Fury von Flordelis ================================================================================ Kapitel 1: Jede Richtung ist gut genug -------------------------------------- [LEFT]»La Llorona.« Kota wiederholte die Worte ratlos, ungeschickt; durch den Lärm der Rotoren wurde es sogar noch undeutlicher. »Was soll das überhaupt bedeuten?«[/LEFT] [LEFT]Ich sah zu den anderen. Alisa spielte nachdenklich mit einer Haarsträhne, Soma hielt die Arme vor der Brust verschränkt und blickte zu Boden. Keiner schien eine Antwort geben zu wollen, womöglich weil sie es selbst nicht wussten – oder es war ihnen egal. Doch der Hubschrauberflug ging noch eine Weile und Kota wartete auf eine Antwort.[/LEFT] [LEFT]»Es ist ein Aragami aus Lateinamerika«, begann ich, »also wird der Name spanischen Ursprungs sein.«[/LEFT] [LEFT]Kota neigte den Kopf ein wenig, sein Gesicht ein einziges Fragezeichen. Deswegen erklärte ich weiter: »Viele Aragami haben Namen aus der Geschichte oder der Folklore ihrer Ursprungsländer. Darum habe ich eine Weile einige Bücher darüber gelesen.«[/LEFT] [LEFT]Nichts Tiefgründiges, nur allgemeine kurze Lexikoneinträge, leicht verdaulich, besonders kurz vor dem Schlafengehen. Schließlich wusste man nie, wann man dieses Wissen benötigen konnte. Und jeder benötigt ein seltsames Hobby.[/LEFT] [LEFT]Soma schielte von gegenüber kurz in meine Richtung, aber es war die neben mir sitzende Alisa, die schließlich ihre Geduld verlor: »Hast du denn nun eine Antwort oder nicht?«[/LEFT] [LEFT]Ich musste ein wenig schmunzeln. »Dazu komme ich ja gerade. Jedenfalls ist La Llorona laut der Folklore eines früheren Landes das Gespenst einer Frau, die ihre Kinder ertränkt hat. Es hieß, sie sei nun auf der Suche nach ihnen, deswegen sollten kleine Kinder abends nicht in der Nähe von Flüssen oder Seen sein, weil sie diese dann ertränken würde.«[/LEFT] [LEFT]»So ein Schwachsinn«, brummte Soma.[/LEFT] [LEFT]Kota ignorierte ihn einfach, immer noch verwirrt. »Und was heißt der Name nun?«[/LEFT] [LEFT]»Ich glaube, so etwas wie die Weinende. Aber sicher bin ich mir nicht mehr, das ist schon eine Weile her.«[/LEFT] [LEFT]»Wenn man diesen Namen gewählt hat«, sagte Alisa nachdenklich, »weint das Aragami dann?«[/LEFT] [LEFT]Leider hatte Hibari uns nichts weiter dazu erklärt, und auch im Terminal waren nur einige allgemeinen Dinge erwähnt worden, wie etwa die Schnelligkeit des Aragami – aber das war nun auch nichts Neues, es gab nur zwei langsame oder sogar unbewegliche Arten, die mir bekannt waren – oder dass es genau wie Kokonjungfern im Untergrund reiste.[/LEFT] [LEFT]Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sieht es nur aus wie eine gespenstische Frau. Wirklich sicher werden wir sein, sobald wir es sehen.«[/LEFT] [LEFT]»Warum ist das überhaupt so wichtig?«, fragte Soma genervt. »Es ist ein Aragami, und wir zerfetzen es so lange, bis es nicht mehr atmet.«[/LEFT] [LEFT]Ich lächelte unwillkürlich über diese pragmatische Einstellung, sie gehörte zu den Dingen, die mir so gut an ihm gefielen, und weswegen ich froh war, dass wir beide auf diese Mission geschickt worden waren. Er warf mir einen kurzen Blick zu und runzelte die Stirn – doch einen Sekundenbruchteil später war es vorbei und er sah so desinteressiert aus wie eh und je. Obwohl er netter und umgänglicher geworden war, konnte er einfach nicht aus seiner Haut, aber das war angenehm, so kannte ich ihn; ich hätte mir mehr Sorgen gemacht, wäre er plötzlich ein höflicher Menschenfreund geworden.[/LEFT] [LEFT]Kota kratzte sich den Hinterkopf. »Aber wenn sie doch ein Geist ist?«[/LEFT] [LEFT]»Es gibt keine Geister-Aragami«, sagte Alisa. »Also hat Soma recht, wir werden es einfach töten, genau wie immer.«[/LEFT] [LEFT]Dennoch wirkten ihre Bewegungen plötzlich unruhiger, während sie weiterhin mit ihrer Strähne spielte. Inzwischen kannte ich auch sie lange genug, um zu wissen, dass sie ein wenig zweifelte. Für mich bedeutete das aber nur, sicherzustellen, den Auftrag möglichst schnell hinter uns zu bringen.[/LEFT] [LEFT]Glücklicherweise meldete sich in diesem Moment der Pilot über Funk, wir waren am Zielort.[/LEFT] [LEFT]Wir ergriffen unsere God Arcs, warteten, bis der Hubschrauber tief genug gesunken war, und sprangen dann nacheinander aus den offenen Ladetüren hinaus. Der Pilot wünschte uns noch viel Erfolg, versprach, uns bald wieder abzuholen, und entfernte sich rasch, um nicht selbst zum Ziel zu werden. Bei den Aragami wusste man schließlich nie, was sie als nächstes probieren wollten.[/LEFT] [LEFT]Kota sah unserem Gefährt betrübt hinterher, bis es nur noch ein schwarzer Punkt auf dem Horizont war. Er wandte sich uns anderen drei zu. »Wo fangen wir jetzt an?«[/LEFT] [LEFT]Soma drehte sich von uns weg. »Jede Richtung ist gut genug.«[/LEFT] [LEFT]Damit lief er voraus, wir folgten ihm, die Waffen im Anschlag, jederzeit bereit.[/LEFT] [LEFT]Wir waren nie zuvor in diesem ehemaligen Wohngebiet gewesen. Es lag mehrere Meilen von der Küste entfernt und gehörte vor der Invasion angeblich zu einer Großstadt. Inzwischen waren von den einst eindrucksvollen Hochhäusern nur noch halb eingestürzte Ruinen übrig, die von den Zähnen der Aragami und der Zeit gemeinschaftlich angenagt worden waren. Die Straßen waren eingestürzt oder aufgerissen, an manchen Stellen stand der Asphalt so hoch, dass es unmöglich war, darüber zu klettern und wir einen Umweg machen mussten (was Soma zum Murren brachte, aber im Hauptquartier hoffentlich half, um eine verlässliche Karte anzufertigen). Autowracks standen am Straßenrand, entweder bis zur Unkenntlichkeit der Farbe verrostet oder nur noch eine ausgebrannte Hülle. Dass sie nur an der Seite standen, zeigte ein weiteres Mal, wie plötzlich und brutal die Aragami hier über die Menschen hergefallen waren: ihnen war nicht einmal die Zeit für einen Fluchtversuch geblieben.[/LEFT] [LEFT]Abgesehen von Soma, der uns anführte, schien jeden von uns dasselbe zu beschäftigen, wie sich zeigte, als Kota plötzlich seufzte: »Ich bin nur froh, dass es hier keine Leichen gibt.«[/LEFT] [LEFT]»Die Aragami fressen Menschen komplett«, sagte Alisa. »Sie lassen nichts übrig. Absolut nichts.«[/LEFT] [LEFT]Sie blieb stehen und senkte den Kopf. Ich stellte mir vor, wie sie wieder an ihre Eltern dachte, die vor ihren Augen von einem Dyaus Pita gefressen worden waren, während sie sich in einem Schrank versteckt hatte. Diese Erinnerung erneut zu durchleben musste ihr Herz brechen – jedenfalls wäre es mir an ihrer Stelle so ergangen. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, trat ich näher an sie heran. »Alisa … bist du sicher, dass du diese Mission schaffst?«[/LEFT] [LEFT]Als sie nicht antwortete, glaubte ich erst, sie würde gleich zu weinen beginnen – doch bevor ich noch etwas näher treten konnte, um sie zu trösten, hob sie den Blick wieder. Ihre Augen glitzerten feucht, aber sie lächelte. »Keine Sorge, ich lasse euch nicht hängen. Das ist nicht wie damals, ihr könnt auf mich zählen.«[/LEFT] [LEFT]Ich erwiderte ihr Lächeln, zuversichtlich in ihre Worte. »Okay. Aber sag Bescheid, falls es dir doch zu viel wird. Ich verstehe das.«[/LEFT] [LEFT]»Hm? Da fällt mir ein: Was ist eigentlich mit deiner Fam-«[/LEFT] [LEFT]»Hey!« Kotas Stimme unterbrach sie. »Kommt ihr endlich?!«[/LEFT] [LEFT]Ich sah hinüber und stellte überrascht fest, dass Kota und Soma inzwischen über mehrere Geröllhaufen geklettert waren. Von dem höchsten sahen sie auf uns herab. Wir hatten nicht bemerkt, wie weit die anderen bereits gekommen waren.[/LEFT] [LEFT]Alisa lief schnell weiter. »Komm, wir sollten nicht allein hier herumstehen.«[/LEFT] [LEFT]Ich folgte ihr, insgeheim froh darüber, dass sie die Frage nicht hatte stellen können. Bislang war nie die Sprache auf meine Familie gekommen, und ich war mir immer noch nicht sicher, wie ich reagieren sollte, falls es einmal so weit wäre.[/LEFT] [LEFT]Kota beobachtete uns beim Besteigen des Gerölls, damit wir nicht von hinten überrascht werden konnten; Soma sah sich derweil nach Feinden um, die ihnen zu nahe kämen. Innerhalb kürzester Zeit hatten wir die beiden Wartenden wieder eingeholt. Von dieser Position aus war es uns möglich, die näheren Straßenzüge – oder dem, was davon übrig geblieben war – zu überblicken. Nirgends regte sich etwas, nicht einmal von einer Zygote war etwas zu sehen.[/LEFT] [LEFT]»Es ist verdächtig still«, bemerkte ich.[/LEFT] [LEFT]Alisa nickte. »Normalerweise laufen doch auch kleinere Aragami in verlassenen Gegenden herum. Aber hier ist absolut gar nichts.«[/LEFT] [LEFT]Ich sah zu Soma hinüber, der angestrengt in eine Richtung starrte, in der die zusammengefallenen Hochhäuser es unmöglich machten, hindurchzulaufen. Er atmete genervt aus. »Wo ist dieses Vieh?«[/LEFT] [LEFT]Wenn nicht einmal er etwas spüren konnte und auch Hibari uns nicht kontaktierte, sah das nicht gut für uns aus, die Mission würde wohl doch länger dauern als ich gehofft hatte. Kota betrachtete die Situation jedoch positiv: »Wenn wir nichts finden, fliegen wir einfach wieder heim.«[/LEFT] [LEFT]»Dann waren wir umsonst hier«, stellte Alisa unzufrieden fest.[/LEFT] [LEFT]»Soweit wird es auch nicht kommen«, sagte ich. »Wir finden La Llorona. Am besten teilen wir uns dafür auf.«[/LEFT] [LEFT]Ich deutete auf zwei Straßen, die von hier oben zwar in unterschiedliche Richtungen verliefen, getrennt von einer Reihe eingestürzter Gebäude, doch weiter hinten wieder zusammenkamen. »Eine Gruppe nimmt die linke Straße, die andere die rechte. Wir bleiben in Kontakt und benutzen eine Signalrakete, falls wir etwas finden, selbst wenn es nur Spuren sind, die auf Feinde hinweisen. Ansonsten treffen wir uns auf der hinteren Querstraße in genau einer Stunde.«[/LEFT] [LEFT]Erst nachdem ich das alles erklärt hatte, sah ich die anderen wieder an – und stellte überrascht fest, dass Kota und Alisa mich mit großen Augen betrachteten. Nur Soma war zur Seite gewandt, sein Blick ging in die Ferne.[/LEFT] [LEFT]»W-was ist?«, fragte ich.[/LEFT] [LEFT]»Du …« Kota schien nach Worten zu suchen. »Du wirktest gerade so cool.«[/LEFT] [LEFT]Alisa nickte. »Kaum zu glauben, dass du vor gar nicht langer Zeit noch ein Rookie gewesen bist.«[/LEFT] [LEFT]Die Erinnerungen an ein Leben vor meinem Beitritt, bevor ich Lindows Einheit zugeteilt wurde, bevor er verschwand, bevor wir Shio trafen, bevor … allem, waren so entfernt, dass sie genauso gut aus einem Traum oder einem Buch stammen könnten. Es fühlte sich nicht mehr an, als wären mir Dinge geschehen, bevor ich ein God Eater wurde, erst damit war ich geboren worden.[/LEFT] [LEFT]Vielleicht sollte mir dieses Empfinden aber zu denken geben.[/LEFT] [LEFT]»Du musst die Gruppen noch einteilen«, brummte Soma. »Es bringt nichts, wenn wir nur hier herumstehen.«[/LEFT] [LEFT]Ich tippte mir an die Stirn. »Stimmt. Kota, du gehst mit Alisa. Soma kommt mit mir.«[/LEFT] [LEFT]Diese Entscheidung brachte mir keinen bewundernden Blick ein. Stattdessen zog Alisa die Brauen zusammen. »Warum?«[/LEFT] [LEFT]Auf ein Nachhaken war ich nicht gefasst gewesen. Im Grunde hatte ich nur verhindern wollen, dass Alisa mich doch noch auf meine Familie ansprechen konnte. Natürlich hätte ich sie daher auch mit Soma mitschicken können, aber dieser Gedanke behagte mir nicht. Wenn Soma mit einem weiblichen Mitglied unterwegs war, sollte das ich sein, sonst niemand. Das war allerdings keine Begründung, die in einem offiziellen Job angebracht war.[/LEFT] [LEFT]Zu meinem Glück erlöste Soma mich, indem er eine Gegenfrage stellte: »Ist es nicht offensichtlich?«[/LEFT] [LEFT]»Nicht wirklich«, sagte Kota zögerlich. »Wir verstehen es anscheinend nicht.«[/LEFT] [LEFT]Ich hoffte, Soma würde fortfahren, statt es mir zu überlassen – und wieder kam er zu meiner Rettung: »Beide Gruppen haben jetzt je einen New-Type dabei. Das gibt uns eine größere Flexibilität, falls es überraschend zu einem Kampf kommt.«[/LEFT] [LEFT]Er deutete zu den Straßen hinüber. »Wir können uns nicht darauf verlassen, dass das jeweils andere Team durch die Ruinen direkt zu uns kommen kann. Also ist es besser, wenn jede Gruppe sich zumindest eine Weile selbst verteidigen kann.«[/LEFT] [LEFT]Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht, aber selbst für mich ergab das Sinn. Ich gab mich gar nicht erst der Vorstellung hin, dass ich unterbewusst derart geniale Entscheidungen traf, sondern war ehrlich zu mir selbst, dass es nur ein Zufall gewesen war, weil ich Alisa entgehen, aber Soma nicht teilen wollte.[/LEFT] [LEFT]Kota ließ sich das durch den Kopf gehen. »Oh ja, klingt wie eine gute Idee.«[/LEFT] [LEFT]Alisas Stirn war immer noch gerunzelt, aber sie widersprach nicht mehr. »Okay, aber meldet euch wirklich sofort, falls etwas sein sollte, verstanden?«[/LEFT] [LEFT]Ich versicherte ihr das und nahm ihr im Gegenzug dasselbe Versprechen ab. Erst dann kletterten wir in unseren jeweiligen Gruppen wieder den Haufen hinunter; so war es einfacher, direkt auf unsere Straße zu kommen, statt uns erst kurz davor zu trennen.[/LEFT] [LEFT]Das Besteigen war wesentlich leichter gewesen. Immer wieder lösten sich kleine Asphalt- oder Teerbrocken unter meinen Füßen und rollten davon, in einem finsteren Versuch mich mit in die Tiefe zu reißen. Dazu musste ich noch auf meinen God Arc in Sensenform achten, um nicht einfach aufgespießt zu werden, falls ich stolpern sollte – oder gar Soma zu verletzen, das hätte ich mir nie verziehen. Sein Schwert war wesentlich größer und schwerfälliger, aber dennoch hatte er weniger Probleme, vermutlich machte er sich auch nicht so viele Gedanken wie ich.[/LEFT] [LEFT]»Hey«, versuchte ich im halbherzigen Scherz, »ist eigentlich mal ein God Eater gestorben, weil er auf seinen God Arc gefallen ist?«[/LEFT] [LEFT]Ich rechnete mit keiner Antwort – schließlich gab es darüber wohl kaum eine Statistik –, aber Soma gab mir dennoch eine: »Falls ja, war er ein Idiot. Also werde kein Idiot.«[/LEFT] [LEFT]»Ich bemühe mich.«[/LEFT] [LEFT]Er stand längst wieder auf festem Boden, als mir nur noch ein kleines Stück fehlte. Ich setzte meine Schritte mit Bedacht, um auf der letzten Strecke vor lauter Übermut nicht doch noch zu fallen. Eine Bewegung außerhalb meines Blickfelds ließ mich innehalten – dann stellte ich mit Überraschung fest, dass Soma mir eine Hand hinhielt. Sein Gesicht blieb finster und undurchdringlich. »Es ist kaum mitanzusehen, wie du herumschleichst. Wenn wir zurück sind, sollten wir so etwas wirklich üben.«[/LEFT] [LEFT]Allein der Gedanke, dass er von sich aus vorschlug, mehr Zeit zusammen zu verbringen, selbst wenn es dabei nur um Training ging, ließ mein Herz ein wenig schneller schlagen.[/LEFT] [LEFT]Ich ergriff seine Hand, hoffend, dass er nicht spürte, wie aufgeregt ich war. Mit seiner Hilfe schaffte ich den Rest mit einem einzigen Sprung, ohne zu stürzen. »Tut mir leid, ich habe nur zu viel nachgedacht.«[/LEFT] [LEFT]»Auf dem Schlachtfeld ist das ein Fehler«, erwiderte er. »Und das hier ist eines, auch wenn wir noch keinen Aragami begegnet sind. Vergiss das nicht.«[/LEFT] [LEFT]»Du hast recht. Es tut mir leid.«[/LEFT] [LEFT]Er ächzte. »Entschuldige dich nicht dauernd! Was ist heute mit dir los?«[/LEFT] [LEFT]»Ich weiß nicht.« Sicher würde ich ihm nicht sagen, dass es mich ein wenig nervös machte, allein mit ihm zu sein – und dass Alisa mich fast nach meiner Familie gefragt hätte. »Vielleicht brauche ich nur mal wieder einen freien Tag.«[/LEFT] [LEFT]Er neigte kaum merklich den Kopf, scheinbar akzeptierte er das. Ich sah derweil auf meine Hand hinunter, die noch immer von Soma gehalten wurde, seine war angenehm warm. Er folgte meinem Blick, zuckte zusammen und ließ mich sofort los. Danach wandte er sich brüsk von mir ab und lief los. »Komm schon, wir müssen weiter.«[/LEFT] [LEFT]»Stimmt was nicht mit meiner Hand?«, fragte ich, während ich ihm folgte. »Ich bin nicht giftig, ich schwör's.«[/LEFT] [LEFT]»Sei einfach still«, brummte Soma über die Schulter. »Konzentrier dich, Captain.«[/LEFT] [LEFT]Für einen kurzen Moment hatte ich ausgeblendet, dass wir auf Mission waren, obwohl wir unsere Waffen mitführten. Die trügerische Ruhe vor einem Kampf hatte mich eingehüllt und unvorsichtig gemacht. Ich entschuldigte mich noch einmal, ehe ich ihm in aller Stille weiter folgte, nun wieder so aufmerksam wie es sein müsste.[/LEFT] [LEFT]Anhand der Schilder an den Gebäuderesten wurde deutlich, dass es sich hierbei einmal um eine Einkaufsstraße gehandelt hatte. Buchhandlungen, Musikläden, Restaurants und sogar etwas, das sich Convenience Store nannte, fanden sich hier. Laut den Medien der Zeit vor den Aragami war letzteres ein Ort gewesen, um Lebensmittel oder kleinere Notwendigkeiten des täglichen Bedarfs zu kaufen. Wie hatten sich Menschen damals gefühlt? Was für Probleme waren ihnen durch den Kopf gegangen, als sie hier langgelaufen waren? Ganz sicher hatten sie sich nicht davor gefürchtet, von einem Ogerschweif oder einem Vajra gefressen zu werden. Bestimmt hatten sie das nicht einmal im Mindesten geahnt, bis es soweit gewesen war.[/LEFT] [LEFT]Soma blieb plötzlich stehen und bedeutete mir per Handzeichen, still zu sein. Er lauschte angestrengt, ich tat es ihm nach – und es dauerte nicht lange, bis ich auch etwas hörte: ein leises Weinen aus einer Apotheke. Das Gebäude stand fast noch vollständig, lediglich das Schaufenster war zerstört und die Regale im Inneren umgestürzt. An der hinteren Wand entdeckte ich eine offene Tür, doch alles dahinter war in Dunkelheit getaucht. Von dort kam das Schluchzen, das absolut fehl am Platz wirkte.[/LEFT] [LEFT]»Glaubst du, das ist ein Überlebender?«, fragte ich Soma flüsternd.[/LEFT] [LEFT]Er starrte mit unbewegter Miene in die Finsternis. »Nein. Auch wenn es hier im Moment keine Aragami gibt, ist es ziemlich unmöglich. Es gibt weit und breit keine Ressourcen für einen Menschen, um zu überleben. Und außerdem ist er zu laut.«[/LEFT] [LEFT]Richtig, in einer mit Aragami bevölkerten Welt war jeder Ton eine Gefahr. Niemand, der klar bei Verstand war, würde auch nur einen Pieps von sich geben – und alle anderen waren schon nach Beginn der Katastrophe getötet worden. Oder arbeiteten für Fenrir, wie es manchmal schien.[/LEFT] [LEFT]Da blieb nur eine Schlussfolgerung: »Es ist La Llorona.«[/LEFT] [LEFT]Er nickte und ging leicht in die Knie, bereit für einen Angriff. Ich betätigte derweil einen Schalter an meinem Headset, um den anderen Bescheid zu geben. Alisa reagierte sofort auf den offenen Kanal und fragte nach meinem Status, doch etwas anderes verlangte meine Aufmerksamkeit: das Weinen bewegte sich, kam auf uns zu – und zwar direkt unter der Erde.[/LEFT] [LEFT]Ich sah den kurzen Text im Terminal wieder vor mir: Es bewegt sich wie Kokonjungfern im Untergrund fort.[/LEFT] [LEFT]Soma realisierte es im selben Moment wie ich. Er wandte sich mir zu, rief etwas und streckte die Hand aus. Gleichzeitig fragte Alisa mich über Funk, was denn nun los sei. Erst als sich alles zur Seite neigte, bemerkte ich, dass ich mich im freien Fall befand. Den Bruchteil einer Sekunde später verschwand die Welt, die Schwerkraft zog mich rasend in die Tiefe.[/LEFT] [LEFT]Der Fleck aus Licht über mir wurde rasch kleiner, genau wie Soma, der meinen Namen rief. Oder tat er das überhaupt? Der Wind rauschte in meinen Ohren, so dass ich nichts anderes hören konnte. Aber ich wünschte mir in diesem Moment, dass er nach mir rief, mehr als alles andere, ja, sogar mehr als nicht zu fallen.[/LEFT] [LEFT]Der Aufprall trieb mir den Sauerstoff aus den Lungen, sandte Schmerzen mit Blitzen durch meinen gesamten Rücken und setzte meinen Kopf in Brand. Instinktiv schnappte ich nach Luft, jeder Atemzug war verbunden mit Agonie. Ich wollte damit aufhören, um der Qual zu entgehen, doch mein Körper ließ es nicht zu und füllte meinen Brustkorb immer wieder mit wütenden Flammen. Ein schrilles Pfeifen hatte meine Ohren übernommen und dröhnte durch mein gesamtes Inneres.[/LEFT] [LEFT]Sekunden dehnten sich zu Stunden, zu einer Ewigkeit, in der ich mich zersetzte, zu einzelnen Orakelzellen wurde, die diesem Schicksal entkommen wollten – und dann drang plötzlich ein leises Weinen durch das Pfeifen.[/LEFT] [LEFT]Ich bewegte lediglich meine Augen, weil der Rest meines Körpers nur noch ein Bündel brennender Nervenenden war. Was immer hier lag war nicht mehr ich, sondern nur noch Schmerz, der meinen Namen trug und bald eine Ansammlung von Orakelzellen war.[/LEFT] [LEFT]Undeutlich erkannte ich ein Mädchen, es hockte neben mir, schluchzte unablässig, während es die Hände vor sein Gesicht hielt. Ich wollte fragen, was los war, woher sie kam, wollte sie warnen, dass es hier gefährlich sein konnte, doch ich besaß keinen Mund mehr, er gehörte dem Schmerz.[/LEFT] [LEFT]Das Weinen wuchs zu einem lauten Klagen, mit ihm wandelte sich auch das Mädchen. Plötzlich bestand es nur noch aus Zähnen, die sich meinen Überresten näherten, die sich weiteten, um das zu verschlingen, was nur noch Leid war. Ich lachte leise darüber; wie sollte einen so etwas sättigen? Dachte dieses Ding etwa überhaupt nicht nach? Der Schmerz würde ihm nur Übelkeit bescheren.[/LEFT] [LEFT]Meine Sicht verschwamm immer mehr, während mein Bewusstsein in den Tiefen eines schwarzen Meers versank. Das letzte, was ich sah, war ein blauer Fleck, der auf den Zähnen landete, so dass sie sich nicht mehr näherten. Ich verstand es in diesem Moment nicht, doch augenblicklich fiel jegliche Anspannung von mir ab und entließ mich endlich in die unergründliche Finsternis des Ozeans in meinem Inneren.[/LEFT] Kapitel 2: Du denkst nicht klar ------------------------------- [LEFT]Es kam mir vor als triebe ich durch warmes Wasser, sanft, behütet, frei von jeder Gefahr, die irgendwo auf dieser Welt lauerte. Mich musste das nicht interessieren, denn ich war kein Teil mehr von dieser, ich befand mich weit außerhalb. Um mich herum existierte nur Finsternis, in der mich ohnehin nichts finden konnte. Ich war sicher, deswegen ohne Angst.[/LEFT] [LEFT]Tief im Inneren glaubte ich zwar zu wissen, dass ich etwas Wichtiges tun musste, aber darüber nachzudenken war zu anstrengend. Ich wollte nur dahintreiben, für immer.[/LEFT] [LEFT]Zeit hatte hier ohnehin keine Bedeutung, also war es vielleicht wirklich eine Ewigkeit her, als sich plötzlich etwas änderte: Leiser Gesang holte mich in der tiefsten Dunkelheit ein. Ich verstand die Worte nicht, aber die Melodie kannte ich genau, schon seit vielen Jahren. Das Singen ging in ein Summen über und wurde dann von einer Stimme unterbrochen: »Was ist das?«[/LEFT] [LEFT]Ich öffnete meine Augen und schwebte nicht länger. Stattdessen saß ich auf einem Sofa in einem gut beleuchteten Raum, in meinen Händen ein geöffnetes Buch, dessen Buchstaben unleserlich waren.[/LEFT] [LEFT]»Hey.«[/LEFT] [LEFT]Ich sah zur Seite. Dort, auf dem anderen Teil des Sofas, saß Soma, der mich mild interessiert musterte. Durch die Brille, die er zum Lesen trug, fokussierte sich das Licht in seinen blauen Augen und ließ sie geradewegs strahlen. Mein Herzschlag echote in meinen Ohren.[/LEFT] [LEFT]»Was hast du da gesummt?«, fragte er.[/LEFT] [LEFT]»Oh.« Ich war das gewesen? »Ich weiß nicht, irgendeine Melodie, die mir in den Kopf gekommen ist. Die höre ich manchmal.«[/LEFT] [LEFT]Er quittierte das mit einem unbestimmten Laut.[/LEFT] [LEFT]»Tut mir leid, falls dich das gestört hat.«[/LEFT] [LEFT]»Nein, es ist okay. Ich war nur irritiert, weil du das noch nie vorher getan hast.«[/LEFT] [LEFT]War ich schon so oft in seinem Zimmer gewesen, um zusammen mit ihm Bücher zu lesen? All meine Erinnerungen und Gedanken flatterten durcheinander und weigerten sich, von mir festgehalten und näher betrachtet zu werden. Deswegen saß wohl plötzlich auch eine schwarzhaarige Frau neben ihm, die mich mild anlächelte – und wir waren auch nicht mehr in seinem Zimmer, sondern in einem nur wenig erleuchteten Raum, mit einem Metalltisch vor uns. Eine Karte mit zahlreichen Markierungen war darauf ausgebreitet, doch sobald ich mich darauf zu konzentrieren versuchte, schien sie sich vor meinen Augen in winzige Insekten aufzulösen, die auseinanderschwirrten. Sie fanden erst wieder zusammen, sobald ich den Blick auch nur ein wenig abwandte. Alles andere an diesem Ort war zu verschwommen, um es zu erkennen, egal, wie sehr ich mich bemühte.[/LEFT] [LEFT]Ich zuckte zusammen, als ein lautes Rauschen erklang, direkt gefolgt von Somas Stimme: »Hey, wach auf!«[/LEFT] [LEFT]Er war wieder in sein Buch vertieft, obwohl er bei den spärlich leuchtenden Lampen nicht sehen dürfte, was er las. Nichts deutete darauf hin, dass er etwas gesagt hatte. Die Frau neben ihm lächelte mir immer noch zu. Sie kam mir so ungemein bekannt vor, doch ich wusste einfach nicht woher.[/LEFT] [LEFT]Das Rauschen wiederholte sich, dann erklang auch Somas Stimme erneut, obwohl der auf dem Sofa sich nicht rührte: »Komm schon!«[/LEFT] [LEFT]Plötzlich löste sich alles vor meinen Augen in kleine Insektenschwärme auf, sie schwirrten auseinander, nahmen die Bilder mit sich und überließen mich wieder der Dunkelheit. Selbst Soma war auf einmal fort, an seiner Stelle blieb nur Leere, die tief in mein Inneres eindrang, mich mit Eiswasser füllte und mir das Atmen erschwerte.[/LEFT] [LEFT]Jemand berührte meine Schulter, ließ mich meinen Körper wieder wahrnehmen, erweckte Schmerzen, die auch eine bestimmte – eine wichtige – Erinnerung zurückzubringen versuchten. Ich musste meine Augen öffnen, um mehr herauszufinden, selbst wenn das bedeutete, dass ich dieses warme Gefühl von zuvor vielleicht nie wieder spüren würde. Außerdem war Soma dort, wo ich auch sein müsste, ich war nicht bereit, ihn zurückzulassen und ihm vielleicht noch mehr Schuldgefühle aufzubürden.[/LEFT] [LEFT]Kaum war mir das durch den Kopf gegangen, begann dieser auch schon zu dröhnen, als wolle er mir seine Existenz ins Gedächtnis rufen. Ich stöhnte leise, worauf jemand neben mir seufzte.[/LEFT] [LEFT]»Hörst du mich endlich?« Somas Stimme.[/LEFT] [LEFT]»Ja.« Mein Mund war trocken, ein saurer Geschmack hatte sich darin ausgebreitet.[/LEFT] [LEFT]»Gut. Ich dachte schon, du willst hier von den Aragami gefressen werden.«[/LEFT] [LEFT]Ich blinzelte mehrmals, ehe ich auch endlich wieder etwas sehen konnte. Soma kniete neben mir. Ich erinnerte mich wieder an die Zähne, die mich fast verschlungen hätten; Somas blaue Jacke musste der Fleck gewesen sein, der sie verjagt hatte – falls dieses Ereignis vor meiner Bewusstlosigkeit wirklich geschehen war.[/LEFT] [LEFT]Weit über mir entdeckte ich ein helles Stück vom Himmel. War ich so tief gestürzt? Der Gedanke hatte etwas Furchteinflößendes, besonders als ich mich daran erinnerte, wie schnell alles geschehen war.[/LEFT] [LEFT]Ich wollte mich aufsetzen, doch da legte Soma eine Hand auf meine Schulter. »Bleib liegen. Du hattest mehr Glück als Verstand – und du bist ein God Eater, so konntest du überleben, aber das bedeutet nicht, dass du unverletzt bist.«[/LEFT] [LEFT]Seine Stimme klang streng, aber besonders in seinen letzten Worten glaubte ich Sorge mitschwingen zu hören.[/LEFT] [LEFT]Ich atmete tief durch und stellte dabei erleichtert fest, dass sich keine Schmerzen in meinem Inneren ausbreiteten.[/LEFT] [LEFT]»Ich hab dir ein paar Gesundheitspillen gegeben, während du bewusstlos warst«, führte er aus. »Aber bleib lieber trotzdem noch ein wenig liegen.«[/LEFT] [LEFT]So sehr wie mein Kopf noch immer dröhnte, hielt ich das auch für besser, deswegen nickte ich – und bereute es sofort, als tausend Messer in meinen Schädel einzudringen schienen. Leise stöhnend hob ich die Hand und griff mir an die Stirn. Warme Flüssigkeit klebte auf meiner Haut. Prima, ich blutete auch noch, als wäre ich bei dieser Mission nicht schon Hindernis genug.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich verdeckten zwei Gestalten einen Teil des Himmels. Ich hörte eine leise Stimme, dann griff Soma an sein Headset. »Ja, sie lebt noch, keine Sorge.«[/LEFT] [LEFT]Er sah auf mich herunter, einen Mundwinkel leicht nach oben gezogen. »Sie ist zäh, sie kommt durch.«[/LEFT] [LEFT]Ich tastete nach meinem eigenen Headset, fand aber nur noch mehr Blut an meinem Ohr und Plastiksplitter, die sich in meine Haut gegraben hatten. Soma fasste mit seiner freien Hand nach meinem Arm, um mich davon abzuhalten, welche herauszuziehen. Er schüttelte mit dem Kopf und sprach derweil weiter zu den anderen: »Kommt nicht runter, der Abstieg ist nicht einfach und wir kommen von hier aus auch nicht mehr raus. Folgt lieber der Straße in westlicher Richtung und sucht nach einem Zugang in die Kanalisation, damit wir hier rauskommen.«[/LEFT] [LEFT]Er lauschte der Antwort, ehe er ein abschließendes »Okay, seid vorsichtig« von sich gab und die Hand wieder vom Headset nahm. Die Gestalten – Alisa und Kota – verschwanden vom Rand des Abgrunds.[/LEFT] [LEFT]Soma wandte sich wieder mir zu. »Dein Headset ist beim Sturz zu Schrott geworden. Deswegen das ganze Blut. Ein paar Splitter habe ich schon entfernen können.«[/LEFT] [LEFT]Und ohne um mein Einverständnis zu bitten, fuhr er auch schon damit fort, weitere Teile aus meiner Haut zu ziehen. Ich spürte davon kaum etwas, da meine bereits vorhandenen Kopfschmerzen alles andere überdeckten. Nur Somas leises Fluchen verriet mir, wie gut – oder schlecht – er vorankam.[/LEFT] [LEFT]»Werden Narben bleiben?«, fragte ich, einfach nur um etwas zu sagen.[/LEFT] [LEFT]Er stieß ein spöttisches Schnauben aus. »Was, wirst du jetzt eitel?«[/LEFT] [LEFT]Ich lachte leise. Dann schwiegen wir beide wieder.[/LEFT] [LEFT]Irgendwo tropfte Wasser, Krallen schabten über Stein, was mich wieder daran erinnerte, in welcher Situation wir uns befanden. »Hast du das Aragami vorhin vertrieben?«[/LEFT] [LEFT]»Ja. Leider ist es abgehauen, bevor ich es töten konnte.«[/LEFT] [LEFT]Also war es wirklich geschehen. Soma war von dort oben heruntergesprungen, um mich zu retten. Ich lächelte unwillkürlich. Glücklicherweise bemerkte er das gar nicht. »Wahrscheinlich treibt es sich hier noch irgendwo herum, deswegen müssen wir dich wieder zusammenflicken.«[/LEFT] [LEFT]»Was ist mit meinem God Arc?«[/LEFT] [LEFT]Er deutete über seine Schulter. »Es liegt da hinten. Sieht okay aus, soweit ich das beurteilen kann, aber du solltest dich trotzdem ein wenig zurückhalten.«[/LEFT] [LEFT]Es gefiel mir nicht, mich vollkommen auf die anderen verlassen zu müssen, aber so wie sich mein Kopf anfühlte wäre ich ohnehin nur ein Hindernis im Kampf, also seufzte ich. »Verstanden.«[/LEFT] [LEFT]Soma beendete den Versuch, alle Splitter zu entfernen und wies mich stattdessen darauf hin, dass ich nach unserer Rückkehr auf jeden Fall die Krankenstation aufsuchen sollte.[/LEFT] [LEFT]»Kannst du jetzt aufstehen?«, fragte er.[/LEFT] [LEFT]»Darf ich, Doktor Soma?«[/LEFT] [LEFT]Er rollte nur mit den Augen und half mir nach oben. Meine Beine fühlten sich noch etwas wackelig, aber abgesehen von meinem Kopf schmerzte nichts mehr, was ein deutlicher Fortschritt war.[/LEFT] [LEFT]Zu meinem eigenen Glück war ich auf dem Schutt der einstürzenden Straße gelandet, statt darunter begraben zu werden. Mein God Arc lag direkt neben dem von Soma, das er in den Beton gerammt hatte, damit er es jederzeit einfach greifen könnte.[/LEFT] [LEFT]Ich hob meine Sense auf und betrachtete sie eingehend. Die weiße und lila Schneide stammte noch von einem Nova-Kern, meine letzte Verbindung mit der kleinen Shio, die sich für diese Welt geopfert hatte – ich wäre untröstlich, sollte der Klinge jemals etwas geschehen. Auch hier hatte ich Glück gehabt, ich entdeckte nur die üblichen kleinen Kratzer und Dellen, die sich bei Missionen automatisch einstellten, und die Licca später wieder würde ausbügeln müssen. Ich beneidete sie nicht darum.[/LEFT] [LEFT]Soma nahm seinen God Arc auch wieder an sich. »Bereit? Wir folgen jetzt dem Kanal und finden hoffentlich einen Ausgang, an dem Alisa und Kota auf uns warten.«[/LEFT] [LEFT]»Was wird aus La Llorona?«[/LEFT] [LEFT]Er zog seine Augenbrauen zusammen. »Du bist nicht in der Lage zu kämpfen, es wäre idiotisch, wenn wir es überhaupt versuchen würden.«[/LEFT] [LEFT]»Hey, bin ich hier nicht der Captain?«[/LEFT] [LEFT]Zur Antwort tippte er mir nur gegen die Stirn, worauf der Kopfschmerz wieder zu explodieren schien. Ich wich keuchend zurück.[/LEFT] [LEFT]»Du denkst nicht klar«, sagte er. »Also übernehme ich vorläufig das Kommando. Danke mir später.«[/LEFT] [LEFT]Widerwillig musste ich einsehen, dass es stimmte. Bevor ich nicht auf der Krankenstation gewesen war und eine längere Pause eingelegt hatte, könnte ich nicht mehr richtig kämpfen. Allein der Versuch könnte tödlich enden.[/LEFT] [LEFT]Deswegen gab ich nach und bat ihn darum, die Vorhut zu übernehmen.[/LEFT] [LEFT]Ich folgte ihm durch einen Kanal, in dem ein klares Wasserrinnsal floss. Früher waren hier zu jeder Sekunde Unmengen von Unrat durchgeflossen, aber ohne Menschen und ohne Regen war dieser Ort fast trocken. Deswegen nutzten Kokonjungfern derartige Wege bestimmt gerne zum Reisen – und La Llorona vermutlich auch.[/LEFT] [LEFT]»Hey, Soma. Was, wenn wir La Llorona begegnen?«[/LEFT] [LEFT]Er sah für seine Antwort nicht einmal über die Schulter. »Dann verhältst du dich möglichst unauffällig, verteidigst dich und lässt mich die Arbeit übernehmen.«[/LEFT] [LEFT]Bei ihm klang das so einfach. Aber ich wusste jetzt schon, dass mir das schwerfallen würde. Wenn ich nun aber-[/LEFT] [LEFT]»Denk nicht einmal daran, deine Schusswaffe zu benutzen«, sagte er, als hätte er wirklich meine Gedanken gelesen. »Wenn auch nur eine meiner Haarsträhnen von dir angesengt wird, trage ich dich für hundert Missionen mit Kanon ein.«[/LEFT] [LEFT]So weit wollte ich es lieber nicht kommen lassen (meine letzte Mission mit Kanon hatte mit einer schweren Verbrennung und viel zu vielen Keksen als Entschuldigung geendet) – und mit einer Sprengwaffe passierte das auch mir leider schnell, darum akzeptierte ich diesen Befehl schweren Herzens. »Okay, ich werde mich nur verteidigen, versprochen.«[/LEFT] [LEFT]Wir verfielen wieder ins Schweigen. Mit jedem Schritt beklagte sich mein Kopf. Ich musste mindestens eine Gehirnerschütterung erlitten haben, wenn nicht vielleicht sogar mehr. Zurück in der Fernost-Abteilung bekäme ich sicher erst einmal eine gehörige Standpauke.[/LEFT] [LEFT]Inzwischen hörte ich immer öfter, wie Krallen irgendwo über Steine kratzten. Das Geräusch jagte mir Schauer über den Rücken, es gab mir das Gefühl, dass jederzeit irgendein Aragami aus der Wand brechen könnte. Doch bislang war noch nichts geschehen, und ich war mit Soma unterwegs, ich vertraute ihm, garantiert würde uns auch weiterhin nichts passieren.[/LEFT] [LEFT]Schließlich mündete der Kanal in einen offenen Raum von dem mehrere Gänge weiterführten. Soma blickte zwischen allen hin und her, aber weder er noch ich fanden einen Hinweis darauf, wo wir zu einem Ausgang kommen könnten.[/LEFT] [LEFT]Er griff wieder an sein Headset. »Hey, könnt ihr mir sagen, wo ihr ungefähr seid?«[/LEFT] [LEFT]Kotas Stimme erklang undeutlich für mich. Während er Soma erklärte, was los war, sah ich mich weiter um. Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich im Halbdunkel Kratzspuren auf dem Boden und den Wänden. Ob hier irgendwann Menschen Zuflucht gesucht hatten, nur um von einer Horde Aragami überrascht zu werden? Ohne einen Ausweg?[/LEFT] [LEFT]Ich atmete tief durch und nahm eine weitere Gesundheitspille, damit die Kopfschmerzen auch endlich nachließen oder zumindest auf ein erträgliches Maß reduziert wurden. Ich müsste doch nur durchhalten, bis wir im Hubschrauber wären, dann könnte ich mich ausruhen.[/LEFT] [LEFT]Ich sah zu Soma, der in der Zwischenzeit versucht hatte, Kota und Alisa zu erklären, wie weit wir gekommen waren.[/LEFT] [LEFT]»Okay«, sagte er gerade. »Geht keinen Umweg, versucht es durch das Gebäude. Vielleicht gibt es dort einen für uns erreichbaren Zugang.«[/LEFT] [LEFT]Nachdem die anderen zugestimmt hatten, senkte er die Hand und bedeutete mir, ihm wieder zu folgen. Er betrat einen Kanal, in dem sich die wenigsten Spuren von Aragami finden ließen, was hoffentlich ein gutes Zeichen war.[/LEFT] [LEFT]»Die anderen haben also auch noch keine Aragami gefunden?«[/LEFT] [LEFT]»Nein. Aber das wundert mich inzwischen nicht mehr. La Lloronas Orakelzellen scheinen andere Aragami abzustoßen.«[/LEFT] [LEFT]Während ich bewusstlos gewesen war, musste er sich einiges an Gedanken gemacht haben, schon allein, weil er ihr auch kurz im Kampf begegnet war.[/LEFT] [LEFT]»Ich hatte ziemliche Probleme damit, sie anzugreifen, weil sogar mein God Arc sich gesträubt hat, Kontakt mit ihr herzustellen.«[/LEFT] [LEFT]Das war sicher noch ein Grund, warum er die Mission beenden wollte. Bei einem solchen Fall bräuchten wir erst eine neue Strategie. Mir fiel dabei jedoch noch etwas ganz anderes ein: »Würde das nicht bedeuten, dass wir einen noch effektiveren Schutz gegen Aragami entwickeln könnten, wenn wir nur ihren Kern bekämen?«[/LEFT] [LEFT]»Ja, wahrscheinlich.«[/LEFT] [LEFT]»Und wenn sie hier verschwindet, finden wir sie vielleicht nie wieder!«[/LEFT] [LEFT]Soma seufzte schwer. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass du das vergessen sollst. Wir werden nicht gegen sie kämpfen, solange es sich vermeiden lässt!«[/LEFT] [LEFT]Mein Kopf schien absolut nichts von den bisherigen Pillen mitbekommen zu haben, jeder Schritt war wie ein Hammer auf meinen Schädel. Natürlich hatte Soma recht, dass ich in diesem Zustand nicht kämpfen könnte, doch dieser Kern wäre so wichtig für die gesamte Menschheit. Konnte ich wirklich zulassen, dass mein Kopf mir da einen Strich durch die Rechnung machte?[/LEFT] [LEFT]Doch noch während ich darüber nachdachte, wie ich Soma davon überzeugen konnte, etwas Unvernünftiges zu tun, kam mir die Gier eines Aragamis zu Hilfe: Etwas brach hinter uns durch die Wand. Es stieß ein lautes Heulen aus, das wirklich fast wie das Weinen einer Frau klang.[/LEFT] [LEFT]Ich warf einen Blick über die Schulter. La Llorona erinnerte mich an eine Mischung aus einem Sariel und einem Chi You, dessen Mutter ein Prithvi Mata gewesen war. Letztere hatte den mit dunklem Fell versehenen Unterkörper mit den kräftigen vier Pranken gestellt, dazu die sechs blauen Bänder, die sich um den blassen weiblichen Oberkörper eines Sariel wanden, das Haar bestand aus einer smaragdgrünen Federpracht – und dann war da noch das Gesicht, das aussah als hätte sie die Hände vor ihre Augen geschlagen, während sie unablässig weinte. Doch während bei einem Chi You die Arme vor der Brust verschmolzen, waren es bei La Llorona die Hände, die eins mit ihrem Gesicht waren. Meine Frage, wie es sehen konnte, erübrigte sich, als sich auf dem Brustbein des Aragami ein einzelnes großes – komplett goldenes – Auge öffnete und sich auf uns fokussierte.[/LEFT] [LEFT]Noch nie hatte ich ein derart komplexes und irgendwie hübsches Aragami gesehen. Venus war eher ekelhaft gewesen, wie ein Wesen aus einem alten Horrorfilm, aber das hier … das war faszinierend. Soma schien es ähnlich zu gehen, denn außer seinem und meinem angespannten Atmen konnte ich nichts hören.[/LEFT] [LEFT]Sie stieß ein lautes Heulen aus. Zwei fellige mit Pranken bewehrte Arme lösten sich von ihrem Unterkörper, bereit, uns zu zerfetzen. Das riss uns beide aus unserer Trance.[/LEFT] [LEFT]»Lauf!«, kam es von Soma, als ich mich schon längst in Bewegung gesetzt hatte.[/LEFT] [LEFT]La Llorona galoppierte hinter uns her, begleitet von einem stetigen Schluchzen, während ihr Oberkörper mühelos eine Furche durch die niedrige Decke des Kanals zog.[/LEFT] [LEFT]Adrenalin pumpte durch meine Adern, verdrängte meine Kopfschmerzen, gab mir nur ein Ziel: Raus, raus, raus, raus, raus, raus, raus, raus, raus![/LEFT] [LEFT]Soma lief neben mir, sah immer wieder über seine Schulter und wehrte vereinzelte Angriffe ab. La Llorona quittierte dies stets mit einem seltsam freudigen Heulen.[/LEFT] [LEFT]Meine Beine schienen bei jedem Schritt mehr zu versteifen und zu schmerzen, als wollten sie mir das Leben schwer machen, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Wir mussten nur aus dieser Enge raus, nur raus raus raus raus raus raus![/LEFT] [LEFT]Kaum entließ uns der Kanal wieder in einen offenen Raum, preschten Soma und ich auseinander, er nach links, ich nach rechts. La Llorona bremste ab. Ihre Krallen hinterließen tiefe Gräben auf dem Boden. Ihr Schwanz peitschte mir entgegen – und traf mit voller Wucht auf mein rechtzeitig erhobenes Schild. Meine Arme fühlten sich augenblicklich kraftlos, meine Beine wollten unter mir nachgeben, mein Kopf explodierte regelrecht vor Schmerzen.[/LEFT] [LEFT]Ich verstand, was Soma gemeint hatte. Selbst der kurze Kontakt mit dem Schweif hatte ausgereicht, um mein God Arc vor Furcht erzittern zu lassen. Vielleicht gab es ja doch Aragami, die auf andere Artgenossen so angsteinflößend wirkten, wie Geister auf Menschen.[/LEFT] [LEFT]»Hey!«, rief Soma von der anderen Seite des Raums. »Kämpf gefälligst gegen mich!«[/LEFT] [LEFT]Er schwang seine Klinge gegen das Monster, riss dessen Fleisch auf, dass das Blut spritzte. Mit einem wütenden Hieb wandte La Llorona sich ihm zu, er wich dem Angriff aus und zerschnitt einen der Arme des Aragami, der gleich darauf wieder nach ihm schlug.[/LEFT] [LEFT]So wie sie sich bewegten, sich gegenseitig angriffen und dem anderen auswichen, wie immer wieder Blut spritzte, wirkte es mehr wie ein eleganter Tanz mit roten Tüchern, statt wie ein Kampf. Lediglich Somas Wuchtklinge schien vollkommen fehl am Platz zu sein.[/LEFT] [LEFT]Ich nutzte die Gelegenheit und wich bis an die Wand zurück. Um nicht überrascht zu werden, wandte ich den Blick immer nur kurz vom Geschehen ab, stellte sicher, dass La Llorona noch immer auf Soma konzentriert war, suchte nach einem Ausweg – und dann entdeckte ich Metallsprossen, die an der Wand befestigt waren. Ich lief hinüber, ohne mein Schild zu senken, den Rücken weiterhin zur Wand.[/LEFT] [LEFT]An der Leiter angekommen hob ich den Blick. Einige hundert Meter über mir war ein Abflussgitter angebracht, und genau in diesem Moment beugte jemand sich darüber. Auf die Entfernung konnte ich nicht erkennen, wer es war, aber zu viele Leute trieben sich hier bestimmt nicht herum. Ich hob eine Hand. »Alisa! Kota! Wir haben La Llorona!«[/LEFT] [LEFT]Ich hoffte, sie hatten mich verstanden, denn meine Aufmerksamkeit wurde sofort wieder von dem Aragami in Beschlag genommen, als es plötzlich herumfuhr. Mein gesamtes God Arc vibrierte, als eine der Pranken zum zweiten Mal mein Schild traf. Vor Anstrengung presste ich meine Zähne derart fest aufeinander, dass meine Kiefer schmerzten und mein Schädel aufzureißen drohte.[/LEFT] [LEFT]Das einzelne Auge war nun vor mir, starrte mich an, als versuche es in meine Seele zu blicken. Ich reflektierte mich darin, ich sah mein blutverschmiertes Gesicht, wie schwer ich atmete, wie ich den God Arc schützend vor mich hielt, ihn aber immer weiter sinken ließ. Je länger ich mich selbst betrachtete, desto schwerer wurden meine Arme, desto dumpfer die Geräusche um mich herum. Alles, was ich noch hörte, war wieder der Gesang in meinem Inneren, von einer Stimme, die ich nicht kannte, mit Worten, die ich nicht verstand. Auch die Wärme von zuvor kehrte zurück, versuchte mich einzulullen. Und dann war da plötzlich noch etwas anderes, liebevoll, vertraut und doch konnte ich es nirgends einordnen: »Ich bin sicher, dass du erfolgreich zurückkehren wirst – und falls nicht, bin ich dennoch stolz, dass du diese Mission übernommen hast.«[/LEFT] [LEFT]Ich verstand es nicht, aber ich konnte auch nicht darüber nachdenken. Mein gesamtes Wesen verlangte danach, ein Teil von La Llorona zu werden, diese Orakelzellen mit meinen zu vermengen und nie wieder allein zu sein, mir niemals mehr Sorgen zu machen. Es war mir so nah, ich müsste nur meinen Arm ausstrecken, um von diesen wunderschönen, rasiermesserscharfen Zähnen verschlungen zu werden und meinen Wunsch zu erfüllen. So, wie es sein müsste. Für immer.[/LEFT] [LEFT]Somas Fluchen zerriss den Schleier meiner Gedanken schlagartig. Sofort senkte ich meinen Arm, La Lloronas Zähne fingen nur Luft ein. Ich wich an die Wand zurück und hob meinen Schild wieder. Im selben Moment knallte ein Schuss. Mit einem dumpfen Geräusch zerplatzte das Auge vor mir in gelbliche Flüssigkeit. La Llorona schrie auf und taumelte rückwärts, ihr gesamter Körper bebte vor Zorn und Schmerz.[/LEFT] [LEFT]Alisa und Kota landeten plötzlich neben mir auf dem Boden. Er legte sofort wieder mit seinem Gewehr an, während Soma hinter dem Aragami gerade dessen Schweif zu brechen versuchte.[/LEFT] [LEFT]»Alles okay?«, fragte Alisa mich, so besorgt wie noch nie zuvor, wenn es um mich gegangen war.[/LEFT] [LEFT]Ich nickte rasch, damit sie sich gemeinsam mit Soma um den Kampf kümmern könnte. Wenn ich schon nichts tun konnte, wollte ich nicht auch noch im Weg stehen.[/LEFT] [LEFT]Sie lächelte, dann wandte sie sich ab und stürzte sich ebenfalls in die Schlacht.[/LEFT] [LEFT]Inzwischen schossen um La Llorona Eiszapfen aus dem Boden, um meine Kameraden im Schach zu halten, doch sie hielten jeweils nur einen Schlag von Soma und Alisa aus, ehe sie zersprangen. Kota konzentrierte sich derweil darauf, zu schießen, wann immer sich ihm eine Öffnung bot.[/LEFT] [LEFT]La Lloronas Schweif peitschte auf den Boden, erzeugte Eiskristalle, denen Soma geschickt auswich, ehe er wieder angriff. Diesmal traf er nur eines der gepanzerten Hinterbeine, Funken sprühten, während die Klinge daran entlangfuhr.[/LEFT] [LEFT]Alisa duckte sich derweil unter den angreifenden Klauen hinweg und rammte ihr Langschwert in den Unterleib des Aragami. Dann verwandelte sie die Waffe in ihr Sturmgewehr und feuerte mehrere Salven in den Körper ab. La Llorona heulte auf und schlug Alisa samt God Arc beiseite. Erleichtert sah ich Alisa auf ihren Füßen landen und direkt zu einem weiteren Angriff vorpreschen.[/LEFT] [LEFT]»Er regeneriert sich ziemlich schnell«, bemerkte Kota neben mir.[/LEFT] [LEFT]Tatsächlich trafen seine Kugeln immer wieder Teile des Oberkörpers und rissen Orakelzellen davon, jedoch wurden sie auch sofort wieder durch neue ersetzt. Selbst das geplatzte Auge war gerade im Begriff, sich wieder neu aufzubauen. Die Zellen fanden sich zusammen, bewegten sich, versuchten die alte Funktionsweise zu erfassen und nachzubilden und zwischendrin entdeckte ich einen blauen kristallähnlichen Gegenstand – den Kern des Aragami.[/LEFT] [LEFT]Ich stand zu weit weg, um ihn zu verschlingen, und La Llorona griff jeden an, der ihr zu nahe kam. Noch dazu vervollständigte sich das Auge in diesem Moment auch wieder, so dass es noch schwerer werden dürfte, an den Kern zu kommen, solange sie lebte – und bei der Geschwindigkeit ihrer Regeneration und meiner Kampfunfähigkeit war ich mir nicht sicher, ob es zu schaffen wäre. Ich ging davon aus, dass Soma lediglich darauf baute, dass sie bald wieder genug davon hatte und von selbst verschwand, damit wir uns zurückziehen könnten. Aber der Kern war so nah und er war mir zu wichtig, um ohne ihn zu gehen.[/LEFT] [LEFT]Das Auge glühte hell, als es sich auf Alisa konzentrierte, die gerade unablässig auf einen der Arme einschlug. Die Erinnerung an die Zähne, die fast meinen Arm abgetrennt hätten, ließ mich schaudern – und handeln: »Alisa! Sieh ihr nicht ins Auge, sie versucht, dich zu hypnotisieren!«[/LEFT] [LEFT]Alisa nickte mir kurz über die Schulter hinweg zu und begab sich mit einem Sprung auf La Lloronas Seite, um sie von dort anzugreifen. Kota deckte sie dabei, indem er einen Schuss auf den linken Arm des Aragami abgab. Danach schoss er auf das Auge – doch eines der blauen Tücher schleuderte die Kugel einfach gegen die Wand, wo sie ein Loch hineinriss.[/LEFT] [LEFT]»Was tun wir jetzt?«, fragte Kota.[/LEFT] [LEFT]Das fragte ich mich auch. Ich griff mit einer Hand in meine Tasche, in der ich mehrere Pillen erfühlen konnte – und auch etwas, an das ich hätte früher denken können! Ich fluchte innerlich über mich selbst und zog die Paralysegranate hervor.[/LEFT] [LEFT]»Kota«, sagte ich ernst, »versuch noch einmal das Auge zu treffen, wenn es geblendet ist.«[/LEFT] [LEFT]Nachdem er genickt hatte, entfernte ich den Ring der Granate und warf sie direkt vor La Llorona. Mit einer fast schon niedlichen Neugierde blickte sie darauf hinunter – dann explodierte das Geschoss in einem blendenden Licht. La Llorona zuckte zusammen und verharrte regungslos, das Auge flimmerte nervös, und zerplatzte eine Sekunde später dank Kota noch einmal. Vier der blauen Bänder reagierten, als ahnten sie die Gefahr, und legten sich schützend vor den entblößten Kern. Aber das beeindruckte mich nicht einmal im Mindesten.[/LEFT] [LEFT]»Soma, Alisa! Verschlingt die Bänder und zieht sie auseinander!«[/LEFT] [LEFT]Sie hinterfragten nicht, sondern handelten, so wie ich gehofft hatte, denn uns blieb nicht viel Zeit, bis der Effekt nachließ. Ein weißes Aragami schoss aus Somas God Arc, ein schwarzes aus dem von Alisa. Beide verbissen sich jeweils in zwei dieser Hindernisse, dann zogen Soma und Alisa an ihren Waffen und legten mit etwas Anstrengung den Kern frei.[/LEFT] [LEFT]Ich stellte mich in Position und ließ auch das Aragami meines God Arcs hervorbrechen. »Gib mir Deckung, Kota!«[/LEFT] [LEFT]Ohne jede Bestätigung preschte ich zum Verschlingen vor. Die letzten zwei Bänder lösten sich von La Lloranas Brüsten, kamen mir entgegen – doch sofort folgten zwei Schüsse, die sie zurückwarfen.[/LEFT] [LEFT]Ich nutzte die Chance und stieß den God Arc vor. Mein Aragami überwand die letzte Distanz, ignorierte die Orakelzellen, die das Auge bereits neu bilden wollten, und schloss seine Zähne erfolgreich um den Kern, ohne diesen zu beschädigen. Mein Innerstes jubilierte, La Lloronas Körper wand sich im qualvollen Todeskampf, während mein Aragami den Kern zu lösen versuchte – und mein Schädel schien wieder bersten zu wollen, sogar meine Kopfhaut war inzwischen zum Zerreißen gespannt. Aber diese Strafpredigt von Sakaki für meinen Zustand wäre es mir wert. Ich würde diesen Kern als neue Hoffnung für die Menschheit zurückbringen.[/LEFT] [LEFT]Mit diesem Entschluss zog ich mit aller mir noch zur Verfügung stehenden Kraft an meinem God Arc – und riss damit den Kern heraus.[/LEFT] [LEFT]Ich sprang sofort zurück, Soma und Alisa ließen die Bänder schwer atmend wieder los. La Llorona sank überraschend stilvoll zu Boden, mit einem letzten Seufzen neigte sich ihr Oberkörper nach vorne, dann war sie vollkommen still. Die anderen drei behielten sie dennoch im Auge, ohne ihre Anspannung auch nur im Mindesten zu verlieren. Mein Aragami zog sich mit dem Kern ins Innere des God Arcs zurück, mein gesamter Körper schrie vor Erschöpfung.[/LEFT] [LEFT]Erst als die Orakelzellen in Ermangelung eines Kerns, um den sie sich formieren konnte, anfingen sich aufzulösen und das Wesen seine Form verlor, atmeten sie alle auf und ließen die Waffen sinken.[/LEFT] [LEFT]Soma stieg über eines der Beine des Wesens und kam direkt auf mich zu – mit einem derart finsteren Gesichtsausdruck, wie ich ihn seit unserer ersten Begegnung nicht mehr gesehen hatte. Ich drückte meinen Rücken durch, selbst wenn ich mich lieber sofort hingelegt hätte.[/LEFT] [LEFT]»Bist du jetzt stolz auf dich?«, fragte er.[/LEFT] [LEFT]»Weil wir La Llorona besiegt und den Kern erlangt haben?«, erwiderte ich verwirrt.[/LEFT] [LEFT]Er schüttelte mit dem Kopf. »Wenn du schon eine Granate hattest, hättest du sie am Anfang werfen und verschwinden können, statt dich weiter in Gefahr zu begeben! Willst du unbedingt gefressen werden?!«[/LEFT] [LEFT]Er ließ mich nicht erklären, dass ich das vollkommen vergessen hatte, sondern stieg als erstes die Sprossen nach oben. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihm so traurig wie ein Hundewelpe nachsah, aber er wandte mir nicht einmal mehr den Blick zu, um das zu erkennen.[/LEFT] [LEFT]»Also«, begann Kota, »ich weiß ja nicht, was zwischen euch passiert ist, aber so wie du aussiehst, macht er sich vermutlich einfach nur Sorgen um dich.«[/LEFT] [LEFT]Unwillkürlich griff ich mir ans Gesicht. Inzwischen war mehr Blut dazugekommen, die Stellen, an denen das Plastik zuvor gesteckt hatte, fühlten sich außerdem heiß und geschwollen an. Es war schon schrecklich zu spüren, und so wie Alisa und Kota mich ansahen, war es auch kein sonderlich schöner Anblick. Ich nahm mir vor, mich später bei Soma zu entschuldigen, ohne jede Rechtfertigung diesmal.[/LEFT] [LEFT]»Wir sollten auch zurück«, sagte Alisa. »Irgendwann gibt es hier bestimmt wieder mehr Aragami, wenn La Llorona jetzt weg ist.«[/LEFT] [LEFT]Und denen wollte keiner von uns zum Opfer fallen, deswegen folgten wir Alisas Vorschlag und machten uns ebenfalls an das Erklimmen der Leiter, hoffend, dass Soma bereits Hibari verständigt hatte, uns den Hubschrauber zu senden.[/LEFT] [LEFT] [/LEFT] [LEFT]Der Weg zum vereinbarten Abholort war schwerer gewesen als gedacht. Nachdem das Adrenalin in meinem Körper abgebaut worden war, fühlte ich mich nur noch schwer und müde, noch mehr als direkt nach dem Kampf. Ich hatte unterwegs sogar noch ein paar Gesundheitspillen eingeworfen, aber das hatte nur noch wenig gegen meine Kopfschmerzen ausrichten können oder gegen das dumpfe Drücken in meinem Rücken, das mich noch einmal an den Sturz erinnern wollte.[/LEFT] [LEFT]Soma sprach den ganzen Weg über nicht mit mir, Alisa und Kota trauten sich ob der angespannten Lage auch nicht, etwas zu sagen. Außerdem waren sie nach diesem Kampf vermutlich auch erschöpft, was ich durchaus verstehen konnte.[/LEFT] [LEFT]Als der Hubschrauber endlich kam, stieg ich ein und ließ mich sofort auf die nächste Sitzbank sinken. Ich gab mir noch Mühe, mein God Arc behutsam neben mir zu verstauen, dann schloss ich die Augen, weil ich nur noch schlafen wollte.[/LEFT] [LEFT]Doch kaum waren wir in die Luft gestiegen, griff jemand nach meiner rechten Schulter, gefolgt von einer leisen Stimme: »Hey.«[/LEFT] [LEFT]Ich blinzelte mehrmals, nur um sicherzugehen, aber neben mir saß tatsächlich Soma. Kota und Alisa saßen auf der Bank uns gegenüber und waren scheinbar in ein anregendes Gespräch vertieft.[/LEFT] [LEFT]»Hey«, grüßte ich zurück. Eigentlich wollte ich mich ja entschuldigen, aber meine Zunge fühlte sich zu schwer und meine Gedanken schienen in Melasse eingeschlossen.[/LEFT] [LEFT]»Ich nehme keines meiner Worte zurück«, sagte er. »Du hast dich heute wirklich in Gefahr gebracht – und damit auch dein Team. Gerade du als Captain solltest wissen, dass es so nicht sein darf.«[/LEFT] [LEFT]Natürlich wusste ich das. Schließlich war ich, dank Ren, diejenige gewesen, die Lindow seine neueste Regel beigebracht hatte: Lauf nicht vor dem Leben davon.[/LEFT] [LEFT]Er hatte recht, ich war zu nachlässig gewesen. Und ich konnte das nicht nur auf den anfänglichen Mangel an Feinden schieben. Genauso wie ich nicht meine Emotionen verantwortlich machen durfte. Als Captain der Ersten Einheit musste ich gerade über so etwas stehen, um vernünftige Entscheidungen zu treffen, selbst wenn ich damit riskierte, einen seltenen Kern nicht zu erhalten.[/LEFT] [LEFT]»Und erinnere dich daran, wie du mit mir gesprochen hast, als ich das letzte Mal auf der Krankenstation gelegen habe«, fuhr er fort. »Du kannst dich nicht einfach darüber hinwegsetzen, nur weil du Captain bist.«[/LEFT] [LEFT]Ich nickte, nur ein wenig, um nicht zu riskieren, dass mein Kopf explodierte. »Du hast recht.«[/LEFT] [LEFT]Das schien ihn einigermaßen zufrieden zu stellen, denn er hob einen Mundwinkel an. Aber ganz am Ende war er noch nicht: »Ich will, dass du mir etwas versprichst.«[/LEFT] [LEFT]Er sah mich wieder so ernst an wie zuvor, aber diesmal sah ich so etwas wie Besorgnis in seinen Augen glitzern. In seinen wunderschönen blauen Augen, die mich jederzeit hypnotisieren dürften, selbst wenn er mich danach fressen wollte.[/LEFT] [LEFT]»Wenn wir wieder einmal in so eine Situation geraten, dann hältst du dich an deinen eigenen Ratschlag und wirst kein Aragami-Futter. Lauf nicht vor dem Leben davon. Du bist für uns alle wichtig – und sehr viele Leute wären unglücklich, wenn du nicht mehr da wärst.«[/LEFT] [LEFT]Ich war so müde, dass ich mich nicht von meiner Frage abhalten konnte: »Du auch?«[/LEFT] [LEFT]»Darum geht es nicht«, erwiderte er ausweichend. »Versprich es mir einfach, okay?«[/LEFT] [LEFT]»Natürlich«, murmelte ich. »Alles, was du willst, Soma.«[/LEFT] [LEFT]Ehe ich es verhindern konnte, sank mein Kopf bereits auf seine Schulter. Er schob mich nicht beiseite, sondern seufzte nur leise. »Man hat wirklich nichts als Ärger mit dir.«[/LEFT] [LEFT]»Mh-hm. Aber weißt du, deine Augen sind viel toller als das eine von La Llorona.«[/LEFT] [LEFT]»W-was?«[/LEFT] [LEFT]»Ich liebe deine Augen«, sagte ich, während ich meine eigenen schloss. »Das sind die schönsten Augen auf der ganzen, weiten Welt.«[/LEFT] [LEFT]»Du hast wirklich Fieber.«[/LEFT] [LEFT]Zur Erwiderung summte ich nur leise diese Melodie, deren Ursprung ich nicht kannte, dem ich vielleicht aber irgendwann einmal nachgehen sollte. Aber nicht an diesem Tag, an dem ich friedlich in die Wärme abdriftete, die Soma ausstrahlte und die auch um so vieles angenehmer war als jene, die ich zuvor aufgrund der Hypnose gespürt hatte. Für nun war alles gut – und ich würde mich an alles halten, was er wollte, wenn ich so nur dafür sorgen könnte, dass es für immer so blieb.[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)