Nachricht von Centranthusalba ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Marian sitzt oben auf dem Ausguck und hängt ihren Gedanken nach. Warme Sonnenstrahlen fallen durch das Blätterdach und bedecken den Holzboden, ihre Kleidung und Haare mit einem flirrenden Muster aus Licht und Schatten. Ein paar Vögel singen im Geäst über ihr. Doch Marian hat für all das keine Augen. Sie hat die Arme um ihre Knie geschlungen und brütet vor sich hin. Erinnerungen huschen durch ihren Kopf. Geschehenisse der letzten Tage und von vor längerer Zeit. Ihr ist, als müsste sie ein bestimmtes Bild zusammen fügen, aber immer, kurz bevor sie die Erinnerung greifen und festhalten kann, ist sie schon wieder verschwunden. Verzweifelt seufzt sie auf. Da reißt ein Geräusch sie aus ihren Gedanken. Ein Flattern. Verwundert hebt Marian den Kopf. Auf dem hölzernen Geländer neben ihr ist ein Vogel gelandet und sieht sie nun mit etwas schiefgelegtem Kopf an. Fast muss Marian laut Lachen bei dem Anblick. Doch dann runzelt sie wieder die Stirn. Ein Käutzchen. Ein Käutzchen bei Tag? „Na du?“, fragt sie leise, „Hast du dich verflogen?“ Etwas klingt in ihr, aber sie weiß nicht was. Im Wald gab es hunderte Käutzchen. Warum sollte dieses besonders sein? „Na los, flieg schon in deine Höhle. Deine Familie wartet doch bestimmt auf dich.“ Doch das Tier sieht sie nur weiterhin neugierig an. Marian betrachtet es. Es ist klein und hat ein grau-braunes Gefieder. Schwarze Federbüsche zieren seine Ohren. Die großen dunklen Augen mustern sie eingehend, fast als wolle es fragen, ob es ihr wirklich gut ging. Entgegen der Beruhigungen die sie hier und da nach unten zu Winifred und Barbara rief. Plötzlich muss Marian schmunzeln: Ein Käutzchen dieser Art hatte Robin neulich im Geisterhaus fast zu Tode erschreckt. Doch das Kichern bleibt ihr im Halse stecken. Es waren einige Dinge in diesem Haus geschehen, die sie noch nicht ganz zusammenbringen konnte. Aber so ein Käutzchen… Marians Herzschlag beschleunigt sich plötzlich. Wo hatte sie so ein Käutzchen schon einmal gesehen? An einem ungewöhnlichen Ort für diese Tiere. Möglichst langsam, um den Vogel nicht zu erschrecken, streckt sie ihre Hand zu ihm aus. Das Käutzchen rührt sich nicht. „Hmm du“, lockt sie, „hast du gar keine Angst?“ Vorsichtig berührt sie das weiche Federkleid. Augenblicklich plustert sich der kleine auf, weicht aber kein Stück zur Seite. „Du hast ja wirklich keine Angst“, kichert sie und schließt lächelnd die Augen. „Kennst du etwa Menschen, die dich so streicheln?“ Kaum haben diese Worte ihre Lippen verlassen, erstarrt sie. Mit einem Mal fühlt sich alles dunkel und kalt an. Ein großer, schwerer Stein liegt auf ihrer Brust und hindert sie am Atmen. Ein Strom Erinnerungen zieht durch ihren Kopf. Erinnerungen, die sie bereits längst verdrängt hatte. Die kalten Mauern einer Burg. Das Hallen eisenbeschlagener Stiefel in langen Gängen. Schwere Türen, die in Schlösser fallen. Und ein treues Käutzchen, das die Schulter seines Herren fast nie verlies. Wieder betrachtet sie das Tier vor sich genau. Ihr Gegenüber klimpert mit den großen Augen. Konnte es sein? Mit einem Ruck wendet sie sich ab, rollt sich wieder zusammen und schlingt ihre Arme zurück um ihre Knie. So ein Quatsch. Wie sie bereits festgestellt hatte, gab es in diesem Wald hunderte Käutzchen. Warum sollte ausgerechnet dieses…? Krallenbesetzte Füßchen trippeln auf dem Geländer hin und her. Marians Augen wandern zurück zu ihrem seltsamen Besucher. Wenn es unmöglich war, das dieser Vogel und das Käutzchen aus ihren Erinnerungen ein und der selbe waren, dann hatte sie doch nichts zu verlieren. Einen Atemzug lang wartet sie ab, ob irgendwer gegen diesen waghalsigen Gedanken Einspruch erheben würde, aber alles bleibt still. Nur der Wind streift durch die Blätter der Bäume über ihr und lässt die Schatten tanzen. Langsam hebt sie wieder eine Hand und stupst in die weichen, grauen Federn. „Wo ist dein Herrchen, hmm?“ Mit großen Augen blinzelt das Federknäuel sie an. „Weißt du, wo er ist? Ich bin mir sicher, dass ich ihn gesehen habe.“ Sie wusste nur nicht, ob die dunkle Gestalt im Keller von Montrose ihren Träumen entsprungen war oder ob er tatsächlich… -sie wagt den Gedanken kaum zu denken- … überlebt hatte. Alle Vernunft sprach dagegen. Sie blickt erwartungsvoll auf das Käutzchen, doch der Vogel trippelt nur abwechselnd nach links und rechts die Stange entlang. Dann streckt er ein Beinchen aus, legt den Kopf schief und kratzt sich an diesem. Marian hält rasch die Hand vor den Mund um nicht laut zu Lachen. Das Tier schien mit der Frage völlig überfordert zu sein. Während sie das Käutzchen noch ansieht, kommt ihr plötzlich eine Idee. Es ist verrückt, das weiß sie. Vollkommen sinnlos. Und doch lässt die Idee sie nicht los. Sie holt aus ihrem Kleid das letzte Stück eines Papierstreifens hervor, das sie vor Wochen von Bruder Tuck bekommen hatte. Sorgfältig breitet sie es vor sich aus. Dann schreibt sie mit einem spitzen Stück Holzkohle die Worte auf, die ihr seit Tagen durch den Kopf schwirren: Wo bist du? Dann rollt sie das Papier zu einer kleinen Rolle auf und hält es dem Käutzchen vor den Schnabel. „Bring das zu ihm“, flüstert sie. Das Käutzchen betrachtet das papierne Stöckchen und blinzelt. Doch kurz bevor Marian die Hand enttäuscht sinken lassen will, streckt es sein Beinchen vor und ergreift es mit der Kralle. Als hätte es nur auf diesen Moment gewartet, dreht es sich um und flattert duch das Geäst davon. Ungläubig sieht Marian ihm nach. Er hatte es tatsächlich mitgenommen. Doch dann schüttelt sie nur lächelnd den Kopf. Wahrscheinlich dachte das Tierchen, dass es sich um etwas besonderes zu fressen handeln würde und sitzt nun auf einem Ast und würde ihre Nachricht in die andere Welt in Stücke rupfen. Sie sollte sich keine Hoffnungen machen. „Marian!“, reißt Winifreds Ruf sie aus ihren Gedanken. „Kommst du runter? Wir wollen essen!“ Sie steht auf und streckt sich. „Ja, ich komme!“ Nachdem die Mädchen ihr Blattgemüse mit Pilzen und wilden Wurzel verspeist haben, sitzen sie noch etwas um den großen Tisch herum. Winifred will gerade erneut anfangen, sich über irgendetwas zu beschweren, das Little John wieder mal gesagt hatte, ohne vorher nachzudenken, als Barbara plötzlich aufschreit: „Oh schaut doch mal da! Wie niedlich!“ Die Blicke der Mädchen folgen Barbaras ausgestrecktem Arm und beinahe entfährt Marian der gleiche überraschte Schrei: Neben der Feuerstelle auf einem Holzstapel sitzt ein kleines, graues Käutzchen und trippelt verlegen von einem Fuß auf den anderen. Sogleich greift Barbara nach dem Fellknäuel, das neben ihr sitzt, und stürmt auf die Feuerstelle zu. „Das wird ein neuer Spielgefährte für dich, Schnäutzchen!“, ruft sie begeistert und drückt ihr Flughörnchen fest an sich. Verschreckt von soviel Zuneigung flattert das Käutzchen ein paar Meter weiter und lässt sich auf der niedrigen Tür zu ihrem Versteck nieder. „Barbara, du bist unmöglich!“, ruft Winifred ihre kleine Schwester zurück. Doch Marian ist bereits aufgestanden und hält den Wirbelwind am Ärmel fest. „Du machst ihm Angst“, hört sie sich mit ruhiger Stimme sagen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopft. Wie hypnotisiert starrt sie auf die Krallen des Vogels. Tatsächlich hält es immer noch fest umklammert das kleine Stück Papier, das sie ihm vorhin gegeben hatte. Marian blinzelt. Nein, etwas war anders. Sie konnte jetzt die Buchstaben außen auf der Rolle erkennen, die sie darauf geschrieben hatte. Aber sie war sich ganz sicher, dass sie die Schrift nach innen eingerollt hatte. Ihr Mund ist plötzlich ganz trocken. Jemand musste das Papier andersherum aufgerollt haben. Jemand hatte… Mit einem entsetzten Keuchen hechtet sie auf das Käutzchen zu und streckt die Hand nach ihm aus. Dem Vogel entfährt ein erschrockener Schrei, er lässt die Papierrolle zu Boden fallen und kurz bevor Marian ihn erreicht, flattert er auf und davon. „Na toll, jetzt ist er weg“, mault Barbara hinter ihr, „Dabei hast du doch selbst gesagt, dass er Angst bekommt, Marian.“ Doch Marian hört gar nicht hin. Mit zitternden Händen hebt sie die Rolle auf. Kurz betrachtet sie sie von allen Seiten. Deutlich sind die Buchstaben Wo bi… auf der Außenseite zu erkennen. Sie hält den Atem an und zieht das Papier langsam auseinander. Mit großen Augen starrt sie auf die Worte, die mit dunklem Beerensaft geschrieben auf der Innenseite stehen: „Immer an deiner Seite“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)