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Smallville-Expanded - 09

Legerdemain
von

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PROLOG

„Dass Alicia ausgerechnet jetzt die Windpocken bekommen musste ist mehr als ärgerlich“, grummelte Christian von Falkenhayn und sah seine Begleiterin mit einem finsteren Blick an. Gemeinsam fuhren er und Samantha Collins in der schwarzen Limousine, die mittlerweile standesgemäß zu seinem Fuhrpark gehörte, in Richtung des Opernhauses von Metropolis, wo heute Abend ein Benefiz-Konzert zugunsten Krebskranker Kinder gegeben wurde. Er selbst hatte es initiiert und finanziert, und natürlich erwarteten die Veranstalter, dass er zu dem Konzert erschien.

Im schwarzen Abendanzug saß er mit Samantha im Font der Limousine. Dabei musterte er die junge Frau an seiner Seite gelegentlich. Sie trug ein marineblaues, ärmelloses Abendkleid, mit farblich passenden Handschuhen die beinahe bis zu den Ellenbogen reichten. Er selbst hatte es für sie gekauft. Doch es war Alicia, mit der er eigentlich heute zu diesem Konzert hatte fahren wollen.

Dieses gelegentliche Mustern fiel zu Christians Zufriedenheit aus. Samantha hatte sich dezent geschminkt, so wie es ihre Art war, und sie sah in der Robe beeindruckend aus. Dabei harmonierten ihre blonden Haare mit der Farbe des Kleides wunderbar.

Für einen Moment sinnierte Christian über eine Frage, die ihm Alicia vor Jahren einmal gestellt hatte. Nämlich ob er mit Samantha zusammen wäre, wenn er sie anstatt ihrer aus der alten Gießerei gerettet hätte. Er hatte das damals rundheraus verneint, doch inzwischen war er sich in dieser Hinsicht nicht mehr ganz so sicher. Je länger sie sich kannten desto bessere Freunde waren sie inzwischen geworden. Dabei war sich Christian seiner Gefühle für Alicia jedoch ganz sicher.

Alicia selbst hatte ihm vorgeschlagen mit Samantha zu dem Konzert zu gehen. Im Anschluss des Konzertes fand der eigentliche Spendenball statt und es wäre unpassend gewesen, wäre der Initiator der Veranstaltung ohne Begleitung erschienen. Obwohl Christian seine Freundin darauf vorbereitet hatte, dass die Presse einige Kommentare dazu schreiben würde, wenn er statt mit ihrer mit Samantha zu dieser Veranstaltung gehen würde.

„Ich hatte wirklich angenommen, dass Alicia diese Kinderkrankheit nie bekommen würde“, rissen Samanthas Worte Christian aus seinen Überlegungen. „Als ich sie mit zehn Jahren bekam da hatten wir damit gerechnet, dass Alicia sie auch bald bekommen würde. Doch das passierte nicht. Sieht sie immer noch so geküsst aus?“

„Ich sage nur: Streuselkuchen“, spöttelte Christian. „Sie ist zwar nicht mehr ansteckend, wie ihre Mom mir versicherte, doch in dem Zustand konnte sie nicht mit.“

„Na, wenn ihr in drei Wochen nach Deutschland fliegt dann wird sie wieder fit sein. Kein Grund also so betrübt drein zu blicken.“

Christians Miene heiterte sich wieder auf. „Du sagst es. Ich werde meine kleine Schwester zum ersten Mal leibhaftig sehen und auf dem Arm halten können. Paps und Christina bombardieren meinen Mail-Account zwar mit Bildern von ihr zu doch das ist nicht Dasselbe. Ich bin schon ganz hibbelig.“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen.“

Mit etwas veränderter Stimme erkundigte sich Christian nach einem Moment: „Was sagt eigentlich Neil dazu, dass du mich zu dem Kontert begleitest? Ich hoffe, du hast ihn ebenfalls vorgewarnt, in Bezug darauf was die Regenbogenpresse schreiben wird, weil ich mit dir und nicht mit Alicia dort erscheinen werde. Die werden uns nämlich tatsächlich zum neuen Traumpaar hochstilisieren. In dieser Hinsicht habe ich nicht übertrieben.“

Samantha lachte verzweifelt. „Oh ja. Neil war zwar gar nicht erbaut über dieses kleine Detail, doch er kennt dich ja. Außerdem kennt er die Wahrheit. Ist kein Problem.“

Christian atmete erleichtert auf: „Ich will auf keinen Fall Unruhe in eure Beziehung bringen. Darum habe ich vorher darauf hingewiesen.“

Samantha legte lächelnd ihre Linke auf seinen Unterarm. „Das wissen wir doch. Mach dir deswegen keine Gedanken. Damit werden wir fertig.“

Christian nickte dankbar und erst nach einem langen Moment nahm Samantha ihre Hand wieder von seinem Unterarm.

Endlich erreichte der Wagen sein Ziel. Der Schlag des Wagens wurde von einem Bediensteten des Opernhauses geöffnet und bedachtsam verließ Samantha den Font der Limousine. Gefolgt von Christian, der ihr seinen Arm anbot.

Das Blitzlichtgewitter der Fotoapparate der Paparazzi, auf dem Weg zum Eingang des Opernhauses, ließ sie kaum etwas erkennen. Erst im Innern der Oper ließ der Trubel nach und erleichtert sagte Samantha zu Christian: „Das ist ja unglaublich. Wenn ich daran denke, dass Filmsternchen so etwas permanent mitmachen, dann verstehe ich jetzt warum so viele von denen sich in Alkohol und Drogen flüchten. Das ist doch Wahnsinn.“

„Da sagst du was“, stimmte ihr Christian zu und sah sich in der Menge der bereits anwesenden Ehrengäste um. „Nur gut, dass ich das ausschließlich bei solchen besonderen Anlässen über mich ergehen lassen muss. In solchen Momenten denke ich einfach daran, dass es einem guten Zweck dient. Da sind solche Aasgeier ein notwendiges Übel.“

Sie wurden abgelenkt, als der Leiter des Opernhauses durch die Menge zu ihnen trat und erfreut sagte: „Guten Abend, Mister Von Falkenhayn und Miss Collins. Ich bin Frank Perkins. Ich freue mich sehr über Ihr Hiersein.“

„Die Freude ist ganz auf unserer Seite“, antwortete Christian galant. „Wir freuen uns bereits sehr auf das Konzert.“

„Darf ich Sie zu ihrer Loge begleiten?“

Christian nickte dezent. „Natürlich, Mister Perkins.“

Der etwa Fünfzigjährige ging voraus Christian und Samantha folgten ihm gemessenen Schrittes, wobei ihm Samantha heiser zuflüsterte: „Ich komme mir gerade wie eine große Dame vor. Das ist beinahe unheimlich.“

„Ich passe auf dich auf“, raunte Christian belustigt zurück.

Als sie in der Loge endlich wieder unter sich waren, meinte Samantha, wieder etwas ruhiger: „Ich weiß nicht, aber das ist nicht meine Welt, Chris. Ich komme mir irgendwie deplatziert vor.“

„Das wäre nicht der Fall, wenn du zwischendurch einmal in einen Spiegel gesehen hättest“, konterte Christian ernsthaft. „Falls es dir nicht bewusst sein sollte: Du siehst auch so aus, wie eine große Dame. In einem kostbaren Kleid, das dir wirklich fabelhaft steht, und wunderschön. An der Seite eines sehr reichen Mannes. Keinesfalls deplatziert. Also genieße den Abend und denke nicht zu viel darüber nach.“

Samantha nickte schließlich „In Ordnung, ich versuche es.“
 

* * *
 

Samantha genoss das Konzert in vollen Zügen und als sie sich schließlich, gemeinsam mit Christian, zum Applaus erhob, da standen ihr Tränen in den Augen. Begeistert sah sie zu Christian und sagte: „Du hattest Recht. Die Musik war wunderschön und ich habe es genossen. Sehr sogar.“

Christian erlaubte sich ein Schmunzeln und erkundigte sich ironisch: „Dann steht die Verabredung zum nächsten Konzert also?“

Samantha lachte hell auf. „Nein, dazu wirst du dann gefälligst Alicia mitnehmen. Aber ich bin mir sicher, dass ich demnächst auch mal Neil mit in die Oper schleifen werde.“

„Der wird sich freuen“, schmunzelte Christian vergnügt. Damit reichte er seiner Begleiterin seinen rechten Arm und verbeugte sich leicht. „Darf ich bitten?“

Samantha legte die linke Hand auf den Arm ihres Begleiters. Gemeinsam schritten sie die Treppen zum Ballsaal hinunter in dem bereits ein lebhaftes Kommen und Gehen herrschte. Zu Samanthas Überraschung schritt Christian mit ihr direkt auf die Tanzfläche, wobei er unterdrückt raunte: „Ich hoffe, du hast fleißig geübt.“

„Pass du nur mit deinen Quadratlatschen auf“, konterte Samantha betont grob. „Wenn du mir auf die Füße trittst, dann kann ich für Nichts garantieren.“

Ein leises Lachen war die Antwort des Blonden. Gekonnt führte er Samantha beim Tanz, wobei er ihre erstaunte Miene kaum zur Kenntnis nahm. Natürlich konnte er tanzen, das war bei der gesellschaftlichen Stellung seiner Familie unerlässlich.

Nach zwanzig Minuten bat Samantha dennoch um eine Pause. Nicht weil ihr das Tanzen keinen Spaß gemacht hätte, sondern eher, weil es ihr ausgesprochen Spaß machte.

Christian machte sich mit ihr auf den Weg zur Bar. Unterwegs wurde er unerwartet angesprochen. Der Mann war schwarzhaarig und von athletischer Statur. Es dauerte einen Moment bis Christian ihn wiedererkannte und erfreut feststellte: „Bruce Wayne, wenn ich mich nicht irre. Ich freue mich, dass du der Einladung gefolgt bist.“

„Das lasse ich mir doch nicht entgehen“, gab Bruce Wayne zurück. „Zumal es um einen guten Zweck geht. Wer ist übrigens deine zauberhafte Begleiterin?“

Christian wandte sich zu Samantha und erklärte: „Darf ich vorstellen: Bruce Wayne, Multimilliardär und CEO von Wayne-Enterprises. Bruce – das ist Samantha Collins, die beste Freundin meiner Freundin.“

Bruce Wayne wandte sich Samantha zu. „Sehr angenehm. Ich darf doch Samantha sagen?“ Gleichzeitig führte er die behandschuhte Hand der jungen Frau zu sich heran und hauchte einen Kuss auf ihre Finger.

Während Samantha auf seine Frage hin zustimmend nickte und den Mann interessiert ansah, wandte sich Wayne an ihren Begleiter und meinte grinsend: „Du hast deine Freundin wieder nicht dabei? So langsam halte ich die Dame für einen Mythos.“

„Diesmal sind die Windpocken daran schuld. Aber woher…?“

„Oliver Queen. Wer sonst?“

„Richtig. Ich ahnte nur nicht, dass Alicia und ich bereits einmal das Gesprächsthema zwischen dir und Oliver gewesen sind.“

„Nun ja, du hast mir damals eine Eroberung vermasselt, als du mit der Rothaarigen zusammengestoßen bist und aus dem Ungeschick erstaunlich schnell noch etwas gemacht hast“, erklärte Bruce Wayne und sah gespielt finster drein.

„Ich erinnere mich“, erwiderte Christian. „Aber da war nicht mehr, als eine Unterhaltung und ein Interview, dass sie etwas später bekam. Sie wohnt und arbeitet übrigens ebenfalls in Gotham, falls es dich interessiert.“

Ein Glitzern trat in die blauen Augen seines Gegenübers. „Und wie mich das interessiert, mein Herr.“

Christian lachte amüsiert. „Dann interessiert es dich vielleicht auch, dass sie Victoria Vale heißt und dass sie vermutlich immer noch für die GOTHAM GAZETTE arbeitet?“

Das Gesicht des Schwarzhaarigen sprach Bände. Gleichzeitig wandte er sich zu Samantha und erkundigte sich: „Darf ich Sie zum Tanzen auffordern, Samantha?“

Samantha Collins erwiderte zustimmend: „Sehr gerne, Bruce.“

Wayne zwinkerte Christian beinahe spitzbübisch zu und führte Samantha zurück auf die Tanzfläche.

Christian sah ihnen sinnend nach bevor er in Gedanken versunken seinen Weg zur Bar fortsetzte. Er fragte sich, ob es nur Einbildung gewesen war, oder ob sich tatsächlich etwas zwischen ihm und Samantha verändert hatte. Eine positive Veränderung zweifellos aber eine, die ihn dennoch nachdenklich stimmte.
 

* * *
 

Drei Wochen später lehnte sich Christian in seinem Privatjet, den er seit mehr als zwei Jahren besaß, im Sessel zurück und sah zu seiner schlafenden Freundin hinüber. Dabei ließ er das Konzert und den Ball nochmal Revue passieren. Mehr denn je war er sich dabei sicher, dass sich tatsächlich etwas verändert hatte, zwischen Samantha und ihm.

Diese Veränderung hatte vermutlich an jenem Abend begonnen, als Samantha angeschossen worden war und sie ihr Baby verloren hatte. So schien es ihm zumindest. Ihre freundschaftliche Bande war seitdem stärker geworden. Sehr viel stärker sogar.

Dabei hatte Samantha ihn anfangs gar nicht mehr leiden können, nachdem er sich von zwei Schulkameradinnen hatte verführen lassen. Erst später erfuhr das Mädchen, dass er unter dem Bann einer mit rotem Kryptonit verseuchten Rose gestanden hatte.

Sie hatten sich später, an Alicias siebzehnten Geburtstag, ausgesprochen und seitdem waren sie langsam aber sicher gute Freunde geworden.

Christian fuhr sich über Schnurr- und Kinnbart, die er seit einem halben Jahr trug. Er seufzte schwach und sah dabei zu seiner Freundin hinüber. Sie lag zusammengerollt in ihrem Sitz und schlief friedlich, was ihm ein leises Lächeln entlockte. Denn bei ihrem ersten Flug über den Atlantik war Alicia viel zu aufgeregt dazu gewesen.

Wie schnell man sich an neue Umstände gewöhnt, dachte der hochgewachsene, blonde Deutsche und beobachtete sie, wobei ihn ein wärmendes Gefühl durchströmte. Eigentlich war sie längst seine Verlobte, denn er hatte ihr bereits vor Jahren einen Antrag gemacht. Nun, im Grunde war es wohl eher sein älteres Ich gewesen. Doch damit immer noch er.

Sie hatten beide jedoch beschlossen, mit der offiziellen Verlobung zu warten, bis sie beide 21 Jahre alt waren. Denn dann durften sie auch in Amerika ganz offiziell mit Champagner darauf anstoßen.

Christian dachte mit einem zufriedenen Gefühl daran, dass auch Alicia in zwei Monaten endlich dieses Alter erreicht haben würde. Er selbst war bereits im letzten November so alt geworden. Am 3. April war es dann für Alicia so weit.

Jetzt, Anfang Februar, flogen sie nach Deutschland um bei der Taufe seiner kleinen Schwester Thora dabei zu sein. Seine Stiefmutter hatte das erste Kind verloren. Damals waren er und Alicia umgehend über den Atlantik geflogen, um Christina Trost zuzusprechen.

Christian lächelte in der Erinnerung daran, dass sein Vater ihnen Beiden unheimlich dankbar gewesen war. Mehr denn je hatte er dabei den Eindruck gewonnen, dass sein Vater Alicia inzwischen als eine Art Tochter betrachtete. Nicht als die Freundin seines Sohnes.

Das Jahr 2008 hatte also sehr gut angefangen und Christian hoffte, dass es so bleiben würde. Zumindest waren die Aussichten nicht schlecht. Er und Alicia verstanden sich besser denn je und ihre Liebe zueinander wurde immer noch intensiver. Etwas, das Christian zuvor kaum für möglich erachtet hatte, denn seine Gefühle für Alicia waren von Beginn an sehr stark gewesen.

Er grübelte darüber nach, ob er Alicia von der Veränderung zwischen ihm und Samantha erzählen sollte. Doch zum Schluss entschied er sich dagegen, denn im Grunde war es gut möglich, dass diese Veränderung am Ende vielleicht gar nicht der Rede wert war. Wozu unnötig schlafende Hunde wecken?

Christian schüttelte diesen Gedanken ab und konzentrierte sich darauf, was vor ihnen lag. In weniger als einer Stunde sollten sie in Deutschland landen und danach würden sie seine Eltern und später auch endlich seine kleine Schwester sehen. Zum ersten Mal, seit sie auf der Welt war. Sein Vater und Christina hatten ihm zwar Bilder per E-Mail geschickt, doch das war nicht dasselbe.

Dass er, durch den Seelentausch mit seinem älteren Ich, hingegen bereits seit vor ihrer Geburt wusste, wie hübsch seine kleine Schwester als Zwanzigjährige aussehen würde, fand der Blonde bei genauerer Überlegung schon etwas schräg.

Dabei war Smallville in den letzten achtzehn Monaten wirklich nicht arm an schrägen Ereignissen gewesen. Zuerst war Clark Kent endlich mit seiner Jugendliebe, Lana Lang, zusammengekommen, nur um sie anschließend an Lex Luthor zu verlieren. Darüber war die ehemalige Freundschaft zwischen Clark und Lex endgültig zerbrochen.

Mittlerweile waren sie wieder zusammen, nachdem Lana ihren Tod vortäuschen musste, um anschließend für eine Weile in Shanghai unterzutauchen. Gegenwärtig schwiegen sie sich überwiegend an, nachdem Clark erfahren hatte, dass Lana mit seinem Doppelgänger Bizarro geschlafen hatte ohne zu merken, dass nicht er es gewesen war. Christian hatte Clark darauf angesprochen, doch der hatte sich ungewohnt zugeknöpft gezeigt. Er hatte eine seltsame Veränderung durchlaufen, wie Christian fand. Vielleicht lag das aber auch zum Teil daran, dass ihm vor mehreren Monaten der Kragen geplatzt war, als er Clark vorgeworfen hatte sich auf der Farm vor dem realen Leben zu verstecken.

Chloe Sullivan ihrerseits hatte einen gleichsam seltsamen Wandel durchlaufen. Irgendwie schien ihr nicht mehr so wichtig zu sein, wie ihre Karriere als Reporterin verlief. Etwas, das Christian zuvor nie für möglich gehalten hatte. Beide schotteten sich in demselben Maß vor ihren Freunden ab. Dass Clark eine kryptonische Cousine besaß hatte er dabei nur am Rande erfahren, was ihn aufgrund aller anderen Entwicklungen kaum noch wunderte.

Von Lois Lane wusste Christian derweil lediglich, dass sie nun als Reporterin beim DAILY PLANET beschäftigt war. Offensichtlich hatte sie ihr Studium aufgegeben.

Christian schmunzelte bei dem Gedanken an die junge und etwas neurotische Frau. Denn momentan konnte er gerade Lois Lane, von allen Freunden, die er in Amerika gefunden hatte, mit am besten leiden.

Noch einmal einen Blick auf Alicia werfend schloss der junge Mann schließlich die Augen und machte sich von allen Gedanken frei. Bis auf jene die Alicia und ihn betrafen.
 

* * *
 

Nach der Landung umarmte Christian von Falkenhayn seine Stiefmutter herzlich, bevor er seinen Vater auf dieselbe Art und Weise begrüßte. Alicia hielt sich bei Christians Vater etwas mehr zurück. Christina begrüßte sie hingegen ganz ähnlich, wie Christian es getan hatte. Bei ihrem letzten Besuch waren sie und Christina sich noch näher gekommen, als es bis dahin ohnehin bereits der Fall gewesen war.

Nachdem sie die Falkenhayn-Villa erreicht hatten und das Kindermädchen verkündete, dass die kleine Thora friedlich schlief, machte Christian ein so enttäuschtes Gesicht, dass Christina lachend meinte: „Auf ein paar Stunden kommt es doch jetzt auch nicht mehr an. Dann wirst du sie immer noch früh genug im Arm halten können. Aber zumindest ansehen kannst du sie dir ja jetzt schon. Aber sei leise.“

Christian nickte begeistert und folgte seiner Stiefmutter, die zugleich seine Tante war. Alicia schloss sich ihnen an.

Im geräumigen Kinderzimmer betrachteten sie das Baby eine Zeitlang, bevor sich Alicia flüsternd entschuldigte. Sie wollte sich im Gästezimmer einrichten und auspacken.

Allein mit Christina im Kinderzimmer flüsterte Christian nach einer Weile: „Alicia und ich haben es noch Keinem gesagt. Wir wollen uns im April verloben. Direkt im Anschluss an Alicias Geburtstag.“

Christina von Falkenhayn sah Christian überrascht an und erwiderte ebenso leise: „Das ist ja eine überraschende Idee.“

Christian sah seiner Stiefmutter in die Augen und deutete zum Fenster hinüber. Dort konnten sie reden, ohne so sehr aufpassen zu müssen. Hinaus in den Park sehend erklärte Christian: „So überraschend kam uns diese Idee nicht. Im Grunde habe ich nämlich Alicia bereits vor fast zwei Jahren einen Antrag gemacht. Allerdings kamen wir zu dem Schluss, dass es besser wäre, mit der offiziellen Verlobung zu warten, bis wir beide 21 Jahre alt sind. Außerdem wissen wir jetzt, dass wir das wirklich wollen.“

Christina brauchte einen Moment, bevor sie auf das Naheliegende zu sprechen kam: „Hast du schon mit deinem Vater darüber gesprochen?“

Christian schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte zuerst deine Meinung dazu hören. Weißt du, es ist nicht so, dass du Mama ersetzen könntest. Doch wir haben schon immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt und inzwischen nimmst du in meinem Herzen denselben Platz ein wie sie, als sie noch lebte.“

Die Augen der Frau schimmerten feucht, als sie erwiderte: „Das bedeutet mir sehr viel, Christian. Du weißt, dass du immer schon mehr für mich warst, als nur Neffe. Als du damals geboren wurdest, da habe ich mich fast auch so gefühlt, als wäre ich Mama geworden. Natürlich war mir damals nicht klar, wie es ist wirklich Mutter zu sein.“

„Na, das hat sich inzwischen ja geändert“, schmunzelte Christian bevor die Situation zu emotional werden konnte. „Mir ist jedenfalls sehr wichtig, wie du zu mir und zu Alicia stehst. Auch, weil du Alicia von Anfang an gemocht hast und ihr euch so gut versteht.“

„Alicia zu mögen ist auch nicht schwierig“, erwiderte Christina. „Sie ist eine beeindruckende junge Frau und sie passt sehr gut zu dir.“

Sie wurden abgelenkt, als einige leise Töne aus Richtung des Baby-Bettes kamen. Gemeinsam schritten sie zu dem Bett und das Gesicht des jungen Mannes begann förmlich zu strahlen, als er sah, dass seine kleine Schwester wach war.

Christina hob ihre Tochter behutsam aus dem Bettchen und meinte beinahe schadenfroh, nachdem sie prüfend die Luft eingesaugt hatte: „Sieht ganz so aus, als hättest du Glück. Vielleicht möchtest du dich ja gleich mal nützlich machen und deiner kleinen Schwester die Windeln wechseln?“

Im ersten Moment etwas überrumpelt, sah Christian seine Stiefmutter fragend an, bevor er sich straffte und entschlossen meine: „Ja natürlich. Warum denn nicht?“

Sie schritten hinüber zum Bad und Christina legte das Baby vorsichtig auf den Wickeltisch. Dabei fragte sie schmunzelnd: „Kommst du klar, oder soll ich dir Schritt für Schritt erklären was gemacht werden muss?“

„Kein Problem, ich habe das vor Jahren mal bei der Nichte von Leonie gemacht.“

Etwas zögerlich begann Christian damit, Thora aus ihrem Strampelanzug zu schälen, ohne zu bemerken, dass Alicia ins Zimmer trat. Während er ganz bei der Sache war, warfen sich Christina und Alicia vielsagende Blicke zu.

Inzwischen ließ Christian sich jedoch nicht beirren. Mit einem sauberen Teil der vollen Windel dem Baby den Po abwischend meinte er dann zu dem Baby: „Puh, wie kann so eine kleine Maus wie du einen solchen Riesengestank produzieren?“

Nachdem Christian das kleine Mädchen fachmännisch mit Öltüchern gereinigt hatte, griff er zum Babypuder. Hinter seinem Rücken nickte Christina Alicia anerkennend zu, als er Thora schließlich eine neue Windel unterschob und sich schnell und sicher verschloss. Nachdem er ihr einen neuen Strampelanzug angezogen hatte, hob er das kleine Mädchen behutsam auf seine Arme und drehte sich um. Erst jetzt bemerkte er Alicias Anwesenheit und stolz etwas die Brust herausstreckend meinte er: „Um den ganzen Baby-Kram wird viel zu viel Tamtam gemacht. Das ist keine Zauberei.“

Thora, die ganz ruhig in seinen Armen lag, ansehend meinte er leise: „Habe ich Recht, meine Kleine? Aber ja. Hör zu, wenn du etwas größer bist, wirst du mich regelmäßig in Amerika besuchen. Dann gehen wir im Kratersee schwimmen und ich bringe dir Muay-Thai und Fechten bei. Schließlich musst du lernen, wie man sich freche Kerle vom Hals hält.“

„Oh ja“, flüsterte Christina ironisch. „Die frechen Kerle sind ein echtes Ärgernis.“

Gemeinsam gingen sie zurück ins Kinderzimmer. Dabei meinte Christina: „Ich denke, ich kann euch beide für einen Moment mit meiner Tochter allein lassen. Sie scheint sich ja bei ihrem Bruder ziemlich wohl zu fühlen. Aber gib sie Alicia auch einmal.“

Nachdem die Frau das Zimmer verlassen hatte, legte Christian, wenn auch mit leisem Bedauern, das Baby in die Arme seiner Freundin.

Zuerst blieb das Kind ruhig und sah nur zu Christian. Doch nach einer Weile wurde Thora unruhig und streckte ihre kleinen Arme zu Christian aus. Dabei machte die Kleine Anstalten sich aus den Armen von Alicia winden zu wollen.

Etwas irritiert entfuhr es Alicia: „Sie scheint wieder zu dir zu wollen.“

Schmunzelnd nahm Christian das Baby wieder auf seine Arme. Sofort wurde Thora ruhiger, wobei sie zu Alicia sah. Dabei schien es fast so, als würde die Kleine lächeln.

„Unsichtbare Familienbande“, erklärte Christian bei dem etwas enttäuschten Blick seiner Freundin, beinahe entschuldigend.

„Ja, die Kleine ist ja ganz vernarrt in dich“, schmollte Alicia. Dabei hätte ich sie gerne etwas länger gehalten. Sie ist so niedlich.“

Um seine Freundin zu trösten, rückte er mit Thora etwas näher und sagte beruhigend zu Alicia: „Ich bin mir ganz sicher, dass unsere beiden Töchter mindestens genauso niedlich sein werden. Ganz bestimmt.“

Alicia rückte etwas von Christian ab und erst bei ihrem prüfenden Blick durchfuhr es ihn siedend heiß, dass er ja gar nicht wissen konnte, wie viele Kinder sie haben würden und ob es keine Jungen sein würden.

Zu demselben Ergebnis war Alicia offensichtlich ebenfalls gekommen, denn sie fragte fast in demselben Moment: „Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein, dass es zwei sein werden und dass wir nur Mädchen bekommen?“

Christian überlegte fieberhaft und meinte dann: „Na ja, ich wollte immer zwei Kinder haben. Und Mädchen sind eher Papa-Kinder. Ist das zu egoistisch gedacht?“

Alicias Miene entspannte sich und zur Erleichterung des jungen Mannes schenkte sie ihm ein warmes Lächeln. „Nein, ich finde das irgendwie sogar beruhigend. Also werde ich dir vielleicht den Gefallen tun.“

Sie hörten Christina aus der unteren Etage der Villa rufen: „Legt bitte Thora wieder in ihr Bett. Sie hat letzte Nacht weniger geschlafen, als üblich.“

Alicia drückte Christian einen raschen Kuss auf die Wange und sagte leise: „Das kriegst du hin, denke ich.“

Etwas verwundert sah Christian seiner Freundin nach, als sie das Kinderzimmer verließ. Dann blickte er grinsend zu seiner kleinen Schwester und flüsterte ihr zu: „Oh ja, Alicia wird mir diesen Gefallen sogar ganz sicher tun. Dass du ihr vorhin fast vom Arm gesprungen bist hast du übrigens absichtlich gemacht, nicht wahr? Braves Mädchen.“

Thora gähnte herzhaft, so als ginge sie das Alles nichts an. Ganz behutsam wurde sie von Christian wieder in ihr Bettchen gelegt und zugedeckt.

Für eine Weile blieb Christian noch an ihrem Bett stehen und dachte an all das, was er als sein älteres Ich über sie erfahren hatte. Dann wandte er sich mit einem versonnenen Lächeln ab und verließ leise das Kinderzimmer.

ZATANNA ZATARA

Bereits wenige Wochen später war für Christian und Alicia bereits wieder der Universitätsalltag eingekehrt. Darum war Christian froh, als endlich das Wochenende vor dem Donnerstag herangekommen war an dem Alicia ihren einundzwanzigsten Geburtstag feiern würde.

Sie würden gemeinsam eine große Party in seiner Villa geben. Immerhin wohnten sie nun seit über einem Jahr zusammen dort. Anfangs hatten Alicias Eltern gar nicht viel von dieser Idee gehalten. Besonders Jerome Sterling hatte versucht zu insistieren. Erst nach einem längeren Gespräch mit seinem Onkel Jason hatte Jerome seinen Widerstand aufgegeben.

Dabei verstand ihn Christian natürlich. Alicia war sein einziges Kind und er liebte Alicia mehr als alles Andere. Sowohl er, als auch Alicia hatten ihm und seiner Frau versprochen sie regelmäßig in Smallville zu besuchen und ihnen versichert, dass sie auch jederzeit in der Villa willkommen seien.

An diesem Wochenende war Alicia nicht mit ihm, sondern mit Samantha nach Smallville gefahren. Er selbst hatte so die Gelegenheit sich um die Party-Vorbereitungen zu kümmern. Außerdem wollte er noch das Geschenk für Alicia abholen. Zudem hatte er sich versichert, dass der Verlobungsring immer noch sicher im Wandsafe seines Arbeitszimmers untergebracht war.

Bester Laune betrat Christian also an diesem Samstagmorgen das exquisite Schmuckgeschäft DI MACCIO am Luthor Plaza. Dort hatte er eine chinesische Doppelkette gekauft. Die Anhänger ließen sich zu einem einzigen ineinander stecken oder aber getrennt an zwei Ketten tragen. Es war Tradition eine davon selbst zu tragen und die andere einem geliebten Menschen zu schenken. Christian war der Meinung, dass Alicia diese romantische Geste besonders schätzen würde. Zwischenzeitlich fragte er sich was in der Zukunft aus der Kette geworden sein mochte, denn bei seinem Körpertausch mit seinem älteren ich hatte er sie weder an sich, noch an Alicia gesehen. Doch er war nur zwei Tage in seiner Zukunft gewesen. Also konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob sie noch in ihrem Besitz war.

Mit einem freundlichen Lächeln schritt er auf die Besitzerin des Geschäfts zu. Sie erkannte ihn sofort wieder denn immerhin zählte er zu den reichsten Menschen der Erde.

Die Frau mittleren Alters schritt auf ihn zu und erkundigte sich zuvorkommend: „Mister Von Falkenhayn. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich möchte die chinesische Doppelkette abholen, die ich bei Ihnen gekauft habe.“

Die Frau zog die Augenbrauen zusammen und das Lächeln auf ihrem Gesicht verlor sich. „Aber das verstehe ich nicht. Sie haben die Kette doch abholen lassen. Vor gerade zehn Minuten erst legte mir eine junge Angestellte Ihrer Firma ihren Ausweis und eine von Ihnen unterschriebene Vollmacht vor.“

Christian zog die Stirn in Falten. „Das verstehe nun ich wiederum nicht. Denn ich habe niemanden damit beauftragt die Kette abzuholen. Können sie die Person beschreiben?“

Der Besitzerin des Geschäfts schien der Vorfall sehr peinlich zu sein, denn sie wurde unruhig, als sie erwiderte: „Ich weiß nur, dass sie auffallend hübsch war. Sie hatte langes, schwarzes Haar hatte und strahlend blaue Augen. Schlanke hochgewachsene Statur. Wünschen Sie, dass ich die Polizei rufe?“

Christian seufzte schwach. „Nein. Ich fürchte, das hat gar keinen Sinn. Diese Frau wird vermutlich bereits über alle Berge sein.“

„Ich werde Ihnen natürlich den Betrag erstatten, den sie gezahlt haben.“

Christian winkte ab. „Ich komme später darauf zurück. Aber persönlich. Vielleicht haben Sie ja etwas anderes, das meiner Freundin gefallen könnte.“

Die Besitzerin wirkte erleichtert. „Ich bin ganz sicher, wir finden etwas.“

Christian verabschiedete sich von der Frau. Vor dem Geschäft blieb er für einen Moment ratlos stehen. Wer wusste von dem Kauf - und wer war so scharf auf die Kette?

Ohne zu einem Ergebnis zu kommen fuhr er zum Falkenhorst. So wurde der Firmensitz von Falken-Industries allgemein genannt. Da er schon einmal in der Nähe war, konnte er kurz hereinschauen. Samstags wurde hier bis zum Mittag gearbeitet. Wenn er richtig informiert war, dann fand heute außerdem ein Einstellungsgespräch statt. Die Firma hatte kurzfristig die Stelle für einen weiteren Firmenanwalt ausgeschrieben. Das bedeutete, dass Fynn Everett Specter auf jeden Fall anwesend sein würde.

Als Christian mit seinem schwarzen Pickup in die Tiefgarage einfuhr, begann der Wagen zu vibrieren und der Motor stotterte einige Male. Christian schaffte es gerade noch, den Wagen anständig auf einem freien Platz abzustellen, bevor der Wagen noch einmal wild ruckte und der Motor von sich aus erstarb.

„Verdammt noch mal“, fluchte Christian still vor sich hin. „Ist das heute wieder einer dieser Tage?“

Er zog die Handbremse, nahm den Schlüssel und verließ den Pickup. Ohne an den Overall zu denken, den er für Notfälle immer dabei hatte, öffnete er die Motorhaube und schritt zur Front des Wagens. Kaum hatte er die Haube angehoben, platzte eine Leitung und er wurde von oben bis unten mit Öl besudelt.

Wütend die Haube zuschlagend sah der junge Mann an sich herab. „Na Spitze, der Anzug war brandneu. Und ja – das ist einer dieser Tage.“

Sich erst jetzt wieder an den Overall erinnernd verzog Christian ironisch die Lippen und dachte: Ich hätte ihn vorher anziehen können. Habe ich aber nicht. Weil ich blöd bin.

Rasch schälte er sich aus Jackett und Hemd, feuerte die Krawatte auf die hintere Sitzbank und schlüpfte danach rasch in den weiten, grauen Overall. Zum Glück hatte er in dem Penthouse des Falken-Towers eine Suite mit einem gut sortierten Schrank. Für Notfälle, wie diesen hier. Eine Dusche zuvor würde auch nicht schaden.

Als er fertig war, warf er einen Blick auf die rote Football-Kappe, die ebenfalls im Wagen lag. Noch aus seiner Zeit bei den Smallville-Crows. Kurzentschlossen setzte er sie auf. Vielleicht merkten dann die meisten seiner Angestellten nicht, was ihm widerfahren war und er kam unbemerkt in seine Suite. Er nahm die Brieftasche mit seinen Papieren und der Schlüsselkarte für das Penthouse aus seinem Jackett.

Mann, sehe ich vielleicht aus, dachte Christian dabei und musste gegen seinen Willen grinsen. Meine eigene Mutter würde mich nicht erkennen.

Für einen Moment wurde Christian etwas ernster. Tief durchatmend setzte er sich in Trab, in Richtung der Aufzüge. Dabei dachte er unwillkürlich daran, was ihm bei seinem ersten Besuch hier widerfahren war. So etwas fehlte ihm heute noch.

Noch zehn Meter von den Aufzügen entfernt, hörte er hinter sich Reifen quietschen. Jemand fuhr hier unten mit eindeutig überhöhter Geschwindigkeit. Weiter auf die Aufzüge zuhaltend beobachtete Christian einen roten Sportwagen, der in geradezu halsbrecherischer Geschwindigkeit eingeparkt wurde. Auf den Rufknopf drückend sah er, wie eine junge sportliche Frau in elegantem, dunklen Kostüm aus dem Wagen stieg. Sie rief ihm zu, er möge warten und kam rasch näher. Dabei wunderte sich Christian zum wiederholten Mal, wie Frauen es schafften auf High-Heels ein derartiges Tempo zu entwickeln.

Er blieb zwischen den Schiebetüren des Aufzugs stehen und wartete geduldig bis die junge Frau bei ihm war. Dabei taxierte er sie mit kurzen prüfenden Blicken. Ihre Hände wirkten gepflegt. Ebenso wie ihr glattes, schwarzes Haar. Erst jetzt stellte er fest, dass die junge Frau mit Hilfe der hohen Absätze kaum kleiner war, als er. Sie musste also auch ohne ihre High-Heels um die 1,80 Meter groß sein. Die blau-grauen Augen passten zu ihr, wie Christian fand. Sie machten einen wachen und intelligenten Eindruck. Sie mochte vielleicht zwei bis drei Jahre älter sein als er.

„Vielen Dank, junger Mann“, sagte sie mit melodischer - nicht zu heller Stimme. Der Tonfall vermittelte dabei den Eindruck, dass sie sehr genau wusste was sie wollte.

„Kein Problem“, erwiderte Christian und schenkte ihr ein Lächeln.

Bevor er die Gelegenheit bekam, einen der Etagenknöpfe zu drücken wählte die junge Frau die 36. Etage aus. Dort wollte er ohnehin aussteigen. Dann rückte sie etwas von ihm ab und musterte ihn missbilligend. Nach einem Moment sagte sie kritisch: „Sie sehen aus wie ein Ferkel, Mister. Muss das denn sein?“

Christian schüttelte nur den Kopf und ein Gefühl von Déjà-vu überkam ihn. Denn dies war derselbe von vier Aufzügen, die man benutzen konnte, den er bei seinem ersten Mal benutzt hatte. Er beobachtete die Frau dabei, wie sie rasch den Knopf drückte, der den Aufzug zwei Etagen unter der oberen Etage anhalten würde. Noch bevor er herausfinden konnte weshalb, hielt der Aufzug bereits an und die Frau forderte ihn auf: „Steigen Sie aus. Ich habe das wichtigste Vorstellungsgespräch meines Lebens vor mir und ich möchte nicht gleich als eine Frau in Erinnerung bleiben, die mit einem solchen Schmutzfink ankam.“

Christian überlegte nur kurz bevor er breit grinste und tatsächlich kommentarlos ausstieg. Dabei versenkte er seine Hände tief in die Seitentaschen des Overalls. „Das verstehe ich natürlich, Miss.“

„Das war auch Ihr Glück, Mister.“

Im nächsten Moment schlossen sich die Türen des Aufzugs und beinahe hätte Christian begonnen schallend zu lachen. Dieser Aufzug brachte ihm einfach kein Glück. Demonstrativ legte er seine Hand auf den Rufknopf für den benachbarten Aufzug. Mit dem anderen würde er nie wieder fahren. Lieber alle 36 Etagen über das Treppenhaus.

Als Christian endlich die obere Etage erreicht hatte, verließ er eilig den Aufzug. Am Empfang erkannte er die junge Frau, die mit dem Rücken zu ihm stand und sich mit Leah van Cleef unterhielt. Die Marketing-Managerin sah ihn, fast etwas verzweifelt, über den Rand ihrer Brille hinweg an.

Schnell legte Christian seinen Finger auf die Lippen, hob zum Gruß nur seine Hand und stürmte an ihr und der jungen Frau vorbei. Zufrieden stellte er fest, dass die schwarzhaarige Frau, die ihn eben so unverblümt aus dem Aufzug hinauskomplimentiert hatte, keinerlei Notiz von seinem Erscheinen nahm. Offensichtlich bereitete sie sich innerlich auf das erwähnte Vorstellungsgespräch vor. Verständlich, denn für Falken-Industries zu arbeiten bedeutete einen Schub für die Karriere einer Junganwältin. Zudem zahlte seine Firma Spitzenlöhne für Spitzenkräfte, um sie langfristig an die Firma zu binden.

So gelangte er ungesehen von ihr über die breite Treppe, am Ende des Ganges, zu seiner Suite. Erleichtert stellte Christian fest, dass die Schlüsselkarte keine Probleme machte. Das wäre für ihn die Kirsche auf dem Sahnehäubchen gewesen.

Frisch geduscht und umgezogen kam er zwanzig Minuten später wieder die Treppe hinunter und nichts erinnerte mehr an das vorangegangene Malheur.

Leah van Cleef hatte die Tür zu ihrem Büro nicht geschlossen. Trotzdem klopfte Christian von Falkenhayn dezent an die Tür als er den weitläufigen Raum des Eckbüros betrat und erkundigte sich mit gedämpfter Stimme: „Wissen Sie, ob die junge Anwältin noch bei Mister Specter ist?“

Leah van Cleef bemerkte wohlwollend, dass der Inhaber der Firma wieder wie ein Mensch aussah und lächelte zaghaft. „Miss Merrigan ist mit Mister Specter in Besprechungsraum 1. Laut ihrer Unterlagen hat sie in Harvard promoviert.“

„Wird sie Mister Specter überzeugen können?“

Das Gesicht der Frau strahlte Zuversicht aus. „Ich denke schon. Ihre Referenzen sind auf jeden Fall tadellos.“

Christian nickte. „Vielen Dank.“

Das was in Aufzug 2 passiert war nochmal Revue passieren lassend schritt Christian den Gang zum Besprechungsraum hinunter. Der durch eine Glasfront abgeteilte Raum lag zwischen dem Büro von Leah van Cleef und dem Büro von Specter.

Mit einem leisen Schmunzeln auf den Lippen erreichte der Blonde den Besprechungsraum. Bereits durch die Glasfront hindurch erkannte Christian, dass die junge Frau zwar einen selbstsicheren Eindruck vermittelte, doch auch jene Zeichen von Nervosität zeigte, wie sie bei einem wichtigen Vorstellungsgespräch üblich waren.

Wie gut, dass ich mir das ersparen kann, dachte Christian von Falkenhayn als er vorsichtig die Klinke der Tür hinunterdrückte und so leise er konnte eintrat.

Während sich Specter, der ihn aus den Augenwinkeln hatte kommen sehen, sich zu ihm umdrehte und freundlich begrüßte, erfuhr das Gesicht der jungen Anwältin eine Veränderung, die Christian ein feines Grinsen abnötigte.

„Ich will nicht stören, Mister Specter“, sagte Christian, dabei rasch wieder ernst werdend. „Ich wollte nur einmal kurz hereinschauen.“

Specter erhob sich und die junge Frau tat es ihm nach. Der General-Manager von Falken-Industries sah die Anwältin an und erklärte: Miss Merrigan, das ist Mister Von Falkenhayn, der Inhaber von Falken-Industries. Mister Von Falkenhayn – Miss Merrigan.“

Sich krampfhaft ein Grinsen verbeißend reichte er der Frau über den Tisch hinweg die Hand und erklärte: „Sehr erfreut, Miss Merrigan.“

„Ja… ich auch.“ Der Blick der Frau nahm einen beinahe verzweifelten Zug an und sie murmelte bitter: „Damit kann ich den Job wohl vergessen.“

Verständnislos sah Specter die Anwältin an. Doch bevor er eine Frage stellen konnte meinte Christian freundlich lächelnd: „Zu Ihrer Beruhigung, Miss Merrigan: Diese Entscheidung liegt allein bei Mister Specter. Mir gehört der Laden nur. Diese dumme Angelegenheit im Aufzug hat hier im Haus fast schon so etwas wie Tradition, also machen Sie sich keine Gedanken deswegen. Ich bin so etwas gewöhnt.“

Damit zwinkerte Christian der Frau amüsiert zu bevor er sich rasch von Specter verabschiedete und sich dann entfernte.

Am Empfang wurde er von einer der Angestellten angesprochen. „Mister Von Falkenhayn, eine junge Frau möchte Sie sprechen. Ich wollte Sie gerade informieren. Sie wartet gleich dort vorne.“

Christian nickte der dunkelhaarigen Frau zu. „Vielen Dank. Hat sie gesagt, wer sie ist oder was genau sie will?“

„Leider nein, Sir.“

„Nun, das werde ich ja erfahren.“ Damit wandte sich Christian ab und schritt zu der Frau, die einige Schritte entfernt stand und sich interessiert umsah.

„Guten Morgen, Miss…“

Die dunkel gekleidete Frau mit den langen schwarzen Haaren drehte sich zu Christian um und musterte ihn eingehend. Nach einem Moment erwiderte sie: „Mein Name ist Zatanna. Zatanna Zatara.“

Christian erwiderte den leicht fragenden Blick. „Ein interessanter Name, Miss Zatara. Mir wurde gesagt, Sie wollen mit mir sprechen?“

Die Frau mit den aussagekräftigen grauen Augen nickte lebhaft. „Ja. Gibt es hier einen Ort wo wir ungestört sind?“

Christian deutete auf die hufeisenförmige Treppe am Ende des Ganges. „Folgen Sie mir bitte.“

Nachdem der junge Mann seine Key-Card benutzt hatte, um die Türen zum Penthouse zu entriegeln, bat er Zatanna Zatana hinein und führte sie zu seinem Büro. Hier hatte er noch nicht sehr viel Zeit zugebracht, doch das würde sich nach seinem Studium drastisch ändern.

Sie begaben sich zu der Sitzecke, die es in dem geräumigen Büro gab. Nachdem Christian der Schwarzhaarigen etwas zu Trinken angeboten und sie dankend abgelehnt hatte, setzte er sich ihr gegenüber und fragte schließlich: „Also, was genau kann ich für Sie tun, Miss Zatana. Falls es wegen eines Jobs ist, dann…“

Nein, ich bin wegen einer Kette hier, die Sie gekauft haben. Vermutlich wissen Sie bereits, dass die Kette von einer Unbefugten abgeholt wurde. Nun, das war ich.“

Christian beugte sich aufmerksam geworden vor und musterte die Frau fragend: „Also Sie waren das. Die Beschreibung der Ladenbesitzerin passt jedenfalls. Darf ich fragen, warum Sie das getan haben?“

Die schlanke, hochgewachsene Frau erwiderte den Blick ihres Gegenübers. Sie war kaum älter als er. Da sie sich denken konnte, wie ihre nächsten Worte wirken würden wappnete sie sich innerlich, bevor sie entgegnete: „Weil die Doppelkette verzaubert ist.“

Die Reaktion des Blonden fiel ungefähr so aus, wie es sich Zatanna gedacht hatte. Darum sagte sie schnell: „Ja, ich weiß wie sich das anhört und nein – ich spinne nicht. Auch wenn Sie nicht an etwas glauben heißt das nicht, dass es nicht existiert.“

Damit förderte sie aus der Tasche ihrer schwarzen Lederjacke eine kleines, schwarzes Kästchen zutage und schob es über die Platte des niedrigen Tisches zu Christian. „Ich will Ihnen Ihr Eigentum nicht vorenthalten. Doch ich möchte Sie warnen. Solange die Kettenanhänger getrennt bleiben passiert gar nichts. Steckt man sie hingegen zusammen und wünscht sich etwas, so geht dieser Wunsch in Erfüllung. Er bleibt erfüllt, solange die Kettenanhänger nicht wieder getrennt werden. Werden sie getrennt ist der Zauber vorbei und die Anhänger verlieren ihre magischen Eigenschaften.“

Christian nahm das Kästchen an sich und ließ es rasch in einer der Taschen seines Jacketts verschwinden. Dabei erwiderte er ironisch: „Das klingt doch gar nicht so übel. Nur mal so zum Mitspielen: Würde ich die Anhänger zusammenstecken und mir dann wünschen der Kaiser von China zu sein, dann wäre ich der Kaiser von China?“

„Genauer gesagt: Sie würden sofort einschlafen und am nächsten Morgen wären Sie es. Mit allen Konsequenzen, die dieser Wunsch beinhaltet. Darum sollten Sie es nicht unbedingt im nächsten Nacht-Club ausprobieren. Diese Konsequenzen könnten von globalen Ausmaßen sein. Vielleicht würden Sie unendliches Glück erfahren. Oder aber Sie erfahren unendliches Leid. Das ist nicht gewiss und deshalb meine Warnung.“

„Entschuldigung, Miss Zatana, aber das klingt verrückt.“

„Sie wurden von mir gewarnt“, wiederholte die Schwarzhaarige scharf und erhob sich geschmeidig. Sie griff in die Innentasche ihrer Jacke und holte eine Art Tarot-Karte hervor, die sie Christian überreichte. „Hiermit erreichen Sie mich.“

Christian von Falkenhayn sah auf das Abbild der Karte. Sie zeigte das Tarot-Symbol Die Hohepriesterin. Mit etwas spöttischem Lächeln erkundigte er sich: „Muss ich dann einfach Hokus-Pokus-Fidibus sagen und mit einem Knall sind sie da?“

Zatanna Zatara lächelte schwach und sagte, etwas gereizt: „Wenn ich jedesmal einen Dollar für diesen Spruch bekäme, wäre ich so reich wie Sie. Nein, meine Telefonnummer steht auf der anderen Seite der Karte.

Erst jetzt kam Christian auf die Idee die Karte umzudrehen. Dort stand der Name der Frau und eine Handy-Nummer. Er spürte einen leisen Luftzug. Als er wieder aufsah, wollte er Zatanna eine Frage stellen, doch von der Frau fehlte jede Spur. Nachdenklich werdend steckte er die Karte in seine Brieftasche und sah zu einem der hohen Fenster hinaus. Dabei murmelte er: „Gar kein schlechter Trick, Miss Zatara.“

DER WUNSCH

Als Christian am Abend in der Villa allein war, saß er im Salon auf dem breiten Sofa und starrte auf das Kästchen, dass ihm Zatanna Zatara gegeben hatte. Seit Stunden stand es dort. Irgendwann beugte er sich vor und murmelte: „Das ist doch wirklich zu verrückt.“

Er öffnete das Kästchen und die beiden Ketten lagen einzeln und vollkommen harmlos wirkend auf dem schwarzen Samtkissen. Während er die Ketten einzeln aus dem Kästchen nahm und sie sich im gedämpften Licht ansah, überlegte er bei sich, welche Möglichkeiten sich ihm bieten würden, falls es diesen Zauber wirklich geben würde. Als er darüber nachdachte, dass er sich wirklich alles würde wünschen können durchzuckte es ihn. Denn ihm kam der Gedanke, was passieren würde, falls er sich wünschte, dass es keinen Terroranschlag auf seinen Vater gegeben hätte und seine Mutter niemals gestorben wäre. Auch dass er dann ab diesem Zeitpunkt weiterleben würde, um nichts zu verpassen. Vielleicht auch noch, dass es nie zwei Meteoritenschauer in Smallville gegeben hatte. Das würde auch ein normales Leben für Alicia und alle Leute in Smallville bedeuten. Dieser Gedanke elektrisierte ihn förmlich. Doch so etwas konnte es unmöglich geben und er würde es sich hier und jetzt beweisen. Sonst würde ihn der Gedanke, wenn er ihn länger verfolgte, nicht mehr aus dem Kopf gehen und wahnsinnig machen.

Beinahe wütend auf diese Zatanna Zatara aber auch auf sich selbst steckte er die beiden Medaillons zusammen. Dabei dachte er intensiv an das, was ihm vor einen Moment durch den Sinn geschossen war. Nichts schien zu passieren. Auch nicht, als sich Christian die Kette um den Hals hängte und sowohl gereizt als auch frustriert dachte er: Wusste ich doch! Alles Schwindel und fauler Zauber!

Er bemerkte gar nicht, wie schläfrig er plötzlich wurde und, ohne es zu bemerken, schlief er auf dem Sofa ein. Kurz davor glaubte er, eine Stimme in sich zu hören, die seinen Wunsch bestätigte. Als er seine Augen wieder öffnete hatte er das Gefühl, dass nur ein kurzer Augenblick vergangen war. Doch etwas hatte sich verändert.

Christian registrierte, dass er nicht mehr saß, sondern er lag. In einem breiten Bett. Die Umgebung kam ihm sehr vertraut vor, doch er befand sich definitiv nicht in seiner Villa.

Von draußen schien die aufgehende Sonne durch die Fenster und nachdem sich Christian umgesehen hatte stellte er fest, dass er sich dennoch in einer Villa aufhielt und dass er diese Villa auch kannte.

Ich bin… Zuhause?

Bei diesem Gedanken wurde er endgültig wach. Ja, er war Zuhause aber nicht in Metropolis. Sondern in seinem Zuhause in Deutschland.

Entweder bin ich vollkommen weggetreten oder das hier ist die aufwendigste Verarsche, die es jemals gegeben hat.

Christian schlug die Bettdecke zur Seite und schwang die langen Beine aus dem Bett. Er war sich sicher, dass er angezogen gewesen war, als er einschlief. Doch jetzt trug er nur einen Slip. Ein Morgenmantel lag auf einem Sessel und seine Hausschuhe standen vor dem Bett. So war es gewesen, als er hier noch gewohnt hatte. Vor dem Terroranschlag.

Erst jetzt fiel ihm etwas ein und prüfend fuhren seine Finger über Schnurr- und Kinnbart. Oder besser gesagt, sie wollten darüber fahren, doch da war nichts. Kein Bart, obwohl er sich ganz sicher war ihn nicht abrasiert zu haben. Wohl schon gar nicht im Schlaf. Aber wie konnte das sein?

Zuerst mal eine Dusche, dachte Christian irritiert. Damit schlüpfte er in die Hausschuhe und schlurfte zum Badezimmer hinüber.

Als er unter der Dusche stand und das Wasser seine Lebensgeister weckte, fühlte er sich wieder etwas besser. Bis zu dem Moment, als er die Stelle seines Oberkörpers berührte, an der sich die Narbe befand, die durch ein Messer verursacht worden war. Gleich zu Beginn seiner Zeit in Smallville. Einer von drei Verbrechern, die Alicia hatten vergewaltigen wollen, hatte es ihm dort in den Körper gerammt. Doch da war nichts.

Ungläubig wusch Christian den Schaum ab und sah auf die Stelle hinunter. Da gab es keine Narbe. Es hatte offensichtlich nie eine gegeben, denn die Haut an dieser Stelle war vollkommen glatt und nichts wies auf eine alte Verletzung hin.

Es ist nie passiert, schoss es Christian durch den Sinn und endlich begann er sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass diese Zatanna Zatara ihn vielleicht doch nicht an der Nase herumgeführt hatte. Oder ich träume.

Er kniff sich und verzog schmerzhaft das Gesicht. Es war kein Traum. Aber was war es dann? Konnte das bedeuten, dass sein Wunsch sich tatsächlich erfüllt hatte? In diesem Fall war er wohl wieder Siebzehn. Doch das war ihm herzlich egal, falls wirklich…

„Mama“, flüsterte Christian bei diesem Gedanken und sein Herz begann wie wild zu pochen. Er duschte eilig zu Ende, rannte in sein Zimmer und zog sich an, so schnell er konnte. Danach verließ er die Suite und rannte polternd die Treppe hinab. Seine Mutter war eine Frühaufsteherin gewesen und falls er nicht komplett am Rad drehte, dann musste sie irgendwo in der Parterre sein. Vermutlich saß sie bei einem Kaffee im Salon und studierte irgendein Fachbuch. Doch noch immer hielt er das für reines Wunschdenken.

Er eilte durch den Salon, den er leer vorfand, und betrat die Küche. Wie angewurzelt blieb er stehen, als er die blonde Frau sah, die dabei war sich einen Kaffee einzuschenken. Von hinten wirkte sie wie seine Tante und Christian schalt sich einen Narren, dass er an Zauberei geglaubt hatte. Vermutlich hatte ihm sein Vater, mit tatkräftiger Unterstützung durch seine Freunde, diesen Streich gespielt. Doch zu welchem Zweck?

„Guten Morgen, Christina“, sagte Christian verdrießlich. Er wollte noch etwas hinzufügen, als sich die blonde Frau zu ihm umdrehte. In demselben Moment hatte der Blonde das Gefühl in ein bodenloses Loch zu fallen. Denn vor ihm stand zweifellos seine Mutter und nicht seine Tante.

Vorsichtig die Tasse mit Kaffee in der Hand balancierend kam sie näher, wobei sie die Stirn in Falten zog. „Für dich immer noch Tante Christina, Herr Von und Zu. Hast du über Nacht deine Manieren vergessen? Und wie kommst du darauf, dass sie hier sein könnte? Also weißt du, das ist schräg. Wir kennen uns jetzt seit siebzehneinhalb Jahren und du erkennst deine eigene Mutter nicht? Ernsthaft? Und du willst mein Sohn sein?“

Christian achtete nicht auf den ironischen Tonfall. Unverwandt starrte er seine Mutter an. Im Augenblick unfähig etwas zu erwidern. Dann endlich löste er sich aus seiner Starre. Zur Verwunderung der Frau nahm Christian ihr die Tasse ab und stellte sie achtlos auf den Tisch. Dann umarmte er seine Mutter stürmisch und sagte rau: „Mama, es ist so schön dich zu sehen. Ich habe dich vermisst.“

Für einen langen Moment hielt Christian die Frau fest in seinen Armen. Dann spürte er, wie sie sich mit sanfter Gewalt befreite. Verwirrt sah sie ihn aus ihren blauen Augen an und fragte irritiert: „Sag einmal, was ist heute mit dir los? Du tust ja so, als hättest du mich seit Jahren nicht mehr gesehen.“

Erst einen Moment später registrierte sie die Tränen in den Augen ihres Sohnes und mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend fragte sie: „Was hast du denn, Christian? Hattest du einen schlimmen Traum?“

Der Junge nickte stumm. Natürlich musste seiner Mutter das alles sehr befremdlich vorkommen, wenn sein Wunsch sich tatsächlich so erfüllt hatte, wie er ihn formuliert hatte. Dass sie ihn als Teenager beschrieben hatte, sprach eindeutig dafür. In dem Fall konnte er ihr schlecht sagen, dass für ihn viel mehr Zeit vergangen war. Und schon gar nicht konnte er sie mit ihrem gewaltsamen Tod konfrontieren, der offensichtlich nicht stattgefunden hatte.

Endlich sagte Christian. „Ja, dieser Traum war furchtbar. Ich hatte dich verloren und du warst unerreichbar.“

Seine Mutter lächelte ihn an. Dieses unverkennbare Lächeln, das jeden Gedanken an eine eventuelle Doppelgängerin ausschloss. Dies war seine Mutter.

„Na komm her“, sagte sie sanft und Christian ließ sich nicht zweimal bitten. Zu lange hatte er seine Mutter vermisst und nun war sie wieder da, alles Andere zählte nicht und trat in den Hintergrund. Sein Leben war endlich wieder in Ordnung.

Nach einer geraumen Weile wurde Christian ruhiger. Endlich davon überzeugt, dass er hier keinem Trick zum Opfer fiel ließ er seine Mutter widerstrebend los.

Andrea von Falkenhayn legte ihre Hand an die Wange ihres Sohnes und fragte besorgt: „Wieder besser?“

Das strahlende Gesicht des Jungen nahm die Antwort vorweg. „Ja, Mama. Abgesehen von dem Albtraum ist dieser Morgen wirklich toll. Ist noch Kaffee da?“

„Gewöhn´ dir das nur nicht zu sehr an“, mahnte seine Mutter schüttelte ihr langes Haar zurück und griff sich ihre Tasse.

Christian sah ihr nach. Sich an seinen Kaffeekonsum erinnernd, seit er in Smallville lebte – oder nein, fast gelebt hätte – dachte er: Zu spät Mom.

Er goss sich einen großen Kaffee ein und trank die Hälfte davon gleich in kleinen Schlucken. Dann folgte er seiner Mutter in den Salon. Er hatte einige Fragen. Der Gedanke an Smallville hatte sie in ihm nach oben gespült. Außerdem hatte seine Mutter gesagt, dass sie sich seit siebzehneinhalb Jahren kennen würden. Doch als sie starb da war er gerade erst Siebzehn gewesen. Bei diesem Gedanken erkannte er seinen Denkfehler. Er hatte bei seinem Wunsch an das Datum seiner Reise nach Smallville gedacht. Das war erst im März des folgenden Jahres gewesen. Fast vier Monate nach seinem Geburtstag. Er stellte seine Fragen zunächst zurück und schaltete stattdessen den Fernseher ein um den Teletext aufzurufen.

Perfekt, es ist ein Samstag, durchfuhr es Christian bei einem schnellen Blick auf die Kopfzeile. Dann ist kein Druck da um herauszufinden, was sich zuletzt ereignet hat.

Er rief als Alibi die Tabelle der Bundesliga auf, damit seine Mutter nicht auf komische Gedanken kam. Das hatte er auch in seiner Vergangenheit öfter gemacht, wenn er die Freitagsspiele am Vortag versäumt hatte. Doch er sah den Text nicht, denn er dachte daran, was inzwischen aus seinen Freunden in Smallville geworden sein mochte. Unmöglich zu sagen wie er befand, denn es hatte sich bereits etwas Gravierendes verändert. Dann fiel ihm etwas ein.

„Ach, Mama. Wie geht es eigentlich Onkel Jason und Tante Mary in Smallville. Ich musste gestern vor dem Schlafengehen an sie denken. Komisch was?“

Andrea von Falkenhayn ließ das Buch sinken, dass sie im Begriff gewesen war aufzuschlagen und nach einem Moment meinte sie: „Ich habe vor einer Woche mit Mary gesprochen. Ihr und Jason geht es gut.“

„Hat sie dabei vielleicht eine Nachbarsfamilie erwähnt?“

Christians Mutter wirkte erstaunt. „Nein, aber wie kommst du darauf?“

Christian druckste herum und erwiderte dann: „Nur so. Sie erwähnte einmal eine Familie Sterling, als wir vor Jahren bei ihnen waren. Diese Sterlings sollen eine Tochter in meinem Alter haben.“

Die Lippen der Frau verzogen sich zu einem Schmunzeln. „Nein, Mary erwähnte sie nicht. Aber du solltest dich lieber auf Maray konzentrieren. Immerhin seid ihr seit drei Wochen zusammen. Ist Leonie übrigens immer noch sauer deswegen?“

Christians Augenlider weiteten sich etwas. Dann improvisierte er und meinte: „Vermutlich. Immerhin ist Maray ihre beste Freundin.“

„Gewesen“, spöttelte seine Mutter. „Wäre auch etwas zu viel verlangt gewesen von Leonie, das mit euch beiden so einfach abzutun. Mir hätte das auch nicht gefallen.“

„Das mit Leonie war längst vorbei“, verteidigte sich Christian prompt und fragte sich insgeheim warum. Er wusste ja bis eben nicht einmal, dass er wieder eine Freundin hatte. Offensichtlich hatte er sich ausgerechnet Maray Fischer geangelt. Oder sie sich ihn?“

Die Worte seiner Mutter drang in seine Überlegungen. „Nun, mich geht es nichts an. Was macht ihr zwei heute nach eurem gemeinsamen Training.“

Richtig, Maray betreibt ja auch Kampfsport, fiel es Christian siedend heiß ein. Länger als ich. Wie konnte ich denn das nur vergessen?

„Mal sehen“, antwortete Christian vage. „Das entscheiden wir immer beim Training. Wer gewinnt darf bestimmen.“

„Schöner Anreiz“, schmunzelte seine Mutter.

Im nächsten Moment erschien einer der Security-Angestellten des Hauses und kündigte Besuch an.

Andrea von Falkenhayn sah ihren Sohn auffordernd an. „Sie ist pünktlich, wie immer. Das zumindest habt ihr schon einmal gemeinsam. Außer eurer Passion für den Kampfsport natürlich. Seid vorsichtig, verstanden?“

„Keine Sorge, Mama.“

Damit erhob sich der Junge widerstrebend und folgte dem Angestellten durch die Bibliothek hindurch zum Foyer der Villa. Er hätte gerne noch etwas mehr Zeit mit seiner Mutter verbracht. Doch es wäre zweifellos aufgefallen, wenn er Maray hätte warten lassen. Außerdem würde er seine Mutter ab sofort wieder regelmäßig sehen.

Nach seiner Erinnerung hatte er Maray Fisher seit Jahren nicht mehr gesehen, doch er erkannte das hochgewachsene, athletische Mädchen sofort wieder und ein Lächeln überflog seine Lippen. Dass sie intelligent war, daran hatte er sich bereits zuvor erinnert. Doch jetzt stellte er fest, dass sie außerdem auch ausgesprochen hübsch aussah. Das war ihm früher nie so deutlich aufgefallen, wie in diesem Moment. Vielleicht hatte ihn seine Liebe zu Leonie in früheren Jahren wirklich blind gemacht, wie man behauptete.

Bei diesem Gedanken ertappte sich Christian bei der ironischen Überlegung, dass der Begriff Früher in seiner aktuellen Situation ein sehr relativer Begriff war. Doch darüber konnte er später sinnieren.

Im nächsten Moment beschäftigten Christian ganz andere Gedanken, den stürmisch umarmte ihn Maray und gleich darauf lagen ihre Lippen auf seinen. Beinahe automatisch erwiderte er den Kuss des Mädchens und für einen langen Moment dachte er nicht an sein bisheriges Leben. Ein Leben, dass er vermutlich auch nie weiterführen würde. Denn seine Mutter lebte – alles Andere verblasste dagegen zusehends.
 

* * *
 

Etwas überrascht erhob sich Christian vom Boden des Trainingsraumes und fixierte sein Gegenüber mit abwartender Haltung. Die vorherige Sanftheit war fast gänzlich aus den sphinxhaften grau-grünen Augen von Maray verschwunden. Das lange, nussbraune Haar hatte sie hinter dem Kopf zusammengebunden.

Für einen kurzen Augenblick nahm Christian in sich auf, dass ihre Nase von dunklen Sommersprossen gesprenkelt wurde, die sich von dort bis unter ihre Augen zogen. Bereits im nächsten Augenblick galt seine gesamte Konzentration wieder dem Trainingskampf, der so überraschend gut lief für seine Freundin Maray.

Es gelang Christian gerade eben, ihrer Attacke auszuweichen und mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz registrierte er ihre Gewandtheit und Schnelligkeit.

„Hey, du Lappen. Was ist heute mit dir los?“, erkundigte sich Maray und lachte amüsiert über den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers. „Hast du nicht gut geschlafen oder interessiert dich Muay Thai nicht mehr?“

In diesem Moment war Christian froh darüber, dass seine Erfahrung nicht nur siebzehn Jahre umschloss. Ohne zu zögern, erwiderte er: „Albträume. Die halbe Nacht lang. Es ging um meine Mutter. Irgendwer wollte sie ermorden und ich konnte nichts tun.“

Damit hatte er nicht einmal allzu sehr gelogen. Denn aktuell machte er sich immer noch Gedanken darum, ob das alles hier vielleicht im nächsten Moment wieder vorbei sein könnte. Und davor hatte er in den letzten Minuten eine geradezu panische Angst entwickelt.

„Dann lass uns für heute vielleicht aufhören“, gab Maray mitfühlend zurück. Ihre Haltung entspannte sich, als Christian erleichtert nickte. Rasch kam sie zu ihm und nahm ihn sanft in die Arme. Ihm in die Augen sehend sagte sie: „He, das hatte bestimmt nichts zu bedeuten. Solche Träume hat jeder mal.“

Christian nickte und genoss die sanfte Umarmung. Mit schlechtem Gewissen dachte er dabei an Alicia. Dieses Leben fortzuführen bedeutete, dass er sie aufgeben musste. Das war ihm eindringlich klargeworden. Er befand sich in einem Dilemma. Einerseits war er überglücklich seine Mutter wiederzuhaben. Andererseits bedeutete das, ein Leben mit Alicia aufzugeben, dessen Auswirkungen er in der Zukunft bereits erlebt hatte. Aber ging das wirklich? Konnte er die Zeit und das Schicksal überlisten? Und bedeutete ein gewonnenes Leben nicht gleichfalls ein verlorenes Leben. Würde die kleine Thora dann nie geboren? Oder würde sie nur einen anderen Namen und einen anderen Vater haben? Natürlich konnte er das hier beenden, falls Zatanna Zatara nicht gelogen hatte. Doch in demselben Moment, in dem ihm dieser Gedanke gekommen war, wusste er, dass er das nicht tun würde. Also blieb ihm nur dieses Leben.

Die Hände des Jungen glitten sanft über den Rücken von Maray und er spürte den sportlichen straffen Körper des Mädchens. In diesem Augenblick schien ihm dieses Leben gar nicht so verkehrt zu sein. Er würde sich daran gewöhnen und vielleicht irgendwann nicht mehr an Alicia und sein Leben in den USA denken.

Mit einem wohligen Seufzen fragte Maray leise: „Was machen wir heute?“

„Damenwahl!“, antwortete Christian prompt.

Maray kicherte leise in den Armen ihres Freundes. „Selbst Schuld. In dem Fall steht nämlich ein Shopping-Bummel durch die City an.“

Christian, der in dieser Hinsicht in den letzten Jahren einige diverse Erfahrungen mit Alicia gemacht hatte, lachte verzweifelt. Doch andererseits freute er sich auch darauf. Dennoch meinte er ironisch: „Du liebst es mich zu quälen, stimmt doch?“

„Armer schwarzer Kater“, spöttelte Maray und ließ ihn los. „Dann mal ab unter die Dusche. Wenn du schon so bereitwillig in dein Verderben läufst muss ich das ausnutzen.“

DIVERGENZ

Christian von Falkenhayn lag in seinem breiten Bett auf der Seite und beobachtete Maray an diesem klaren, kalten Wintermorgen dabei, wie sie friedlich schlief. Seit neun Monaten führte er nun dieses zweite Leben und er fühlte Zufriedenheit. Zu seinem gelinden Erstaunen stellte er an diesem Morgen fest, dass er wirklich glücklich war. Er hatte seine Mutter zurück und neben ihm lag ein bezauberndes Mädchen, in das er sich unaufhaltsam verliebt hatte, in diesen letzten neun Monaten.

Christian sah kurz durch eins der hohen Fenster. Über Nacht hatte es kräftig geschneit und Christian realisierte, dass er seit Jahren keinen Schnee mehr gesehen hatte. Nach einem Moment sah er wieder in das friedliche Gesicht von Maray. Er dachte dabei an jenen Tag zurück, an dem er in diesem Leben angekommen war. Maray hatte die Nacht hier verbracht und sie hatten zum ersten Mal miteinander geschlafen. Obwohl seine Gedanken damals noch sehr bei Alicia gewesen waren, war diese Nacht etwas Besonderes gewesen.

Maray war Alicia in einigen Belangen so ähnlich, dass es anfangs fast weh getan hatte. In anderer Hinsicht waren sie aber auch so grundverschieden, wie man es sich überhaupt nur vorstellen konnte. Noch vor neun Monaten hätte er für unmöglich gehalten, dass es für ihn eine andere Frau geben könnte als Alicia. Und nun war es doch passiert.

Dabei waren die Erinnerungen an Alicia langsam und stetig verblasst. Bis vor etwa fünf Wochen. Seit seinem Geburtstag hatte sich dieser Prozess umgekehrt. Immer wieder und immer stärker hatte er seitdem an Alicia gedacht. An ihre Beziehung und an ihr gemeinsames Leben. Die Schuldgefühle ihr gegenüber waren dabei immer wieder spontan aufgeflammt.

In diesem Augenblick geschah dies wieder und von dem anfänglichen Glücksgefühl wurde Melancholie. Wie zu den anderen Gelegenheiten blieb dieses Gefühl auch diesmal nicht lange, doch es wirkte stärker nach als sonst.

Dabei dachte Christian daran, dass er und seine Eltern über die Weihnachtsfeiertage nach Smallville reisen würden, um ihre Verwandten dort zu besuchen. Er selbst war es gewesen, der diesen Vorschlag gemacht hatte. Er hatte sich vor einigen Wochen daran erinnert, dass seine Tante – eigentlich Großcousine - Annette in seinem jetzigen Leben noch lebte. Aber er wusste auch, dass sie dem Tode geweiht war und so hatte er beschlossen seinen Vater und sie zumindest noch einmal zusammenzubringen, bevor sie starb. Etwas, das in seinem anderen Leben nie passiert war. Das hatte er stets bedauert.

Außerdem war seine Neugier immer stärker geworden, in den letzten Wochen. Was war aus seinen Freunden in Smallville geworden? Wie ging es Alicia und Samantha? Nicht zuletzt um sich zu versichern, dass es ihnen gutging, hatte er seine Eltern dazu bewegt, diesen Trip in die USA mit ihm zu machen. Wie bisher beruhigte er sich mit dem Gedanken daran, dass es in Smallville nie zu Meteoritenschauern gekommen sein konnte. Denn wenn sich dieser Teil seines Wunsches erfüllt hatte, dann auch der andere Teil davon.

Maray konnte sie nicht nach Amerika begleiten, obwohl er es sich sehr gewünscht hätte. Doch ihre Familie hatte eigene Weihnachtspläne. Das verstand er natürlich. Vielleicht war das sogar ein Vorteil, bei dem was er vorhatte. Er fragte sich wie es wohl sein würde, Alicia zu sehen, in dem Wissen, dass sie einander nie begegnet waren? Vielleicht gab es die Chance für sie sich wenigstens platonisch anzufreunden. Dieser Gedanke gefiel ihm.

Wie so oft in den letzten Monaten tastete seine Hand unbewusst nach dem Anhänger der Doppelkette, die er so gut wie nie abgelegt hatte, seit er sie in seinem Besitz hatte. Maray hatte ihn bereits einige Male deswegen aufgezogen.

Zum Erstaunen fühlte der Junge nichts auf seiner Brust und panisch tastete er um seinen Hals herum, bis er erleichtert feststellte, dass ihm der Anhänger im Schlaf auf den Rücken gerutscht war. Ihn aufatmend rasch wieder an seinen richtigen Platz rückend beobachtete er Maray dabei, wie sie erwachte.

Das Gesicht des Mädchens wirkte fast ätherisch, als sich Christian rasch zu ihr beugte und einen sanften Kuss auf ihre Lippen hauchte.

Noch im Halbschlaf schlang Maray ihre Arme um ihn und bevor sie richtig wach werden konnte murmelte sie leise: „Ich liebe dich, Christian.“

Sie küssten sich und erst als sie sich widerstrebend voneinander lösten, sagte Christian sanft: „Und ich liebe dich, Maray.“

Sie kuschelten miteinander, bevor Maray ebenfalls bemerkte, dass es über Nacht geschneit hatte und begeistert ausrief: „Schneemann oder Schneeballschlacht?“

„Beides!“, lachte Christian, erhob sich spontan und zog seine Freundin an der Hand mit sich zum Bad hinüber.

Eine halbe Stunde später tollten sie hinter der Villa ausgelassen im tiefen Schnee. Noch bevor Christians Eltern aufwachten, hatten sie gemeinsam einen Schneemann von beeindruckender Größe gebaut. Dabei hatten sie sich gegenseitig zwischendurch immer wieder lachend mit Schneebällen beworfen und inzwischen weilten Christians Gedanken nicht länger in Amerika. Er befand sich wieder ganz im Hier und Jetzt.
 

* * *
 

Bereits drei Tage später landete der Privatjet der Von Falkenhayns auf dem Metropolis-Airport. Zuerst fuhren sie von dort aus zu Annette Falken, der Gernot von Falkenhayn ihr Ankommen eine Woche zuvor angekündigt hatte.

Zu Christians Bedauern fiel das Wiedersehen zwischen seinem Vater und seiner Cousine nicht so herzlich aus, wie er es im Vorfeld gehofft hatte. Zumindest war sie ihm gegenüber etwas herzlicher gewesen. Doch auch dass das war nicht jenes Verhalten gewesen, an das er sich erinnerte. Das ernüchterte ihn etwas. Sie blieben bis zum Morgen des ersten Weihnachtstages, bevor sie in Richtung Smallville aufbrachen.

Zu seiner Erleichterung fiel das Wiedersehen mit seinem Onkel Jason und Tante Mary dafür so aus, wie es auch in seinem anderen Leben gewesen war.

Bereits auf dem Weg nach Smallville war Christian innerlich bis zum Zerreißen angespannt gewesen. Als die vertraute Umgebung der Kleinstadt auftauchte und Christian die ersten Geländepunkte wiedererkannte, fühlte er sich, als würde er nach langer Zeit wieder Nachhause kommen. Das hatte er in dieser Intensität nicht erwartet, denn er hatte inzwischen geglaubt, sich wieder in Deutschland ganz heimisch zu fühlen.

Im Gegensatz zu Deutschland hatte es hier nur sehr sparsam geschneit und im Moment war es hier eher nasskalt als kalt. Ein gewohntes Bild, wie Christian befand.

Wie so oft in den letzten Monaten hatte er eine Digital-Kamera dabei um Fotos zu machen. Der Gedanke, sein neues Leben dokumentieren zu müssen war in den letzten Monaten fast zu einer Fixen Idee geworden.

Als sie am Abend gemeinsam zusammensaßen und sich unterhielten, nutzte Christian die Gelegenheit, seine Tante ganz beiläufig zu fragen: „Was wurde eigentlich aus euren Nachbarn? Sterling war der Name, wenn ich mich richtig erinnere. Haben die nicht eine Tochter, die in meinem Alter ist?“

Christian wunderte sich über den plötzlich ernsten Gesichtsausdruck seiner Tante und ein ganz und gar ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Fast schien es so, als habe er mit seiner Frage ein unangenehmes Thema angeschnitten.

Mary Falken schluckte, bevor sie leise erwiderte: „Alicia Sterling starb vor einem dreiviertel Jahr. Drei Verbrecher überfielen sie und haben sie vergewaltigt. Als sie versuchte zu entfliehen hat einer dieser Verbrecher ein Messer gezogen und sie damit getötet.“

Christian war, als greife eine eisige Hand nach seinem Herzen. Unfähig etwas zu sagen glaubte er den Boden unter seinen Füßen zu verlieren. Aber das konnte doch nicht wahr sein. Ihr Leben musste doch irgendwie anders verlaufen sein? Als er endlich Worte fand, meinte er mit kratziger Stimme: „Ist hier in der Gegend irgendwann einmal einen Meteorit runtergekommen? Ich meine, so etwas mal im Internet gelesen zu haben.“

„Glaub bloß nicht alles was du da liest“, mahnte ihn seine Tante gutmütig. „Hier hat es so etwas nie gegeben.“

Christian nickte abwesend. Kein Meteoritenschauer. Das musste bedeuten, dass Alicias Mutter nie gestorben war. Aber warum dann dasselbe Ereignis Alicia betreffend? Irgendetwas war ganz und gar nicht so verlaufen wie er es sich gewünscht hatte. Aber woran das lag, würde er heute Abend nicht mehr herausfinden. Darum nahm er sich vor am nächsten Tag einmal auf eigene Faust nachzuforschen.

„Die armen Eltern“, murmelte Christian in Gedanken, was niemand bemerkte. Für den Rest des Abends beteiligte er sich nur sporadisch an den Unterhaltungen und zog sich unter dem Vorwand zurück Schlaf nachholen zu müssen. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Sinn. Außerdem fühlte er sich hundeelend. Was hatte er angerichtet mit seinem Wunsch? Als er schließlich in dem dunklen Gästezimmer im Bett lag, stieg ein wehes Gefühl in ihm auf und Tränen rannen über seine Wangen, bevor er die Augen schloss und versuchte an gar nichts mehr zu denken. Doch es dauerte die halbe Nacht bis er endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem er am Morgen schreiend erwachte.
 

* * *
 

Beim gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen aß Christian kaum etwas. Das, was Mary Falken ihm am Vortag erzählt hatte, war ihm ziemlich auf den Magen geschlagen.

Seiner Mutter war aufgefallen, dass etwas nicht stimmte und so fragte sie besorgt, als sie für einen Moment unter sich waren: „Was ist los mit dir. Seit gestern Abend bist du so schweigsam. Ist etwas mit dir und Maray?“

Christian schüttelte den Kopf. „Nein zwischen uns ist alles bestens. Es liegt vermutlich an der etwas bedrückenden Geschichte, die mit Tante Mary gestern Abend von ihre Nachbarn erzählt hat. Deren Tochter wurde vor neun Monaten ermordet. Sie war etwa in meinem Alter.“

Andrea von Falkenhayn nickte verstehend „Das ist ja schrecklich.“

„Ja. Bei einem meiner Besuche hier, in meiner Kindheit, habe ich, glaube ich wenigstens, sogar einmal mit ihr gespielt. Darum hat mich das etwas mitgenommen.“

Mit einem warmen Lächeln legte seine Mutter ihm die Hand auf den Unterarm. „Das zeigt mir, dass dir die Menschen nicht egal sind. Dafür liebe ich dich noch etwas mehr als ohnehin schon, mein Junge.“

Christian erhob sich und gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Danke, Mom. Ich mache einen Spaziergang, um den Kopf wieder freizukriegen.“

„Mom?“, echote Andrea von Falkenhayn. „Was sind das denn für Moden?“

Christian grinste schief. „Wenn du in Amerika bist, dann benimm dich wie ein Amerikaner. So heißt es doch?“

„Oder so ähnlich“, gab seine Mutter mit spöttischem Unterton zurück.

Christian wandte sich rasch ab und verließ das Haus. Erst nachdem die Veranda hinter ihm lag verhielt er kurz den Schritt und atmete er tief durch. Er musste herausfinden was hier passiert war. In einem Smallville ohne ihn und offensichtlich auch ohne Clark Kent und ohne Menschen die durch Kryptonit verändert wurden. Schließlich kam ihm ein Gedanke und er schritt rasch zur Scheune hinüber, wo sein Onkel außer mehreren Traktoren und seinem Pickup auch ein altes Motorrad stehen hatte.

Christian hatte das Glück ihn dort anzutreffen. Entschlossen fragte er: „Onkel Jason, darf ich mir für heute dein Motorrad ausleihen? Die entsprechende Fahrerlaubnis habe ich.“

Jason Falken überlegte kurz und erklärte dann: „In Ordnung. Aber fahr bitte vorsichtig. Deine Eltern reißen mir den Kopf ab, falls dir mit dem Hobel etwas passiert.“

„Keine Sorge“, lachte Christian. „Vielen Dank.“

Endlich auf der Straße in Richtung Zentrum von Smallville fasste Christian den Entschluss zuerst einmal im TALON vorbeizusehen. Oder im BEANERY, falls es das TALON nicht geben sollte.

Als Christian die Main-Street entlang fuhr, wurde ihm rasch klar, dass es das TALON wohl nie gegeben hatte. Dafür gab es ein kleines Kino an dieser Stelle. Offensichtlich war es nicht geschlossen worden, so wie in jener Realität die er bisher gekannt hatte. Also fuhr er weiter, bis er das BEANERY erreicht hatte. Diesen Laden gab es zu seiner Erleichterung und er hatte geöffnet.

Christian parkte das Motorrad seines Onkels am Straßenrand. Er stieg ab entledigte sich des Helmes und schritt entschlossen zum Eingang des BEANERY. Er war bereits einmal hier gewesen und es sah in etwa so aus, wie er es in Erinnerung hatte.

Nachdem er eingetreten war, stellte er fest, dass zu dieser frühen Stunde kaum etwas los war in diesem Laden. Eigentlich hatte er gehofft hier ein paar seiner Bekannten zu treffen wobei ihm schon klar war, dass die ihm in dieser Realität nie begegnet waren.

Ein junges Paar saß an einem der Tische im hinteren Bereich des Cafés. Bei seinem Eintreten sahen sie kurz zu ihm und kümmerten sich sofort wieder um sich selbst.

Für einen Moment blieb Christian reglos stehen. Unentschlossen ob er hier bleiben oder vielleicht besser wieder gehen sollte. Eine junge Frau hinter dem Tresen, die einige Jahre älter zu sein schien als er, nahm ihm die Entscheidung ab indem sie ihn ansprach.

„Hallo, Fremder. Darf ich dir etwas bringen?“

Christian wandte sich zu der jungen Frau und näherte sich langsam dem Tresen. Dabei erwiderte er freundlich: „Ja, ein Kaffee wäre nett. Stark und schwarz, bitte.“

Die schwarzhaarige Frau lächelte gewinnend und erwiderte: „Kommt sofort.“

Während sich Christian auf einen der Barhocker vor dem Tresen setzte, blickte die Schwarzhaarige über die Schulter zu ihm und erkundigte sich: „Du kommst nicht aus Smallville, habe ich Recht? Sonst wärst du mir bestimmt schon früher aufgefallen.“

„Richtig geraten“, bestätigte Christian. „Ich bin mit meinen Eltern hier zu Besuch bei Verwandten. Jason und Mary Falken. Vielleicht kennst du sie?“

„Und wie ich die kenne“, gab die junge Frau fröhlich zurück und ein gewisser Schalk lag in ihren blau-grauen Augen. „Meine Eltern und ich wohnen auf der Kent-Farm, gar nicht weit weg von der Falken-Farm.“

„Kent-Farm?“, echote Christian irritiert. „Dann bist du…?“

„Celine Kent - und wie heißt du? Auch Falken?“

„Äh… nein. Ich heiße Christian von Falkenhayn. Der deutsche Zweig der Familie. Die Kents sind also deine Eltern?“

Das Mädchen kam mit dem Kaffee zum Tresen und stellte eine beeindruckend große Tasse auf den Tresen. Dabei meinte sie: „Eigentlich sind die Kents meine Adoptiv-Eltern. Meine leiblichen Eltern starben, als ich drei Jahre alt war. Bei einem Autounfall. Der Wagen überschlug sich mehrmals. Ich wurde aus dem Wagen geschleudert und kam, wie durch ein Wunder, mit ein paar Schrammen und ein paar blauen Flecken davon. Die Kents waren die ersten an der Unfallstelle und alarmierten die Rettungskräfte. Doch meine Eltern starben noch bevor sie eintrafen. Martha Kent fand mich bewusstlos in einem Gebüsch.“

Christian sah sein Gegenüber erschrocken an. „Das tut mir leid, Celine.“

Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Das muss es nicht. Ich erinnere mich kaum noch an meine richtigen Eltern. Ich weiß nur, dass ich mich bei meinen Adoptiveltern so geborgen fühle, wie es nur wenige Menschen von sich behaupten können. Ich hatte das Glück, in ihnen ganz tolle neue Eltern zu finden. Ihre Liebe und ihre Fürsorge hat meinen Verlust weniger schlimm gemacht.“

Christian nickte in Gedanken. Dabei fragte er sich, woher diese junge Frau ihm so bekannt vorkam. Irgendwo schien sie ihm schon einmal begegnet zu sein. „Ja, mein Onkel sprach einmal sehr positiv von ihnen.“

Der Junge wechselte das Thema und erkundigte sich: „Dann kennst du bestimmt auch die Familie Sterling. Ich habe Alicia Sterling vor sieben Jahren kennengelernt, als ich das letzte Mal hier war. Meine Tante erzählte mir davon, was ihr zustieß. Ich war richtig schockiert denn ich hatte damals mal für einen Nachmittag mit ihr gespielt.“

Für einen Moment lang sah ihn Celine überlegend an, bevor sie grinsend meinte: „Dann bist du der Chris aus Deutschland! Ich erinnere mich daran, dass Alicia wochenlang von nichts anderem mehr geredet hat, als dass sie dich heiraten würde, wenn sie erwachsen ist. Nun da kommst du wohl zu spät.“

Das Lächeln des Jungen verlor sich und melancholisch entgegnete er: „Ja. Vielleicht wäre ihr nichts passiert, wenn ich eher hierhergekommen wäre.“

Spontan legte Celine ihre Hand auf seinen Unterarm. „He, was für einen Unsinn redest du da? Du kannst nichts für das, was ihr passierte. Woher hättest du das den wissen sollen, im fernen Deutschland?“

„Ja“, murmelte Christian abwesend. „Woher wohl?“

Celine nahm ihre Hand zurück und fragte mit prüfendem Blick: „Warum geht dir das so nah? Du kanntest sie doch kaum?“

Christian riss sich bei ihren Worten zusammen und sagte ausweichend: „Tut mir leid. Manchmal nehmen mich solche traurigen Geschichten mit. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass Weihnachten ist.“

„Das wird es sein“, erwiderte Celine aufmunternd.

Christian nahm einen langen Schluck von seinem Kaffee und fragte dann: „Ich erinnere mich daran, dass Alicia eine Freundin hatte. Samantha, glaube ich.“

Ein Schatten fiel auf das Gesicht von Celine und nach einem Moment erklärte sie: „Ja, das war ihr Name. Sie wurde vor einigen Wochen hinter dem BEANERY überfallen und erschossen. Für ein paar lumpige Dollar.“

Christian war, als würde eine eisige Hand nach seinem Herzen greifen und mit einem Anflug von Grauen dachte er: Es können doch nicht alle Leute tot sein, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe. Was habe ich mit meinem Wunsch nur ausgelöst? Ist das Leben meiner Mutter und mein persönliches Glück diesen Preis wert?

Um sich selbst von der Tragik die er von Celine hörte abzulenken, fragte er: „Ist die Verbrechensrate hier in Smallville wirklich so hoch, wie es sich anhört?“

„Nicht höher oder niedriger, als überall sonst in den USA.“

Der Clark Kent-Effekt, überlegte Christian. Er hat offensichtlich nicht nur Meteoritenfreaks dingfest gemacht, sondern auch eine Menge gewöhnlicher Gangster.

Laut sagte Christian: „Ja, vermutlich klingt es nur übertrieben schlimm, wenn man mehrere solcher Geschichten in zu kurzer Zeit hört. Wem gehört übrigens das kleine Kino auf der Main-Street?“

Das Gesicht des Mädchens heiterte sich auf und augenzwinkernd erkundigte sie sich bei Christian: „Den Eltern meiner Freundin Lana. Möchtest du mich vielleicht zu einem Kinoabend einladen?“

„Das würde meiner Freundin gar nicht gefallen.“

Echte Enttäuschung schwang in Celines Stimme mit als sie zurückgab: „Das ist wirklich zu schade.“

„Wenn ich nicht in festen Händen wäre hätte ich sofort zugestimmt“, versicherte Christian ihr und er meinte es aufrichtig. Er trank seinen Kaffee aus und meinte dann: „Aber du könntest mir einen Gefallen tun und mir sagen, ob Alicias Eltern noch in Smallville leben oder ob sie fortgezogen sind.“

Schon wieder lächelnd antwortete Celine: „Eireen Sterling triffst du vielleicht gerade noch an, wenn du dich beeilst. Sie will heute nach Metropolis abreisen, soweit ich weiß.“

Christian entwickelte plötzlich eine ziemliche Eile. Hastig kramte er einige Dollarscheine aus der Tasche und legte sie auf den Tresen. Dabei sagte er rasch: „Stimmt so!“

Bevor Celine etwas erwidern konnte, erhob er sich und hastete nach draußen. So bekam er nicht mehr mit wie Celine leise seufzte: „Wirklich schade.“

DER RAT EINER MUTTER

In halsbrecherischer Fahrt raste Christian mit dem Motorrad zur Sterling-Farm. Unterwegs brachte ihn die Angst Eireen Sterling zu verpassen beinahe um den Verstand. Endlich erreichte er die Farm und vor dem Zaun bremste er so scharf, dass das Motorrad mit dem Hinterrad wegrutschte. Nur mit Mühe konnte der Junge einen Sturz vermeiden.

Als er das Motorrad nach einer unfreiwilligen 180-Grad-Wende endlich abgestellt hatte und abstieg, bemerkte er die Frau auf der Veranda des Hauses, in dem er so oft mit Alicia gewesen war. Er erkannte sie, obwohl er wusste ihr nie begegnet zu sein. Doch er hatte sie auf einigen Fotos gesehen die Alicia sorgfältig eingerahmt hatte. In seinem anderen Leben. Sie sah fragend zu ihm, ob seines riskanten Motorrad-Manövers.

Christian hatte kaum den Helm auf der Sitzbank abgelegt, als die Frau ihm mit melodischer Stimme zu rief: „Das hätte aber schiefgehen können, junger Mann. Warum haben Sie es denn so eilig?“

Christian begegnete dem fragenden Blick der Frau und er stellte unbewusst einen Vergleich mit Alicia an. Die Ähnlichkeit wäre auch dann unverkennbar gewesen wenn er nicht gewusst hätte dass sie die Mutter von Alicia war. Sie machte einen sympathischen wenn auch etwas traurigen Eindruck. Was nicht verwunderlich war. Ein Kind zu verlieren musste furchtbar sein. Das wollte sich der Blonde gar nicht vorstellen. Bei diesem Gedanken spürte er selbst wieder seinen imaginären Knoten im Magen.

Als Christian den Zaun erreicht hatte, sagte er: „Es wird sich für Sie möglicherweise etwas befremdlich anhören. Ich wollte zu Ihnen, Misses Sterling. Ich bin der Neffe von Jason und Mary Falken und meine Tante hat mir erzählt, was Alicia passiert ist. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.“

Die schlanke Frau kam näher und runzelte leicht die Stirn. „Vielen Dank. Haben Sie meine verstorbene Tochter gekannt?“

Christian räusperte sich und erwiderte ruhig: „Nur flüchtig. Vor etwa sieben Jahren war ich das letzte Mal hier. Ihre Tochter und ich waren damals noch Kinder. Wir haben miteinander gespielt, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt.“

Ein schmerzliches Lächeln überflog das Gesicht der Frau. „Dann heißen Sie vermutlich Chris? Meine Tochter sprach als Zehnjährige wochenlang von einem blonden Jungen der Chris heißt.“

„Christian von Falkenhayn, wenn man es genau nimmt“, bestätigte der Junge. „Aber Chris ist vollkommen okay, Ma´am.“

„Eireen Sterling“, gab die Frau zurück und deutete auf das Haus. „Möchten Sie vielleicht für einen Moment hereinkommen? Ich bin zwar auf dem Weg nach Metropolis, zu meiner neuen Wohnung dort, doch ich glaube ich kann mir die Zeit nehmen.“

„Danke, das wäre sehr nett“, erwiderte Christian und folgte der Frau durch die offene Gartenpforte zum Haus, obwohl er nicht genau wusste was er eigentlich hier wollte.

„Ich mache uns einen Tee“, erklärte die Frau und legte die dicke Winterjacke ab. „Was man für einen Kaffee braucht, habe ich leider schon in der neuen Wohnung.

Christian folgte ihrem Beispiel und legte seine Lederjacke ordentlich auf einen der Stühle in der Küche. Dabei meinte er: „Tee ist in Ordnung.“

Es dauerte nicht sehr lange, bis Eireen Sterling mit zwei Tassen dampfendem Tee wieder zu ihm kam und ihm eine davon über den Tisch schob. Dabei fragte sie: „Milch oder Zitrone, junger Mann?“

„Kommt ganz auf den Tee an.“

„Es ist Earl-Grey.“

„Dann Zitrone“, legte sich Christian ohne zu zögern fest. Nachdem er schließlich einen Schluck genommen hatte, nickte er anerkennend und sagte nachdenklich: „Ich war eben im BEANERY. Dort traf ich auf ein Mädchen namens Celine Kent. Sie sagte mir, dass Sie auf dem Sprung nach Metropolis seien.“

„Und da hatten Sie nichts Besseres zu tun, als hierher zu rasen und sich dabei fast den Hals zu brechen?“, erkundigte sich Eireen Sterling, wobei sie Christian scharf ins Auge fasste. Das finde ich sehr ungewöhnlich. Darum bat ich Sie auch herein.“

Christian atmete tief durch und fragte sich, ob er diese Frau wirklich mit dem konfrontieren sollte, was ihm widerfahren war. Noch konnte er sich nicht dazu durchringen, darum fragte er zuerst, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen: „Wird ihr Mann diese Farm nicht schrecklich vermissen?“

Der Blick der Frau wurde abweisend und nach einem Moment antwortete sie mit kratziger Stimme: „Mein Mann starb im Gefängnis. Er hat die drei Verbrecher aufgespürt, die unsere Tochter missbraucht und getötet haben. Er hat sie erschossen.“

„Doch nicht mit dem alten Peacemaker-Revolver seines Urgroßvaters.“

Erst als ihn Eireen Sterling mit großen Augen ansah, wurde Christian bewusst was er eben gesagt hatte. Das konnte er in dieser Realität unmöglich wissen.

Eireen Sterling schien das ebenso zu sehen, denn sie fragte misstrauisch: „Woher wissen Sie denn, dass der Urgroßvater meines Mannes eine solche Waffe hatte?“

Christian entschied sich dazu, der Frau reinen Wein einzuschenken. Auch wenn ihm dabei klar war, dass sie ihm vermutlich nicht glauben würde. Doch es war nun zu spät um es sich anders zu überlegen und deshalb sagte er eindringlich: „Ich weiß, dass es sich vollkommen verrückt anhört und vermutlich werden Sie mich für einen völlig Irren halten, aber das, was ich Ihnen nun erzähle, ist die Wahrheit. Obwohl ich mir sicher bin, dass Sie das stark anzweifeln werden. Nun, es ist so, dass er selbst mir von dieser Waffe erzählt hat. Allerdings nicht in dieser… Realität. Oh, Gott – Sie werden mich für einen kompletten Spinner halten, Misses Sterling. Aber es ist eine Tatsache, dass ich mich bis vor einem halben Jahr in einem ganz anderen Leben befunden habe. Doch dann gelangte ich in den Besitz eines Amuletts, das die Fähigkeit besitzt eine alternative Realität zu erschaffen. Fragen Sie mich allerdings bitte nicht, wie das funktioniert, denn das weiß ich selbst nicht.“

Der Junge brach ab und wartete gespannt darauf wie Eireen Sterling auf das bisher gesagte reagieren würde. Falls sie ihn für verrückt erklärte und einfach vor die Tür setzte, dann konnte er sich den Rest sparen.

Die Reaktion der Frau fiel in etwa so aus, wie Christian es sich vorgestellt hatte. Ungläubig starrte sie ihn an und nach einer geraumen Weile erwiderte sie: „Sie werden zugeben müssen, dass das wirklich wie Spinnerei klingt.“

Christian nickte deprimiert. „Ja und ich verstehe es, wenn Sie nicht bereit sind mir zu glauben. Vielleicht sollte ich besser…“

„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte Eireen Sterling zur Verwunderung des Jungen ernst. Können Sie denn vielleicht durch irgendetwas beweisen, was Sie da gesagt haben?“

Mit erwachender Hoffnung sah Christian die Frau an und erwiderte: „Möglicherweise ja, wenn Alicia hier dieselben Vorlieben hatte wie sie sie in der Realität hat, die ich so leichtfertig für diese aufgegeben habe.“

Er begann damit Angewohnheiten und Vorlieben von Alicia aufzuzählen, als er zu ihrer Lieblingseissorte kam, weiteten sich die Augen von Eireen Sterling und sie warf ein: „Aber auf Zitroneneis ist Alicia erst vor zwei Jahren verfallen.“

„Ja, bis dahin kam für sie nur Schokoladeneis in Frage“, bestätigte Christian und beobachtete die Reaktion der Frau.

Eireen Sterling sah Christian an wie ein Wundertier. Endlich sagte sie: „Das können Sie unmöglich alles wissen, ohne Alicia wirklich gut kennengelernt zu haben. In diesem anderen Leben, falls Sie nicht gelogen haben: Wie nahe standen sie sich bevor sie starb?“

„Wir… haben eine Beziehung geführt und sie starb dort nicht. In dieser anderen Realität konnte ich Alicia vor dem Schicksal bewahren, das ihr in dieser Realität widerfuhr.“

Ungläubig sah Eireen Sterling Christian an und Tränen rannen über ihre Wangen, als sie tonlos fragte: „Aber warum haben Sie denn diese andere Realität nicht angenommen? Es scheint mir so, dass diese Realität sich schlimmer entwickelt hat.“

„Nicht für jeden, Misses Sterling“, entfuhr es Christian. Er bemerkte den auffordernden Blick der Frau und erzählte ihr von seiner Mutter.

Nachdem er geendet hatte, sah ihn Eireen Sterling beinahe zornig an. Anklagend fragte sie: „Falls das alles stimmt: Woher nehmen Sie die Arroganz und die Anmaßung für ihr Glück das Glück anderer Menschen zu opfern? Ohne ihren verrückten Wunsch würde meine Alicia noch leben und meine Familie wäre noch intakt.“

Christian wich Eireen Sterlings Blick aus. Als er sie wieder ansah, schien der Frau bewusst zu werden, dass er mit etwas zurückgehalten hatte und deshalb forderte sie ihn auf: „Wenn es da noch etwas gibt, sollten Sie mir auch das noch erzählen.“

Christian zögerte bevor er sich dazu durchrang zu sagen: „Leider stimmt das mit der heilen Familie nicht so ganz. Nicht zuletzt deswegen gab ich meinem Wunsch nach. Weil ich auch Alicia ihre Mutter wiedergeben wollte. Sie, Misses Sterling, starben in der anderen Realität, als Alicia drei Jahre alt war. Bei einem Meteoritenschauer der zu dieser Zeit über Smallville niederging. Auch andere Familien wurden durch dieses Ereignis auseinander gerissen. Wie hätte ich ahnen können, dass ein Ausbleiben des Meteoritenschauers dennoch diese tragischen Ereignisse nach sich ziehen würde?“

Eireen Sterling schluckte. Nach einem langen Moment fragte sie: „Hat mein Mann… Ich meine hat er…“

„Ihr Mann hat später wieder geheiratet. Eine gute Frau namens Cassidy, die Alicia so sehr liebt, als wäre sie ihre eigene Tochter. Und Alicia liebt auch sie. Obwohl Alicia Sie nie vergessen hat, Misses Sterling, und sie sich liebevoll um ihr Grab kümmert.“

Die Finger ihrer Hände ineinander verkrampfend sah Eireen den Jungen an. „Wenn das alles stimmt, dann ist es Alicia in dieser anderen Realität gut ergangen?

Beruhigend bestätigte Christian: „Ja, Misses Sterling. Das bringt mich zu dem eigentlichen Grund meines Hierseins: Nämlich Sie zu fragen, ob Sie an meiner Stelle – mit dem Wissen, das Sie nun haben – all das wieder rückgängig machen würden, wenn Sie dazu in der Lage wären? Soll ich mich wirklich dafür entscheiden, meine Mutter ein zweites Mal zu verlieren? Bis gestern war ich mir sicher wie diese Antwort lautet, doch inzwischen habe ich wirklich ernsthafte Zweifel.“

Eireen Sterling erhob sich, umrundete den Tisch und schritt zu Christian, der sich beinahe automatisch ebenfalls erhob. Mit eindringlicher Miene sah sie den höher gewachsenen Jungen an, nahm sein Gesicht spontan in ihre Hände und sagte leise aber betont zu ihm: „Wenn das alles, was Sie mir erzählt haben, wirklich wahr ist dann tauschen Sie nicht etwas Reales gegen einen Wunschtraum. Sie haben ein Leben gehabt, das Sie genau so leben sollten, Chris. Zusammen mit meiner Alicia. Finden Sie nicht?“

„Aber das würde bedeuten, dass auch Sie wieder…“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Gott wird wissen, warum er mich zu sich gerufen hat. Vielleicht hatte mein Tod einen Sinn, den wir als Menschen nicht erkennen.

Christian sah die Mutter von Alicia beinahe ungläubig an. „Sie glauben immer noch an einen barmherzigen Gott? Trotz all dessen, was Sie verloren haben?“

Die Frau schenkte Christian ein Lächeln. Es war kein überhebliches Lächeln, sondern ein wissendes und sehr warmherziges Lächeln. „Mein Glaube ist alles, was mir geblieben ist. Wenn ich ihn auch noch verliere, was bleibt mir dann noch?“

Sie sah Christian an und der Junge nahm sie spontan in die Arme. Dabei sagte er: „Ich danke Ihnen für Ihre Zeit und für Ihren Rat, Misses Sterling. Wenn… wenn Sie Alicia etwas sagen könnten – was wäre das?“

Eireen Sterling drückte den Jungen sanft, so wie es seine eigene Mutter so oft getan hatte und beinahe wäre er in dem Entschluss, den er eben gefasst hatte, schwankend geworden. Es zerriss ihn geradezu innerlich. Doch er wusste nun was er zu tun hatte.

„Ich würde Alicia sagen, dass ich sie immer lieben werde und ihr dazu raten, jeden Tag ganz bewusst zu leben und zu erleben, denn er wird nicht wiederkehren.“

Christian erwiderte sanft den Druck der Frau und löste sich erst von ihr, als er sich wieder gefangen hatte. Rasch über sein Gesicht wischend sah er Eireen Sterling an und sagte rau: „Ich muss jetzt gehen, Ma´am. Dürfte ich zuvor ein Foto von Ihnen machen?“

Eireen Sterling sah im in die Augen. Sie ahnte, warum er das Foto haben wollte und zweifelnd fragte sie: Glauben Sie, das könnte funktionieren? Könnte eine Aufzeichnung über Realitätsgrenzen hinweg transportiert werden?“

Christian machte das Foto und sah die Frau, die für ihn lächelte, hoffnungsvoll an. „Wenn ich mich richtig entscheiden sollte, so hoffe ich es für Alicia.“

„Sie werden die richtige Entscheidung treffen.“

Christian nickte. „Ich danke Ihnen nochmals.“

Damit machte er auf dem Absatz kehrt, und verließ beinahe fluchtartig das Haus.
 

* * *
 

Andrea von Falkenhayn bemerkte die Abwesenheit ihres Sohnes, die er bereits den gesamten Tag über gezeigt hatte, als sie abends einen Spaziergang über den Feldweg machten, der zur Sterling-Farm führte. Christian hatte ihr erzählt, dass er Annette Falken nochmal besucht hatte, ohne dass er ein Wort darüber verloren hatte, was genau der Grund dafür gewesen war. Sie hatte sich bei ihrem Sohn eingehakt und sah ihn nun von der Seite an. „He, was ist denn mit dir? Du warst den ganzen Tag über schon so merkwürdig still und bedrückt. Vermisst du Maray oder war es der Besuch bei Annette?“

„Nichts davon“, gab Christian zurück und sah seine Mutter beinahe entschuldigend an. „Ich hatte heute Morgen nur eine Unterhaltung mit einem Mädchen das mir von noch einem Mord in Smallville erzählte. Seltsamerweise ausgerechnet die beste Freundin von Alicia Sterling. Das hat mich etwas deprimiert.“

„Das ist verständlich“, erwiderte seine Mutter mitfühlend.

Für einen Moment lang blieb es still zwischen ihnen, bevor Christian wieder das Wort ergriff: „Mama, darf ich dich mal etwas vollkommen Verrücktes fragen?“

„Nur zu.“

Der Junge druckste etwas herum bevor er endlich meinte: „Okay. Mal angenommen dein Vater wäre gestorben, als du noch ein Teenager warst und dir hätte jemand die Chance gegeben ihn wiederzubekommen. Zu dem Preis, dass es in dem Fall weder Papa noch mich jemals gegeben hätte. Wie würdest du dich dann entscheiden?“

„Stimmt, das ist definitiv eine vollkommen verrückte Frage. Aber um sie zu beantworten: Das wäre nie eine schwierige Wahl, denn ich würde weder auf dich noch auf deinen Vater verzichten. Auch nicht um meinem Vater ein längeres Leben zu ermöglichen. Weißt du: Manchmal geschehen sehr schlimme Dinge. Falls man die Möglichkeit hätte sie zu ändern dann würden die Konsequenzen daraus aber vielleicht viel schlimmer sein. Hast du mal daran gedacht?“

„Äh… nein.“

„Das solltest du aber vielleicht mal. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Dinge des Lebens genauso entwickeln wie sie sollen und niemand hätte das Recht in diese Entwicklung einzugreifen. Wo kämen wir da hin?“

Christian lachte verzweifelt auf und war froh, dass es hier draußen so dunkel war. Denn in Wahrheit war im gerade hundeelend zumute. Bei all dem fand er es jedoch auch erstaunlich, wie sehr sich die Ratschläge von Eireen Sterling und seiner eigenen Mutter ähnelten. Ohne, dass sie voneinander wussten.

„Ja, du hast bestimmt Recht. Vermutlich sollten wir jeden Tag ganz bewusst leben, weil er nicht wiederkehrt.“

„Hey, das klingt erstaunlich erwachsen und im Gegensatz zu dem was du mich eben noch gefragt hast ziemlich vernünftig.“

Etwas weniger bedrückt, als noch vor einem Augenblick erwiderte Christian ironisch: „Ich habe so meine Momente, Mama.“

Seine Mutter zog ihn zu sich heran und drückte ihn sanft. „Wenn es anders wäre dann wärst du ja auch nicht mein Sohn. Dein Paps und ich haben dich ganz gut hinbekommen, findest du nicht?“

„Ich werde mich hüten jetzt ein Eigentor zu schießen.“

Sie kehrten um und während des gesamten Rückwegs zur Farm seiner Verwandten genoss er mit jedem Schritt die Nähe seiner Mutter. Schon morgen würde sie nicht mehr für ihn da sein, denn er hatte nun endgültig eine Entscheidung getroffen.

Bevor er sich an diesem Abend von seiner Mutter verabschiedete, nahm er sie sanft in die Arme und drückte sie liebevoll. Es würde das letzte Mal sein und im Grunde seines Herzens war er dankbar für diese Gelegenheit. Obwohl es ihm beinahe das Herz brach, als er sich abwandte, um sein Zimmer aufzusuchen, wo er den Anhänger der Doppelkette trennte und sich danach auf das Bett legte.

DIE ENTSCHEIDUNG EINES SOHNES

Christian öffnete die Augen und nur langsam wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er sich wieder in der Villa befand, die seine Tante ihm vererbt hatte. Er lag jedoch nicht auf der Couch, sondern in seinem Bett. Dabei fragte er sich für einen kurzen Moment, ob er das alles wirklich erlebt hatte oder ob sich die Ereignisse des letzten halben Jahres lediglich in seinem Kopf abgespielt hatten.

Er stand auf, warf sich seinen Morgenmantel über und schritt zum Fenster hinüber. Auf dem Weg dorthin nahm er sein Handy vom Nachttisch und warf einen Blick auf den Kalender. Dabei stutzte er.

Das Display zeigte an, dass heute Sonntag war. Seit dem denkwürdigen Tag, als er im Falken-Tower Zatanna Zatara begegnete, war nicht ganz ein Tag vergangen.

„Das ist mehr als verrückt“, murmelte Christian und schritt zu einem der hohen Fenster hinüber. Gedankenverloren sah er hinaus auf den großen Garten, ohne ihn wirklich zu sehen. Ihn trieb um, was er in einem anderen Leben erlebt hatte. Nur langsam wurde ihm vollkommen klar, dass er durch seine Entscheidung seine Mutter ein zweites Mal verloren hatte. Dazu Maray, in die er sich heftig verliebt hatte. Nicht zu reden von Eireen Sterling.

Christian spürte den Widerstreit seiner Gefühle in sich toben. Nie war ein Mädchen namens Celine die Adoptivtochter der Kents geworden. Dafür stand auf der Habenseite, dass sowohl Alicia wieder lebte, als auch Samantha. Außerdem seine kleine Schwester Thora. Hier war zudem Jerome Sterling nie ins Gefängnis gekommen und dort gestorben.

Der Blonde haderte mit dem Schicksal. Doch nach einer geraumen Weile setzte sich in ihm die Erkenntnis, dass Alicias Mutter Recht gehabt hatte. So, wie seine eigene Mutter.

Sehr lange stand Christian an dem Fenster und sinnierte darüber, ob er über all das mit Alicia reden sollte. Reden konnte. Doch tief in sich spürte er, dass er diese Entscheidung bereits gefällt hatte. Er musste mit Alicia über all das reden.

Alicia wollte am Nachmittag zurück in Metropolis sein. Bis dahin hatte er also Zeit, sich selbst wieder etwas zu fangen und dem emotionalen Chaos Herr zu werden. Dann würde er Alicia sagen, was er in letzter Zeit erlebt hatte. Keine Wahrheit-Light, sondern er würde wirklich alle Geschehnisse auf den Tisch legen. Auch seinen Ausflug in sein älteres Ich.

Beinahe erleichtert atmete Christian tief durch bevor er sich vom Fenster abwandte. Er brauchte jetzt erst einmal eine ordentliche Dusche.

Als das heiße Wasser über seinen nackten Körper rieselte, dachte Christian an all das, was er in gefühlten neun Monaten erlebt hatte. An seine und an Alicias Mutter, an Maray Fisher und zuletzt auch an Celine Kent. Erst nach einer Weile durchzuckte ihn dabei die Erkenntnis, weshalb sie ihm im BEANERY so bekannt vorgekommen war. Ich habe mir nicht eingebildet, sie schon einmal gesehen zu haben. Das war die Junganwältin. Anders frisiert, dezent geschminkt und vier Jahre älter. Celine Merrigan – nicht Celine Kent.

Das würde sich feststellen lassen. Wenn Fynn Everett Specter sie gestern eingestellt hatte, so würde er von ihm ein Memo per E-Mail dazu bekommen haben. Voller Ungeduld beendete er seine Morgentoilette und beeilte sich damit, sich anzukleiden.

Während er seinen Arbeitsraum aufsuchte, schoss Christian durch den Sinn, wie relativ der Begriff gestern für ihn war. Denn nach seinem Empfinden lag dieser Tag ein dreiviertel Jahr zurück. In dieser Realität hingegen war es gestern gewesen.

Er setzte sich in den bequemen Sessel hinter seinen Schreibtisch und fuhr den vernetzten Laptop hoch. Danach startete er den Mail-Browser.

Tatsächlich, da ist ein Memo von Specter.

Christian öffnete die Datei und las den Inhalt. Dabei verzogen sich seine Lippen zu einem unmerklichen Lächeln. Die Junganwältin hieß tatsächlich Celine Merrigan. Irgendwie hatte er nicht damit gerechnet diese sympathische Frau noch einmal wiederzusehen und nun arbeitete sie für seine Firma. Dabei hatte sie offensichtlich Karriere gemacht.

Bei diesem Gedanken lehnte sich Christian im Sessel zurück. Er fragte sich, wie ihr Leben als Tochter der Kents verlaufen wäre. Dieses Leben hätte er ihr in diesem Fall vorenthalten. Erst jetzt begriff er die gesamte Tragweite seines leichtfertigen Wunsches nach Veränderung. Er hatte zuvor nicht geahnt, wie viele Leben von einer einzigen Veränderung der Gegenwart abhängig waren.

Christian beugte sich vor, lehnte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und barg den Kopf in seinen Händen. Dann fiel ihm etwas ein. Sein Besuch bei Tante Annette, den er in der anderen Realität getätigt hatte. Er hatte seine Digitalkamera bei ihr gelassen. Genauer gesagt, er hatte die Kamera hinter einigen Büchern ihrer Bibliothek versteckt. Bücher, von denen er wusste, dass sie diese nicht mehr gelesen hatte.

Eilig erhob sich der Blonde und suchte die Bibliothek auf. Er glaubte nicht an einen Erfolg, doch wenn es die Kamera auch in dieser Realität gab, weil er sie in der anderen hier deponiert hatte, dann gab es vielleicht eine Chance Alicia an ihrem diesjährigen Geburtstag eine besondere Freude zu machen.

Er griff zielstrebig zu den Büchern, hinter denen er die Kamera versteckt hatte und griff mit der Hand in das Regal.

Nichts. Das war beinahe zu erwarten.

Tief enttäuscht schritt Christian zu einem der Fenster und sah hinaus in den Park. Er wusste nicht, wie lange er dort abwesend gestanden hatte, als ihn die Stimme von Diane Bennings, seiner persönlichen Assistentin und Chefin der Security im Haus, aus den trübsinnigen Gedanken riss.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Chris?“

Christian sah auf und erwiderte nachdenklich: „Ja, Diane. Ich hatte nur gehofft, in diesem Regal etwas zu finden. Eine Digital-Kamera um genau zu sein. Doch vermutlich habe ich sie irgendwo anders hingelegt.

Die ehemalige Marine sah ihren Arbeitgeber interessiert an. „Ich habe vor einigen Monaten einmal eine Kamera dort gefunden. Als ich mir eins der Bücher ausgeliehen habe. Sie erinnern sich bestimmt, dass ich Sie gefragt hatte?“

Christians Gestalt straffte sich und mit beinahe fiebrig glänzenden Augen sah er Diane Bennings an. „Wo ist die Kamera jetzt?“

„Ich habe sie in den Safe gelegt. Ich dachte mir, Sie würden sie eher vermissen.“

„Bis heute, hatte ich sie fast vergessen“, gab Christian zurück. Ihm war klar, wie verrückt sich die Wahrheit für Diane angehört hätte. Dann fragte er: „Hatten Sie schon einmal den Wunsch Ihr Schicksal ändern zu können, Diane?“

Die Frau sah Christian etwas verwundert an, während dieser sich zum Safe begab, um die Kamera hervorzuholen. „Gelegentlich. Aber jedesmal frage ich mich dann auch, ob das wirklich erstrebenswert wäre.“

„Sie sind eine kluge Frau“, erwiderte Christian, ohne dabei auf den fragenden Gesichtsausdruck der Frau zu achten. Er schloss den Safe und aktivierte die Kamera. Nach einem Moment überflog ein glückliches Lächeln seine Lippen. Dabei sagte er abwesend: „Habe ich Ihnen übrigens schon erzählt, dass Specter eine Anwältin eingestellt hat, die mich gestern aus dem Aufzug geworfen hat, als ich im Falken-Tower vorbeigeschaut habe?“

Diane Bennings erlaubte sich ein Grinsen. „Das passiert Ihnen wirklich zu oft.“

„Da sagen Sie was“, stimmte ihr Christian zu. „Ich werde die Daten auf der Speicherkarte dieser Kamera kopieren und zwei der Bilder ausdrucken. Danach fahren Sie mich bitte nach Metropolis.“

„Wohin wollen Sie, wenn ich fragen darf?“

Christian grinste zufrieden. „Sie dürfen, Diane. Zu einem namhaften Künstler, der gleich ein Angebot von mir bekommt, das er selbst an einem Sonntag nicht ablehnen wird.“
 

* * *
 

Als Christian von Falkenhayn sich wieder in der Villa befand ließ Diane Bennings ihn allein und er begab sich in sein Arbeitszimmer. Endlich fand er die Zeit auch alle anderen Bilder anzusehen, die er in einer anderen Realität gemacht hatte. Einige davon zeigten auch Maray, sein Vater und viele weitere seine Mutter.

Bei einem der Bilder schnürte es ihm fast die Kehle zu. Es zeigte seine Mutter und ihn. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und sie wirkten beide rundherum glücklich. Sein Vater hatte es für ihn aufgenommen.

Mit Tränen in den Augen druckte Christian eine Reihe der Bilder aus. In seinem tiefsten Innern froh darum, sie zu haben um das, was er mit Alicia bereden wolle, auch untermauern zu können. Es würde wohl ungleich schwieriger sein sie davon zu überzeugen, dass er nicht vollkommen verrückt geworden war, gäbe es diese Fotos nicht. Doch selbst mit würde sich das, was er ihr zu sagen hatte, mehr als wirr anhören.

Christian blätterte gedankenverloren die Ausdrucke durch.

So fand ihn Alicia Sterling vor, als sie lächelnd das Arbeitszimmer betrat. Vor einer Minute hatte sie sich von Samantha verabschiedet. Gut gelaunt. Doch als sie Christian so bedrückt hinter dem Schreibtisch sitzen sah, verlor sich das Lächeln in ihrem Gesicht und mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend fragte sie: „Was hast du, Chris?“

Christian raffte die Ausdrucke schnell zusammen und sah Alicia offen an. „Wir müssen reden, Alicia. Es gibt da Ereignisse, von denen du wissen solltest.“

Alicia sah ihren Freund beinahe erschrocken an und sie erkundigte sich stockend: „Hast du… hast du Bedenken? Ich meine… wegen der Verlobung?“

„Nein, das ist es nicht“, versicherte Christian schnell und schritt zu ihr um sie sanft zu umarmen und ihr einen Kuss zu geben. „Ich liebe dich, Alicia. Doch ich bin mir nicht sicher, ob du mich noch lieben wirst, wenn ich dir erzählt habe was mir in der letzten Zeit widerfuhr. Trotzdem musst du die Wahrheit erfahren.“

„Du machst mir Angst, Chris.“

Christian nahm ihre Hand und begab sich mit ihr zum kleinen Salon. Dort waren sie ungestört. Nachdem sich Christian mit Alicia auf dem Sofa der kleinen Leseecke niedergelassen hatte, legte er die Ausdrucke zunächst auf den niedrigen Tisch und nahm beide Hände von Alicia in seine. Sie ernst ansehend begann er: „Ich weiß, dass sich das, was ich dir nun sagen werde, vollkommen irre anhören wird. Zum Glück kann ich einen Teil davon belegen. Ich bitte dich darum, dass du mir zunächst ruhig bis zum Ende zuhören wirst.“

Alicia schluckte und erwiderte rau: „Mach es nicht so spannend. Heraus mit der Sprache, Chris. Was ist los?“

Christian atmete tief durch und nahm die Hände seiner Freundin in seine. Dabei sah er sie inständig an und erklärte: „Als ich in Deutschland von unseren beiden Töchtern sprach, da hast du mich gefragt wie ich mir da so sicher sein kann. Die Antwort darauf ist: Ich habe sie bereits kennengelernt. Weil ich vor einiger Zeit zwei Tage lang in meinem fünfundzwanzig Jahre älteren Ich verbracht habe. Und mein älteres Ich in meinem Körper. Zumindest hat mir Diane – die ältere Diane – das bestätigt. Weil ich es ihr zuvor gesagt hatte.“

Verwirrt und ungläubig sah Alicia ihren Freund an, der damit fortfuhr ihr von seinem temporalen Ausflug zu berichten. Nachdem er ihr auch von den letzten Ereignissen berichtet hatte, rannen Tränen über die Wangen der jungen Frau. Alicia löste ihre Rechte aus der Hand von Christian und im nächsten Moment gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Dabei flüsterte sie heiser: „Wie konntest du nur? Wie konntest du unsere Zukunft einfach aufgeben? Und was hat dich bewogen dich anders zu entscheiden?“

Christian griff mit flehendem Blick wieder nach Alicias Hand und versicherte ihr eindringlich: „Es war gar nicht einfach, Alicia. Einerseits habe ich nicht damit gerechnet, dass dieser Zauber funktioniert. Andererseits dachte ich, dass auch deine Familie und dein Leben damit wieder in Ordnung sei. Doch das war nicht der Fall. Als ich mit meiner Familie Smallville besuchte, erfuhr ich, dass du vergewaltigt und getötet wurdest. Ich hatte angenommen, dass dieses Ereignis durch die Veränderung in deiner Vergangenheit nie so stattfinden würde. Außerdem starb Samantha. Nicht in der Nähe des TALON, das es dort in der anderen Realität gar nicht gegeben hat, sondern in der Nähe des BEANERY. Eher, aber von demselben Verbrecher getötet. In beiden Fällen war ich nicht dort und konnte nichts von dem verhindern. Das wurde mir eindringlich klar, Alicia. Ich hatte zuvor wirklich gehofft, du würdest glücklich mit deiner Familie in Smallville leben. Ohne die Auswirkungen, die der Meteoritenschauer gehabt hat. Das war anmaßend und ein Riesenfehler.“

Alicia sammelte sich. Nach einer geraumen Weile fragte sie rau: „Was ist mit meiner Mom geschehen? Von ihr hast du bisher nichts erzählt.“

Christian drückte die Hände seiner Freundin sanft. „Ich habe sie persönlich kennengelernt und mit ihr gesprochen, Alicia. Ich habe sie um Rat gefragt und sie sagte mir, dass ich mein Leben – unser Leben – keinem Traum opfern darf. Später habe ich meine Mutter dasselbe gefragt, allerdings ohne ihr die Zusammenhänge zu verraten. Sie sagte mir in etwa dasselbe, wie deine Mom. Die gab mir etwas für dich mit. Sie sagte mir: Ich werde Alicia immer lieben und ich würde ihr dazu raten, jeden Tag ganz bewusst zu leben und zu erleben, denn er wird nicht wiederkehren.“

Erneut rannen Tränen über die Wangen der jungen Frau und ein leises Zittern durchlief ihren Körper.

Christian nutzte die Gelegenheit und griff zu den Ausdrucken, die er zuvor gemacht hatte. Sie Alicia reichend erklärte er: „Ich war mir vorher nicht sicher, ob so etwas möglich sein würde, doch ich hatte in der anderen Realität eine Digital-Kamera in einem der Regale dieser Villa versteckt, als ich dort Tante Annette besuchte. Diane hat sie später tatsächlich hier gefunden und die Aufnahmen aus der anderen Realität waren noch vorhanden. Ich habe hier ein paar Ausdrucke davon gemacht.“

Alicia nahm die Ausdrucke und sah auf das erste Motiv. Dabei erkannte sie: „Das ist ja deine Mom, Chris. Ist das im Hintergrund die Falken-Farm?“

„Ja“, bestätigte Christian mit kratziger Stimme. „Das Gefühl, wenn sie sich, so wie auf dem Foto, bei mir eingehakt hatte war atemberaubend schön.“

„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Alicia leise und begann die Ausdrucke durchzublättern. „Das Mädchen mit dir im Schnee ist Maray?“

„Ja. Das war kurz vor Weihnachten.“

Alicia blätterte weiter, bis sie innehielt. Tränen rannen über ihre Wangen und Christian ahnte, dass sie das Bild ihrer Mutter vor sich hatte. Leise sagte er: „Ich habe zwar einen riesigen Fehler gemacht, doch ich durfte aufgrund dieses Fehlers deine Mom kennenlernen. Sie ist ein toller Mensch gewesen und ich verstehe erst jetzt richtig, wie sehr du sie nach dem Meteoritenschauer vermisst haben musst. Du und dein Vater.“

Alicia nickte und legte die Ausdrucke zur Seite. Danach legte sie ihre Arme um Christian und sie schmiegte sich eng an ihn. Ein ersticktes Schluchzen klang auf und Christian spürte einen imaginären Kloß in seinem Hals. Erst nach einer Weile sagte er mit kratziger Stimme: „Die Bilder mit Maray werde ich löschen, wenn du willst.“

Ohne zu ihm aufzusehen, erwiderte Alicia mit erstickter Stimme: „Nein. Behalte sie als Erinnerung, Chris. Das würde nichts ungeschehen machen.“

Für eine geraume Weile blieb es still zwischen ihnen, bevor Alicia sich leise bei Christian erkundigte: „Unsere Töchter, Chris: Wie waren sie?“

Christian überlegte, ob es eine gute Idee war, Alicia von den beiden Mädchen zu erzählen. Doch schließlich kam er zu dem Schluss, dass sie ein Recht darauf hatte, zumindest einige grundsätzliche Dinge zu erfahren. Also sagte er vorsichtig: „Ich habe sie als zwei tolle Mädchen kennengelernt. Zu dem Zeitpunkt waren die beiden sechzehn und vierzehn Jahre alt und Andrea schloss gerade die erste zarte Bande zu einem schneidigen Jungen. Sie ist eher Mamas Kind, während ihre zwei Jahre jüngere Schwester Eireen eindeutig auf Papa fixiert ist. Eireen spielt übrigens ziemlich rau Fußball.“

Alicia straffte sich und sah Christian mit einer Mischung aus Unglauben und Neugier an. „Denkst du, dass das wirklich passiert ist, Chris? Vielleicht…“

Christian lächelte nachsichtig. „Daran habe ich oft gedacht, in der letzten Zeit. Doch ich bin mir sicher, dass sich das nicht nur in meinem Kopf abgespielt hat.“

Alicia nickte in Gedanken. „Damit würden ein paar Ereignisse, die sich in diesen zwei Tagen ereigneten, auch viel mehr Sinn ergeben. Du bist seinerzeit so erwachsen damit umgegangen, dass ich mit Deion geschlafen habe.“

„Aber auch, nachdem ich wieder da war“, beharrte Christian und ein zaghaftes Lächeln überflog das Gesicht der jungen Frau.

„Ja, allerdings. Vielleicht hatte mein älteres Ich einen guten Einfluss auf dich?“

Christian küsste Alicia sanft auf die Lippen. „Dem kann ich nicht widersprechen. Allerdings warst du auch deutlich komplizierter als jetzt. Doch offensichtlich kann ich später ziemlich gut damit umgehen. Ich liebe dich, Alicia und ich will dich nie wieder verlieren. Das weiß ich jetzt mit absoluter Sicherheit.“

Alicia kniff ihn in die linke Wange. Nicht fest aber spürbar. „Dann wünsch dir nie wieder ein anderes Leben, denn das nächste Mal werde ich nicht so verständnisvoll sein und dir großzügig verzeihen, mein Lieber.“

„Nie wieder“, bestätigte Christian voller Überzeugung und küsste Alicia sanft.

Als sie sich zögerlich voneinander trennten, sah Alicia Christian fragend an. „Ich bin mir sicher, dass ich nicht zu viel von meiner Zukunft kennen sollte, doch eine Frage musst du mir beantworten, Chris. Wir zwei in der Zukunft: Waren wir glücklich miteinander?“

„Nein.“ Christian schmunzelte über den Gesichtsausdruck seiner Freundin und beeilte sich dann anzufügen: „Wir waren sehr glücklich miteinander und ich weiß jetzt ganz sicher, dass ich dieses Leben haben will, Alicia.“

Statt zu antworten, schmiegte sich Alicia enger an Christian und küsste ihn erneut.

ZWEI GESCHENKE UND EINE BELEHRUNG

Der Geburtstag von Alicia kam heran. Dabei waren sowohl Christian als auch Alicia froh, dass bis zum Beginn der nächsten Woche keine Vorlesungen anstanden. So erwachte Christian an diesem Donnerstagmorgen in den Armen von Alicia, ohne dass es irgendeinen Grund für irgendwelche Hektik gab.

Christian blickte seine Freundin an und ein glückliches Lächeln überflog seine Gesichtszüge. Mit Alicia zusammen zu sein war einfach perfekt. Sich nicht an dem friedlichen Gesicht von Alicia sattsehen könnend dachte er an das Paket, dass Diane Bennings gestern unbemerkt in sein Arbeitszimmer geschmuggelt hatte. Was nicht so einfach gewesen war, wie es den Anschein hatte, denn bereits seit Beginn der Woche war die Villa wieder mit Gästen bevölkert. Sein Vater und Christina waren bereits am Montag zusammen mit der kleinen Thora eingezogen. Gestern waren dann noch Neil Fender und Samantha erschienen. Sie gedachten, über das Wochenende zu bleiben. Mehr denn je war Christian froh darüber, sich Alicia am Sonntag ganz anvertraut zu haben. Wie sie reagiert hatte, sagte ihm nur zu deutlich, dass sie wirklich die Richtige für ihn war.

Er machte eine unbedachte Bewegung und Alicia erwachte. Halb verschlafen sah sie lächelnd zu ihm auf und beugte sich vor um ihn zu küssen.

„Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag, mein Engel“, raunte Christian, nachdem Alicia sich von ihm gelöst hatte. Danach flüsterte er verschwörerisch: „Dein eigentliches Geburtstagsgeschenk bekommst du später, während der Feier. Doch ich habe da etwas, das ich nur dir allein zeigen will. Mit Rücksicht auf die Gefühle von deinen und meinen Eltern.“

„Das klingt ja ziemlich mysteriös“, gab Alicia gähnend zurück. „Wie früh ist es eigentlich? Ich bin noch ganz verschlafen.“

„Wir können uns danach wieder hinlegen aber ich halte es jetzt nicht länger aus.“

„Na schön, du Quälgeist“, seufzte Alicia verschmitzt lächelnd.

Sie warfen sich ihre Morgenmäntel über und schlüpften barfuß, Hand in Hand, aus dem Schlafzimmer. Christian zog Alicia mit sich zu seinem Arbeitszimmer. Nachdem sie es betreten hatten und Christian die Tür hinter ihnen abgeschlossen hatte, erklärte er seiner Freundin und bald schon Verlobten: „Ich weiß zwar jetzt, dass mein Trip in eine Realität selten dämlich gewesen ist, doch es hatte auch einen Vorteil. Du hast die Bilder inzwischen gesehen, die auf der Speicherkarte der Kamera gewesen sind. Nun, ich habe zwei davon am Sonntag zu einem namenhaften Künstler in Metropolis mitgenommen und ihn sehr gut dafür entlohnt, dass er ein Bild für dich malt. Die Farbe ist noch nicht trocken, deshalb würde ich es gerne noch ein paar Tage hier lassen, bevor wir es in deinem Arbeitszimmer aufhängen.“

Damit deutete Christian zu einem verhangenen, aufrecht an der Wand stehenden Objekt, von dem Alicia nun ahnte, dass es sich um das besagte Bild handeln musste. Neugierig geworden schritt sie mit Christian darauf zu. Erst als sie es erreichten ließ Christian ihre Hand los und entfernte behutsam das Tuch vom Rahmen.

Als Alicia das Motiv erkennen konnte, schlug sie die Hände vor den Mund, denn sie war drauf und dran gewesen einen Schrei von sich zu geben. Erst nachdem sie sich gefangen hatte entfuhr es ihr heiser: „Oh, mein Gott.“

Es war sofort zu erkennen, welche beiden Frauen auf dem Bild dargestellt wurden. Rücken an Rücken, sich an der nach vorne gewandten Schulter fast berührend, sahen sie den Betrachter an. Beide mit einem sanften Lächeln. Dabei hatte es der Künstler verstanden ihre Augen so zu zeichnen, als würden sie gemeinsam etwas aushecken. In der linken Frau erkannte Alicia sofort ihre leibliche Mutter wieder. Die andere Frau kannte sie nur von Fotos. Christians Mutter. Der Hintergrund war blau gehalten und erst auf den zweiten Blick erkannte Alicia, dass er einen leicht bewölkten Himmel darstellte.

Endlich fand Alicia die Sprache wieder und mit Tränen in den Augen sagte sie, beinahe lautlos: „Chris, das Bild ist unsagbar schön. Meine und deine Mom wirken darauf so friedfertig und gleichzeitig so, als würden sie gute Freundinnen sein und einen gemeinsamen Streich aushecken. Genau so habe ich mir gelegentlich vorgestellt würden sie vielleicht sein, wenn sie noch lebten.“

Christian umarmte Alicia von hinten und war ganz froh darüber, dass sie seine feucht schimmernden Augen nicht sehen konnte. „Ja, so habe ich es mir auch gelegentlich vorgestellt. Und wer weiß, vielleicht machen sie wirklich gemeinsam den Himmel unsicher.“

Alicia wandte sich zu Christian um und nahm ihn wortlos in die Arme. Erst nach einer ganzen Weile sagte sie leise: „Ich verstehe, warum du mir das Bild allein zeigen wolltest. Vermutlich würde es meinen und deinen Vater wieder an zu viele dunkle Dinge erinnern. Es ist das tollste Geburtstagsgeschenk meines Lebens, Chris.“

„Wundere dich nicht darüber, wenn ich dir in nächster Zeit sehr oft in deinem Arbeitszimmer auf den Wecker fallen werde.“

Alicia drückte Christian fest an sich. „Irgendwann werden wir es im Salon aufhängen. Damit nicht nur wir es zu sehen bekommen. In ein paar Jahren vielleicht?“

„Ganz wie du möchtest“, erwiderte Christian. Er löste sich widerstrebend von Alicia, verhängte das Bild und nahm Alicia danach wieder an die Hand.

Gemeinsam begaben sie sich wieder ins Schlafzimmer aber Schlaf fanden sie nicht mehr an diesem Morgen. Dafür unterhielten sie sich leise miteinander. Irgendwann kam Alicia auf das Konzert zu sprechen, bei dem Christian Samantha als Begleiterin mitgenommen hatte.

„Halte mich ruhig für paranoid, Christian, aber irgendetwas hat sich bei Samantha verändert. Am Sonntag habe ich das ganz deutlich gemerkt. Sie verhält sich mir gegenüber anders, als früher. Ich weiß nicht was, aber irgendetwas ist anders geworden. Seit dem Abend, als ihr in der Oper wart merke ich das ganz deutlich.“

„Dann habe ich mir das wohl doch nicht eingebildet“, seufzte Christian leise. „Ich dachte zwischenzeitlich, dass ich mich irren würde, doch du merkst es offensichtlich auch. Allerdings denke ich inzwischen, dass das eher begonnen hat. Ich hatte schon einige Zeit davor manchmal so ein seltsames Gefühl. Nichts Greifbares, deshalb habe ich das nicht beachtet. Eben weil wir uns immer besser verstanden haben, mit den Jahren.“

„Dann hattet ihr also keinen Zwist?“

Christian schüttelte schwach den Kopf. „Nein. Nichts dergleichen. In dem Fall wüsste ich ja was los ist. In dem Fall hätte ich dich längst um Hilfe gebeten. Hat sie mit dir darüber gesprochen, ob sie vielleicht Streit mit Neil hat?“

„Nein. Andererseits habe ich sie auch nicht danach gefragt. Was meinst du, Chris? Soll ich da vielleicht mal vorsichtig nachhaken?“

„Hm“, machte Christian nachdenklich. „Vielleicht wäre es besser damit zu warten. Sie sind ja dieses Wochenende in unserer Nähe. Wir könnten ein Auge auf die Beiden haben und falls wir wirklich den Eindruck haben, dass bei ihnen der Haussegen schief hängt, dann können wir immer noch etwas sagen. Was hältst du davon?“

„Klingt gut“, lächelte Alicia und küsste Christian sanft. Dann erkundigte sie sich mit verändertem Tonfall: „Ich hätte da noch eine allerletzte Frage zu deinem kleinen 2030-Trip, die ich gestern vergessen habe zu stellen. Weißt du, in welchem Jahr wir geheiratet haben?“

Christian rollte übertrieben mit den Augen. „Das ist aber dann wirklich das letzte Mal, dass dieses Thema aufkommt. Also schön, wir werden uns in ziemlich genau vier Jahren und einem Monat das Ja-Wort geben. Zwei Jahre nach unserem Abschluss an der Uni. Was darauf schließen lässt, dass du die Sache mit der Rückzahlung des Darlehens konsequent durchziehen wirst.“

„Du meinst wohl, dass du konsequent durchziehen wirst mich, wie du es nanntest aus ethischen Gründen, erst zu heiraten, wenn ich meine Schulden bei dir abbezahlt habe.“

Christian zwinkerte Alicia belustigt zu. „Oder so.“

Alicia lächelte entsagungsvoll. „Im Mai 2012 also. Klingt doch gut.“

„Nein, das klingt sehr gut. Ich freue mich bereits jetzt schon darauf. Was hältst du von einer gemeinsamen Dusche?“

Wortlos warf Alicia die Bettdecke zur Seite und schwang sich aus dem Bett, wobei sie Christian an den Händen mit sich zog. Mit einem verführerischen Lächeln sagte sie leise: „Dafür bin ich immer zuhaben, das weißt du doch.“

Christian erinnerte sich an die fünfundzwanzig Jahre ältere Alicia und erwiderte mit einem anzüglichen Grinsen: „Ja, und wie ich das weiß.“
 

* * *
 

Bereits eine Stunde später ging es am Frühstückstisch recht munter zu. Natürlich wollten alle dem Geburtstagskind gratulieren und sogar Thora wurde von ihrer Mutter dazu genötigt, Alicia so etwas wie ein Küsschen auf die Wange zu geben. Was Christian im Anschluss zu einem ziemlich breiten Grinsen veranlasst hatte.

Danach musste Alicia, unter großem Hallo, im Wohnraum ihre Geschenke auspacken. Wobei sie sich über die Doppelkette ganz besonders freute. Ganz selbstverständlich trennte sie die beiden Hälften des Anhängers und reichte eine davon Christian. Nachdem sie ihre Ketten angelegt hatten bedankte sich Alicia mit einem zärtlichen Kuss auf die Wange bei Christian. Dabei blickte sie kurz bedeutungsvoll zu Samantha und Neil.

Christian zuckte unmerklich die Schultern, weil im bisher nichts Besonderes am Verhalten der Beiden aufgefallen war. Was ihn erneut zweifeln ließ, ob die Veränderung, über die er am Morgen mit Alicia gesprochen hatte, nicht doch eine ganz normale Entwicklung im Wesen von Samantha sein könnte.

Am späten Nachmittag füllte sich die Villa mit den geladenen Gästen, unter denen sich auch Clark Kent, Chloe Sullivan und deren Cousine Lois Lane befanden.

Da es Draußen bereits angenehm warm war entwickelte sich das Fest zu einer halben Gartenparty.

Nachdem sich am späten Abend die Party wieder ganz ins Innere der Villa verlagert hatte, nutzte Christian die Gelegenheit um mit Clark unter vier Augen zu reden. Also dirigierte er ihn in den jetzt verlassenen Garten. Zu Beginn wirke Clark etwas befangen, doch das schob Christian zur Seite. Er brauchte den Rat des Freundes und so fragte er schließlich direkt: „Clark, erinnerst du dich noch daran, was ich dir über meinen Ausflug in die Zukunft erzählt habe? Als ich zwei Tage in meinem älteren Ich verbrachte?“

Der Schwarzhaarige nickte in Gedanken. „Vage. Du sagtest, du wärst dort mit Alicia verheiratet gewesen.“

Christian nickte bestätigend. „Ja, das ist richtig. Ich habe mich seitdem gefragt, ob meine Entscheidung Alicia einen Antrag zu machen dadurch beeinflusst wurde.“

„Die Frage nach dem Ei oder der Henne“, rekapitulierte Clark. „In diesem Fall würde ich sagen, dass du die Auswirkung deiner Entscheidung gesehen hast bevor sie dich beeinflussen konnte. Ich glaube also nicht, dass deine Entscheidung aufgrund dieses Ereignisses fiel. Oder hast du vorher nicht bereits den Wunsch gehabt mit Alicia zusammen zu sein?“

Christian sah in die blauen Augen des Freundes. „Doch, dieser Wunsch war bereits lange vorher da. Außerdem wirkten beide, ich meine damit Alicia und ich in der Zukunft, ziemlich glücklich. Clark, ich will dieses Leben unbedingt haben.“

Christians Gegenüber legte die Rechte auf seine Schulter. „Dann solltest du nicht zweifeln und Alicia nachher einfach den Antrag machen.“

Christian blickte Clark dankbar an. „Das werde ich. Selbst, wenn die Erde dabei untergehen sollte.“

Der Blonde zögerte einen Moment, bevor er mit verändertem Tonfall sagte: „Clark, das, was ich dir vor einiger Zeit vorgehalten habe, tut mir leid. Ich meine, nicht in der Sache, sondern weil ich dabei etwas heftig reagiert habe.“

Clark lächelte schwach. „Schon vergessen. Vielleicht wirst du es ganz interessant finden, dass mir Oliver Queen einmal etwas ganz Ähnliches um die Ohren gehauen hat.“

„Vielleicht solltest du auf deine Freunde hören“, gab Christian mit ironischem Tonfall zurück, bevor er wieder ernst wurde und sich erkundigte: „Wie geht es Lana?“

„Sie ist seit einer Woche katatonisch. Seit sie meinen kryptonischen Namen sagte und mir kryptisch mitteilte, dass ich zu spät gekommen sei. Zuerst die Sache mit Bizarro und nun das. Es ist nicht leicht zu ertragen.“

Christian sah den Freund eindringlich an. „Weil du Lana immer noch liebst, Clark. Hör zu, Alicia und ich standen vor einer ganz ähnlichen Situation, wie du und Lana vor einiger Zeit. Das war, als Chloe, Lois und Lana von Hexen übernommen worden waren und wir alle unter einem Zauberbann standen. Damals hatte Alicia mit Deion geschlafen und…“

Christian brach ab und neugierig hob Clark die Augenbrauen. „Und was?“

„Während der Fete in eurer Scheune haben sich Chloe und ich für eine Stunde abgesetzt. Wir haben damals, unter dem Bann stehend, miteinander geschlafen. Ich erinnere mich noch dunkel daran, dass ich ihren String-Tanga damals übermütig über ein paar Heuballen geschnippt habe.“

Clark hüstelte rau. „Der war nicht zufällig rot?“

„Doch, knallrot, wenn ich mich recht erinnere. Warum…“

Clark seufzte unterdrückt. „Weil ich seinerzeit beim Aufräumen der Scheune genau einen solchen Tanga gefunden habe. Ich habe mich immer gefragt, wem der wohl gehört und wie er, oder besser sie, ihn einfach so verlieren konnte. Jetzt weiß ich es und ich denke, dass es mir entschieden zu viel Information war.“

Als wären Clarks Worte das Stichwort gewesen, erschien Chloe bei ihnen und erkundigte sich launig: „Was macht ihr zwei den hier?“

„Wir haben uns lediglich unterhalten“, erwiderte Clark schnell.

„Über alte Zeiten“, ergänzte Christian vielsagend, was ihm einen langen Blick von Clark Kent einbrachte.

Chloe, die davon nichts mitbekam, gab scherzhaft in Richtung von Clark zurück: „Und ich hatte schon befürchtet, Christian würde kalte Füße kriegen und dich dazu anstiften seine Flucht zu decken.“

„Aber nicht doch“, grinste Christian. „Ich habe nicht vor mich aus der Nummer heraus zu lavieren. Ich liebe Alicia.“

„Bitte keine Alicia-Liebes-Oper“, verlangte Chloe grimmig lachend. „Kümmere dich lieber wieder um mich und um all deine anderen Gäste.“

Christian deutete belustigt grinsend eine Verbeugung an und kam dann schmunzelnd Chloes Aufforderung nach – sich davon überzeugend, dass Clark und Chloe ihm folgten.

Vor der Tür hielt Clark den Freund an der Schulter zurück und fragte eindringlich: „Wie ist Chloe anschließend damit umgegangen? Kann sie sich daran erinnern?“

Christian grinste schief: „Dank mir schon. Ich dachte, sie würde es ebenso noch wissen wie ich. Also sprach ich am nächsten Tag mit ihr. Wie sich herausstellte, hatte sie es vergessen. Wenn ich das geahnt hätte…“

Clark unterbrach Christian. „Du hättest es ihr nicht gesagt, doch vielleicht war es besser so. Das Ganze hätte ja durchaus Folgen haben können.“

„Nein, das hätte es nicht“, korrigierte Christian in Gedanken und räusperte sich bei Clarks fragendem Blick. „Und ich werde jetzt besser die Klappe halten.“

Sie begaben sich wieder zu den Partygästen. Einige Minuten nach Mitternacht wechselte Christian einige Worte mit Clark bevor er kurz sein Arbeitszimmer aufsuchte, um den Verlobungsring aus dem Wandsafe zu holen. Mit der bordeauxroten Ringbox kehrte er zurück zum Salon, wo Clark bei seinem Wiedererscheinen sein Glas anhob und mit einer der Gabeln vom Buffet mehrmals daran schlug, bis die Gäste aufmerksam wurden.

Christian trat in die Mitte des Salons und hob seine Hände um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nachdem Ruhe eingekehrt war, sagte er mit deutlicher Stimme: „Ich bitte nun alle Anwesenden darum, ihre Gläser zu füllen.“

Die meisten Gäste wussten was nun folgen würde.

Christian wartete, bis alle Anwesenden ihre Gläser gefüllt hatten, wobei sein Vater und Cassidy Sterling sich mit einem zweiten Glas versorgten.

Alicia trat in der Zwischenzeit zu Christian und aufgeregt lächelte sie ihn an.

Christian erwiderte ihr Lächeln und wandte sich danach an die Gäste. „Liebe Freunde und Verwandte. Ich werde es kurz machen. Ihr wisst alle, dass Alicia und ich nun seit mehr als vier Jahren zusammen sind. Wir haben uns in dieser Zeit so weit kennengelernt, dass wir inzwischen ganz sicher sind, irgendwann eine Familie gründen zu wollen.“

Damit wandte sich Christian direkt zu Alicia und kniete sich vor sie. „Alicia Sterling: Ich liebe dich von ganzem Herzen und ich möchte den Rest meines Lebens mit dir glücklich sein. Deshalb möchte ich dich fragen: Willst du im Mai 2012 meine Frau werden?“

Tränen der Freude schimmerten in Alicias dunklen Augen, als Christian ihr die geöffnete Ringbox entgegenhielt, in der eine kleine LED-Leuchte den Ring in ein edel wirkendes, blass-blaues Licht tauchte. Mit zittrigen Fingern nahm sie den Ring heraus und sagte mit belegter Stimme: „Ja, das will ich.“

Christian nahm den kostbaren Ring von ihr entgegen und steckte ihn ihr an den linken Ringfinger. Danach erhob er sich wieder und gab Alicia, unter dem Applaus der Anwesenden, einen liebevollen Kuss.

Cassidy Sterling und Gernot von Falkenhayn traten zuerst zu dem Paar und reichten ihnen die Gläser mit Champagner, die sie bisher für sie gehalten hatten. Dabei betrachtete Cassidy interessiert den Ring aus Weißgold. Seine Diamanten und Saphire funkelten im Licht des Salons.

Christian bemerkte den Blick der Frau, als er mit ihr anstieß und er erklärte: „Dieser Ring hat meiner Mutter gehört, bis sie starb. Wie du vermutlich bemerkt hast, passt das Design zu der Kette, die ich Alicia zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt habe.“

„Und die Alicia heute Abend trägt.“

Sie stießen auch mit den übrigen Gästen an. Währenddessen schritten Cassidy Sterling und Gernot von Falkenhayn zu ihren Partnern und tauschten sich im Anschluss sehr intensiv miteinander aus. Im Anschluss wurden Alicia und Christian von ihren Eltern beinahe umstellt. Dabei meinte Gernot ernsthaft: „Wir müssen reden, ihr zwei.“

Verwundert sahen die beiden frisch Verlobten in die ernsten Mienen ihrer Eltern. Es war Jerome, die schließlich meinte: „Wisst ihr: Es ist schon seltsam. Als ich Eireen gefragt habe, ob sie mich heiraten möchte, da war ich vollkommen aus dem Häuschen. Ich hätte nicht einmal meinen Namen richtig buchstabieren können. Geschweige denn, an einen bestimmten Termin denken, an dem ich sie heiraten will. Und das zweite Mal war es kaum anders. Auch da pochte mein Herz wie verrückt. Auf keinen Fall hätte ich an einen Termin gedacht.“

Cassidy Sterling übernahm, als ihr Mann geendet hatte und erklärte: „Ich erinnere mich daran, dass ich gerade einmal dazu in der Lage war Ja zu sagen, als Jerome mich fragte, ob ich seine Frau werden möchte. Ich hätte mich auch ziemlich gewundert, wenn er mir direkt einen Hochzeitstermin genannt hätte. Ich wäre vermutlich auch ziemlich überfahren gewesen, wenn er das getan hätte, und gar nicht gewusst wie ich reagieren soll. Aber nicht so meine Alicia. Die nimmt es so locker, als wäre das alltäglich. Also entweder seid ihr das verdammt coolste Paar, das es je gab, oder aber Irgend etwas entgeht uns hier.“

Christina und Gernot nickten nur zustimmend.

Christian warf Alicia einen langen Blick zu, bevor er, unangenehm berührt erwiderte: „Nun ja, ich habe Alicia vor einigen Jahren schon – rein hypothetisch – gefragt, ob sie sich vorstellen könnte Ja zu sagen, falls ich sie irgendwann einmal offiziell um ihre Hand bitten würde. Eine rein theoretische Frage also. Nun ja und als ich ihr das Darlehen für ihr Studium anbot, da bestand sie darauf, dass sie mir das Geld zurückzahlen wird, bevor wir heiraten. Nach einer kleinen Rechnung meinerseits kam ich danach zu dem Schluss, dass sie dafür etwa achtzehn bis zwanzig Monate benötigen wird, nachdem wir unser Studium beendet haben werden. Natürlich haben Alicia und ich darüber im Anschluss diskutiert und auf diese Weise kam der genannte Termin zustande. Von dem Alicia natürlich gewusst hat.“

„So, so“, machte Gernot von Falkenhayn. „Du hast sie also bereits gefragt? Und Alicia hat dazu damals Ja gesagt?“

Christian runzelte die Stirn, bei der ernsthaft vorgetragenen Frage seines Vaters. „Ja, aber Alicia war noch Siebzehn und wie ich bereits…“

„Habe ich dir eigentlich gar nichts in Sachen Juristik beigebracht?“ Gernot von Falkenhayn schüttelte etwas enttäuscht wirkend den Kopf. „Vom juristischen Standpunkt sieht die Sache so aus: Du hast Alicia bereits vor Jahren gefragt, ob sie dich heiraten will und sie hat Ja gesagt, richtig?“

Christian legte seinen Arm um die Schulter von Alicia und beide nickten einmütig.

Gernot von Falkenhayn nickte bedeutungsschwanger. „Nun ja, ich habe deine Alicia bereits vor diesem Zeitpunkt kennengelernt und ich würde sagen, sie war zu diesem Zeitpunkt durchaus in der Lage, die personenrechtlichen Folgen ihres Handelns einsehen zu können. Was sie zum genannten Zeitpunkt wiederum dazu berechtigte, das Versprechen zum Verlöbnis abzugeben. Mit anderen Worten: Ihr zwei seid bereits seit Jahren miteinander verlobt, auch wenn euch das wohl erst heute klar wird.“

Christian und Alicia sahen sich verblüfft an, während sich die Mienen ihrer Eltern langsam aber unaufhaltsam gleichermaßen zu einem breiten Grinsen verzogen.

Es war Christina, die mit ihren Worten die Spannung löste, als sie meinte: „Wir verraten es keinem, ihr beiden frisch verlobten Alt-Verlobten.“

Christian sah Alicia an und raunte ihr zu: „Irgendwann werde ich all diese Spitzfindigkeiten auch drauf haben. Findest du immer noch, mit mir verlobt zu sein ist eine grandiose Idee?“

Alicia küsste Christian schnell auf die Wange. „Mehr denn je.“

EINE UNERWARTETE BEICHTE

Die Party endete erst gegen 01:30 Uhr in der Früh. Doch als es längst still geworden war in der Villa herrschte zwischen Christian und Alicia noch Redebedarf, während sie im Bett miteinander kuschelten. Im Dunkeln Alicias Wange streichelnd raunte Christian ihr nach einer längeren Unterhaltung leise zu: „Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, wegen dieser ersten Frage. Damals in meinem Haus in Smallville.“

„Dabei hättest gerade du das wissen müssen“, spöttelte Alicia. „Mir kann man keinen Vorwurf machen, denn ich bin nur ein armes Landmädchen.“

„Jetzt geht das wieder los“, seufzte Christian grinsend. „Das ach so arme, kleine Farmer-Mädchen. Aschenputtel ist ja gar nichts, gegen dich. Ich sage dir mal was: Unwissenheit schützt nicht vor Strafe, heißt es. Oder wie es in good old Germany heißt: Mitgefangen – mitgehangen. Das gilt auch für arme, kleine Farmer-Mädchen.“

„Jetzt hörst du dich wie ein reicher Geldsack an“, zischte Alicia zurück.

„Willkommen im Club“, lachte Christian leise. „Denn vorhin hast du, zum zweiten Mal übrigens, dein Einverständnis gegeben, irgendwann auch ein reicher Geldsack zu sein. Oder heißt das dann Geldsäckin?“

„Unverschämter Kerl“, beschwerte sich Alicia gespielt finster. Im nächsten Moment küsste sie Christian und flüsterte nach einer geraumen Weile atemlos: „Ich frage mich, ob ich mich irgendwann daran gewöhnen werde.“

„An den unverschämten Geldsack, oder daran reich zu sein?“

Ein fast lautloses Lachen folgte. „Beides!“

Sie küssten einander erneut und schließlich raunte Christian: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du beides ganz gut handhaben wirst. Eine erfolgreiche Geschäftsfrau und eine erfolgreiche Ehefrau und Mutter.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Nachdem ich deine Mutter kennenlernen durfte bin ich mir da sicherer denn je. Sie war dir so unglaublich ähnlich, obwohl sie ein ganz anderes Leben führte. Sie wirkte auf mich stark und selbstbewusst und sie glaubte trotz der Schicksalsschläge immer noch an das Gute. Das hat mir imponiert.“

Eng an Christian geschmiegt flüsterte Alicia zurück: „Ich beneide dich. Ich hätte sie auch gerne in meinem jetzigen Alter gekannt.“

„Ich werde dir so viel von dieser Erfahrung erzählen, wie ich kann, Alicia. Aber nicht mehr alles heute Morgen.“

„Ich bin glücklich, dass wir uns kennengelernt haben, Chris. Trotz all der dunklen Ereignisse, die ebenfalls damit verbunden sind. Du hast mein Leben gerettet. Auf mehr, als nur eine Weise.“

Christian küsste Alicia und antwortete nach einer Weile: „Ich denke, das beruht auf Gegenseitigkeit. Damals, als ich nach Smallville kam, da fühlte ich mich so grenzenlos verloren. Da war so etwas wie ein Loch in meiner Seele. Doch nachdem ich dich kennengelernt hatte, da geschah etwas mit mir. Etwas, das mich zu einem besseren Menschen gemacht hat, Alicia. Ich bin mir sicher, dass es dein Einfluss gewesen ist. Und er ist es immer noch. Dessen bin ich mir ganz sicher.“

„War das bevor oder nachdem wir uns gegenseitig als Rassisten bezeichneten?“

Christian lachte erneut leise auf. „Oh ja, der Anfang war wohl ziemlich holprig. Aber danach haben wir es doch ziemlich gut hinbekommen.“

„Oh ja und wie“, erwiderte Alicia ironisch. „Zwei Latinas verführen dich und später verliere ich die Erinnerung daran, wer du bist und schlafe mit einem anderen Typ, während du derweil Chloe flachlegst. Das haben wir ziemlich gut hinbekommen.“

Ein leises Seufzen war die Antwort. „Okay, wenn du es so formulierst, dann klingt das wirklich etwas abgefahren.“

„Etwas ist gut“, gab Alicia leise zurück. „Was denkst du? Wird der Rest deutlich weniger abgefahren?“

„Ich hoffe nicht“, erwiderte Christian mit gespieltem Entsetzen. „Wo würde denn da der Spaß bleiben?“

Alicia kicherte amüsiert. „Vermutlich hast du Recht. Aber ob du nun Recht hast oder nicht – ich muss jetzt noch einmal runter zur Küche und was trinken. Ich bekomme nämlich Sodbrennen von dem Champagner.“

Christian gähnte herzhaft. „Bis du zurück bist, schlafe ich vermutlich. Aber du darfst mich gerne wecken.“

Alicia gab Christian einen herzhaften Schmatzer auf die Wange. Dabei flüsterte sie: „Bin gleich wieder da, mein geliebter Verlobter.“

Sie schwang sich geschmeidig aus dem Bett. Rasch ihren Morgenmantel überwerfend huschte sie aus dem Zimmer und schritt lautlos die Galerie entlang und anschließend die Treppe hinunter. In Gedanken lächelnd erreichte sie die Küche. Nachdem sie sich eine kleine Flasche mit stillem Wasser genommen hatte, schloss sie den Kühlschrank und nahm einen Schluck. Erst als sie die Flasche wieder verschloss, bemerkte sie ein leises Geräusch. Es schien irgendwie seltsam und es kam aus Richtung der Bibliothek.

Alicia fand dies seltsam, denn kein Lichtschein drang aus der Bibliothek und wer würde auch um diese Zeit auf die Idee kommen, sich ein Buch herauszusuchen?

Wieder klang das leise Geräusch auf und Alicia war sich diesmal sicher, dass es eher geklungen hatte wie ein Schluchzen. Doch wer konnte so unglücklich sein, dass er um diese Zeit die Bibliothek aufsuchte um sich auszuheulen? Für einen Moment war Alicia unentschlossen, ob sie nachsehen sollte. Sie wollte niemanden beschämen. Doch dann siegte ihre Neugier und der Wunsch helfen zu wollen und so schritt sie leise zur Bibliothek hinüber um einen vorsichtigen Blick hineinzuwerfen.

Zu Alicias Überraschung war es Samantha, die mit angezogenen Beinen auf einem der beiden Sofas saß und den Kopf auf die Knie gelegt das leise Schluchzen von sich gab.

Alicia strich ganz bewusst über den Stoff ihres Morgenmantels, um ein leises Geräusch zu verursachen, dass die Freundin nicht zu Tode erschreckte, während sie sich ihr langsam näherte.

Samanthas Kopf ruckte nach oben und sie sah Alicia unglücklich an.

Sie hatte geweint, das erkannte Alicia selbst in der hier herrschenden Dunkelheit. Ganz langsam setzte sie sich zu der Freundin, stellte die Wasserflasche auf den niedrigen Tisch und legte tröstend ihre Arme um die Freundin. Dabei flüsterte sie: „Was hast du?“

Samantha klammerte sich zitternd an die Freundin und ließ zunächst ihren Tränen freien Lauf. Erst nach einer geraumen Weile antwortete sie, fast unhörbar: „Mit dir sollte ich vielleicht als Letzte darüber reden. Es ist außerdem so dumm.“

„Hey, komm. Wir hatten doch nie Geheimnisse voreinander.“

„Doch, eins“, schniefte Samantha. „Und das schon seit einiger Zeit, Alicia. Es ist… verdammt, wie soll ich dir das nur sagen. Ich… ich habe mich in Christian verliebt.“

Alicia glaubte, sich verhört zu haben. „Was redest du denn da?“

Wieder begann Samantha leise zu schluchzen. „Ich weiß ja selbst nicht, wie das passieren konnte. Ich weiß nicht einmal wann es passiert ist. Ich denke, es war bereits vor Jahren. An dem Tag, als Christian mich im Krankenhaus besuchte. Damals, als du dich von ihm getrennt hattest und er sich beschützend zwischen mich und den bewaffneten Verbrecher stellte, der mir in den Bauch geschossen hat. Da habe ich es aber noch nicht bemerkt. Nur, dass sich meine Einstellung zu Chris änderte, seit dieser Zeit. Doch als ich euch vorhin so glücklich sah, da überwältigten mich meine Gefühle beinahe. Dabei ist es völlig verrückt, denn ich weiß, dass Chris nur Augen für dich hat. Er hat mir auch nie irgendeinen Anlass gegeben anzunehmen, dass sich das geändert hätte. Aber es ist trotzdem passiert, obwohl ich Neil andererseits wirklich aufrichtig liebe. Das ist so schräg…“

Wieder begann Samantha leise zu weinen.

Alicia saß bei diesem Geständnis der Freundin wie betäubt neben ihr. Ungläubig, ob das, was Samantha eben gesagt hatte, wirklich wahr sein konnte. Doch das, worüber sie und Christian sich erst kürzlich unterhalten hatten, ergab dadurch endlich einen Sinn. Aber wie konnte man sich denn gleichermaßen in zwei Menschen verlieben?

Endlich fragte Alicia: „Vermutlich war der Abend in der Oper dann der endgültige Augenöffner? Aber wie kannst du Neil lieben und gleichzeitig auch in Chris verliebt sein?“

„Ich weiß es ja selbst nicht, Alicia. Ich will mich ja auch gar nicht zwischen euch stellen. Doch diese Gefühle sind da irgendwo in mir drin und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

Alicia spürte so etwas wie aufsteigende Wut. Doch sie kämpfte dagegen an und rief sich in Erinnerung, dass es ihr für eine Zeit lang ähnlich gegangen war, nachdem sie seinerzeit ihr Gedächtnis verloren hatte. Sie hatte zu dieser Zeit auch für zwei Jungs identische Gefühle. Es hatte sich nur nicht über einen längeren Zeitraum aufgestaut und sie hatte bereits nach kurzer Zeit erkannt, wen sie wirklich liebte.

Als Samantha Alicia beschämt ansah, sagte Alicia rau: „Das wusste ich auch nicht, nachdem ich mein Gedächtnis verloren hatte. Es wird sich bestimmt irgendwann genauso legen. So wie es bei mir der Fall war.“

Samantha sah ihre beste Freundin zweifelnd an. Sie schluckte trocken und sagte mit veränderter Stimme: „Neil hat mich vor einer Weile gefragt, ob ich mit ihm nach Granville ziehen möchte. Die Stadt liegt näher an der Uni. Ich hatte mich bisher nicht dazu entscheiden können, doch ich denke es wäre der richtige Schritt. Auch, weil ich Abstand brauche und mir so vielleicht besser über meine Gefühle im Klaren werden kann.“

Etwas erschrocken sah Alicia ihre Freundin an. Sie kannten sich von Kindesbeinen an. „Du willst weg? Aber das muss doch nicht sein, Samantha.“

„Doch muss es“, widersprach Samantha, nun entschlossener als zuvor. „Außerdem kann ich doch nicht ewig bei meinen Eltern wohnen bleiben. Granville ist ja nicht aus der Welt. Wir werden uns nicht aus den Augen verlieren, Alicia.“

„Darauf kannst du wetten, denn das werde ich zu verhindern wissen. Und jetzt komm wieder mit nach oben, du kannst ja nicht die ganze Nacht hier unten in der Bibliothek hocken und herumheulen.“

Samantha zog ein Taschentuch aus einer Tasche ihres Morgenmantels und schnäuzte sich. Der bewusst grobe Tonfall der Freundin hatte seltsamerweise eine beruhigende Wirkung und so erhob sie sich gemeinsam mit Alicia. Sie hielt ihre Freundin jedoch zunächst an der Hand zurück und fragte leise: „Du bist mir nicht böse?“

Alicias Antwort bestand darin, dass sie Samantha in den Arm nahm und leise raunte: „Nein, du Dumme. Und jetzt komm endlich mit.“

Vor dem Gästezimmer drückte Alicia die Freundin noch einmal tröstend und kehrte danach endlich zurück zu Christian.

Als sie sich an ihren Verlobten kuschelte, schloss Christian sie in die Arme. Er hatte zwar bereits halb geschlafen, doch die Welle der Emotionen, die er bei Alicias Nähe spüren konnte, weckten seine Lebensgeister. Etwas verschlafen fragte er ironisch: „Was genau meinst du eigentlich, wenn du sagst, dass du gleich wieder da bist?“

Alicia zögerte kurz, bevor sie Christian leise davon erzählte, was sich ereignet hatte. Danach blieb es still und Alicia glaubte schon, dass Christian eingeschlafen sei, als er rau erwiderte: „Du hast das selbst erlebt. Glaubst du, sie wird rasch darüber hinwegkommen?“

„Das weiß ich wirklich nicht. Ich hoffe es. Denn mich haben selbst die paar Tage damals bereits wahnsinnig gemacht.“

„Mich auch“, brummte Christian. „Ich meine, deine Ungewissheit hat mich wahnsinnig gemacht.“

„Moment mal. Was ist mit dir? Hattest du in der anderen Realität etwa nicht das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen?“

Christian seufzte leise. „Doch, irgendwie schon. Doch dann kam irgendwann auch der Moment, in dem ich mir über meine Gefühle im Klaren war. Ich meine damit jene Gefühle, von denen du weißt, dass sie aus den Knochen kommen. Die tiefer gehen, als alles Andere.“

Alicia lachte leise auf. „Die aus den Knochen kommen? Seltsamer Vergleich.“

„Er war nicht seltsam, bis du ihn mit deinem überragenden Intellekt analysiert und zerlegt hast“, beschwerte ich Christian gespielt brummig.

Alicia küsste Christian zärtlich. Ganz leise sagte sie: „Lass uns schlafen und davon träumen, wie unsere gemeinsame Zukunft aussieht.“

„Gute Idee“, stimmte Christian zu. Alicia in seinen Armen haltend bettete er ihren Kopf auf seine Schulter. „Ich liebe dich, Alicia Sterling. Das wird sich nie ändern.“

„Und ich liebe dich, Christian Gerrit von Falkenhayn.“

Es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen waren. Beide in dem sicheren Bewusstsein, dass sie ihr heutiges Versprechen in gut vier Jahren einlösen würden.



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