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First Kiss

One-Shots
von

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First

Dünn. Alle sagten, sie sei dünn. Man könne sie durch ein Nadelöhr ziehen oder als Windspiel an die Decke hängen. Bügelbrett, Magersüchtige … endlos war die Liste dieser Bezeichnungen. Er kannte sie hinreichend. Da man jedoch üblicherweise nicht widersprach, schwieg er dazu. Für richtig oder treffend hielt er diese Aussagen jedoch nicht. Im Gegenteil. Er mochte diesen „Hungerhaken“ sehr gern. Sie hatte riesige tiefbraune Augen, die immerzu zu blitzen schienen. Oder zu funkeln? Egal. Jedes Mal, wenn sie lachte, jedes Mal, wenn ihr der Unterrichtsstoff aufging, jedes Mal, wenn sie scherzte oder jedes Mal, wenn sie ärgerlich wurde – diese Augen waren ein richtiges Feuerwerk. Sie hatte eine etwas platte, kleine Nase und volle Lippen, die ihn irgendwie immer an ein Herz erinnerten. Sie … Sie hieß Aideen. Er hatte sie und ihren wilden Lockenschopf schon gern gehabt, als er auf dieses Internat gekommen war und Mädchen lediglich als ebenfalls atmende Wesen wahrgenommen hatte. Sie war fröhlich, wissbegierig, zielstrebig, voller Energie, die sie aber sehr selten damit verschwendete, wütend zu werden. Und …
 

„Hey Rider, starrst du so angestrengt dahin, weil du sie bis eben übersehen hast?“ Jack stupfte ihn frech grinsend an, holte ihn so in die Gegenwart zurück.

Die Gegenwart. Ach ja. Klassenausflug vom Internat ins örtliche Freibad. Sommer, Sonne, Badespaß.

Überall in der öffentlichen Badanstalt aalten sich seine Klassenkameraden auf Decken in der Sonne, tobten im Pool oder amüsierten sich bei den anderen Aktivitätsmöglichkeiten. Er selbst hatte sich für eine Weile bräunen lassen und dabei dem Treiben zu gesehen. Zumindest solange bis sie, Aideen, dem Schwimmbecken entstiegen und von dort an ihm vorbei zu ihrem Liegeplatz auf der Wiese geschlendert war. Sein Blick war ihr gefolgt, war verstohlen an den Wasserperlen auf ihrer Sommerbräune hängen geblieben und war dem Handtuch gefolgt, welches sanft reibend diese Perlen vernichtet hatte. Erst als Jack ihn ansprach, wurde Saber klar: Er hatte Aideen Ones angestarrt!

„Ähm … ja … genau.“

Mist. Die Antwort hatte deutlich zu lange gedauert. Und er war rot dabei geworden. Das könnte ihn als Lügner entlarven, allerdings nicht vor Jack. Der dunkelhaarige war Sabers Blick gefolgt, weshalb ihm der verräterische Farbwechsel entging, und beobachtete das Mädchen, wie es sich hinsetzte. Dann stieß er lässig und mit verstehender Miene abermals seinen Freund an.

„Schon klar. Bei der muss man die Hupen auch mit einer Lupe suchen“, lachte er, ehe er sich erhob.

Als stillschweigend und allgemein akzeptiertes Oberhaupt der Klasse, zudem noch gut aussehend und charismatisch, hatte er gewissermaßen freie Auswahl unter den Mädchen. Viele himmelten ihn an und er bevorzugte die hübschen, oberflächlichen und frühreifen unter ihnen, denn mit denen ließ sich pubertäre Experimentierfreude am einfachsten teilen. Aideen gehörte nicht zu ihnen. Sie …

„Rider? Hörst du heut eigentlich schlecht?“

Der Gefragte riss den Kopf in den Nacken und sah zu seinem Freund auf. Wahrscheinlich waren sie deshalb so gute Freunde, weil sie eher gegensätzlich waren. Ach, er grübelte ja schon wieder mehr als nötig.

„Ich komme.“ Saber stand auf und folgte ihm zum Kiosk.
 

Wenn es den blonden Teenager denn interessiert hätte, wären ihm die koketten Blicke aufgefallen, die einem als Vize üblicherweise zu teil wurden, aber das tat es nicht. Saber ertappte sich viel mehr dabei mit gerunzelter Stirn Aideen und ihre Freundinnen zu beobachten. Sie unterhielten sich mit einigen Jungen, welche nicht zum Internat und ihrer Klassenstufe gehörten.

Hm … also … Was gab es da zu lachen? Soviel smarter sahen die nicht aus. Das waren genau die gleichen Teenager, wie die Internatsschüler. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie keine Uniformen trugen. Aber sonst …

Moment! Hatte sie eben zu ihm gesehen? Hatte sie IHM zugelächelt? Hatte er sie angestarrt? Schon wieder? Wurde er rot?

Rasch wandte er sich ab und klinkte sich so beiläufig wie möglich in das Gespräch seiner Clique ein.
 

***
 

Saber schlenderte über das Internatsgelände. Die Zeit nun, nach dem Abendessen und vor dem Zapfenstreich, wollte er noch ein wenig für sich nutzen. Die Stöpsel in seinen Ohren schotteten ihn von der Außenwelt ab, ließen diese glauben, er höre Musik, flüsterten ihm aber Merkstoff aus dem Unterricht ins Gehör. Ein schulfreier Tag war für ihn nicht gleichbedeutend mit einem lernfreien Tag. Versunken in die Wiederholungen passierte er dabei die Tennisanlage.

„Wahrheit ist Schönheit“, murmelte er das Zitat vor sich hin, welches eben aus dem Kopfhörer drang. „und Schönheit ist Aideen.“

Er hatte die Spielerin, die gerade an der Ballwurfmaschine auf dem Spielfeld trainierte, bemerkt. Er sah, wie sie ihre Ballannahme verpatzte. Das gelbe Rund prallte hart gegen ihre Schulter. Sie ließ den Schläger fallen und griff sich an die getroffene Stelle. Schmerzlich verzog sie das Gesicht, sogar in diesem Moment ein Funkeln in ihren Augen.

Ehe Saber es begriff, hatte er die Wiederholungen abgeschaltet, die Tür geöffnet und das eingezäunte Spielfeld betreten.

„Alles in Ordnung?“ Er war mit wenigen Schritten bei ihr.

„Es geht schon“, presste sie zwischen den Zähnen hervor und rieb sich die Schulter. Dann sah sie ihn an. Und lächelte.

„Keine Jungfrau in Not. Tut mir leid.“

Er schwieg überrascht und hielt in der Bewegung inne.

Sie lächelte noch immer.

Er schluckte unwillkürlich, ohne zu wissen, warum.

Ein Moment verstrich, in dem sie sich so gegenüberstanden, dann schaffte Saber es, sich zu bewegen.

„Lass … Lass mich mal sehen“, brachte er hervor und strich ihr den kurzen Ärmel ihres Tennisdress soweit hinauf, dass er ihre Schulter halb in Augenschein nehmen konnte.

Sie ließ es geschehen, beobachtete ihn dabei.

„Vielleicht solltest du es kühlen.“

Rasch strich er den Stoff wieder in seine ursprüngliche Form. Er räusperte sich befangen.

„Vielleicht …“ Funkeln in ihren Augen. „Begleitest du mich zum Med-Point?“

Er nickte kaum merklich, zögerte kurz, ehe er ihr voran ging, um ihr die Tür vom Spielfeld aufzuhalten.

Sie schritt an ihm vorbei und hindurch.

Sein Blick hopste zum Saum ihres Rockes, hinab zu ihren Fußknöcheln in den weißen Söckchen und wieder zurück. Er fühlte Wärme in sein Gesicht steigen, als ihm bewusst wurde, dass sich – entgegen der Meinung seiner Freunde sehr wohl – weibliche Formen unter ihrer Kleidung abzeichneten. Nicht so üppig wie bei den meisten Mädchen ihres Alters, aber sichtbar. Sein Mund fühlte mit einem Mal trocken an.

Wortlos schritten sie nebeneiander her in Richtung des Krankenzimmers, in welchem Kühlpads und Verbandsmaterial für die Versorgung kleiner Wehwehchen lagerte.

„Es war schön heute im Schwimmbad“, brach sie schließlich das Schweigen.

Er nickte.

„Schade, dass wir hier keine Schwimmhalle haben“, fuhr sie fort.

Er nickte abermals. Gedanklich allerdings gestand er sich ein, dass dieser Umstand ganz gut so war. Wenn er daran dachte, wie die Wasserperlen auf ihrer Haut hinab geflossen waren, wurde ihm doch irgendwie verwirrend heiß. Bloß gut hatte das Internat keine Schwimmhalle, sonst würde er dieses Bild wohl häufiger sehen. Oder das von ihr in dem Bikini, dem petrolgrünen, der seinen Blick dahin zog, wo man Mädchen nicht hinstarren sollte. Saber würde deutlich öfter unter dieser irritierenden Hitze leiden und …

„Saber?“

Er sah sie überrascht an. „Ja?“

„Du solltest die Kopfhörer aus den Ohren nehmen. Du hörst nicht zu“, schalt sie ihn sacht lächelnd.

Gehorsam tat er, wie ihm geheißen.

„Tut mir leid“, versicherte er hastig.

Sie kicherte nur.

„Was ist lustig?“, wollte er wissen.

„Nichts“, behauptete sie, kicherte jedoch weiter.

Er verzog unzufrieden den Mund.

„Lachst du mich aus?“

„Nein“, gluckste sie.

Er runzelte die Stirn.

„Soll ich deine Freunde aus dem Freibad holen, damit du richtig was zum Lachen hast?“

Oha, wie hörte er sich denn grad an? Beleidigt? Eifersüchtig?

Vor Perplexität verschluckte sie sich an ihrem Gekicher und hustete. Bestürzt klopfte er ihr auf den Rücken.

„Tut mir leid. Ich … ähm … also … Das war …“

Sie hob die Hand.

„Schon gut“, versicherte sie, als sie sich von ihrem Husten erholt hatte.

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten oder …“

„Ist schon in Ordnung.“

Saber hielt betroffen den Mund. Sie hatte ihn nicht angeschrien, ihr Ton war vollkommen normal gewesen. Was ihn betroffen machte, war seine eigene Reaktion und die Tatsache, dass er sie damit offenbar verblüfft hatte.

„Es war ganz nett sich mal mit Leuten zu unterhalten, die nicht auf unsere Schule gehen“, fühlte sie sich genötigt ihm zu erklären.

„Verstehe.“ Er nickte leicht.

An ihrem Ziel angekommen, fanden sie das Krankenzimmer unverschlossen vor und traten ein.

Um seine Befangenheit zu überspielen, suchte Saber sofort den darin befindlichen Kühlschrank nach einem Pad ab. Er übersah es mehrfach mangels Konzentration.

Wieso nur war er nervös, wo er sonst gelassen war? Wieso nur stammelte er, statt zusammenhängend zu reden? Wieso nur fand er die verflixten Kühlkissen einfach nicht, wo ihm doch sonst nichts entging? Wieso nur war er nicht bei der Sache, wo er sich sonst durch nichts ablenken ließ? Und wieso nur benahm er sich wie ein Trottel, wo er doch sonst jedem Mädchen mit kameradschaftlicher Freundlichkeit begegnen konnte?

Aideen tauchte in seinem Blickfeld auf, als wäre sie die Antwort auf diese gedanklichen Fragen.

Saber fand das Gesuchte endlich, schloss den Kühlschrank, wandte sich zu ihr um und wusste: es war keine Hypothese, es war ein Faktum. Sie WAR die Antwort auf diese Fragen.

Unter ihrem Blick bracht er keinen Ton hervor. Das Gelpad glitt ihm aus der Hand. Hastig bückte er sich danach.

Sie gab einen nachdenklichen Laut von sich, als er sich wieder aufrichtete.

„Du hast nie die ganzen blöden Sachen gesagt, die deine Freunde immer so von sich geben, wenn ich vorbei gehe. Da dachte ich immer, du kannst mich vielleicht ein bisschen leiden. Aber jetzt sagst du auch nichts“, überlegte sie laut, „ich muss mich geirrt haben.“

Mit jedem ihrer Worte wurden seine Augen größer. Fassungslos starrte er sie an. Das Pad rutschte ihm abermals aus den Fingern. Tiefe Röte überzog sein Gesicht, ließ das blonde Haar auf seiner Stirn beinahe weiß leuchten. Saber senkte den Blick.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, rechtfertigte er sich leise.

„Ich weiß auch nicht. Irgendwas.“ Hilflos hob sie die Schultern. „Dass die synodische Monatslänge auf dem Mond 29,53059 Tage beträgt und die siderische 27,32166 Tage. Dass Phthalsäure in der Formel C6H4(COOH)2 geschrieben wird und eine Molare Masse von gerundet 166 in g mal mol-1 hat. Dass die Ordnungszahl 42 im Periodensystem dem Symbol Mo für Molybdän zugeordnet ist und eben jener Stoff basisch-sauer ist“, sprudelte sie unbeholfen Ideen hervor, die ihr gerade so in den Sinn kamen.

„Zweiundvierzig“, wiederholte er, „Ist das die fünfte oder die sechste Nebengruppe?“

„I!DI!OT!“, schalt er sich gedanklich. Das war sicher nicht die Art Gespräch, die sie sich erhofft hatte.

„Keine Ahnung“, erwiderte sie dennoch.

Saber räusperte sich unschlüssig.

„Tut es noch weh?“ fragte er dann und wies andeutungsweise in die Richtung ihrer Schulter.

„Kaum noch.“

„Dann brauchst du das nicht mehr?“ Rasch hob er das Gelkissen auf und hielt es in die Höhe.

Sie schüttelte den Kopf.

Er nickte verstehend und legte es beiseite.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie suchten nach Worten, um es zu brechen, doch zu bewusst war ihnen, dass sie hier allein waren.

Saber fühlte ein Pochen von seinem Herzen in seinen Hals aufsteigen.

Warum? Warum wollte er den Moment nicht vergehen lassen, der ihn doch verunsicherte?

Weil sie die Molare Masse von Phthalsäure kannte? Weil sie nicht nur im Unterricht von solchen Dingen sprechen konnte? Weil ihm der Klang des Namens „Aideen“ gefiel? Weil ihre Augen so oft funkelten? Weil ihr Mund ihn an ein Herz erinnerte?

Ihr Mund …

Sein Blick blieb an ihren Lippen hängen.

Warum stockte alles zwischen ihnen? Warum floss es nicht einfach, sacht und klar wie die Konturen ihres Mundes? Warum fiel ihm keine logische Antwort darauf ein? Oder eine biochemische?

Sie schlug die Augen nieder und presste betreten die Lippen aufeinander. Leise und unaufdringlich war die Geste und doch bewirkte sie augenblicklich, dass Saber ein schlechtes Gewissen bekam, weil er der Grund für ihr offensichtliches Unbehagen war.

Er stellte sich gedanklich Fragen, anstatt sie auszusprechen. Und das, obwohl sie ihm doch gesagt hatte, dass seine Wortkargheit ihr den Eindruck vermittelte, er möge sie nicht.

„Aideen?“

Sie horchte überrascht auf.

„Hättest du …? Wärst du …? Darf ich …?“

„Ja?“

Saber brachte den Satz nicht hervor und blieb still. Röte überzog sein Gesicht aufs Neue. Wenn er sich doch nur vorher die richtigen Worte überlegt hätte, überdacht hätte, was er sagen wollte. Da grübelte er vor sich hin und kam doch zu keinem Ergebnis. Andererseits: Die Frage, die er hatte stellen wollen … Tja, so etwas zu fragen gehörte sich nicht!

Er sah auf ihre Lippen, beobachtete, wie sich ihre Mundwinkel zu einem sachten Lächeln verzogen.

„Saber?“

„Ja?“

„Mach es.“

„Was?“ Verdattert sah er sie an.

„Das.“ In ihrer Stimme schwang ein Lächeln mit.

„Was das?“

„Du weißt schon …“

„Ähm, sicher?“ Irritiert musterte er sie. Hatte sie seine Gedanken gelesen? Hatte er diese etwa doch ausgesprochen?

„Ja.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Bestimmt? Ich meine, du …“

„Saber, bitte.“

Als sein Vater ihm gesagt hatte, dass man einer Frau eine Bitte nicht abschlagen sollte, hatte er da auch solche gemeint?

Sie näherte ihr Gesicht dem seinen, verringerte den Abstand bis auf ein paar Zentimeter. Wie sie so vor ihm stand, so nah, mit halb geschlossenen Augen ... Saber schluckte fahrig.

Also dann …sollte er … vielleicht …

Rasch beugte er sich ein wenig zu ihr hinab und strich flüchtig mit seinen Lippen über ihre. Dann richtete er sich wieder auf.

Hatte er seiner Mutter zum Abschied nicht einen ähnlichen Kuss auf die Wange gegeben? Flüchtig, damit seine Freunde es nicht sahen und doch so ausgeführt, um noch als liebevolle Geste empfunden zu werden? Blinzelte Aideen ihn deshalb so fragend an?

Vielleicht sollte er …?

Abermals drückte er seine Lippen auf ihre, etwas unbeholfen, gerade lang genug, um sich der süßen Weichheit der ihren bewusst zu werden und doch sich etwas kopflos lösend, um ihr nicht das Gefühl zu geben, sie zu bedrängen.

Als er sich zurückzog, folgte sie ihm ein wenig nach und er, nun um die zarte Verlockung ihres Mundes wissend, kam zu ihr zurück.

Kein Zögern. Keine Zweifel. Kein Denken.

Sacht bedeckte er ihre Lippen mit seinen, strich darüber, fuhr langsam ihre Konturen entlang

Seine Arme umschlagen ihre Taille und zogen sie an seinen Körper.

Diese Erfahrung verlangte danach ausgekostet zu werden, wiederholt, intensiviert und vertieft. Das elektrisierende Prickel, welches ihn dabei durchfuhr, oder die heißen Schauer, welche ihm über den Rücken jagten, als seine Zunge ein Eigenleben entwickelte, ihren Mund eroberte und die ihre berührte, war er zu erklären nicht im Stande.

Sein Kopf war vernebelt von unzähligen Gedanken, die wie Geistererscheinungen hindurch fegten. Sein Herz hämmerte in beinahe beängstigendem Tempo und Heftigkeit gegen seinen Brustkorb, das dieser eigentlich längst nicht mehr intakt sein dürfte.

Beides schürte in Saber nur einen Wunsch: Sie noch näher an sich zuziehen und am besten nie wieder loszulassen.

„Hast du … hast du gewusst“, begann er atemlos, als er den Kuss lösen musste, weil sein Körper nach vernünftiger Sauerstoffversorgung verlangte, „dass Cygnus, das Sternbild des Schwan, am nördlichen Himmel am leichtesten zu finden und vollständig sichtbar bei 90° nördlicher bis 29° südlicher Breite ist, wobei er im Bereich von 62° bis 90° nördlicher Breite sogar zirkumpolar ist?“

Benommen schaute sie ihn an und nickte sehr vage.

„Und“, er räusperte sich, um den ungewohnt rauen Klang seiner Stimme wieder zu normalisieren, „wusstest du auch, dass in den alten Zeiten der Schwan, also das Tier … also, dass man glaubte, Schwäne seien holde Jungfrauen oder verzauberte Prinzen, die auf Erlösung warten?“

Fragend sah sie ihn an und blieb die Antwort schuldig. Saber wurde nervös.

„Also, ich bin kein verwunschener Prinz, aber ich fühle mich gerade, als hättest du mich erlöst.“

Sie lächelte, zwar noch etwas irritiert von seinen Gedankensprüngen, aber warm.

Erleichtert reflektierte er ihr Lächeln und hauchte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.

Die Antwort auf all seine Fragen zuvor? Er war verliebt, vollkommen verliebt in Aideen Ones.

So einfach war das.
 

Ende

Second

Wen bitte interessierte ein toter Knilch, der nur geschwollen daher gequatscht hatte? Und wen bitte interessierte es, ob das Wort nun „schlimm“ oder „schlümm“ geschrieben wurde? Klang doch fast gleich. Jeder wusste doch, was gemeint war. Wozu also das ganze Theater? DAS war SCHLÜÜÜ!!!MMM.

Es gab doch wirklich Wichtigeres. Zum Beispiel den Cowboys beim Zureiten der Pferde zu zusehen, oder selber irgendwohin zu reiten, oder den großen Mädchen, den Cheerleadern, beim Training zu zuschauen, oder mit Vaters Blaster Tontauben schießen zu üben, oder am See die Mädchen aus seiner Klasse beim Umziehen zu beobachten. Da gab es zwar noch nicht so viel zu sehen, wie bei den Cheerleadern, aber immerhin war das Gekreische lustig.

Alle seine Freunde waren jetzt am See und hatten ihren Spaß, nur er nicht. Und das nur, weil seine Eltern ihn zur Nachhilfe verdonnert hatten. Wegen eines blöden Diktates, das er vergeigt hatte. Na gut, die Eins hatte eine Null hintendran, aber trotzdem … Das war nicht fair.

Er sah sich in seinem Zimmer um, wobei er den Fehler machte, als erstes aus dem Fenster zu sehen.

Boah, echt! Draußen strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel – es konnte nicht mal regnen – leuchtete das Gras in sattem Grün und … oh, die Luft roch bestimmt nach Abenteuer und Freiheit.

Also jetzt reichte es ihm. Er würde doch nicht hier drinnen versauern, während er auf irgend so eine alte Schachtel wartete, die ihm den Unterschied von „schlimm“ und „schlümm“ erklären sollte. Nee, nee, das konnten seine Eltern vergessen. Da hörte der Spaß aber auf. Er war doch kein Gefangener.

Ein listiges Grinsen stahl sich auf das Gesicht des Dreizehnjährigen. Auf Indianersohlen schlich er zum Fenster und öffnete es geräuschlos. Tief sog er die Luft ein – oh ja, Freiheit und Abenteuer, wie er es sich gedacht hatte.

Er spähte die Hauswand hinab. Sein Zimmer lag im ersten Stock und unterhalb seiner Fensterbank endete das Rosenspalier seiner Mutter. Perfekt! Er rieb sich die Hände.

Flink schwang er sich auf die Fensterbank, tastete vorsichtig mit dem Fuß nach der ersten Querlatte des Spaliers und begann abzusteigen.

Sommer, ich komme.

Risse in seinem Shirt und Kratzer auf seinen Armen interessierten ihn nicht. Und die Schachtel, die da bald in seinem Zimmer aufkreuzen würde, die konnte warten, bis sie verfault war.

Eben fühlte er saftiges Gras an seinen Fußsohlen, da hörte er eine Stimme hinter sich.

„Hi Monchi, deine Mama hat mir schon gesagt, dass du türmen und ich dich hier finden würde“, erklang es fröhlich.

Der Junge erstarrte regelrecht.

DAS konnte einfach nicht sein! UNMÖGLICH! Seine Eltern konnten ihn nicht so sehr hassen.

Wie in Zeitlupe drehte er sich um und glotzte das Mädchen, das da stand an, wie die berühmte Gans beim berühmten Donner.

Oh, nicht doch, nicht doch, nicht doch …

DOCH!

Vor ihm stand Marissa Simmons. Sechszehn Jahre alt, drei Klassenstufen über ihm, gute Noten, beliebt bei jedem, Cheerleaderin und – das allerwichtigste – W-U-N-D-E-R-S-C-H-Ö-N.

Sie war mit ihrem wallenden haselnussbraunen Haar, den grünen Augen und den endlos langen Beinen der wahrgewordene Traum eines jeden Jungen an seiner Schule, der wusste, dass sich im BH eines Mädchens mehr beziehungsweise anderes verbergen konnte, als Watte, Taschentücher und ähnliches Füllmaterial. Dieses Mädchen hatte nicht nur „richtige“ Brüste, oh nein, davon hatte sie auch noch reichlich.

„Monchi“, wie sie ihn nannte, war in sie verliebt, seit sie in der Schulcafeteria vor ihm in der Schlange gestanden und sich nach etwas gebückt hatte, dass ihr runtergefallen war. Dabei hatte er in ihren Ausschnitt und auf dessen wundervollen Inhalt sehen können. Als sie dann auch noch beim Aufstehen seinen Mund wieder zugedrückt und keck grinsend „Nicht sabbern, Schnucki“ gesagt hatte, war es ganz um ihn geschehen. Das war vor einem halben Jahr passiert und nun sollte ausgerechnet sie seine Nachhilfelehrerin sein.

Ein Laut, der wohl ein verlegenes Lachen sein sollte, entwich seinen Lippen und offenbarte sich als der elendigste Klageton des gesamten Neuen Grenzlandes.

Das Leben war nicht nur hart – es war grausam.

Aber was sollte er tun?

Vor ihm stand Marissa Simmons.

Er war ja sowas von erledigt.

In den verbleibenden vier Wochen vor den Zeugnissen, so hatten es sich seine Eltern in den Kopf gesetzt, sollte er seinen drohenden Vierer in einen Dreier verwandeln oder er würde seine Sommerferien in einer Sommerschule verbringen. Er hatte die Qual der Wahl. Entweder Sommerschule oder Marissa, entweder … oder …

Ehe er das Ganze überdenken konnte, schritt diese ganz selbstverständlich den Weg zurück ins Haus und er folgte ihr, wie ein Hündchen seinem Spielball, die Augen nicht von dem wippenden Saum ihres Sommerkleides abwenden könnend und in der Hoffnung ein Blick auf ihr Höschen zu erhaschen.
 

Sich in ihrer Nähe zu konzentrieren war noch schwerer, als sich überhaupt zu konzentrieren, noch dazu auf Rechtschreibung.

Sein Lockenkopf qualmte schon und doch blieb sein Blick an ihren Lippen hängen. Er hörte kaum, was sie sagte und das, was er wahrnahm, interessierte ihn schlichtweg nicht.

Er erfüllte die Aufgaben, die sie ihm stellte und befand, er hätte damit seinen Teil geleistet. Sie sah das jedoch anders, wies auf Fehler hin, erklärte und wollte einfach nicht aufhören über dieses bekloppte Rechtschreibzeugs zu reden. Das war zur viel der Ungerechtigkeit des heutigen Tages.

Frustriert und gelangweilt kritzelte er beiläufig etwas in seinen Block, während er halbherzig auf ihre Stimme hin nickte.

„Wenn du schon ‚Leck mich‘ schreibst, dann bitte mit ‚ck‘ und nicht mit ‚g‘, sonst ‚leG‘ ich dich und zwar ‚um‘. Nur dass wir uns da einig sind.“

Erschrocken ließ er den Stift fallen und starrte sie an. Mann, dass war jetzt aber peinlich.

Sie grinste keck.

„Das war’s für heute, Monchi“, verabschiedete sie sich, stand auf und stupfte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Bis morgen.“ Damit entschwand sie dem Zimmer und überließ ihn mit pubertierenden Überlegungen zu den Verben Lecken und Legen und der Ausführung durch sie.
 

***
 

Irgendwann, in der ausgesprochen weit entfernten Zukunft von in fünf bis zehn Jahren, würde ihm ein Freund oder Kollege ausführlich erklären, dass Mädchen wie Marissa Simmons das Klischee der allseits beliebten Musterschülerin durch ihre Existenz begründet hatten beziehungsweise bestätigten. Dass sie mit natürlicher Anmut und Schönheit ebenso gesegnet waren, wie mit Intelligenz, Witz und einem guten Instinkt für ihre Mitmenschen. Dieser Instinkt, so würde ihm derjenige weiter auseinander klamüsern, wäre auch der Grund, warum sich die Nachhilfestunden veränderten. Denn diese Marissa-Simmons-Mädchen wüssten aus dem Bauch heraus, dass der Junge nicht dumm war, sondern einfach lieber aktiv. Entsprechend gab es ein allenfalls beiläufiges Lernpensum aus vier oder fünf Aufgabenblättern – denn wirklich intensiv lernen musste der Schüler nicht, er brauchte lediglich eine leichte Wiederholung – das dieser als notweniges Übel und lästige Unterbrechung des Spaßes mit seiner Nachhilfelehrerin ansah und darum innerhalb weniger Minuten erfüllte – und auch um seiner Mutter „beweisen“ zu können, dass er etwas getan hatte.

In jener fernen Zukunft würde diese Erklärung den Lockenkopf genauso wenig interessieren wie in der Gegenwart.

In der Gegenwart genoss er es nämlich viel zu sehr, Marissa zum Lachen zu bringen. Da sie gewissermaßen mit vollem Körpereinsatz lachte, war dies besonders oberhalb ihrer Gürtellinie ein traumhafter Anblick.

Sobald sie sein Zimmer betrat, verkam alles andere zur Nebensache. Wen interessierte es, dass seine Mutter seine neuerdings ausgiebigen Duschen als Wasserverschwendung betrachtete. Eigentlich sollte sie sich doch freuen, dass sie ihn nicht mehr an den Ohren in die Nasszelle schleifen musste. Und wen kümmerte es noch, dass sein Vater ihm den Preis seines exklusiven Rasierwassers vom Taschengeld abgezogen hatte, nachdem sein Sohn es aufgebraucht hatte? Immerhin hatte Marissa festgestellt, dass „Monchi“ wirklich gut roch.

Schlussendlich waren all diese Dinge doch nur die Nebenwirkungen der Nachhilfe, auf die seine Eltern ja bestanden hatten. Erhöhter Wasserverbrauch und etwas After Shave waren doch nun wirklich ein kleines Übel, denn das Ergebnis war, dass sie auf seinem Zeugnis die gewünschte Note vorfanden.

An dem Freitag, an dem er sein Zeugnis bekam, besuchte Marissa ihn noch einmal. Mochte sie auch einen großen, in Geschenkpapier eingewickelten Karton dabei haben, so störte es ihn doch augenblicklich, dass ihr Lächeln heute irgendwie … na, nicht wie sonst eben, strahlte.

„Für dich, Monchi“, meinte sie, als sie ihm ihr Mitbringsel in die Hände drückte.

„Als Glückwunsch zum Zeugnis und zum Abschied.“

Das Päckchen plumpste mit seiner Kinnlade auf den Boden.

„Abschied?“, echote er ungläubig.

Sie nickte.

„Meine Eltern haben beschlossen, nach Barahma Pekos zu ziehen. Drei Wochen, bis wir ankommen, wenn wir heute Abend aufbrechen“, erklärte sie mit einem entschuldigenden Unterton.

„Heute Abend?“ Wieder war er nur ihr Echo.

Abermals nickte Marissa und hob das Geschenk auf.

„Pack es aus, Monchi, sonst wirst du nie ein Cowboy“, grinste sie neckisch.

Cowboy? Wie musste er das verstehen? Hielt sie ihn für eine Memme? Das war doch bitte nicht ihr Ernst. Er wollte schmollen, grollen, doch wie konnte er das, bei diesem kecken Zwinkern? Was war da in dem Kasten, dass ihm über das seltsame Ziehen in seiner Brust hinweg helfen sollte?

Er nahm ihr das Paket ab und stellte es auf den Tisch.

„Na schön“, murrte er und macht so deutlich, dass er sich von ihrer Eröffnung getroffen fühlte.

Scheinbar desinteressiert riss er das Geschenkpapier ab und lüftete den Deckel. Als er die milchweiße Packfolie zur Seite wischte, konnte er nur noch ungläubig den Mund öffnen.

Mann, ernsthaft, er kam sich dämlich vor, aber er konnte es nicht verhindern.

Er sah sie an, sah wieder auf sein Präsent und zu ihr zurück.

Sie grinste fröhlich und griff in die Schachtel. Vorsichtig nahm sie den Inhalt heraus und setzte ihn auf seinen Kopf.

Na klar. Ein Cowboyhut. Etwas zu groß noch, aber ein Cowboy brauchte einen Hut. Logisch. Und der … nun, der war ab sofort heilig. Ganz klar.

„Steht dir gut“, stellte sie fest und stupfte ihm die Krempe über die Augen.

„Hey“, protestierte er postwendend und schob lässig mit einem Daumen die Kopfbedeckung zurück.

„Für `ne Lady wie dich, war das jetzt aber ganz schön kindisch“, versetzte er frech und grinste sie an.

„Für `nen Macho wie dich war das jetzt richtig cool“, gab sie zurück.

Geschmeichelt strahlte er sie an.

„Vergiss mich nicht sobald, okay“, lächelte sie.

WOW … Was …? Wie …? Wer …?

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass sie sich leicht zu ihm hinunter gebeugt hatte und er gerade ihre Lippen auf seinen fühlte. Seine eben gewonnene Coolness schmolz und machte seine Knie weich.

Ihre Lippen auf seinen … Das … bedeutete … sie … küsste … ihn …

SIE KÜSSTE IHN!!! Auf den Mund! Mit ihrem!

Irgendetwas begann zu wirbeln. Sein Kopf? Sein Zimmer? Der ganze Planet?

Haltsuchend streckte er die Arme nach ihr aus, bekam ihre Taille zu fassen und ignorierte, wie tollpatschig das wirken musste. Es war auch leicht, das auszublenden, denn ihr Mund fühlte sich viel fantastischer an, als er es sich je hätte ausmalen können.

Jetzt, da die Überraschung wich, berauschte ihn diese Empfindung und mit ihr fluteten auch Mut und Erkundungslust durch seinen Körper.

Langsam öffnete er seinen Mund, stieß tastend mit der Zungenspitze gegen ihren und ehe er es richtig begriff, war er über ihre Unterlippe geglitten und berührte ihre Zunge.

Irgendwann hatte er mal aufgeschnappt, dass ein Zungenkuss wie Eis essen funktioniere: Mund aufmachen und dann die Zunge wie beim Lecken bewegen. Dieser Anweisung nachzukommen, erschien ihm jetzt irgendwie zu blöd.

Viel aufregender war es, dass sich in ihren Mündern eine Art Kampf zu entspinnen schien, in welchem sie beide versuchten, die Zunge des anderen zwischen dessen Lippen zurück zu drängen.

Nur beiläufig bemerkte er, dass Marissa ihre Arme um seinen Hals gelegt und ihn näher zu sich gezogen hatte. Er verschwendete keinen Gedanken daran, wie er sich anstellte, oder wie er das seiner Mutter erklären sollte, würde diese justament hereinplatzen.

Spannender war diese kleine Schlacht, die er gerade austrug, und je länger diese dauerte, desto stürmischer wollte er sie für sich entscheiden.

Als Marissa in einem Patt-Moment den Kuss löste, wurde ihm klar, dass es bei solchen Duellen keine Sieger oder Verlierer gab, nur Genießende. Mehr oder weniger, aber garantiert auf seiner Seite.

Sie lächelte, als sie ihn ansah und in seinen Augen das abenteuerlustige Funkeln eines Eroberers erkannte.

„Uh, die Mädels müssen sich vor dir in Acht nehmen, Cowboy. Du wirst sie atemlos machen.“

Bei diesem Kompliment ließ Stolz seine Brust schwellen. Dieses Gefühl hielt an, bis die Nacht anbrach und Marissa längst für immer aus seinem Leben verschwunden war.

Der Regen, der ihm das Wochenende im wahrsten Sinne des Wortes vergraute, passte zu seiner Stimmung. Nannte man das „Liebeskummer“, was ihn da grad so lustlos machte? War ja widerliches Gefühl. Er verabscheute es, besonders, da es nichts daran änderte, dass er Marissa Simmons nie wieder sehen würde.

Er wünschte sich einen Lichtblick herbei. Irgendeinen.

Am Montag riss die Wolkendecke auf. Die Sonne strahlte so warm, als hätte es nie geregnet. Als am Nachmittag ein Freund aus der Schule vorbei kam, war schnell alles gepackt, was man für ein paar tolle Stunden am See brauchen konnte.

Er würde viele seiner Freunde und Mitschüler treffen und jede Menge Spaß haben. Dafür würde er sorgen.

Er hatte sich gerade auf sein Handtuch gesetzt, den etwas zu großen Hut in den Nacken geschoben, um freie Sicht zu haben und die Lage am See zu checken, als Tracy Meyers, ein Mädchen aus seiner Klasse, neben ihm auftauchte. Sie begrüßte ihn etwas befangen und setzte sich zu ihm. Verlegen versuchte sie ihn in ein Gespräch zu verwickeln, doch das bekam er kaum mit. Ihn lenkte die Feststellung ab, dass Tracys helles Haar auf ihrer gebräunten Haut ein sehr netter Anblick war, dass sie einen neuen Bikini trug und … oha, das war kein Füllmaterial in dem Oberteil, das war richtiger Inhalt. Wann hatte sie den denn bekommen?

Er hörte wie sie sich kleinlaut räusperte und sah zu ihr auf. Hatte sie Lippenstift auf ihrem Mund?

Verschmitzt schmunzelte er sie an. Gleich nicht mehr. Er beugte sich zu ihr und küsste sie rasch. Dann lehnte er sich leicht zurück und grinste kess: „Magst du’n Eis?“

B First

Sechszehn. Die Zahl klang gut. Wie ein Startschuss. Ein Sprung vom Jungen zum Mann. Die Zeit war da, die Welt zu erobern, Grenzen zu übertreten, neue - vor allem eigene - Regeln aufzustellen.

Er blickte in den Spiegel. Blue Nr. 16 - schon die Bezeichnung auf der Packung war treffend gewesen, aber das Ergebnis, die neue Haarfarbe, war es noch viel mehr. Sie passte zu ihm. Sie war er. Kein Zweifel. Das war keine Farbe, kein Name - das war eine Lebenseinstellung. SEINE Lebenseinstellung. Blue war cool. ... und jetzt würde ihr das auch auffallen. Davon war er überzeugt.

Der Ruf des Stubenältesten mahnte zur Eile. Er packte seine sieben Sachen und machte sich auf den Weg zum Unterricht.
 

In der Mittagspause wählte er einen Tisch abseits, aber in ihrer Nähe, um sie im Auge zu behalten. Er hatte gern ein Auge auf sie. Sie zu beobachten gab ihm Aufschluss über sie, ihre Art, was sie mochte und was nicht? Seit Monaten schon tat er dies.

Mehrfach hatte er sich schon eine Abfuhr bei ihr geholt, was für ihn darauf begründet war, dass er noch nicht genug recherchiert und erfasst hatte.

Gut, es war auch deutlich geworden, dass sie ihn für einen Streber hielt und sie Streber nicht mochte. ABER: Genau das trieb ihn dazu, es wieder und wieder zu probieren. Er würde seine guten Noten für niemanden aufs Spiel setzen – er wollte der Beste sein – und mehr als irgendwem sonst wollte er ihr beweisen, dass er der Beste war.

Warum ihr? Weil sie anders war. Herausfordernd, klug,, schön und unabhängig, mit diesen Worten würde er sie am ehesten beschreiben. Raven hieß sie. Ihr Haar war so pechschwarz wie das Gefieder eines Raben. Strahlend blau leuchteten ihre Augen und bildeten einen geheimnisvollen Kontrast zu ihren feinen Brauen und den dichten Wimpern, die sie einrahmten. Ihre Nase erinnerte an die perfekt modellierte einer Barbie-Puppe und ihre Lippen hatten immer einen Zug der Belustigung.

Sie verhielt sich unnahbar, besonders ihm gegenüber, aber er hatte das ein oder andere Mal schon Züge über ihr Gesicht huschen sehen, die auf ein gefühlvolles Mädchen hinwiesen. So stark wie sie tat, so verletzlich war sie auch.

Jetzt, da sie seine Musterung bemerkte, flackerte Irritation in ihrem Gesicht auf, um gleich darauf von einem spöttischen Zug überlagert zu werden. Aber zu spät. Es war ihm nicht entgangen. Und es amüsierte ihn. Irritiert war sie also? Na, da konnte er doch einen draufsetzen.

Er erhob sich, nahm sein Tablett und ging damit auf sie zu. Wie beiläufig stellte er seinen Becher Himbeerpudding vor sie auf den Tisch und meinte ruhig: „Lecker.“

Die Irritation in ihren Augenwinkeln entging ihm nicht, als er weiter lief. Zufrieden mit sich räumte er sein Tablett auf und wandte sich zur Tür, als sie vor ihm stand, wie aus dem Boden gewachsen.

Sie hielt ihm, mit skeptischem Blick, den Becher vor die Nase. „Was soll das?“, verlangte sie zu wissen.

„Du stehst doch auf das Zeug, oder nicht?“, gab er unbeeindruckt von ihrer Miene zurück.

„Wie kommst du darauf?“, hakte sie kühl nach.

„Denkst du echt, es fällt keinem auf, wenn du dir, jedes Mal, wenn’s die gibt, einen in die Tasche und auf dein Zimmer schmuggelst?“ Er lächelte. Umwerfend, wie er wusste. Die ein oder andere Verehrerin hatte in dies wissen lassen und es hätte ihn nicht nur die Information, sondern vielleicht auch die Überbringerin interessiert, hätte sie es ihm nicht viel zu leicht gemacht und ihn allzu offensichtlich angehimmelt.

„Blau steht dir nicht“, riss Raven seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf sich, nur um ihn gleich wieder stehen zu lassen.

Er wusste, es war nur Show. Jene Puddingbecher waren ihre heimliche Leidenschaft und es war, wie er ihr gesagt hatte. Sie schmuggelte sie aus der Cafeteria, weil sie so verrückt danach war. Vielleicht war es den anderen ja nicht aufgefallen, aber ihm war es nicht entgangen. Natürlich konnte sie sich unmöglich erlauben, gefühlsmäßig angenehm von dieser Tatsache zu sein, dann sie musste ja als unnahbar gelten. Trotzdem. Er hatte es geschafft, ihre Fassade ins Wanken zu bringen. Darauf konnte er aufbauen. Das Wie überlegte er sich auf dem Weg zur nächsten Stunde.
 

***
 

„Mensch Jesse, das du dich mal von einem Mädchen fertig machen lässt …“ Kopfschüttelnd stand Joe in der Umkleide neben ihm. Nein, er fasste nicht, was er eben erlebt hatte. Der Vorbereitungskurs in Selbstverteidigung war freiwillig, doch jeder wusste, dass Jesse ihn genauso ernst nahm, wie alle anderen Fächer auch. Umso überraschender war es, al der nun blauhaarige von Raven auf die Matte geschickt worden war. Und es schien ihn nicht mal zu stören …

„Soll vorkommen“, erwiderte er halbherzig und schloss die Spindtür. „Vor allem, wenn man größere Ziele verfolgt, kann es nicht schaden, mal zurück zu stecken.“

Er grinste, als Joe ihn verblüfft ansah. „Na, wenn du meinst …“ Damit ließ er seinen Klassenkameraden zurück.

Jesse prüfte noch einmal den korrekten Sitz seiner Kleidung, ehe er sich anschickte, die Personenzahl in der Umkleide von eins auf null zu reduzieren. Wenn er Recht hatte, würde sie sich jedoch erst noch verdoppeln.

Er wartete. Eins … Zwei … Drei !!!

Er war immer noch allein. … Vier … fünf …

Still blieb es. … Sechs … sieben …

Nichts rührte sich. … Acht … neun …

Hm … Ze-

Die Tür ging auf. Raven stand vor ihm. Ihre Augen funkelten unergründlich.

Und er hatte einen Moment lang geglaubt, er hätte sich verkalkuliert.

Nein, sie stand vor ihm wie eine Amazone. Ihre langen Beine waren in eine schwarze, glänzende Hose gehüllt. Ein eisblaues Top komplettierte das Freizeitoutfit, welches sie am liebsten trug. Elegant und doch energisch wie sie selbst war.

„Du eitler Fatzke kannst nicht warten, was?! Ich hätte dich schon kalt erwischt und auf die Matte geschickt“, stellte sie klar. Sie liebte die Herausforderung genauso wie er und es missfiel ihr, dass er sie darum gebracht hatte.

„Ja?“ Er tat, als überlege er. „Stimmt“, meinte er dann, „du brauchst keine Hilfe. Du bist wie ich.“

Er war sicher, dass würde sie beleidigen. Ihre Antipathie gegen Streber würde ihr nicht erlauben, dass er sie zu sich auf die gleiche Stufe zog.

In ihren Augen blitzte es. Schon fühlte er sich bestätigt, doch dann sagte sie schlicht: „Den Gefallen tu ich dir nicht.“

Wie bitte? Jetzt hatte sie ihn überrumpelt. Perplex starte er sie an und ärgerte sich, dass er es nicht verbergen konnte.

„Ich werde dir keine ballern. Ich werde dich nicht anschreien. Und schon gar nicht werde ich so tun, als würde es mich berühren.“

Verflixt, sie hatte ihn durchschaut. Eine der aufgezählten Reaktionen hatte er erwartet, aber nicht diese.

Hatte er doch unterschätzt, wie klug sie war. Das war dämlich. Besonders, da dies eine Eigenschaft an ihr war, durch die er sich angespornt fühlte. Aber – hehe – so leicht gab er nicht auf.

„Aber das hat es“, schoss er einigermaßen lässig eine Feststellung hinterher, die leider mehr geraten war, als ihm lieb war. Ein Bluff, na gut. Er lauerte auf ihre Reaktion.

„Hättest du wohl gern?“, gab sie zurück.

Er konnte nicht „Ja“ sagen ohne sich zu verraten. „Nein“ war gelogen. Da sie ihn gerade verdammt gut durchschaute, wüsste sie, dass die Wahrheit anders aussah.

„Vielleicht“, erwiderte er daher unbestimmt und lächelte.

Sie spielten ein Spiel in dem keiner unterlegen sein wollte und es dem anderen nicht gestattete in die Karten zu sehen – jedenfalls nicht häufiger, als vermeidbar war.

Ein Schauer ging durch seinen Körper und er hätte nicht sagen könne, ob dieses kleine Duell daran schuld war, oder die Person, mit der er es austrug. Beide sahen sich an. Keine erlaubte sich den Blickkontakt zu brechen und sich somit geschlagen zu geben. Die nächsten Worte konnten über Sieg oder Niederlage entscheiden. So nah am Triumpf, so nah an ihr …

Raven stand so dicht vor ihm, dass er meinte, ihren beherrschten Atem zu spüren. Ihr Pokerface jagte ihm einen weiteren, heißen Schauer durch den Körper. Er hatte tatsächlich keine Ahnung, trotz all seiner Vorbereitung, was sie nun tun oder sagen würde. Was auch immer es war, er musste schnell und souverän darauf reagieren. Der Nervenkitzel daran, ausgelöst durch sie, berauschte ihn. Das war besser als Alkohol oder sonstige Drogen. Ohne damit experimentiert zu haben, wusste er das.

Mit dem abrupten Öffnen der Tür war die Spannung zerstört.

Jesse und Raven wandten sich zum Eingang und erblickten das missbilligende Gesicht von Sportlehrer Jost.

„Raven Sera, das ist die Jungenumkleide“, erklärte er mahnend. Die Angesprochene nickte leicht und ging.

Jost, Sportlehrer, Leiter des Selbstverteidigungs- sowie des Schwimmkurses und Studienberater, wartete bis das Mädchen sie allein gelassen hatte. Dann wandte er sich ernst an Jesse.
 

***
 

Er hasste Predigten. Vor allem solche, in denen nichts gesagt wurde, das er nicht schon wusste. Ja, der Beste zu sein bedeutete, die Schule ernst zu nehmen und IMMER alles zu geben. Ja, seine Eltern sponserten das Internat nicht unerheblich und nein, sie taten es nicht, damit er hier rumgammle. Einen Abschluss mit Auszeichnung durften sie mindestens erwarten. Ja, dies bedeutete, dass er sich in freiwilligen Kursen genauso ins Zeug legen musste, wie in allen anderen auch.

Hielt Knilch Jost ihn für unterbelichtet? Hatte der Mann vergessen, dass Jesse einen höheren Intelligenzquotienten besaß, als der Durchschnitt der Schüler hier?

Jesse hatte sich nicht auf einen pöbelnden, pubertierenden Schlagabtausch mit dem Sportlehrer eingelassen, wie es der Durchschnittsschüler getan hätte, weil Jesse wusste, dass der Lehrer immer am längeren Hebel saß. Folglich war es klüger, erst mal nach den vorgegeben Regeln zu spielen, unabhängig davon, was man selbst davon hielt. Bis er sich aus der Knechtschaft von Eltern und Schule befreit und unabhängig gemacht hatte, um den Weg zu gehen, den ER für richtig hielt, dauerte es noch zwei Jahre. Danach würde er den Teufel tun und sich in das Finanzwesen stürzen, wie es sein Vater erwartete. Das konnte sein alter Herr vergessen. Aber der Plan seine Autonomie zu erlangen, bedeutete auch noch ein wenig Ausdauer aufzubringen. Aber er war unerbittlich und es lohnte sich. In Zukunft würde er nur noch Regeln befolgen, für die er sich selbst entschieden hatte.

Das einzig Positive an der sonst langweiligen Predigt war, dass sie die rebellischen, unbedarften Gedanken des Morgens diszipliniert hatte und ihm half, sich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren.

Er verließ die Turnhalle und bahnte sich seinen Weg durch die Internatsschüler auf sein Zimmer. Der Abend war angebrochen und durch das spärliche Licht, welches durch das schmale Fenster am Ende des Flures drang, wurde dieser kaum noch erhellt. Jesse verzichtete darauf, die Beleuchtung einzuschalten. Er fand sein Einzelzimmer auch so.

Zudem erinnerten ihn die schwarzen Schatten an Ravens Haar und damit auch an ihre blauen Augen, die darunter hervorstachen. Es ärgerte ihn umso mehr, dass Jost sie unterbrochen hatte, weil er nun wohl vorläufig nicht erfahren würde, wie dieses Duell zwischen ihnen ausgegangen wäre. Der Teufel sollte Jost holen.

Jesse öffnete die Tür, betrat sein halbdunkles Zimmer und hörte, wie sich die Tür klackend hinter ihm schloss. Er atmete aus.

Im nächsten Moment fühlte er sich unsanft am Kragen gepackt und gegen den Eingang gedrängt. Unerwartet fand er sich an dem harten Holz wieder, packte die Hand an seinem Kragen und langte mit der freien nach dem Lichtschalter. Wer auch immer es gewagt hatte, sein Hemd zu zerknittern, konnte gleich etwas erleben. Dieser Gedanke schoss ihm in den Kopf und verschwand sofort wieder, als er in Ravens blaue, herausfordern blitzende Augen sah.

Er ließ ihr einen Moment des Triumpfes, ehe er sich entschied, sie einfach nur entwaffnend anzulächeln.

„Okay, du hast mich kalt erwischt, als du es wolltest. Bist du jetzt zufrieden?“, gab er sich unbeeindruckt.

Sie ließ seinen Kragen los und nickte unbestimmt mit dem Kopf.

Wieder lächelte er. Da er noch ihre Hand hielt, war es kein Problem, sie heranzuziehen und rasch die Position mit ihr zu tauschen. Wütend darüber fauchte sie ihn an.

„Lass mich los, du Mistkerl.“

Er lachte belustigt.

„Tu dir selbst einen Gefallen und gib zu, dass du auf mich stehst.“ Das war die einzige Erklärung die es für ihn wirklich für ihre Anwesenheit hier gab.

Trotzig schob sie die Lippen vor.

„Tu mir einen Gefallen und erstick an deinem Ego“, parierte sie.

„Böses Mädchen“, tadelte er sie noch immer amüsiert. Er legte leicht eine Hand auf ihre Wange und näherte sich ihrem Gesicht bis er deutlich ihren Atem in seinem spüren konnte. Oh, diese Aufsässigkeit gefiel ihm so sehr.

Er näherte sich ihrem Ohr.

„Ich mag böse Mädchen“, raunte er ihr zu.

„Tatsächlich?“

Die abwehrende Spannung in ihrem Körper ließ nach.

„Mit denen würdest du doch gar nicht fertig werden.“

„Wetten?“, fragte er und verbarg die Enttäuschung darüber, dass sie ihren Widerstand scheinbar aufgegeben hatte.

„Wetten!“

Wieder griff sie nach seinem Kragen und zog ihn die winzige Distanz, die es noch zu überwinden galt, zu sich. Er fühlte ihre Lippen auf seinen ehe er es begriff. Ärgerlich darüber, dass sie ihm zuvorgekommen war, und erregt von der Hitze ihres Mundes drängte er sie zurück, bis ihr Kopf die Tür berührte.

Und das Spiel begann aufs Neue.

Sie versuchte ihre alte Position zurückzugewinnen. Er erlaubte ihr kaum einen Zentimeter Gewinn. Je öfter sie es probierte, desto energischer presste sich ihr Mund gegen seinen und desto gebieterischer erwiderte er ihren Kuss.

Schließlich umfasste er mit beiden Händen ihren Kopf, hielt sie mit vorsichtiger Bestimmtheit fest und unterband so jede Gegenwehr. Bevor sie auf die Idee kam, andere Möglichkeiten des Widerstandes in Betracht zu ziehen, schob er mit den Lippen die ihren auseinander und ließ seine Zunge dazwischen schnellen. Als sie ihr Ziel fand, glaubte er, den Halt zu verlieren.

Er ignorierte die weichen Knie so gut es ging. Raven und ihr rebellischer kleiner Mund, den es zu beherrschen galt, war alles, was zählte. Er genoss die Schauer, die durch ihn jagten und zog aus jedem davon neue Energie für ihren Kampf um den Mund des anderen.

Sie war es schließlich, die den Kuss abbrechen musste, um Luft zu holen.

Verschlagen grinste er sie an.

„Du hast verloren, Bad Girl“, stellte er fest.

„Wenn du das glauben möchtest …“, gab sie zurück.

„Möchtest du `ne Revanche haben?“, fragte er provozierend lächelnd.

Sie stieß ihn von sich. Er stolperte einen Ausfallschritt zurück, spürte seine Bettkante in seiner Kniekehle und setzte sich auf die Schlafstatt, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Raven trat auf ihn zu, legte ihre Hände an seine Wangen und fragte lauernd:

„Seh ich so aus, Playboy?“

„Ja“, erwiderte er schlicht, zog sie ganz zu sich und küsste sie erneut.



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