dadurch dass sie fast dieselbe Größe hatten, war es einfach, ihre Arme um seine Schultern zu legen, auch wenn diese sehr viel breiter waren als sie es bisher bemerkt hatte. Breiter als Vitalis. „Du bist gut.“, sagte sie verlegen. Sie klang entsetzlich unsicher. Sie versuchte es nochmals. „Ich weiß, dass du gut bist.“ Das klang überzeugter. „Zweifel nicht an dir.“ Sie wusste nicht, ob es ihm unangenehm war, einfach von einem Mädchen, das nicht Vivien war, umarmt zu werden. Nicht, dass sie ihm damit zu nahe trat! Aber was wenn er gerade eine Umarmung brauchte, die er nicht erwidern musste? Und einfach so die Umarmung wieder abzubrechen, kam ihr genauso seltsam vor. Zu ihrer Erleichterung spürte sie schließlich, wie die Spannung in seinen Schultern etwas nachließ und er sich in die Umarmung sinken ließ, ohne seinerseits die Arme um sie zu legen. War das nicht ein gutes Zeichen? Sie wusste es nicht! Ruhig bleiben und etwas Aufbauendes sagen. „Ich glaube an dich.“, stieß sie aus und schalt sich, dass sie ruhiger und sanfter sprechen sollte. Sie holte tief Luft und besann sich darauf, dass es hier nicht um sie und ihre Unsicherheiten ging, sondern um ihn. Er war ein wundervoller Mensch. Sie vertraute ihm. Jedenfalls hatte er ihr nie einen Grund gegeben, an ihm zu zweifeln. Deshalb brauchte sie doch keine Angst haben, etwas Falsches oder Albernes zu sagen. Oder? Nein! Sie war stark! „Auch wenn du mal gemein bist oder etwas falsch machst, bist du trotzdem der wundervolle Justin, den wir lieben.“ Bei dem Wort ‚lieben‘ hatte sie den Eindruck, dass Trust kurz zusammenzuckte. War das zu viel gewesen? Sie hätte besser ‚mögen‘ sagen sollen! Aber… es stimmte doch, dass alle ihn liebten. Davon war sie überzeugt. Sie löste sich von Trust und legte ihm bedeutungsvoll die Hände auf die Schultern, wie sie es in Filmen gesehen hatte. „Auch …“ Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Auch wenn du das nicht glaubst, wir…“ Kurz zögerte sie. „Wir haben dich alle lieb.“ Ihr waren ihre eigenen Worte peinlich. Trust starrte sie an, als habe sie ihm gerade verkündet, dass die Erde eine Scheibe war. „Du… Du darfst auch an dich glauben.“, verkündete sie, ohne die Hände von seinen Schultern zu nehmen. Sie bemühte sich den Gedanken, dass sie sich albern verhielt, nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Etwas wie Härte trat auf Trusts Züge, er senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Wieso sagt ihr das alle?“ Destiny horchte auf. Hatte jemand anderes ihm bereits etwas Ähnliches gesagt? „Weil es stimmt.“, antwortete sie überzeugt und nahm die Hände von seinen Schultern. „Warum bin ich dann so?“, fragte er fast vorwurfsvoll. Destiny wusste nicht, wovon er sprach. Sie sah, dass seine Augenbrauen sich wieder zusammenzogen, und rang sich zu einer Gegenfrage durch. „Wie bist du denn?“ „Gemein.“ Destiny glaubte, sich verhört zu haben. Er und gemein? Ja, auch er konnte verletzend sein, wenn er sich verletzt fühlte, aber … „Du sagst nur Dinge, die du nicht so meinst, wenn du unsicher bist.“ Argwöhnisch fragte er: „Wieso denkst du, dass ich sie nicht so meine?“ „Weil…“ Sie beschloss, auf ihr Herz zu hören. „Man sagt manchmal Dinge, von denen man in dem Moment glaubt, dass sie das sind, was man sagen möchte. Aber wenn man ehrlich zu sich selbst ist, merkt man, dass man eigentlich etwas ganz anderes sagen will, es aber nicht zulassen kann, weil man versucht, stark zu sein.“ Trust starrte sie an. Destiny sah ihm in die Augen. „Es geht nicht darum, was du in dem Moment denkst, sondern was du wirklich im Herzen fühlst und willst.“ „Wie meinst du das?“, fragte er zaghaft. „Weißt du noch bei dem Gruppengespräch, als du Vivien Vorwürfe gemacht hast? Eigentlich wolltest du, dass sie dich nicht ausschließt.“ Trusts Augen gaben seine Verwunderung wieder. „In dem Moment warst du wütend und verletzt, deshalb konntest du nicht das spüren, was darunter lag. Dass du Vivien liebst.“ Nun war Trusts Gesichtsausdruck aufgelöst. Destiny sprach weiter. „Aber die Wahrheit ist, dass du sie liebst. Und alles andere war nicht die Wahrheit, auch wenn es sich in dem Moment so angefühlt hat. Dein Herz weiß das.“ Leid trat auf seine Züge. „Ich weiß, wie schwer das ist.“ Sie spürte, wie sie emotional wurde. „Aber du musst nicht alles richtig machen, um gut zu sein.“ Trusts Gesicht verzerrte sich. Vor ihren Augen drohte er in Tränen auszubrechen. Sie machte den Ansatz, ihn zu berühren. Dann fasste sie Mut und umarmte ihn beherzt, hielt ihn fest, um ihm dadurch Trost zu spenden. Dieses Mal erwiderte er die Umarmung. Kapitel 147: Abgrenzung ----------------------- Abgrenzung   „Oft bringt erst Distanz zwei Menschen einander näher.“ (Annette Andersen, deutsche Autorin)   Kaum hatten Destiny und Trust den ersten Schritt zurück in den Trainingsraum gesetzt, richtete Erik bereits das Wort an sie. „Change schlägt vor, dass du und Desire eure Kräfte kombiniert, um ihren Schild undurchlässig zu machen.“ Die abrupte Ankündigung irritierte Tiny offenbar, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich könnte sie dabei paralysieren.“ Lässig deutete Change auf Unite, die vielsagend lächelte, doch das konnte Tiny mal wieder nicht überzeugen. Erik erklärte: „Desire soll nur lernen, wie du deine Paralyse einsetzt, um das auf ihren Schild anzuwenden.“ „Das haben wir doch schon mal versucht und es hat nicht funktioniert.“, hielt sie entgegen. Trust neben ihr wandte sich mit beruhigender Stimme an sie. „Einen Versuch ist es wert.“ Angesichts Trusts sanften Lächelns nickte Destiny schließlich ergeben. Okay, es war normal, dass Trust eine solche Wirkung hatte. Aber - Wieso konnte irgendwie jeder andere Junge außer ihm Tiny überzeugen?! Change entschied, sich nicht weiter mit dem Gedanken zu befassen. Quietschfidel verkündete Unite: „Ich stelle mich hinter dich und verbinde Desire über deinen Rücken.“ Erik schlug vor: „Du kannst deine Kräfte auf Ewigkeit anwenden.“ Die Kleine flog zur Untermauerung seiner Worte neben ihn. Change verschränkte die Arme vor der Brust und gab seiner Stimme einen möglichst desinteressierten Klang. „Sie kann mich nehmen. Dann klappt es auf jeden Fall.“ Statt wie gewöhnlich wütend zu werden, wirkte Destiny mit einem Mal getroffen. Change verzog das Gesicht. „Was?“ Erik stöhnte und wandte sich an Destiny. „Du kannst auch mich paralysieren.“ „Mann! Das ist echt unangenehm!“, rief Change heftig. Erik ließ ihm einen strengen Blick zukommen. „Und deshalb will sie es nicht bei dir machen.“ Change stierte zu Destiny, doch sie wich seinem Blick aus, als könne sie ihm nicht in die Augen sehen. Das – Wieso… „Das hat sie bisher auch nie gestört!“, rief er lautstark, um seine Unsicherheit über ihre Reaktion zu übertönen. Wollte sie jetzt etwas Abstand zu ihm halten? Erik schüttelte den Kopf, als hielte er ihn für unterbelichtet. „Geh einfach aus dem Weg.“ Schmollend machte Change ihm Platz und stellte sich neben Trust. Während die anderen damit beschäftigt waren, sich aufzustellen, stupste er seinen Freund an und gab ihm mit einer Bewegung seiner Hand zu verstehen, dass er telepathisch mit ihm reden wollte. ! Alles okay? Trust nickte. ! Was war? Dass Trust nach dem Gespräch mit Desire nicht direkt zurückgekommen war, sondern erst Tiny nach ihm hatte sehen müssen, war alles andere als alltäglich gewesen. Trust wendete kurz den Blick ab. Change starrte ihn an. ○ Alles gut, behauptete Trust und schenkte ihm ein gezwungenes Lächeln. Auch wenn die Neugier an ihm nagte, sah Change ein, dass sein Freund gerade wirklich nicht darüber reden wollte. Hauptsache, es ging ihm gut. Desires Stimme zog Changes Aufmerksamkeit auf sich. „Das fühlt sich an, als würde man denjenigen umklammern.“ „Was?!“, stieß Change empört aus. Tiny schrie in seine Richtung. „Du Vollidiot! Ich will denjenigen bewegungsunfähig machen!“ Change verzog beleidigt das Gesicht. Bestimmt fühlte sich Tinys Paralyse bei Erik komplett anders an als bei ihm. War ja klar… Wütend wirbelte Tiny zu ihm und – Nicht schon wieder!!! „Und wie fühlt es sich jetzt an?“, schrie Tiny Desire an. Desire schaute verwirrt. „Sag ihm, wie sich das angefühlt hat!“, forderte Tiny aufgebracht. „Ähm, als …“ Desire unterbrach sich. „Komisch.“ Komisch?! „Was?!“, schimpfte Tiny. Unite kicherte. Das war nicht lustig… „Was soll ‚komisch‘ bedeuten?!“, verlangte Tiny zu erfahren. Ja, das hätte er auch gerne gewusst! Verdammt, es war fast am anstrengendsten, nicht reden zu können! „Anders als vorher.“, sagte Desire kleinlaut. „Unangenehmer.“ Er wollte das Gesicht verziehen, war dazu aber leider nicht in der Lage. Klar, dass Tiny es ihm besonders unangenehm machen wollte! „Du spinnst wohl!“, schrie sie. Unite blieb wie üblich gelassen. „Bei Change hat man es auch im Herzen gespürt. Es war intensiver.“ Sie lachte vielsagend. „Als würdest du ihn ganz fest an dich binden wollen.“ Change stockte. „Klappe!“, kreischte Tiny schrill. Unite lachte weiter. Plötzliche Verlegenheit überkam ihn. Oh Mann! Unite laberte doch bloß wieder irgendeinen Mist! Aber … Tiny wirkte so beschämt, als wäre an Unites Unterstellung vielleicht… Quatsch! Und wieso schien sich eigentlich keiner die Mühe machen zu wollen, ihn von dieser Paralyse zu befreien?! Unite lächelte Tiny an. „Willst du umgekehrt spüren, wie sich Desires Kräfte anfühlen? Das ist lustig.“ „Sie soll erst mal Change läutern.“, murrte Tiny. Ja, genau! Desire seufzte und trat zu ihm. Endlich ging die befreiende Welle von Desires Händen auf seinen gesamten Körper über und beendete Tinys Bann. „Alter!“, brauste er auf und sah Tiny wütend an. Unite grinste. „Sie wollte nur, dass du weißt, dass sie dich am allermeisten umklammern will!“ „Halt die Klappe!“, kreischte Tiny in zu hohem Ton. Changes Mund verzog sich. Hastig wendete er den Blick ab. Unite konnte echt fies sein.   Um auf keinen Fall länger mit dieser peinlichen Situation zubringen zu müssen, ergriff Destiny hastig Unites Hand. Desire hatte sich bereits vor Erik platziert, um ihre Kräfte anzuwenden. Irgendwie schämte sich Destiny fast, über Unites Gabe an Desires Gefühlswelt teilzuhaben. Der Kräfteeinsatz war ziemlich … privat. Zumindest empfand sie das so. Im nächsten Moment wurden ihre Gedanken von der Wahrnehmung verdrängt, die Unite an sie weiterleitete. Destiny konnte spüren, wie sich jede Mauer ihn ihr löste, als verflüssige sie sich. Jede Grenze schien davon hinweggeschwemmt zu werden. Die Fremdartigkeit dieser Empfindung jagte ihr Angst ein. Glücklicherweise riss das Gefühl abrupt ab. Dass Desires Läuterung das Gegenteil von ihrer Paralyse war, war zwar logisch, aber es im eigenen Körper wahrzunehmen, war etwas ganz anderes. Für den Einsatz ihrer Kräfte gab Desire offenbar jeden Schutz auf, fast so als habe sie nichts zu verlieren, brauche sich vor nichts zu schützen, sich nur diesem Fluss ganz hinzugeben. Destiny fragte sich, ob Desire bewusst war, was sie da tat. Ließ sie wissentlich in diesem Moment all ihre eigenen Bedürfnisse los? Allein die Vorstellung gruselte Destiny. „Ihr seid wirklich wie Feuer und Wasser.“, kommentierte derweil Unite. „Destiny hält fest und Desire lässt los.“ Ein Seufzen entfuhr Letzterer. „Ich weiß nicht, wie das Gefühl von Destinys Attacke mir helfen soll.“ Destiny konnte Desire ansehen, dass die Situation mit dem Schild ihr immer mehr zusetzte, schließlich lastete momentan sehr viel Druck auf ihr, wenn es um die Abwehr von Secret ging. „Es geht darum, dass du nicht immer nur zu jedem lieb und nett bist.“, kommentierte Erik. Destiny wusste, was jetzt kommen würde. Denn während ihr klar war, dass Eriks harscher Tonfall keinesfalls abfällig oder vorwurfsvoll gemeint war, kam er bei Desire genau so an.   Desire ließ Erik einen indignierten Blick zukommen. Derlei Kommentare konnte er sich sparen! Erik überging ihren stummen Protest kurzerhand. „Du musst lernen, Nein zu sagen. Und nicht immer nur das Gute in allen zu sehen.“ „Im Gegensatz zu dir!“, entfuhr es ihr. Nun wurde auch Eriks Stimme vehement. „Es geht hier nicht um mich, sondern um dich!“ „Äh Leute.“, mischte sich Change ein. „Wieso schreit ihr?“ Desire wendete erzürnt den Blick ab. „Hey.“, machte Change, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Der Muskelprotz ist zwar ein Trampel, aber er meint es nur gut.“ Eriks Gesichtsausdruck nach zu urteilen konnte er nicht fassen, dass ausgerechnet Change ihn als Trampel bezeichnete. Desire wirbelte zu Change herum. „Ich kann es nicht ausstehen, dass er es immer so hinstellt, als wäre ich ein dummes Blondchen und nur was er macht wäre richtig!“ „Äh.“, machte Change und sah zu Erik. „Hast du das so gemeint?“ Erik stöhnte entnervt. Destiny ergriff das Wort und klang wieder so besserwisserisch, wie Desire es hasste. „Erik meint nur, dass sie sich selbst für die größten Deppen noch einsetzt, und das ungesund ist. Wenn sie den Schutzschild undurchlässig machen will, muss sie lernen, andere auch mal vor den Kopf zu stoßen.“ „So wie du?!“, schrie Desire. Change ließ sich von der Aufregung nicht anstecken und sprach Desire an. „Wie hast du es denn gemacht, als wir –“ Er unterbrach sich und Desire verstand, dass er auf ihr Abenteuer in der Nebendimension anspielte. „Als was?“, wollte Erik wissen. Change druckste. „Als sie… schon mal ihren Schild… äh…“ Destiny kam ihm zu Hilfe. „Sie hat es schon mal geschafft, ihren Schild zumindest stark genug zu machen, um Angriffe nicht zu spüren.“ Erik sah zu Desire. „Und wie hast du das gemacht?“ Desire suchte nach Worten. „Ich hab … an mich selbst geglaubt.“ Erik stieß lautstark die Luft aus. „Genau das meinte ich. Dass du dich selbst wichtiger nimmst als das, was andere von dir denken.“ Überrascht sah Desire ihn an. „Das hast du nicht gesagt.“ Gefühlsneutral erwiderte er: „Ich bin es gewöhnt, dass du mitdenkst.“ Sie reagierte pikiert. „Wie soll ich denn von Vorwürfen, dass ich zu nett bin, darauf schließen, dass du meinst, ich soll mich selbst wichtiger nehmen?“ „Denkst du, ich will dir Vorschriften machen?“, gab Erik gereizt zurück. Desire wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Zum einen weil sie genau davon ausgegangen war – dass er von ihr verlangte, mehr zu sein wie er – zum anderen, weil sie ihm damit unwillentlich erneut vorgeworfen hatte, wie sein Vater zu sein. Mit einem Mal schämte sie sich, ihm so etwas unterstellt zu haben. Er hatte sie doch bisher immer so angenommen wie sie war. Aber die Vorwürfe, die er ihr auf Finsters Geburtstagsfeier gemacht hatte, gingen ihr immer noch nach. „Tut mir leid.“ Erik stieß die Luft aus. „Ich habe es wohl nicht klar genug ausgedrückt.“ Dass er dies offen eingestand, machte sie noch demütiger. Kleinlaut antwortete sie. „Danke für deine Hilfe.“ Es war peinlich, das vor allen anderen zu sagen, aber sie wollte seine Geste nicht unerwidert lassen. „Probier erst mal aus, ob es funktioniert.“, entgegnete Erik. „Du musst dich selbst wichtig genug nehmen, um den anderen nicht an dich ranzulassen.“ Desire nickte einsichtig. Nachdem die anderen ihnen Platz gemacht hatten, baute Desire ihren Schutzschild auf. Zu ihrer Ernüchterung lief Erik ohne Probleme hindurch. Durchdringend sah er sie an und sprach so leise, dass nur sie ihn hören konnte. „Glaub an dich.“ Seine Worte lösten eine befremdliche Empfindung in ihr aus, ihr Herz fühlte sich durcheinandergebracht an. Dann lief er wie all die Male zuvor wieder einige Schritte zurück. In einem Versuch, dieses konfuse Gefühl zu unterdrücken und den Schild zu verhärten, spannte sie ihre Muskeln an. Wieder das gleiche Ergebnis. Erik verdrehte die Augen, was sie abermals ärgerte. Er hatte ja leicht reden! Auch der nächste Ansatz endete im gleichen Resultat. Statt wieder umzudrehen, sah Erik sie nun an. Argwohn nahm seine Stirn ein, als habe er eine jähe Erkenntnis. „Nimmst du mich wichtiger als dich?“ Die Worte trafen Desire. Ein Ertapptheits-Gefühl raste durch ihren Leib. Erik starrte sie einen Moment an, als wäre diese Offenbarung zu viel für ihn. Dann loderte Wut in seinen Augen auf. „Verdammt noch mal!“ Er ging auf sie zu, ohne dass sie ihn durch den Schild hätte aufhalten können, und packte sie an den Oberarmen. „DU bist das Wichtigste in deinem Leben!“, schrie er sie an. Sie spürte wie ihr Gesicht sich vor Leid verzog. Im gleichen Moment wich die Wut aus seinen Zügen. Er ließ sie los. Sein Blick ging zu den anderen. „Lasst uns allein.“ Unite stieß ein enttäuschtes Geräusch aus, als würde sie nun den Teil verpassen, auf den sie sich die ganze Zeit gefreut hatte. Trust hingegen wirkte wenig erfreut über diesen Vorschlag, doch ehe er etwas dagegen sagen konnte, hatte Change sie bereits alle weg teleportiert. Ewigkeit folgte ihnen nach.   Sobald sie unter vier Augen waren, atmete Erik geräuschvoll aus. Er bemühte sich darum, seiner Stimme einen sanfteren Klang zu verleihen. „Du musst aufhören, ein schlechtes Gewissen mir gegenüber zu haben. Ich weiß, du denkst, du bist mir irgendwas schuldig, weil Secret im Schatthenreich zurückgeblieben ist, aber das bist du nicht.“ Sorgenfalten erschienen auf Desires Stirn. Sie antwortete nicht. „Hör auf mich anzusehen, als wäre ich noch immer gefangen und als müsstest du mich retten!“ Sie schlug die Augen nieder. Er wandte den Blick ab. „Ich hasse es, dass du mich für so schwach hältst.“ „Ich halte dich nicht –“ „Warum hast du sonst immer noch Schuldgefühle?“, fuhr er ihr ins Wort. Desire schwieg. „Es ist vorbei.“, sagte er nachdrücklich. „Ich bin hier.“ Unerwartet machte sie den Ansatz, ihm näherzukommen, stoppte sich jedoch und zog den Kopf ein. Erik stieß die Luft aus. „Warum fühlst du dich noch immer schuldig?“ Ihr Mund verformte sich, ihre Stimme klang belegt. „Ich hätte dich nicht im Stich lassen –“ „Was hättest du denn tun sollen?!“ Sie wusste es offensichtlich nicht. „Du hast mir gesagt, auch wenn ich nicht Secret wäre, …“ Er pausierte, denn sie hatte den Satz damals nicht beendet. „Ich erinnere mich zwar nicht an damals, aber ich weiß, ob mit Erinnerung oder ohne, ich würde dir nie Vorwürfe für etwas machen, wofür du nichts kannst! Glaubst du mir das?“ Zaghaft nickte sie. Ihre Stimme klang gepresst. „Ich will dich einfach nicht noch mal verlieren.“ Sie sah so verzweifelt aus, dass er sich zusammenreißen musste. Dann schüttelte sie den Kopf, als würde sie sich für ihre Emotionalität schämen. „Tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich immer noch nicht damit abgeschlossen habe. Das ist kindisch.“ „Ist es nicht.“, versicherte er ihr. „Aber du musst aufhören, meine Sicherheit über deine zu stellen. Wenn dir etwas zustößt, bist du keinem eine Hilfe.“ Er konnte an ihrer Haltung ablesen, dass diese Worte sie nur noch mehr unter Druck setzten. Kurz suchte er nach etwas, das er sagen konnte, um sie zu beschwichtigen, ihr irgendwie Mut zu machen oder... „Du darfst mich manchmal auch von dir fernhalten, ohne dass ich dir dafür Vorwürfe mache. Das ändert nichts …“   Desire spürte ihr Herz von Wärme erfüllt werden, als hätte die Lücke, die er gelassen hatte, etwas Wichtiges enthalten. Erik fuhr fort. „Es ändert nichts. Versprochen.“ Einen Moment sah sie ihn stumm an. Sie wollte ihn nicht von sich fernhalten. Sie wollte - „Hör zu.“, begann er streng, als hätte ihr Gesichtsausdruck ihm missfallen. „Du solltest dir klar machen, dass es manchmal nötig ist, andere zu verletzen. Ob du das willst oder nicht. Wenn ich dich wirklich angreifen sollte – wegen einer Plage oder sonst was –“ Bei seinen Worten zog sich ihre Brust zusammen. Allein die Vorstellung jagte ihr Angst ein. „Dann gib mir nicht die Verantwortung dafür, dass du dich nicht wehrst.“ Die Aussage empörte sie. Das klang, als gäbe man dem Opfer die Schuld. „So funktioniert das nicht!“, brauste sie auf. „Wenn sich jemand nicht wehren kann, dann –“ „Aber du kannst dich wehren!“, fuhr er sie an. „Und nur wenn du dich wehrst, kannst du andere beschützen! Geht das in deinen Dickschädel rein?“ Auch wenn das Sinn ergab, passten ihr seine Worte nicht. Sie wollte so nicht denken. Etwas Erbarmungsloses offenbarte sich in seiner Haltung. „So viel dazu, dass du Secret nicht wieder zurücklassen würdest.“ „Was?“, stieß sie entsetzt aus. Abscheu war auf seine Züge getreten. „Du hast gesagt, dass du es bereust. Aber du bist zu feige, zu tun, was nötig ist.“ „Das stimmt nicht!“, begehrte sie auf und fühlte sich schrecklich verhöhnt. „Du kannst ihm nicht helfen, wenn du nicht mal in der Lage bist, dich vor ihm zu schützen!“, donnerte Erik heftig. Fassungslos starrte sie ihn an, war unfähig zu reagieren. Erik wandte den Blick ab. Seine Stimme wurde ruhig. „Ich muss mich darauf verlassen können, dass du mich aufhältst.“ Desire spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Das war zu viel verlangt! Sie zog die Nase hoch, um ihn nicht sehen zu lassen, welche grausamen Gefühle sein Wunsch in ihr auslöste. Erik seufzte. „Desire.“ Es war seltsam, ihn ihren Beschützernamen sagen zu hören. Eindringlich sah er ihr in die Augen. „Du bist die einzige, die heilen kann. Wenn mir etwas zustößt, bin ich darauf angewiesen, dass du dazu in der Lage bist. Also kümmere dich darum. Mit allem, was du hast!“ Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte. Erik bedachte sie nochmals mit einem langen Blick, den sie nicht deuten konnte, dann wandte er sich ab und begab sich auf seine Startposition. Einen weiteren Moment brauchte Desire um alles zu verarbeiten, was Erik ihr gerade gesagt hatte. Es ging nicht darum, ihn von sich zu stoßen oder sich von ihm abzuschirmen. Ihren Schutzschild gegen ihn einzusetzen, hieß nicht, dass sie ihn im Stich ließ. Aber… Mit einem tiefen Atemzug legte sie ihre Hände auf die Mitte ihrer Brust. Wieso tat allein der Gedanke weh, ihn von sich fernzuhalten? War es das, was sie davon abhielt, ihren Schutzschild undurchlässig für ihn zu machen? War ihr Herz zu offen für ihn? Wie sollte sie das ändern? Es ändert nichts, klangen seine Worte in ihrem Kopf nach. Aber war das wirklich so, würde er ihr das verzeihen können? Sie sah zu ihm, sein Blick war fest, entschlossen, doch sie hatte gelernt, dass sich dieser Blick allzu schnell wandeln konnte. „Versprichst du es?“, rief sie ihm entgegen. Kurz zuckten Eriks Augenbrauen, als müsse er die Worte erst zuordnen, dann nickte er, als wäre das Antwort genug. Desire nahm einen weiteren Atemzug. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf das Gefühl, ihn beschützen zu wollen. Dieses warme, sanfte Etwas, das ihre gesamte Herzregion mit Aufregung und Ruhe zugleich erfüllte. Es war so drängend, als warte es nur darauf, endlich aus ihr herausbrechen zu dürfen. Das fühlte sich nicht angespannt oder kriegerisch an, kurz irritierte sie das. War sie doch davon ausgegangen, eine gewisse Festigkeit und Härte zu empfinden, stattdessen war es ein angenehm weiches Fließen. Erik war derweil losgelaufen, sie hörte seine Schritte. In diesem Moment ließ sie das Drängen los, von ihrer Körperoberfläche nach außen, wie eine kräftige Welle. Es riss ihr regelrecht die Augen auf. Sie sah, wie Erik von der Schildwand hinfort gestoßen wurde, zurücktaumelte und gerade noch so das Gleichgewicht halten konnte. Sie konnte es nicht fassen! Ein anerkennendes Lächeln erschien auf Eriks Lippen, als wäre er nicht weiter überrascht. Im gleichen Moment entfuhr ihr ein Freudenschrei, der Schild löste sich auf und die Begeisterung ermächtigte sich ihres Körpers.   Erik war für einen Augenblick handlungsunfähig. Damit, dass sie in überschwänglicher Freude in seine Arme springen würde, hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Bevor er den Ansatz machen konnte, endlich die Arme um sie zu legen, entzog sie sich ihm in überstürzter Hast. Geradezu beschämt hielt sie den Kopf gesenkt. „Tut mir leid. Ich wollte nicht, …“ Er versuchte ihre Reaktion einzuordnen. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ Etwa wegen seinem Verhalten bei ihrer ersten Begegnung? Oder besser gesagt dem, was er für ihre erste Begegnung gehalten hatte? „Tust du nicht.“, sagte er möglichst neutral klingend. Dass sie nach all der Nähe, die er ihr schon gewährt hatte, ausgerechnet jetzt auf so einen absurden Gedanken kam, war ihm unbegreiflich. „Ihr seid doch die Gleichgewichtsbeschützer.“ Sie schien nicht zu verstehen, wovon er sprach. „Nähe und Distanz sind beide wichtig.“, sagte er. „Beides hat seine Berechtigung und seine Zeit.“ Es war besser zu reden als die Situation seltsam werden zu lassen. „Es geht nicht darum, eine Seite auszulassen, sondern beide in Einklang zu bringen. So wie Change es erklärt hat. Destiny und du, ihr habt beide diese Qualitäten in euch.“ Kurz zögerte Desire, als hätten seine Worte sie verwirrt. „So habe ich das noch nie gesehen.“, gestand sie und wurde nachdenklich. „Ich dachte, …“ Sie seufzte. „Es ist dumm, aber … ich dachte, was Destiny tut, sollte man nicht tun.“ „Es ist sinnvoll, Grenzen zu setzen.“ „Aber man tut anderen dadurch weh.“, entgegnete Desire in einem Ton, als fände sie das schrecklich. „Wenn du früh genug Grenzen setzt, musst du anderen nicht wehtun.“ Zweiflerisch sah sie ihn an. „Beides gehört zusammen. Und du darfst beides nutzen. Okay?“ Desire nickte langsam. „Danke.“ „Nichts zu danken.“ Ein vorsichtiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Es ist schön, dich im Team zu haben.“ Erik war nicht sicher, wie er darauf antworten sollte, doch Desire sprach bereits weiter: „Es fühlt sich… richtig an.“ Sie wirkte auf seltsame Weise glücklich. Bedeutungsvoll sah er sie an. „Secret ist nicht im Schatthenreich zurückgeblieben. Er ist hier.“ Seine Worte machten sie emotional. Erik trat einen Schritt näher auf sie zu, unsicher, ob er … Sie kam ihm entgegen. Doch keiner von ihnen wagte es, die Umarmung auszuführen. Ausweichend meinte sie: „Wir sollten den anderen Bescheid sagen.“ Er entfernte sich wieder von ihr. „Ja.“ „Erik?“ Mit einem Blick verdeutlichte er ihr, dass er zuhörte. „Woher weiß ich… wann…“ Sie unterbrach sich. Er holte tief Atem und überwand die Distanz zwischen ihnen.   „Das ist keine Einbahnstraße.“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie spürte sein Gesicht das ihre berühren, wie damals bei ihrem Tanz auf der Halloweenparty. Doch dieses Mal war keine Maske zwischen ihnen. Ihre Augen schlossen sich automatisch. Sie fühlte sich ihm so nah wie nie zuvor. Der Augenblick verflog und Erik entfernte sich wieder von ihr. „Du musst nicht die ganze Verantwortung alleine tragen.“ Jäh schnaubte sie belustigt, ohne dass er verstanden hätte, wo diese Reaktion herrührte. „Das habe ich vorhin erst zu Trust gesagt.“, klärte sie ihn auf. Erik gab ein amüsiertes Geräusch von sich. „Die eigenen Themen erkennt man so leicht bei anderen.“ Neckisch lächelte sie ihn an. „Kannst du deshalb alle anderen so gut durchschauen?“ Obwohl es ihre Einladung gewesen war, einen Scherz zu machen, ließ die Aussage ihn innehalten. Ernst sah er sie an. Ihr Gesichtsausdruck wurde weich und sie verstand, dass sie damit richtig gelegen hatte. „Du … darfst auch…“, druckste sie. „Nähe, meine ich. Und Distanz.“ Erik bedachte sie mit einem stummen Blick. „Ich meine, wenn du das möchtest.“, ergänzte sie hastig. „Andere nicht zu nah an sich ranzulassen, ist das, was du noch lernen musst.“ Sie versuchte seinem Gesichtsausdruck zu entnehmen, was er damit sagen wollte. Eine kurze Bewegung seiner Miene forderte sie dazu auf, es ohne Worte zu begreifen. „Du meinst, …“ Erik unterbrach sie. „Du bist noch nicht gut darin, Grenzen zu setzen.“, sagte er ernst. „Es ist leichter, jemandem nahe zu kommen, wenn man weiß, dass der andere seine Grenzen wahrt.“ Ihr Körper schien die Aussage dahinter schneller zu begreifen als ihr Kopf. Klopfenden Herzens formte sich ihr Mund zu einem Lächeln. Kapitel 148: Verbundenheit -------------------------- Verbundenheit   „Selbstvertrauen ist die Quelle des Vertrauens zu anderen.“ (François de La Rochefoucauld)   Change hatte die anderen in ihren Aufenthaltsraum teleportiert. Direkt eröffnete er ihnen einen neuen Plan. „Was haltet ihr davon: Tiny soll sich ein Gefühl überlegen, ich teleportiere sie hin und her – unsichtbar natürlich – und ihr müsst zusammen herausfinden, welches Gefühl es ist!“ Destiny starrte ihn an. „Change hat heute viele gute Ideen.“, kommentierte Unite gutgelaunt. Destiny schien das fragwürdig zu finden. „Vielleicht ist er besessen.“ Unite lachte. „Fresse!“, schimpfte Change. Ewigkeit zog ein unglückliches Gesicht, denn Change hatte ihr keine Rolle zugewiesen. Change fiel sein Fehler auf. „Du …“, setzte er an und hatte keine Ahnung, was Ewigkeit tun sollte. Unite übernahm das an seiner Stelle. „Du musst die Plagen von der Flucht abhalten! Du musst so schnell wie möglich fliegen und teleportieren! Schaffst du das?“ Ewigkeit nickte eifrig und schoss im gleichen Moment schon los, um ihre Ausweichmanöver zu verbessern. „Okay.“, sagte Change und fasste nach Destinys Hand. Im nächsten Moment waren beide nicht länger sichtbar. Trust sah zu Unite neben sich. „Wir sollten wohl unsere Kräfte verbinden.“ Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Das wunderte ihn. Vorsichtig nahm er ihre Hand in seine. ○ Unite, ist alles okay? Er wusste nicht, ob er sich das einbildete, aber ihre sonst klaren wenn auch häufig quirlig überdrehten Gedankenmuster bewegten sich seltsam zäh und unsicher.   Destiny beobachtete Trust und Unite. Sie hatte vorhin schon das Gefühl gehabt, dass Unite verunsichert war wegen Trust. Auch jetzt wirkte sie, als würde sie etwas belasten. Destiny hielt es für das Beste, die beiden kurz alleine zu lassen. Aber wie sollte sie das Change klar machen? Sie wollte es nicht laut aussprechen. Deutlich drückte sie Changes Hand und hoffte, dass er verstehen würde, dass sie ihm etwas mitzuteilen hatte. Warum konnte man auch sich selbst nicht sehen, wenn man unsichtbar war? Das war schrecklich unpraktisch! Sie hatte keine Ahnung, wo Changes Kopf genau war. Wo ungefähr war nun wohl sein Ohr? In einem Versuch, ihm zuzuflüstern, streckte sie sich etwas in seine Richtung. Jäh stieß sie mit der Nase gegen etwas, das nur seine Nase sein konnte. Panisch torkelte sie zurück und ließ seine Hand los. Beschämt bedeckte sie ihr Gesicht mit einer Hand. Sie war ihm noch nie so nahe gekommen. Das war entsetzlich peinlich! Erst im nächsten Moment beendete Change seine Unsichtbarkeit und sie sah, dass er sie fassungslos anstarrte. Gott, das war so beschämend! Den Kopf einziehend packte sie ihn an der Hand und zog ihn in Richtung ihrer Zimmer. Nur nicht darüber nachdenken!   Sobald sie den Gang zwischen ihren Zimmern erreicht hatten, ließ Destiny von ihm ab. „Bist du wieder besessen?“, fragte Change in deutlich zu hohem Tonfall. „Nein, du Vollidiot!“, kreischte sie. „Ich wollte nur – Raaaah!“ „Was?“ „Du Depp! Ich wollte dir nur zuflüstern, dass wir Unite und Trust kurz alleine lassen sollten.“ Change schaute reichlich skeptisch. „Du hättest mich auch einfach gleich hierher ziehen können.“ „Halt die Klappe!“, maunzte sie und schämte sich. Woher hätte sie auch wissen sollen, dass er sich zu ihr drehen würde. Sie hatte doch nichts sehen können! Change hob abwehrend die Arme. „Okay okay.“ „Du bist so ein Trottel.“, jammerte sie. Er seufzte schicksalsergeben. „Warum wolltest du sie jetzt alleine lassen? Das sollte sie doch ablenken!“ „Was?“, fragte Destiny verständnislos. „Na, diese Aufgabe. Es ist besser, Unite abzulenken.“ Hatte er ernsthaft gemerkt, dass etwas nicht mit ihr stimmte? Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. „Es hat nicht funktioniert.“, murrte sie ausweichend. „Wie denn?“, beschwerte sich Change. „Du hast doch direkt abgebrochen.“ Destiny verschränkte die Arme vor der Brust. „Mann, du bist viel zu besorgt.“, meinte Change. „Die zwei sind nicht wie wir. Die vertrauen einander.“ Destiny stockte. Zum einen, weil er ernsthaft Unite und Trust mit ihnen verglich. Zum anderen, weil.... Kleinlaut gab sie von sich. „Ich vertraue dir.“ „Tust du nicht.“ „Natürlich!“, schimpfte sie aufbrausend, schließlich hatten die Worte sie verdammt viel Überwindung gekostet! Changes Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wenn ich dich böse anschaue, denkst du dann, ich bin böse auf dich oder dass ich einfach schlechte Laune habe?“ „Was hat das –“ „Wenn ich dich anlächle, denkst du dann, das liegt an dir oder dass ich einfach gute Laune habe?“ Destinys Unterlippe schob sich vor. „Und was soll das beweisen?“ „Dass du alles Negative auf dich beziehst.“, antwortete Change überzeugt. Seine Schlussfolgerung passte ihr nicht. „Das… hat doch nichts mit Vertrauen zu tun.“ „Du vertraust nicht mal dir selbst.“, sagte Change ihr auf den Kopf zu. Beschämt senkte sich ihr Haupt. „Das ist nicht fair.“ „Es ist nicht fair, dass du von anderen erwartest, dass sie dein Selbstvertrauen stärken, anstatt dass du selbst an dich glaubst.“, antwortete Change ruhig. Sie spürte Tränen in sich aufkommen. Es war gemein, dass er ihr das zum Vorwurf machte. „Wenn du Unite unterstützen willst, dann glaub an dich. Das hilft ihr mehr als alles andere.“ Wenn das so leicht wäre! „Hey!“, sagte Change fast fröhlich. „Schicksal lässt sich nicht aufhalten!“ Sie stockte. Was musste er auch immer irgendwelche Wortspiele mit ihrem Namen machen? Vor allem welche, die so gar nicht auf sie zutrafen… „Du hast Trust vorhin doch auch geholfen, oder nicht?“ „Ich weiß nicht.“ Change stieß ein Grollen aus. „Was ist eigentlich euer Problem, dass ihr nie wisst, wenn ihr etwas gut gemacht habt?!“, schrie er sie an. Sie zog einen Schmollmund, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wer außer ihr noch gemeint war. „Mann, Tiny.“, klagte Change. „Selbst als du vorhin Ewigkeit erwischt hast, hast du geschaut, als wäre das Zufall.“ Wie – Hatte man ihr das so sehr ansehen können? „Das war echt schwierig und du hast es geschafft.“, sagte er, als würde er ihr Mut zusprechen wollen. Das machte sie verlegen. Sollte sie sich dafür bedanken? Nicht dass er sie dann wieder schimpfte. „Du bist verdammt gut darin, deine Kräfte zu beherrschen und ohne dich wären wir total aufgeschmissen. Was ist daran so schwer zu verstehen?“ Sie wusste nicht wieso, aber auf seine Worte hin spürte sie wieder den Impuls zu weinen. Dabei hatte er doch was Nettes gesagt! Aber – sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte! Wohin mit all den Emotionen? Seine Stimme nahm einen hilflos hohen Klang an. „Weinst du etwa?“ Sie schniefte und schüttelte den Kopf. „Danke.“ Als sie die Augen wieder hob, erkannte sie, wie überrascht Change wirkte. „Bitte.“ Er wich ihrem Blick aus, seine Hand legte sich auf die Seite seines Halses. Das hatte sie zum ersten Mal an ihm gesehen, als sie besessen gewesen war. Fast wirkte es verlegen. „Sorry, wegen dem Anschreien. Ich weiß ja, du machst es nicht mit Absicht.“ Sie fragte sich, ob das stimmte. Es war doch nun wirklich nicht mehr normal, dauernd an sich selbst zu zweifeln. Damit machte sie allen immer nur Ärger. Aber vor allem wusste sie nicht, was sie jetzt tun oder sagen sollte. Die Situation war ihr unangenehm. Sie war es beim besten Willen nicht gewöhnt, so normal mit Change zu reden. Irgendwie schrien sie einander sonst immer nur an. Er drehte den Kopf halb in die Richtung des Aufenthaltsraums. „Meinst du, sie haben sich jetzt ausgesprochen?“ „Keine Ahnung.“, gestand sie. Es herrschte kurzes Schweigen. „Change?“ Sie wollte mutig sein und rang sich zu weiteren Worten durch. „Danke, dass du an mich glaubst.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre nichts weiter dabei. „Ist keine Kunst. Nur du checkst es nicht.“ Kurz war sie über seine Aussage pikiert, dann verstand sie, dass er das wohl nett meinte. Wie gerne hätte sie ihm jetzt gesagt, dass sie auch seine Stärke sah, wie mutig er war und wie schnell er immer dazulernte und in Gefahrensituationen handelte. Aber das war ihr unmöglich… Frustriert ließ sie den Kopf hängen. „Ey, wieso guckst du jetzt wieder so?!“, rief er. Nun zuckte sie mit den Schultern. „Das ist echt anstrengend mit dir!“ Das wusste sie und sie schämte sich dafür. Sie hatte keine Ahnung, wie Change es mit ihr aushielt. Er hatte was Besseres verdient. Seine Stimme brach in ihren Gedankengang ein. „Paralysier mich lieber wieder!“ Völlig irritiert starrte sie ihn an. „Bist du verrückt geworden?“ „Mann! Mir ist es lieber, du bist sauer, als …“ Sorgenfalten gruben sich in seine Stirn. „Wir sollten wieder reingehen.“, sagte sie eilig. Die Situation überforderte sie. „Du bist wichtig.“ Fassungslos starrte sie ihn an. „Vergiss das nicht immer.“, entgegnete er entschieden und hatte sich im gleichen Moment auch schon auf den Weg zurück in den Aufenthaltsraum gemacht. Hastig folgte sie ihm nach.   Verwundert hatte Trust verfolgt, wie Destiny erst regelrecht von Change weg gesprungen war und ihn dann zu den Zimmern gezerrt hatte. Er hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Und gerade war es ihm wichtiger zu erfahren, was in Unite vorging. Sie hatte ihm auf seine telepathische Frage nicht geantwortet. „Ist was?“, fragte er sie nun laut. Noch immer blickte sie nicht zu ihm auf. Sie schüttelte nur den Kopf. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre Schulter und bewegte Unite sachte in seine Richtung. „Unite…“ Sie hatte die Augen zugekniffen, als würde sie mit sich hadern. „Du musst dich nicht zusammenreißen.“, versuchte er sie dazu zu bewegen, ihm zu offenbaren, was in ihr vorging. Ihr Mund verzog sich. Abermals schüttelte sie den Kopf, als kämpfe sie gegen sich selbst. Trust ließ sie los, ging in die Hocke und sah von dort zu ihr auf. Unite schniefte und wischte sich Tränen aus den Augen. „Tut mir leid.“, sagte sie gepresst, als schäme sie sich schrecklich. Ewigkeit stoppte in ihren Flugübungen und kam heran. Trust gab ihr mit einer Bewegung seiner Hand zu verstehen, dass sie das ihm überlassen sollte. Die Kleine gehorchte. „Es tut mir leid.“, schluchzte Unite. „Ich will nicht,...“ Trust glaubte zu erkennen, dass sie sich ihre Gefühle nicht erlauben wollte. „Du musst nicht stark sein.“ Abermals schluchzte Unite auf, ging auf die Knie und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie weinte bitterlich. Er hielt sie einfach nur fest, gab ihr die Zeit, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Sie nahm ständig so viele Gefühle auf. Irgendwann war es wohl schlicht zu viel. Liebevoll strich er ihr übers Haar. „Es tut mir leid.“, wimmerte Unite und drückte ihr Gesicht an ihn, als müsse sie sich verstecken. „Es tut mir so leid.“ Er strich weiter über ihr Haar und hielt sie im Arm. Sie rang nach Atem, als versuche sie verzweifelt, sich wieder zu fangen. „Tut mir leid, dass ich solchen Ärger mache!“ Sachte berührte er ihre Arme und zog sich ein wenig zurück, um ihr zu ermöglichen, in sein Gesicht zu sehen. Zärtlich lächelte er sie an, um ihr zu versichern, dass sie keinen Ärger machte. „Es tut mir leid.“, wiederholte sie und wollte ihr Gesicht hinter ihren Händen verstecken. Auf Dauer war es unbequem, so auf dem Boden zu knien. „Komm.“, sagte Trust sanft und führte sie hinüber zur Couch. Er nahm Platz und bedeutete ihr, sich in seinen Armen auszuruhen. Sie klammerte sich an ihn und entschuldigte sich nochmals. „Alles ist gut.“, versicherte er ihr. „Willst du in dein Zimmer gehen?“ Sie schüttelte fast ängstlich den Kopf. Er hatte nur gedacht, dass es ihr unangenehm sein könnte, wenn die anderen ihren Zustand ebenfalls sahen. „Ich meine, dass ich mit dir gehe.“, stellte er klar. Sie verließ den Platz in seinen Armen und sah ihn mit verweinten Augen an. Er legte seine große Hand auf die Seite ihres Gesichts. „Tut mir leid.“ „Du brauchst dich nicht entschuldigen. Es ist wirklich alles gut.“ Wieder schniefte sie und versuchte durch den Mund Luft zu bekommen. „Es ist dumm, dass ich weine.“, japste sie. „Das ist doch nicht dumm.“ „Doch.“ Nun sah er sich gezwungen, mit ihr ein Gespräch darüber zu führen, was gerade in ihr vorging. Er hatte das vermeiden wollen, aus Sorge, dass sie sich noch mehr hineinsteigerte. „Erklär es mir.“ Sie verzog das Gesicht. Er ließ ihr Zeit. „Ich … Als du vorhin..“ Sie schluchzte auf. „Ich sollte für dich da sein und … Ich konnte nicht.“ „Unite.“ „Ich bin eine schlechte Freundin.“, winselte sie. Die Worte schnürten ihm die Kehle zu. Er nahm ihre Hände in die seinen.   „Sag so was nicht.“ Sie zog den Kopf ein und schien kaum noch Luft zu bekommen. „Ich will nicht so sein.“, wimmerte sie. „Oh Gott, Vivien, bitte…“, flehte er. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Was sollte er nur zu ihr sagen? Er war nicht darauf vorbereitet, wie hilflos man sich fühlen konnte angesichts der Hilflosigkeit eines anderen. Sie presste hervor: „Ich will dir keinen Ärger machen.“, Er wusste sich nicht anders zu helfen als indem er sie erneut an sich zog. „Bitte, bitte, denk das nicht.“, bat er inständig. Er spürte, wie sie stumm bebte, als zwinge sie sich, nicht länger zu schluchzen. Wie konnte er sie nur beruhigen? Ihm fiel seine Telepathie ein. Würden die Worte besser zu ihr durchdringen, wenn er sie ihr so übermittelte? ○ Ich liebe dich. Die stummen Schluchzer hörten auf. Vorsichtig zog sie sich von ihm zurück. Mit gesenktem Haupt nickte sie. In diesem Moment kamen Destiny und Change zurück in den Aufenthaltsraum. „Unite?“, fragte Destiny besorgt und schien im Begriff zu sein, zu ihnen zu stürmen, hielt sich dann jedoch zurück und suchte Trusts Blick, wie um von ihm zu erfahren, ob sie sich nähern durfte. Trust wusste es selbst nicht. Er sah zu Unite. Das nahm Destiny wohl zum Anlass, zu ihnen zu kommen. Change tat es ihr gleich. Ohne zu zögern schloss Destiny Unite in ihre Arme. „Alles okay?“, wollte sie von ihrer Freundin wissen. Ehe Unite überhaupt antworten konnte, mischte sich auch Change ein und hielt ihr seine Hand hin. „Wenn du meine Gefühle anzapfen willst.“ Destiny starrte ihn an. „Wieso sollte sie das tun?“ „Na, um andere Gefühle zu haben.“ Destiny starrte ihn an. „Sie kann doch nicht einfach, deine Gefühle übernehmen!“ „Wieso nicht?“, fragte Change verständnislos. „Das ist wie Drogen nehmen, um sich von seinen Gefühlen abzulenken.“ Change grinste. „Du meinst, ich bin eine Droge?“ Unite gab ein Lachen von sich. Das beruhigte Trust. Er hatte schon befürchtet, dass Destinys und Changes Anwesenheit sie überfordern würde, doch offenbar lenkte es sie etwas ab. Dennoch ließ er den Arm um sie gelegt, für den Fall, dass sie etwas Abschirmung brauchte. Er hörte eine weitere Tür gehen und Erik und Desire betraten den Raum. „Ich habe es geschafft!“, rief Desire voller Begeisterung aus. Im gleichen Moment änderte sich ihr Gesichtsausdruck. „Was ist los?“ Erik dagegen schlug direkt den Weg zur Couch ein und setzte sich neben ihn. Desire sah hilfesuchend zu Trust, sie schien die Situation nicht einordnen zu können. „Setz dich.“, sagte Erik knapp. Desire missfiel sein Tonfall augenscheinlich, dennoch nahm sie den Platz neben Change ein, der sich neben Destiny gesetzt hatte. Nun getraute sich auch Ewigkeit heran und schwebte auf Unites Schoß. „Tut mir leid.“, sagte Unite tonlos. Trust legte seine Hand auf ihre Taille, um ihr durch den Körperkontakt zu verdeutlichen, dass er für sie da war. „Ich will euch keinen Kummer machen.“ „Tust du nicht!“, sagte Destiny entschieden und legte ihre Hand auf Unites Schulter. Sie stupste Change neben sich an. „Nee, tust du nicht.“, bestätigte er daraufhin rasch. „Was ist denn passiert?“, wollte Desire nochmals wissen. „Ist doch egal!“, schimpfte Destiny. „Tut mir leid.“, wiederholte Unite abermals. „Hey.“, sagte Change heiter. „Du klingst schon wie Tiny.“ Er drehte sich zu Destiny. „Bist du ansteckend?“ Unite schnaubte halb belustigt, halb erstickt. Destiny warf ihm einen bösen Blick zu. Desire wirkte dagegen noch immer von der Frage überfordert, was nun von ihr erwartet wurde, während Erik das Geschehen stumm beobachtete, als analysiere er die Situation. „Unite.“, sprach Erik schließlich. Sie horchte auf und sah in seine Richtung. „Es ist okay.“ Das war alles. Mehr sagte er nicht. Trust wusste nicht, was es damit auf sich hatte. Doch Unite nickte, als verstünde sie mehr. „Danke.“, gab sie von sich. „Dass ihr da seid.“ „Natürlich sind wir da.“, versicherte Desire eifrig, als wäre sie froh, endlich auch etwas beitragen zu können. „Wir sind deine Freunde.“ Abermals nickte Unite, doch Trust hatte den Eindruck, dass sie wieder emotional wurde. Ewigkeit gab einen Glöckchenlaut von sich und schwebte an Unites Wange. „Danke.“, schluchzte Unite. Trust sah sich gezwungen, sie näher an sich heranzuziehen, sie wehrte sich nicht dagegen. Er wusste nicht, wie er ihr sonst den Halt geben sollte, den sie offenbar ganz dringend brauchte. Erik erhob sich von der Couch und lief an den anderen vorbei. Wollte er etwa gehen? Weiter in der Mitte des Raums blieb er stehen und drehte sich zu ihnen. Seine Stimme klang kalt und emotionslos. „Unite hatte was von Team-Umarmung erzählt. Ich bin noch nicht eingewiesen worden.“ Trust war sich unsicher, ob das gerade der richtige Zeitpunkt dafür war. Unite gab ein seltsames Geräusch von sich. Ohne lange zu zögern stand sie auf, ging um den Sofatisch herum, überwand den verbleibenden Abstand und warf sich in Eriks Arme. Trust folgte ihr, war aber nicht sicher, wie er diese Gruppenumarmung ausführen sollte. Erik hob seinen Arm und sah mit einem Gesichtsausdruck in eine andere Richtung, als ignoriere er die Angelegenheit. Verlegen kam Trust näher und legte jeweils einen Arm um ihn und um Unite. Er hörte, wie auch die anderen herankamen und sich zu einem Knäuel zusammenfanden. Der Richtung des Glöckchenklangs nach zu urteilen, hatte Ewigkeit sich auf Eriks Kopf gesetzt, als wolle sie ihn für diese Geste loben. Besonders da Erik körperliche Nähe üblicherweise nicht freiwillig initiierte. Einen weiteren Moment verharrten er und die anderen in der Gruppenumarmung. Schließlich lösten sie sich von einander. Change wuschelte neckend über Unites orangeroten Schopf und brachte sie damit zum Lachen. Das entlockte Trust ein Lächeln. Mit jäh wiedergefundenem Elan drehte sich Unite zu Desire. „Du hast es geschafft?“ Als Antwort strahlte Desire über das ganze Gesicht. „Glückwunsch!“ Auch die anderen gratulierten Desire zu ihrem Erfolg. Trust fühlte Erleichterung in sich aufkommen, auch wenn er unsicher war, ob das allein ausreichen würde, um mit Secret umzugehen. Ewigkeit flog in die Mitte zwischen ihnen. „Ihr habt großartige Fortschritte gemacht!“ Sie drehte extravagante Pirouetten wie um den Erfolg zu feiern oder zu demonstrieren, dass auch sie eine Anerkennung verdient hatte. Trust spürte, wie Erik ihm kurz auf den Rücken klopfte. Verwundert sah er zu ihm auf. Erik nickte ihm kurz zu, als wolle er ihm ein Lob aussprechen. Erst im nächsten Moment begriff Trust, dass er ihn anscheinend für seinen gefassten Umgang mit der aufgelösten Unite beglückwünschen wollte. Mit einem dankbaren Lächeln versuchte er, sich erkenntlich zu zeigen. Sein Blick wanderte zu Desire. Die Angelegenheit von zuvor galt es noch mit ihr zu klären. Er berührte Unite behutsam am Arm, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und zu kontrollieren, ob er von ihrer Seite weichen konnte. Sie sah zu ihm auf und lächelte. Beruhigend strich er über ihren Oberarm und beugte sich zu ihr. „Ich gehe kurz da rüber.“ Wie um seine Worte zu bestätigen, schenkte sie ihm ein Nicken.   Desire wusste immer noch nicht, was denn überhaupt geschehen war, das Unite dazu veranlasst hatte zu weinen. Und dass sie geweint hatte, war unübersehbar. Aber offenbar wollte keiner sie darüber aufklären. Oder war es so offensichtlich, dass alle anderen es sich zusammenreimen konnten, nur sie nicht? Der Gedanke schmerzte. Erst im nächsten Moment nahm sie wahr, dass Trust zu ihr trat. „Können wir …“ Er deutete an, ob sie etwas weiter von den anderen weg gehen könnten. Sie setzte die Bitte in die Tat um. Leise fragte sie: „Was war denn mit ihr?“ Trust sah nochmals in Unites Richtung und schüttelte den Kopf. Sie war sich nicht sicher, ob er die Information nicht mit ihr teilen wollte oder selbst nicht wusste, was Unites Beweggründe gewesen waren. „Wegen vorhin.“, begann er zögerlich. Unsicherheit trat in seinen Blick. Seine Miene machte überdeutlich, dass er sich entschuldigen wollte. Desire lächelte ihn an. „Mir tut es auch leid.“ Ihr Entgegenkommen berührte ihn sichtlich. „Ich fürchte, wir sind momentan alle etwas angespannt.“ Trust nickte. War das vielleicht der Grund, warum Unite eben – Sie sah zu ihr hinüber. Sie schien gerade in ein paar Scherze zwischen Change, Destiny und Erik verwickelt zu sein und lachte. Dann erinnerte sich Desire, was Erik ihr gesagt hatte. „Auch wenn wir einander manchmal wegstoßen, ist das okay.“ Sie versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Es ist nur wichtig, sich danach wieder anzunähern.“ Trust wirkte ergriffen von ihren Worten. „Danke.“ „Ebenfalls.“, antwortete sie und gestand ihm: „Ich war nur sauer, weil du mir wichtig bist.“ Trust stockte, als wäre er auf diese Worte nicht gefasst gewesen. Dann senkte er den Blick. „Destiny meinte, man erkennt nicht immer, was man wirklich fühlt. Besonders wenn man jemanden mag.“ Desires Augen wurden groß. Hatte wirklich Destiny das gesagt? Automatisch sah sie in Destinys Richtung, die noch immer bei Unite, Change und Erik stand. Unwillkürlich fixierten ihre Augen Erik und blieben einen Moment an ihm hängen. Sie blinzelte, als erwache sie aus einer Trance, und widmete sich wieder Trust. „Vielleicht muss man es nicht immer sofort verstehen, solange man es im richtigen Moment versteht.“ Sie versuchte an Trusts Gesicht zu erkennen, ob er nachvollziehen konnte, wovon sie sprach. Mild lächelnd nickte er. Die Geste brachte auch Desires Mundwinkel dazu, sich zu heben. Manchmal brauchte es keine Umarmung, um sich jemandem verbunden zu fühlen. Kapitel 149: Halt ----------------- Halt   „Halt geben können uns in erster Linie jene, die viel von uns halten.“ (Ernst Ferstl)   Während des Laufens hielt Justin ihre Hand. Er hatte vorgeschlagen, etwas Luft zu schnappen statt teleportiert zu werden, und Vivien hatte eingewilligt. Sie war sich unsicher, ob er nochmals auf ihren Ausbruch zu sprechen kommen würde oder ob er das Thema abgehakt hatte. Bisher hatte keiner von ihnen ein Gespräch begonnen, doch das Schweigen war nicht unangenehm. Es fühlte sich wie eine Ruhe an, die ihr Raum ließ. Dennoch erging sie sich in Überlegungen, was nun das Beste war. Sollte sie mit Justin darüber sprechen? Sich erklären? Wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich davor. Sie wollte nicht nochmals emotional werden. Doch der Gedanke, etwas zu unterdrücken aus Angst, dass sie Justin damit nerven könnte, fühlte sich auch falsch an. Aus einer solchen Einbildung heraus hatte sie ihm erst vorgestern schrecklich Unrecht getan und ihn auf Abstand gehalten. Dabei wollte sie ihm vertrauen und die Nähe und Verbundenheit zu ihm spüren, durch die sie sich geliebt und angenommen fühlte. Aber wie sollte sie anfangen? Was wollte sie überhaupt sagen? Sie atmete tief durch. „Tut mir leid.“ Justin drehte sich zu ihr. „Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen.“ Bei der Erinnerung an ihr Verhalten war ihr wieder elend zumute. Wenn sie nicht für ihn da sein konnte, wenn er sie brauchte, wozu war sie dann überhaupt gut? Justin blieb stehen und bedeutete ihr mit einer Berührung, sich ihm zuzuwenden. Zaghaft kam sie seinem Wunsch nach und bereute es, das Thema angeschnitten zu haben. Auf der von einzelnen Bäumen flankierten Straße fuhren Autos vorbei. Auf der anderen Seite liefen Passanten, doch es war nicht allzu belebt für einen Freitagnachmittag. Sie stellte sich Justins forschendem Blick. Stumm und besorgt musterte er sie, wie um ihren Zügen zu entnehmen, was in ihr vorging. Vielleicht wollte er ihr damit aber auch nur die Gelegenheit bieten, sich auszusprechen. Nur wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Bekümmert schlug sie die Augen nieder. Seit sie zusammen waren, machte sie ihm nur Ärger. So hatte er sich ihre Beziehung sicher nicht vorgestellt. „Möchtest du nicht mit mir reden?“ Sie versuchte, sich zu einer Antwort durchzuringen, die irgendwie erklärte, was in ihr vorging. „Du musst nicht.“, ergänzte Justin sachte. „Ich weiß nicht.“, gestand sie. Sie schämte sich dafür, dass sie so schlecht darin war, ihre Gefühle zu kommunizieren. Wieso fühlte sie sich bloß so erbärmlich? „Wenn … wenn du mir das Gefühl zeigen willst.“ Er drückte ihre Hand, wie um ihr zu verdeutlichen, dass sie ihre Kräfte auf ihn anwenden durfte. Geschockt sah sie zu ihm auf und schüttelte vehement den Kopf. Besorgnis sprach aus seinen Zügen. „Du siehst traurig aus.“ Schuldbewusst senkte sie ihr Haupt. Ihm Sorgen zu bereiten, war das Letzte, das sie wollte. Sie hätte jetzt einfach wieder fröhlich sein und lächeln können, aber … Wieso musste sie gerade gegen sich selbst kämpfen? Dadurch machte sie es doch bloß schlimmer! Es war an der Zeit, sich zu beruhigen. Aber wollte sie das bloß, weil sie sich vor seiner Reaktion fürchtete? Sie wusste es nicht. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ihre Selbstkontrolle und der Wunsch, sich von Justin verstanden zu fühlen, rangen miteinander, sowie die Sorge, sie könne ihn überfordern. „Was denkst du?“, fragte Justin. „Ich…“ Sie dachte darüber nach, versetzte sich zurück in die Situation in ihrem Hauptquartier. Warum hatte sie sich nicht beruhigen können? „Manchmal denke ich dumme Sachen.“, offenbarte sie ihm. „Was für dumme Sachen?“ „Wie … dass …“ Sie blinzelte. Was wenn Justin das falsch verstand, wenn er sich noch mehr Sorgen machte, ein komisches Bild von ihr bekam, dachte, etwas sei mit ihr nicht in Ordnung oder dass sie schwach war? Justin wartete noch immer auf ihre Antwort. „Ich weiß, dass es nicht stimmt.“, wich sie aus. Justin hakte nicht nach. Er schwieg einfach, und ein Teil von ihr hätte sich gewünscht, dass er fragte. Vorsichtig entgegnete Justin. „Wenn du nicht darüber reden willst...“ Sie wusste nicht, ob er es denn hören wollte. Es war sicher anstrengend für ihn – Sie war sicher anstrengend. „Vivien.“, sagte er behutsam. Offenbar waren ihr die Gedanken anzusehen gewesen. „Ich bin nicht gut darin, aber ich möchte alles an dir kennenlernen, alle Seiten an dir.“ Ihr Gesicht verzog sich. Ergriffen sah sie ihm in die Augen. Sie stieß die Worte aus, bevor sie es sich doch wieder anders überlegen konnte. „Manchmal denke ich, dass ich wertlos bin.“ Bestürzung trat in Justins Blick. Im gleichen Moment fand sie sich in seinen Armen wieder. „Du bist der wertvollste Mensch überhaupt.“ Die Worte zogen an ihr vorbei. Sie wusste, dass ihr Herz in solchen Momenten verschlossen war. Nichts kam an ihr Inneres heran, weil Lob keinen Sinn ergab und nichts Sinn ergeben konnte jenseits des Glaubens, dass sie sich Liebe immer nur für wenige Momente erkaufen konnte, indem sie etwas dafür tat. Und wie viel Bonus hatte sie noch bei Justin? Und ab wann war sie es nicht mehr wert, dass er ihr seine Zuneigung schenkte? Schlussendlich wusste sie nicht, wie sie sich seine Liebe leisten können sollte, wenn sie nicht zu jeder Zeit die perfekte Freundin für ihn sein konnte, die er verdient hatte. Er ließ sie wieder los und kontrollierte ihren Gesichtsausdruck. „Wieso zweifelst du daran?“, fragte er betroffen. Sie zuckte mit den Schultern und überlegte, ihm zu erklären, dass sie sich manchmal dumme Dinge einredete, aber das wieder vorbeiging. Normalerweise sprach sie mit niemandem darüber. Sie wusste doch, wie unsinnig diese Gedanken waren, und sie wollte niemanden damit belasten, auch Justin nicht. Aber aus irgendeinem Grund schien sie jedes Mal schrecklich wütend zu werden, wenn sie versuchte, ihn da rauszuhalten. Obwohl sie doch gelernt hatte, niemanden mit ihrem Kummer zu belasten. Sie wusste, dass Justin sie liebte und sie nichts weiter dafür tun musste. Weil er ein so guter Mensch war. Doch es war etwas anderes zu glauben, davon Gebrauch machen zu dürfen. Sich ihm zumuten zu dürfen. Sein Herz war so groß, dass er für jeden da sein wollte. Gerade deshalb hatte er es verdient, jemanden an seiner Seite zu haben, der ihm keinen unnötigen Kummer bereitete und ihn mit emotionalem Drama verschonte. Eriks Worte kamen ihr in den Sinn: Warum vertraust du ihnen nicht? Und Justins Aussage: Ich zweifle nicht an dir, sondern an mir. Sie sog Luft durch den Mund ein und versuchte sich an einem Lächeln. „Erik meinte, du und ich, wir wären uns schrecklich ähnlich.“, eröffnete sie ihm. Die Behauptung machte Justin sichtlich sprachlos. Sie kam zurück zu dem eigentlichen Thema. „Ich will nicht … so denken.“, bekannte sie. „Wirklich nicht.“ Sie bemerkte, dass sie ihr Gesicht wieder so leidvoll verzog. Justin legte seine große Hand auf ihren Oberarm, um ihr Halt zu geben. „Es ist nur …“ Sie holte Atem. „… manchmal so schwer, dagegen anzukämpfen. Und dann weiß ich nicht, ob ich dagegen verliere.“ Sie spürte Tränen in sich hochkommen. „Vivien.“ Sie sah ihm ins Gesicht. „Du wirst niemals verlieren.“ Er schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Sie schniefte und wischte sich mit ihren Handrücken über die Augen. Hohe Schluchzer drangen aus ihrem Inneren. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Justin schloss sie wieder in seine Arme, aber sie schämte sich dafür. „Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.“, schluchzte sie. Es würde vorbeigehen. Das tat es immer. Justin schob sie sachte von sich und sah ihr stumm in die Augen. Sie schniefte. „Ich will nicht, dass du dich für mich verantwortlich fühlst. Du bist nicht – Ich muss das alleine schaffen.“ „Musst du?“ Vivien verstand nicht. „Du musst nichts alleine schaffen. Du schaffst es ohne andere, aber du brauchst dabei nicht alleine sein.“ Er hielt sie an ihren Oberarmen. „Auch wenn ich deine Schritte nicht gehen kann, will ich bei dir sein. Ich weiß, dass du alles schaffst, aber … lass mich daran teilhaben.“ Durfte sie das wirklich? Er konnte nicht wissen, was das bedeutete. Ihre Züge fielen in sich zusammen.  Justins Stimme war noch immer einfühlsam. „Wovor fürchtest du dich?“ „Dass du… es nicht mit mir aushältst.“, beichtete sie ihm. „Ich bin so anstrengend.“ Ungläubig zog er die Augenbrauen zusammen. „Es geht dir nicht gut.“, korrigierte er. „Das hat nichts mit ‚anstrengend‘ zu tun.“ „Wenn ich nicht –“ „Vivien.“ Er klang nun streng. Ängstlich begegnete sie seinem Blick. „Du bist nicht anstrengend.“, belehrte er sie. „Du bist ein Mensch. Du hast Fehler und Schwächen. Wie jeder andere auch.“ Sie presste ihre Lippen aufeinander in dem Versuch, ihre Gefühle zu kontrollieren. „Wieso glaubst du, immer stark sein zu müssen? Wieso willst du immer alles mit dir ausmachen? Verstehst du denn nicht, dass …“ Sein Gesicht wurde nun selbst leidend. „Ich möchte von dir mit einbezogen werden, ich möchte, mit dir reden können. Ich will nicht, dass du mir ständig nur vorsetzt, was du für dich allein entschieden hast. Ich will dein Partner sein.“ Viviens Kopf war mit einem Mal wie leer gefegt. „Mein Partner.“ Er nickte. „Ich weiß, du meinst es gut, aber ich fühle mich ausgeschlossen, wenn du das machst. Als würdest du mich nicht ernst nehmen. Als wäre ich nicht gut genug für dich.“ Wieder schüttelte sie heftig den Kopf. Seine Worte erinnerten sie an die Wut, die er ihr gegenüber geäußert hatte, damals während des Gruppengesprächs bezüglich der Situation mit Secret. „Das ist es nicht!“ „Ich weiß.“, sagte Justin. „Aber ich will das Gefühl haben, für dich da sein zu können.“ „Aber –“ „Denkst du, ich bin zu schwach dafür?“ Vivien stockte. Langsam schüttelte sie den Kopf. Eine seltsame Taubheit machte sich in ihrem Kopf breit. Nicht länger darüber nachdenkend, umarmte sie ihn, wurde von ihm umfangen. Momente lang verharrte sie so. Mit geschlossenen Augen ruhte sie sich an seiner Brust aus, spürte die Kälte der Luft, den Kunststoff seiner Winterjacke an ihrer Wange, seine starken Arme um ihre Schultern, hörte das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos und ließ sich von Justin halten, gab ihm ihre Schwäche hin, um sich von seiner Stärke tragen zu lassen. Sich nicht länger fragend, ob ihr das gestattet war.   Justin hielt sie fest umschlungen. Seine Vivien. Zum ersten Mal verstand er wirklich, dass sie nie mit böser Absicht Pläne ohne ihn durchgezogen hatte. Sie kannte es offenbar nicht anders, glaubte zumindest, es gar nicht anders tun zu können, nicht schwach sein oder sich auf jemanden verlassen zu dürfen. Noch immer schien das so abwegig. Wo sie sich doch immer dafür einsetzte, den Zusammenhalt und das Verbundenheitsgefühl in der Gruppe zu stärken. Hatte sie ihm nicht immer wieder Einblicke in ihre Seele gewährt? Er hatte sie gehalten, hatte ihre Tränen gesehen, hatte geglaubt, sie würde ihm alles an sich offenbaren, nur um nun zu erkennen, dass sie sich so oft zusammengerissen und nicht gezeigt hatte, was in ihr vorging. Er wusste so viel weniger über sie, als er bisher geglaubt hatte. Die wahre Vivien war ganz anders als seine Vorstellung. Aber galt das nicht auch für ihn? Hatte er ihr denn bisher immer alles von sich gezeigt? War er nicht auch der Überzeugung gewesen, dass ihm das nicht zustand? Auch er hatte geglaubt, nicht das Recht zu haben, sie mit seinen Gefühlen zu belästigen oder ihr die Seiten anzuvertrauen, mit denen er selbst nicht klarkam. Vivien war nicht das fröhliche Mädchen von gegenüber, das nur eine kurze Ablenkung brauchte, um wieder zu lachen. Sie hatte so viel mehr dunkle Tiefen in sich als er es für möglich gehalten hatte. So viel mehr Schmerz und Selbstzweifel. Er wusste nicht, ob er ihren Bedürfnissen gerecht werden konnte, aber er würde zu ihr stehen und ihr beistehen, egal was passierte. Auch wenn ihn das manchmal an seine Grenzen bringen würde. Er wusste, dass sie es wert war. In einer sachten Bewegung löste sie sich allmählich von ihm, doch nur soweit wie es nötig war, damit ihre Augen sich begegnen konnten. „Darf ich dich um etwas bitten?“, fragte sie geradezu schüchtern. Er nickte. „Würdest du …“ Sie unterbrach sich. „Mein Papa, er kommt heute Abend nach Hause. Sein Bauprojekt ist beendet und er hat die nächsten Wochen frei. Könntest du vielleicht…“ Sie reckte ihr Kinn. „Ich würde dich ihm gerne vorstellen.“ Nervosität kam in Justin hoch. Das klang so offiziell! „Würdest du morgen zu uns zu Besuch kommen?“ Er nickte und hoffte, dass ihm nicht zu deutlich anzusehen war, wie sehr ihn die Ankündigung in Aufruhr versetzte. „Ist das zu kurzfristig?“, fragte sie unsicher. Er schüttelte den Kopf. „Wenn du nicht willst –“ Er nahm ihre Hände in die seinen. „Ich komme.“, versprach er. „Ich bin nur nervös.“ „Du bist mein Freund.“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Mein fester Freund! Daran kann niemand etwas ändern, außer uns beiden.“ Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck verführte ihn zu einem Schmunzeln. Er versuchte, sich zu erklären. „Ich will nur einen guten Eindruck machen.“ Begeistert verkündete Vivien: „Am beeindruckendsten bist du wie du bist!“ Sie lächelte so zuversichtlich und überzeugt, dass Justin seine Sorgen ziehen ließ.   „Ewigkeit.“ Das Schmetterlingsmädchen hörte damit auf, Saltos in der Luft zu schlagen und hektische Flugmanöver zu üben. Sogleich war es direkt vor Serenas Gesicht teleportiert. „Du solltest dich ausruhen.“, sagte diese. Ewigkeit schüttelte den Kopf. Die Bedrohung durch die Plagen war viel zu akut, um nicht jede freie Minute zum Üben zu nutzen! Zumal sie ohnehin nicht gewusst hätte, was sie stattdessen hätte tun sollen. Sie wollte von Nutzen sein. Serena zog ein sorgenvolles Gesicht. Ihr Zeigefinger berührte Ewigkeits Köpfchen und kraulte sie liebevoll. Ewigkeit schloss die Augen und genoss die Liebkosung. Die Berührung endete. „Denkst du, die anderen Plagen sind schlimmer als …“ Serena sprach nicht weiter und schien von der Erinnerung an ihre eigene Besessenheit heimgesucht zu werden. Ewigkeit zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung. „Was, wenn sie gar nicht uns anfallen? Wie sollen wir das überhaupt mitbekommen?“ Kurz hielt Ewigkeit inne, dann hob sie entschieden den Kopf: „Ihr seid die Gleichgewichtsbeschützer! Die Plagen werden zu euch kommen!“ Zweifel zeigte sich in Serenas Augen, sie blinzelte, dann hob sich ihr Mund zu einem Lächeln. Das erfreute Ewigkeit. „Ihr schafft das!“, rief sie überzeugt. Im nächsten Moment hatte Serenas Hand sie in einer sachten Bewegung zu ihrer Wange geführt. „Danke.“, flüsterte sie. Ewigkeit gab ein beglücktes Glöckchengeräusch von sich.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)