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Abseits der Wege

Eine kleine Vorweihnachtsgeschichte
von

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Inspiriert durch viele kleine Beobachtungen.

Alle Personen und deren Arbeits- und Wohnorte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten zu realen Personen rein zufällig (wirklich! Die Namen habe ich mir nach Gefühl ergoogelt). Sonstige Orte, Sehenwürdigkeiten und Ortschaften sind realen Vorbildern nachempfunden und/oder sind aus meinen persönlichen Erinnerungen wiedergegeben. Am Ende jedes Kapitels verlinke ich einige der genannten Orte/Merkmale, für alle, die sich gerne Fotos ansehen würden.

 

PS: Ich kann Eifeler Platt sprechen, solange ich mich aufrege und nicht nachdenke. Bewusst sprechen oder gar schreiben ist schwierig und nicht ganz akkurat. Man sehe es mir nach ;) Ganz korrekt müssten alle Personen Amir gegenüber sehr mundfaul oder gar mürrisch sein, um das Klischee zu erfüllen :P (ich hab euch lieb, ihr Ur-Monschauer, aber manchmal seid ihr echt 'Muffköppe')

 

 

~ 1 ~

 

„Scheiße!”

Frustriert trat Amir gegen den linken Vorderreifen seines Dienstwagens. Dieser hatte noch nicht einmal den Anstand, sich traurig im Kreis zu drehen, sondern blieb unbeeindruckt in seiner leicht vom Boden entfernten Position stehen. Amir hingegen bereute die Aktion im gleichen Moment, seine Lederslipper waren nun wirklich nicht dafür geeignet, Tritte gegen unbelebte Objekte auszuteilen. Belebte wohl auch nicht, doch den Drang, ein Lebewesen zu treten, hatte er zum Glück noch nie besessen. Wo er schon über seine Kleidung nachdachte: Anzughose und Jackett waren auch nicht für diese Witterung gemacht.

Warum um alles in der Welt hatte er auch dem Navi vertrauen müssen und sich auf seiner Rückfahrt von seiner potentiellen neuen Arbeitsstelle zum Hotel am Arsch von Timbuktu umleiten lassen? Ein bis zwei Stunden Stau wegen liegengebliebener LKWs erschienen ihm im Nachhinein deutlich verlockender, als seine aktuelle Situation. Gestrandet irgendwo im Nirgendwo. Allein auf weiter Flur, im wortwörtlichen Sinne. Bei seinem Glück befand er sich nicht einmal auf deutschem Boden, das rettende Schild seines Heimatlandes hatte er bislang nicht bewusst passiert. Er musste sich ja nicht einfach nur auf einen Umweg einlassen, nein, sein Umweg musste ihn über ein Land führen, das er nur wegen viereckigen Waffeln, teurer Schokolade und dicken Fritten kannte!

„Fuck!”, brüllte er seinen Frust in die licht bewaldete Fläche hinaus. Für einen Moment meinte er, immerhin ein Echo zu hören, doch das Geräusch wurde lauter, statt leiser. Er sah sich um. Da oben, an der Hügelkuppe, mit der gefühlt einzigen, dafür aber direkt rechtwinkligen Kurve auf dieser gottverdammten Straße im gottverlassenen Niemandsland, kam tatsächlich ein Fahrzeug angerauscht. Nicht irgendein Fahrzeug. Ein Monster von einem fahrbaren Untersatz!

Amir schluckte und machte respektvoll einige Schritte auf seinen Wagen zu, um dem riesigen Traktor Platz zu machen. Durften so Monster einfach so auf der Straße fahren? Noch dazu auf so schmalen?

Das bedrohliche Dröhnen wurde lauter, doch anstatt ihn zu umrunden und ihn seinem Schicksal zu überlassen, hielt der oder die Fahrer:in neben ihm. Etwas leiser, aber immer noch beeindruckend, ratterte der leistungsstarke Motor direkt vor ihm weiter. Wie viel PS der wohl hatte? Ach du Schande, der hintere Reifen war ja fast so groß, wie er selbst und das war mit 1,83m nicht wirklich klein. Dagegen sah sein BMW mit den Sportfelgen aus wie Kinderspielzeug. Gut, in seiner derzeitigen Position machte das Auto so oder so einen ziemlich lächerlichen Eindruck, wie es da leicht schief neben der Straße hing, einen Reifen in die Luft erhoben, als wolle es sich ergeben.

„Wat hamse'n da jemaaht?”, fragte eine brummige, tiefe Stimme.

Erschrocken riss Amir den Blick von dem grünen Ungetüm los und sah zu dem Mann, der um die Motorhaube herum auf ihn zugekommen war. Er hatte einen alten, mürrischen Bauern erwartet, nicht etwa einen Typen in seinem Alter, so Anfang, Mitte Dreißig. Dunkelblonde Strähnen schauten frech unter einer abgewetzten dunkelgrünen Kappe hervor, die mehr in den Sommer als in den tiefsten Winter gepasst hätte. Die Wangen unter dem Dreitagebart begannen sich in der Kälte rot zu verfärben, doch der Mann machte keine Anstalten, seine graue Jacke über der ebenfalls grünen Arbeitshose und dem kleinen Wohlstandsbauch zu schließen. Die dunklen Augen fixierten kurz fragend sein Gesicht, dann schwenkten sie wieder mit kritischem Blick zum BMW.

Amir riss seinen Blick los und betrachtete nun ebenfalls wieder sein Auto. Die Hinterreifen im Graben, die Schnauze leicht erhöht noch halb auf Straßenniveau, machte der protzige Wagen einen wirklich jämmerlichen Eindruck. Ein schwarzer Schandfleck inmitten von mehr oder weniger weißem Schnee.

„Dat soll wohl net janz richtig so sein, hm?” Der Fremde grinst ihn an. „Touri, wa?”

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er den letzten Schritt auf das Auto zu, besah sich dessen Position, blickte kurz unter den Wagen, soweit es möglich war und unterzog anschließend den verfluchten linken Vorderreifen einer eingehenden Untersuchung, ehe er seufzend den Kopf schüttelte.

„Allwetterreifen. Taugen nix, können se knicke.” Der Blonde sah wieder zu Amir. „Soll ich se rausziehn?”

„Äh... geht das denn?” Die ersten Worte, die er sprach, seit seinen hinausgebrüllten Flüchen.

„Sicher.” Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern als wäre das völlig normal und ging wieder um den Traktor herum. Neugierig folgte Amir ihm und sah zu, wie dieser im Inneren der Fahrerkabine etwa auf Kopfhöhe von ihm selbst nach massiven Ketten mit riesigen Haken kramte. „Ich kann Sie da hinten zu einem Parkplatz ziehen, dann sind Sie auch wieder auf deutscher Seite. Hier auf der belgischen ist blöd festzuhängen, für die paar hundert Meter Ausland berechnen die Schweine im Notfall direkt wieder richtig Kohle.”

Erleichtert registrierte Amir den Umschwung von regionalem Dialekt in klares Hochdeutsch. Hätte man ihn gefragt, er hätte nicht alles bisher Gesagte wiedergeben können.

„Das ist wirklich nett von Ihnen.” Er unterdrückte die aufkommende Hoffnung, noch war es zu früh zum Aufatmen. Sein Navi hatte vor seinem unfreiwilligen Abgang von der Straße zwar nur noch knapp zehn Minuten Fahrt vorausgesagt, doch zehn Minuten Autofahrt waren hier auf dem Land garantiert mehrere Stunden Fußweg.

„Passt scho'”, meinte der Fremde, ein ehrliches Lächeln auf den Lippen, welches sein ganzes Gesicht erhellte. Routiniert ging er wieder zum Wagen, pulte die kleine Kappe vorne rechts ab und schraubte eine kurze Metallstange mit einer Öse am Ende ein. Amir würde nicht zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie man ein Auto abschleppte und für diese Handgriffe wohl eine gute Viertelstunde gebraucht hätte. Und eine Anleitung. Die Kette wurde erst am Auto und dann einer mit Löchern versehenen Querstange zwischen den bedrohlichen Hinterreifen des Traktors eingehängt. Er hatte keinerlei Ahnung, wozu all diese Hebel, Kabel, Stecker und Haken gedacht waren, die sich ebenfalls dort befanden. Außer als Kind auf einem Erlebnisbauernhof beim Geburtstag eines Kindergartenfreundes war er überhaupt noch nie näher als mehrere hundert Meter an einen Traktor herangekommen und seiner persönlichen Meinung nach hätte das auch gerne so bleiben können. Mit Ausnahme der jetzigen Situation, dankbar war er jetzt schon, so war das nicht.

Der andere Mann wandte sich wieder an ihn. „Ich zieh das Auto erstmal auf die Straße hoch. Wenn es halbwegs heil ist, steigen Sie ein, starten den Motor und lassen sich bis zum Parkplatz ziehen. Okay?”

„Wunderbar.” Auch Amir versuchte sich an einem Lächeln, wusste aber, dass es schief geriet. Ob es wirklich so eine gute Idee war, diesem bäuerlichen Kerl sein Firmenauto anzuvertrauen? Ihm kamen plötzlich doch gehörige Zweifel, aber nun schien es zu spät für einen Einspruch.

Der Fremde stieg wieder über die kurze Treppe in sein Monstrum und begann langsam die Kette auf Spannung zu bringen. Amir hatte keine Lust zuzusehen und am Ende noch hysterisch zu werden. Der Fremde machte einen kompetenten Eindruck, das musste reichen. Stattdessen ließ er seine Umgebung auf sich wirken, weg von dem beunruhigendem Spektakel Eigentlich sehr friedlich, wäre er nicht durch ein unbedachtes Manöver von der schneebedeckten Fahrbahn abgekommen. Knorrige Bäume erhoben sich aus den welligen Schneemassen, aus denen hier und da noch lange Grashalme nach Freiheit strebten. Feuchte oder gar komplett dunkle Stellen zeigten die heimtückischen Stellen, an denen sich trügerisch stille Gewässer befanden. Eingeschneite Holzstege führten über diese Gebiete und schützten Wanderer vor dem sicheren Tod. Naja, zumindest war Amir davon überzeugt, dass das Betreten des Moores sofort und unwiederbringlich tödlich endete. Dass das hier der Beginn der Moorlandschaft im Naturschtzgebiet 'Hohes Venn' war, wusste er auch nur Dank einer Internetrecherche während einer langweiligen Konferenz. Wirklich naturbegeistert war er nicht, sein Großstadtleben gefiel ihm doch ganz gut.

Die Karosserie protestierte ächzend in seinem Rücken, es schabte und kratzte, dann nur noch das Knirschen der Reifen im Schnee. Mit einem unguten Gefühl drehte er sich zurück. Sein Auto stand wieder fest auf der Straße, es gab keine Ölspuren im dreckigen Weiß und es lagen keine Autoteile verstreut. Eine gute erste Bilanz und so ziemlich das Einzige, was er als Laie beurteilen konnte.

Der Blonde hüpfte behände aus seiner Kabine und kam nach hinten, zusammen umrundeten sie einmal das Unfallopfer.

„Bisschen Blechschaden hinten rechts. Sonst scheint's okay zu sein, oder was meinen Sie?” Fragend blickten ihn die grauen Augen unter dem Kappenschrim an.

Er zuckte zweifelnd die Achseln. „Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung von Autos.”

Sie sahen sich an und lachten. In was für eine skurrile Situation er sich jetzt schon wieder gebracht hatte. Es war befreiend. Der Fremde hatte ein schönes Lachen, es klang ehrlich, ungekünstelt, ein bisschen zu laut und bellend, um perfekt zu sein.

„Alles klar. Also, ab zum Parkplatz. Ist nicht weit, nur über die Kuppe da vorne. Dann schau'n wir weiter.”

Er erklärt mir netterweise noch, wie er sich zu verhalten habe – und wie nicht.

In etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit wurde er in seinem Wagen über die Straße gezogen, immer wieder geht ein Ruck durch ihn hindurch, wenn die Kette kurz an Spannung verlor. Es war ein beängstigendes Gefühl, so sehr der großen Maschine vor sich ausgeliefert zu sein, die ihn zog, ob er jetzt die Bremse trat oder nicht. Und ja, er hatte es aus Reflex versucht. Seine Reifen würden es ihm nicht danken, selbst wenn sie auf dem Schnee keinen Halt fanden.

Sie umrundeten eine mittige Verkehrsinsel, in dessen Zentrum eine vermutlich metallene Statue eines Mannes mit einem Sack über der Schulter und einer sehr stofflichen Weihnachtsmütze neben einem Felsen stand. Ein skurriler Anblick. Ein viel willkommenerer Anblick waren dagegen die Wohnhäuser, die jetzt vor ihm auftauchten. Sein netter Helfer setzte den Blinker und zog ihn rechts auf einen kleinen Parkplatz.

Ein paar Minuten später war sein Auto geparkt, was genau es jedoch hatte und ob er gefahrlos weiterfahren könnte, nicht. Gestrandet in der tiefsten Pampa, irgendwo im Nirgenwo. Er wünschte sich dringend in die Stadt zurück. Ausflüge aufs Land hatten noch nie auf seiner Prioritätenliste weit oben gestanden, Geschäftsreise hin oder her. Doch nun stand er hier, mit einem eventuell fahruntüchtigen Auto, in der Kälte, am Rande eines hinterwälderischen Dorfes und seine einzige Hilfe war ein Bauer.

Amir seufzte resigniert, die Hände in die Seiten gestemmt. „Bockmist.”

Der blonde Mann neben ihm brummte zustimmend. „Wohin woll'nse denn überhaupt?”

„Zum Glück nicht mehr weit. Ich wohne im Fuchs. Laut Navi knapp zehn Minuten.”

„Ah, der Fuchs. Ja, ist nicht weit, nur ein Dorf weiter. Immerhin.” Er schien zu überlegen. „Müssen Sie denn zu einer Markenwerkstatt?”

„Keine Ahnung. Ich denke aber nicht. Warum?”

„Hm. Hier im Ort gibt es eine freie Werkstatt. Die könnten sich den Wagen sicher holen und mal durchchecken. Und die haben Leihwagen, normalerweise. Bisschen kurzfristig jetzt, aber fragen könn' wir ja mal.”

„Das wäre wirklich super!” Erleichtert atmete Amir auf.

„Dann einmal einsteigen bitte.” Unerhört munter wurde ihm die Tür zum Traktor aufgehalten und sein ungläubiger Gesichtsausdruck mit einem leisen Lachen quittiert. „Sie können auch laufen, aber das ist ein gutes Stück. Und würde ich in Ihren Klamotten auch nicht empfehlen.” Vielsagend glitt sein Blick zu den wetteruntauglichen Lederschuhen und der schwarzen Anzughose, deren Saum sich bereits mit eisigem Wasser vollgesogen hatte.

Immer noch skeptisch trat Amir einen Schritt näher. Zwei Metallstufen führten nach oben und er ergriff tapfer den Haltegriff und zog sich hoch. Zunächst sah er nur den großen Sitz in der Mitte, doch der konnte es schlecht sein. Auf einen Hinweis hin erkannte er dann schräg dahinter eine weitere Sitzgelegenheit, die nicht annähernd so viel Komfort aufwies, aber er würde sich nicht beschweren. Er bekam einen Schal als provisorischen Staubschutz, machte es sich soweit möglich bequem und sah zu, wie sich sein Retter behände auf den stark federnden Sitz schwang und mit geübten Griffen die richtigen Knöpfe und Hebel auf dem Schaltpult bediente. Ein paar mehr und es hätte als Flugzeugcockpit durchgehen können. Als Bauer musste man mehr auf dem Kasten haben, als Amir vermutet hätte. Er zuckte unmerklich zusammen und könnte sich für seine eigenen blöden Gedanken schlagen. Völlig egal, ob sein Retter im Kopf eine Füllung hatte, die an seine strohblonden Haare heranreichte oder ob er ein verkannter Einstein war, der nie die Chance zum Aufstieg gehabt hatte: Er war und blieb seine einzige Hoffnung.

Die Tür schlug zu und der Motorenlärm wurde augenblicklich deutlich leiser. Sie setzten sich in Bewegung, begleitet von fröhlichem Weihnachtsgedudel aus dem Radio. Vorbei an eingeschneiten Häusern unterschiedlichster Baustile. Menschen mit Schneeschaufeln und Fräsen, die routiniert ihre Einfahrten räumten. Ein weiterer Traktor kam ihnen entgegen, die kleinen Fähnchen auf dem riesigen Schneepflug flatterten begeistert, während das weiße Zeug unter lautem Dröhnen in einer Fontäne auf die Seite geworfen wurde.

„Na super, den hätte ich früher gebrauchen können”, grummelte Amir in seinen nicht vorhandenen Bart.

„Der fährt eh nur bis zur Grenze”, gluckste sein Fahrer. „Ohnehin hat jeder so sein Gebiet.”

Er antwortete mit einem verstehenden Brummen, auch wenn er nicht wirklich verstand. War ihm auch egal.

Froh, dass der Traktor mit der ungeräumten Fahrbahn keinerlei Probleme zu haben schien, löste er langsam seinen verkrampften Griff um die kleine Haltestange und konzentrierte sich aus Mangel an Alternativen auf seine Umgebung. Hecke, Hecke, Schnee, Hecke, Zaun, Lebensmittelladen, Sparkasse, Hecke, Kirche mit bunter Fahne, Schnee- Moment! Er drehte ungläubig den Kopf zurück und konnte gerade noch einen zweiten Blick auf die stark ausgeblichene Regenbogenfahne erwischen, die ausgerechnet an den Mauern einer Kirche befestigt war. Was zum...? Das war nun wirklich unerwartet. Seine Erwartung wäre eher, dass die Bevölkerung hier mit Fackeln und Mistgabeln loszog, sollte sich einer der Anwohner erdreisten so ein Symbol an das eigene Haus zu hängen. Die waren hier noch verrückter, als er ohnehin befürchtet hatte. Ob auf gute oder schlechte Weise, wusste er noch nicht.

Sie fuhren ein paar Seitenstraßen entlang, dann bog sein Fahrer in eine Einfahrt voller Autos ein. Große Tore mit Fenstern gaben den Blick ins Innere einer Werkstatt mit mehreren Hebebühnen frei.

Der Motorenlärm erstarb. „Wir sind da”, verkündete der Blonde unnötigerweise.

Sie stiegen in umgekehrter Reihenfolge aus, Amir deutlich weniger elegant, aber froh, dem beständigen Vibrieren eine Weile zu entkommen. Traktoren waren nicht für Beifahrer gemacht, soviel wusste er jetzt.

Aus dem Gebäude kam ihnen ein weiterer Mann unbestimmten Alters entgegen. „Jakob, was verschlägt dich denn hier her?” Sein Dialekt war nur leicht hörbar. Die ölverschmierten Hände wischte er sich an einem Lappen ab, der anschließend in der Brusttasche seines Overalls verschwand.

„Für mich nicht viel”, antwortete der Mann neben ihm, der offensichtlich Jakob hieß. Dass Amir sich nicht längst vorgestellt hatte, war ihm jetzt doch etwas unangenehm. „Den Herrn hier hat's in den Graben verschlagen. Hab ihn rausgeholt und oben am Zoll abgestellt. Bisschen Blechschaden hadder, aber wir wissen nich' ob noch mehr dran is'.”

Amir wurde erneut kritisch gemustert. Der Mechatroniker zog vielsagend die Brauen hoch, verkniff sich aber was er wirklich zu denken schien. „Soll ich ihn mir mal ansehen?”

„Das wäre wirklich nett von Ihnen.” Amir lächelte möglichst freundlich-geschäftlich. Er war wirklich froh um jede Hilfe, die er grade bekam, wollte aber auch nicht weiter das hilflose Städterchen sein. Er war theoretisch auf dem besten Weg zum Abteilungsleiter eines mittelständischen Konzerns verdammt. Kein kleines Dummchen.

„Alles klar. Ich hol den Wagen, sobald die Straße frei ist. Brauchen Sie einen Ersatz? Ach, kommen Sie kurz rein, dann machen wir das richtig.”

 

Einige Minuten später standen Amir und Jakob wieder vor dem Traktor, an dessen Anwesenheit niemand etwas Besonderes zu finden schien, auch wenn er den kleinen Hof ziemlich blockierte. Was in Amirs Heimat Berlin eine riesige Attraktion wäre, gehörte hier vermutlich zum täglichen Anblick.

Er hatte noch keinen Ersatzwagen, der nächste würde erst am späten Nachmittag wieder frei werden. Einer der Angestellten würde ihn zu seinem Hotel bringen, wurde ihm versprochen. Mit seiner Firma hatte er den Vorfall ebenfalls bereits besprochen und der Werkstatt einen offiziellen Auftrag erteilen dürfen. Sicher war sicher.

Er atmete tief durch, dem Dampf seines kondensierten Atem nachsehend.

„Soll ich Sie zum Hotel bringen?”, riss Jakob ihn aus seinen Gedanken.

„Ich will Ihre Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren”, entgegnete Amir, doch an seiner Stimmlage konnten sie beide erkennen, dass er sicher nicht offen ablehnen würde. Was bliebe ihm auch übrig? Hier draußen gab es garantiert keine Taxis und nach Bussen traute er sich erst gar nicht zu fragen. Die Witze über dreimal am Tag fahrende Öffis kannte er schließlich selbst.

„Kein Ding.” Jakob zuckte mit den Schultern. „Muss eh in die ungefähre Richtung. Und hier stehen lassen will ich Sie auch nicht.” Bildete Amir sich das Zwinkern nur ein? Garantiert.

„Danke.” Sicherheitshalber klopfte er noch einmal seine Taschen ab. Handy und Geldbörse waren da, seine Aktentasche lag im Hotelzimmer. Für den heutigen Besuch seiner eventuellen neuen Abteilung hatte er sie nicht mitgenommen um ja nicht in Versuchung zu geraten, diesen informellen Besuch in ein geschäftliches Treffen zu verwandeln.

Sie stiegen wieder in das landwirtschaftliche Arbeitsgefährt. Eigentlich war es für seinen Verwendungszweck recht sauber und die enthaltenen Dinge aufgeräumt und in ordentliche Fächer und Kisten verstaut. Er hatte sich nie Gedanken darum gemacht, wie ein Traktor von innen aussah und war nach wie vor über den Komfort (für den Fahrer) und die erstaunliche Anzahl an Hebeln und Knöpfen verblüfft.

Schweigend fuhren sie über eine schmale Straße aus dem Ort hinaus, nicht ohne tatsächlich noch an einem Privathaus mit Regenbogenflagge vorbeizukommen. Amir hatte beschlossen, sich für den Rest des Tages einfach über gar nichts mehr zu wundern, dafür brach die Erschöpfung zu schlagartig über ihn herein. Die Straße, nur ein schmaler geteerter Weg, kaum breit genug für zwei Autos, wand sich durch einen kleinen Wald, in dem vereinzelt Gebäude und Gehöfte auftauchten. Kühe und Schafe grasten unbekümmert über die schneebedeckten Wiesen und sahen nicht selten selbst aus, wie wandelnde Schneehaufen. Ein paar Kurven später kamen sie in ein weiteres Dorf, das sich wieder ein gelbes Ortsschild verdient hatte. Die Hauptstraße erkannte Amir vom Vortag wieder, sie waren tatsächlich richtig und sein warmes Hotelzimmer mit Dusche und Bett nicht mehr fern.

„Sie waren wirklich meine Rettung”, bedankte er sich vor dem Gasthaus mit integriertem Hotel.

„Ach, kein Ding.” Jakob zuckte wieder auf diese nonchalante Art mit den Schultern.

„Ja klar”, antwortete Amir sarkastisch schnaubend. „Sie haben sicherlich besseres zu tun, als Autos aus Gräben zu ziehen und Reisende durch die Gegend zu fahren.” Verdammt, er könnte sich in den Hintern treten. Das hatte nicht sehr nett geklungen. „Entschuldigung.” Er fuhr sich mit der linken Hand durch die fingerlangen Haare.

„Schon okay, heute hatte ich wirklich nicht mehr viel vor. Nur Tiere füttern.” Der Blonde grinste schief, kleine Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen. „Außerdem hatte ich heute noch keine gute Tat erfüllt.”

„Die hatte ich heute auch noch nicht und ich glaube, so viel Zeit bleibt mir auch nicht mehr. Kann ich Ihnen irgendwie danken? Sie vielleicht auf einen Drink oder so einladen? Ein Essen?”, fragte Amir, einem Bauchgefühl folgend und deutete über die Schulter Richtung Restaurant. Den anderen einfach so fahren zu lassen, kam ihm nicht richtig vor. Natürlich nur, weil der ihm geholfen hatte.

Jakob schaute ihn perplex an und war über sein promptes „Gern” wohl ebenso überrascht, wie Amir über seine Einladung.

„Ähm... ja, gut. Dann... passt es heute Abend?”

„Ich- Ja. So um 20Uhr?”

„Super. Ach und: Ich bin übrigens Amir. Amir Kahveci.” Er streckte seinem Helfer die Hand hin und holte die längst überfällige Vorstellung nach.

„Jakob Theissen”, sagte er und ergriff seine Hand zu einem angenehm festen Händedruck. Seine Handflächen waren rau und man merkte ihnen die harte körperliche Arbeit an, die Amirs eigenen Fingern gänzlich unbekannt war. Es war nicht so unangenehm, wie er gedacht hatte.

 

 

~*~

 

- Nationalpark Eifel, Hohes Venn, Brackvenn an der N67 (BE) bzw. L214 (DE)

(Funfact: Die Straße hieß früher in der Gegen nur 'Highway to Hell'; es gab irgendwann sogar Schilder damit. Warum? Fahrt mal kilometerweit über eine ehemalige Panzerstraße aus defekten Betonplatten, Schlaglöchern und nahezu keiner Kurve ;) )

- 'Der Schmuggler' in Mützenich

- Und ja, an der Kirche hing tatsächlich eine Regenbogenfahne, mit dem Spruch „Bei uns sind alle willkommen” und kleinen Symbolen für diverse Partnerschaften, Trans* usw. Inzwischen gibt es sie leider nicht mehr, nach etwa 2 Jahren Dauereinsatz haben Sonne und Wetter ihren Tribut gefordert.

 

 

 

Hallo zusammen,

Ich weiß nicht, was schiefgelaufen ist, aber das Kapitel wurde nicht für euch veröffentlicht, obwohl ich ziemlich sicher auf den entsprechenden Knopf gedrückt habe. Deshaöb kommt es erst jetzt...
 

Der Fuchs ist einem Hotel/Restaurant nachempfunden, was es wirklich gibt, allerdings nach einem anderen Wildtier benannt ist. Die leicht abgewandelten Eindrücke hier entstammen aus der Zeit des Vorbesitzers, was der neue Koch serviert und wie sich das Lokal sonst verändert hat, weiß ich nicht.

 

 

~ 2 ~

 

„Was meinst du Paula? Lieber Hemd oder Pullover?” Hilflos sah Jakob zu seiner Bernersennenhündin hinüber, die ihn jedoch nur mit schiefgelegtem Kopf und treuen, braunen Kulleraugen ansah. Mikesch und Lea hatten sich schon vor etlichen Minuten vor der Hektik in ihren Kratzbaum geflüchtet und wo die restlichen Katzen aushingen, wussten wohl nur sie selbst. Vermutlich im Stall oder im Heuschuppen.

Eigentlich hatte er keinen Grund so aufgeregt zu sein. Bis vor einer halben Stunde war er das auch gar nicht gewesen, doch mit einem Mal war ihm bewusst geworden, dass er mit Amir eine Verabredung hatte. Okay, es war nur ein nett gemeintes Danke für seine selbstlose Hilfe heute. Und der andere würde nie im Leben ein Date mit ihm wollen, ihn vermutlich sogar allein für diese absurde Idee kastrieren, vierteilen und im See versenken. Aber leider interessierte das sein dummes Herz nicht, das schon beim ersten Blick auf den geschniegelten Geschäftsmann mit lustigen Purzelbäumen angefangen hatte und seine Libido machte fröhlich mit.

Jakob hatte ja mit vielem gerechnet, als er an dem verunglückten Auto gehalten hatte. Zugegeben, auf einer so geraden Strecke von der Fahrbahn abzukommen, war selbst mit Heckantrieb und Allwetterreifen auf schneebedeckter Straße ein Kunst für sich und er hatte sich eigentlich innerlich über einen weiteren Idioten lustig machen wollen, wenn er denn schon hielt und aushalf. Nur war der Idiot leider verdammt sexy anzusehen. Schwarzes, glänzendes Haar, der etwas dunklere Hautton mit dem Bronzestich und die dunklen Augen unter den verärgert zusammengezogenen Brauen. Dazu der schmal getrimmte Bart, der sich rund um den Mund und an der Kieferlinie entlang zog und gleichzeitig hart und weich wirkte. Der Anzug war garantiert maßgeschneidert, so perfekt wie er passte. Völlig unpassende Kleidung für einen Ausflug in die Eifel, aber Amir hatte garantiert auch keine Wanderung über die Stege geplant gehabt. Immer wieder hielt er in seinem Tun inne und ließ er den leicht fremd klingenden Namen über seine Zunge rollen. Verdammt, passte der gut zu dem sexy Kerl.

Seufzend entschied sich Jakob letztendlich für eine Jeans und sein blassblaues Hemd. Er würde bei weitem nicht so elegant aussehen, wie seine Verabredung, aber mit leicht hochgekrempelten Ärmel war er leger genug für sein eigenes Wohlbefinden und zeitgleich noch schick genug für die Ansprüche des 'Fuchs'.

Kritisch beäugte er sich im Spiegel. Rasieren oder nicht, das war hier die Frage...

 

~*~

 

Amir drehte das kühle Glas Bier in den Fingern und beobachtete konzentriert die Tropfen, die sich an der Außenseite bildeten. Er war sich der verstohlenen Blicke der Einheimischen bewusst, die an anderen Tischen ihre Köpfe zusammensteckten. Ignorantes Pack. Dass die Hälfte der Kundschaft hier französisch sprach, schien keinen zu stören, aber wehe man sah mal nicht so typisch mittel- oder nordeuropäisch aus, wie sie es gerne hätten. Dabei konnte man ihn wenigstens einwandfrei verstehen, wenn er etwas bestellte. Na ja, die Bedienungen waren durchweg nett zu ihm und er tat ihnen unrecht, sie mit in den Topf zu den mürrischen alten Käuzen und den runzeligen Tantchen zu stecken, die es eigentlich nur waren, die sich das Maul zerrissen. Wenn er ganz ehrlich war, gab es niemanden hier unter sechzig, der ihm mehr als eine kurze neugierige, aber flüchtige Aufmerksamkeit schenkte. Aber trotzdem, er war das nicht gewohnt. In Berlin müsste er schon mehr auffahren als türkische Vorfahren, um beachtet zu werden.

Der Raum selbst war anders, als er ihn vor seiner Anreise erwartet hätte. Statt urig und vollgestopft, war es eine Mischung aus altem Fachwerk und einer sehr aufgeräumten Moderne. Stilisierte Füchse erinnerten an den Namen und versilberte Hirschgeweihe verbanden Prunk und Naturnähe. Die Einrichtung war in Blau, Silber und ein bisschen Weiß gehalten. Die Stühle dick gepolstert und mit einem samtartigen Stoff bezogen, auf den Amir lieber keine Flecken kommen lassen würde. Wirklich unpraktisch für ein Restaurant, aber immerhin bequem.

Die Eingangstür fiel, wie so oft schon an diesem Abend, ins Schloss und kurz darauf kam der eigentliche Grund für Amirs verleugnete Nervosität in den Gastraum. Jakob sah ganz anders aus, als er sich ihn unter den dicken Arbeitsklamotten vorgestellt hatte und ja, da war er mal ehrlich zu sich selbst: anders, als er befürchtet hatte. Statt grüner Latzhose und Gummistiefeln trug der Bauer eine gut sitzende Jeans im dezenten Usedlook, saubere schwarze Sneaker und ein hellblaues Hemd, welches an den Schultern gerade genug spannte, um sie zu betonen ohne einengend zu wirken. Er kam nicht direkt auf Amir zu, sondern ließ sich von Gästen an einem anderen Tisch aufhalten. Was immer sie sagten, er lachte erheitert, klopfte einem der Männer auf die Schulter und kam genau zwei Tische weiter, ehe man ihn erneut stoppte.

Ein fieses Stechen machte sich in Amirs Bauch breit, ohne, dass er den Grund genau benennen könnte. Scheinbar hatte er sich vom Dorfliebling retten lassen. Wobei, ein kleines bisschen Genugtuung gönnte er sich, als sich besagter Everybodys-Darling ausgerechnet am Tisch des komischen Fremden mit Migrationshintergrund niederließ.

„Hey, ich hoffe du wartest noch nicht lange?” Jakob lächelte ihn so offen an, dass er gar nicht anders konnte, als es zu erwidern.

„Nein, erst ein paar Minuten.”

Amir wollte sich zur Begrüßung erheben, doch sein Gegenüber machte eine abwinkende Geste, zog sich den noblen Stuhl im blauen Polsterbezug zurück und ließ sich darauf sinken. Er nestelte an den umgeschlagenen Ärmeln herum und Amir konnte nicht anders, als die unbewusst präsentierten Muskeln an den Unterarmen zu bewundern, was sein Kopfkino als Anlass nahm, auch über die restliche körperliche Konstitution des Dorfbewohners zu fantasieren. Entschieden riss er sich von den unangemessenen Gedanken los und sah stattdessen in die grauen Augen. Hier im gedimmten Licht wirkten sie deutlich dunkler, als noch früher am Tag.

Eine Bedienung unterbrach die unangenehme Stille und brachte die Karten. Kurz darauf kam sie mit Jakobs Getränk zurück. Interessiert beäugte Amir die dunkle, sprudelnde Flüßigkeit in dem etwas zu dicken Weinglas. Das Logo war zwar zu erkennen, die Schrift aber ätzend altertümlich.

„Das ist Leffe”, erklärte der Blonde zuvorkommend, ein leichtes Schmunzeln im Mundwinkel. „Dunkles, oder vielmehr 'brunes'. Belgisches Bier.”

„Belgisches?” Nun war es an Amir, zu schmunzeln. „Ich dachte, alles, was nicht nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird, ist Teufelswerk?”

„Was bringt einem ein Reinheitsgebot, wenn es anderswo doch viel besser schmeckt?” Zwinkernd nahm er einen Schluck des dunklen Bieres.

„Ganz ehrlich: Ich hab den Wahn darum noch nie verstanden”, kommentierte Amir schulterzuckend und nahm ebenfalls einen Schluck seines eigenen, streng nach Vorschrift gebrauten Pils-Bieres. Ein bisschen neugierig war er ja schon, wie das andere wohl schmecken würde.

„Keine Ahnung, wie das anderswo ist, aber hier in der Ecke sind belgische Biere ganz normal. Gibt auch 'normale'”, hier setzte er Anführungszeichen in die Luft, „oder richtige Starkbiere. Und wer es süßer mag, kann auch Kirsch- oder Himbeerbier nehmen.”

„Himbeerbier!?”, keuchte Amir, hoffend, dass er nicht ganz so entsetzt klang, wie er sich selbst hörte.

Leider lachte Jakob und machte seine Hoffnung damit zunichte. „Ist eigentlich auch ganz lecker, aber nichts, was ich vor dem Essen trinken würde.”

Na, darauf war er jetzt gar nicht neugierig. Dann doch lieber sein konservatives Gebräu. Er schüttelte sich innerlich und widmete sich dann wieder der Speisekarte. „Kannst du irgendwas empfehlen?”, fragte er, um die Unterhaltung in ungefährlichere Bereich zu lenken.

„Die Wildgerichte haben einen ausgezeichneten Ruf”, kam es von hinter der zweiten Karte.

Amir sah sich die entsprechende Rubrik an. Klang wirklich alles sehr verlockend...

„Ach, übrigens: Schau bitte nicht nach den Preisen. Die Firma zahlt”, teilte er seinem Gegenüber zwinkernd mit. Wenn die ihn schon mitten in die Pampa zwangen, konnten sie auch ein bisschen blechen.

„Ich will dir keinen Ärger einhandeln”, sagte Jakob zweifelnd.

„Quatsch.” Amir winkte ab. „Bei Spesen sind die immer sehr großzügig, solange ich nicht zehn Leute in ein Sternerestaurant einlade, fragen die gar nicht nach. Und wenn doch, erkläre ich einfach, wie du mir geholfen hast und gut ist.”

„Hm... na gut? Auf deine Verantwortung.” So richtig überzeugt klang der Blonde noch nicht, aber das war ihm egal.

Wann waren sie eigentlich zum Duzen übergegangen? Früher am Tag war es noch das steife 'Sie' gewesen. Egal, so gefiel es ihm auf jeden Fall besser.

 

Einige Zeit später hatten sie bestellt und saßen sich nun an dem dunklen Holztisch mit der gestärkten, weißen Tischdecke gegenüber.

„Darf ich fragen”, setzte Jakob an, zögerte und sprach dann doch weiter, „was dich beruflich hierher verschlägt? Nicht, dass es hier nicht auch gut etwas zu tun gäbe, aber du wirkst weder wie ein Vertreter für Landmaschinen, noch wie ein Bauunternehmer.”

„Bin ich auch weder noch.” Grinsend stellte er sich selbst auf einer Baustelle oder neben einem Erntewerkzeug vor. Das passte wirklich nicht. Auch wenn es ein bisschen an seinem Stolz kratzte, so durchschaubar zu sein. „Ich bin in einem Softwareunternehmen tätig. Eigentlich habe ich als langweiliger Programmierer angefangen, doch irgendwie bin ich die Karriereleiter immer weiter hochgeklettert. Aktuell mache ich viel Außendienst, das macht Spaß, ist aber auch ziemlich anstrengend auf Dauer. Deshalb habe ich eine Versetzung beantragt.” Seufzend dachte er an seinen Besuch heute, seine Gefühle waren wirklich zwiegespalten.

„Und dein neuer Arbeitsort gefällt dir nicht?” Jakob war wirklich feinfühlig für einen... ja okay, vielleicht war er selbst auch nicht frei von Vorurteilen.

„Ich soll die Leitung eines Teams übernehmen. In Aachen. Da kam ich eben auch her.”

„Aachen? Das ist aber doch noch ein Stück zu fahren. Warum dann ausgerechnet ein Hotel hier bei uns? Ausgebucht ist die komplette Stadt unter Garantie nicht.” Wenn er so kritisch schaute, zogen sich die dunkelblonden Brauen auf spannende Weise zusammen, ein scharfes V bildete sich zwischen ihnen, das sonst, im Gegensatz zu den Lachfältchen, nicht zu sehen war.

„Ist sie auch nicht.” Amir strich sich stöhnend durch die schwarzen Haare. „Meine Chefin wollte mir eine Freude machen.” Er sprach es aus, als handele es sich dabei um eine ansteckende Krankheit.

„Indem sie dich mindestens 35 Kilometer fahren lässt?” Nun klang der andere Mann wirklich verwirrt.

„Nein, indem sie mich in ein romantisches Dorf schickt mit einer wunderschönen Winterlandschaft und einem sooo tollen Weihnachtmarkt in der Nähe.” Theatralisch war er die Arme seitlich hoch.

Jakob brach in schallendes Gelächter aus und zog nicht nur Amirs Blicke auf sich. „Oh man, da hat dich die wunderschöne Winterlandschaft aber ganz schön übers Ohr gehauen.”

Bei der Erinnerung an seine unfreiwillige Rutschpartie verzog der Schwarzhaarige das Gesicht. „Ja, ein ganz toller Einstand. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, ich glaube nicht dass sie auf dem Schirm hatte, dass ich für Schneefall lieber einen Jeep mit Allrad und Schneeketten brauchen würde.”

„Schneeketten sind normalerweise nicht nötig. Aber ordentliche Winterreifen wären schon besser gewesen.” Immer noch brach ab und an ein leichtes Kichern hinter seiner vorgehaltenen Hand hervor. Die grauen Augen blitzten vergnügt und die nun ausgeprägten Lachfältchen passten deutlich besser zu ihm.

Amir grummelte leise etwas vor sich hin, musste dann aber doch grinsen. War ja alles gut gegangen. Der Wagen war gut versichert und ihm selbst war bis auf ein paar nasser Socken auch nichts geschehen. Daran, dass es auch anders hätte enden können, wollte er lieber nicht denken.

Ihre Suppen wurden gebracht. Sie hatten sich beide für Tomatencreme entschieden. Die künstlerische Verzierung sah toll aus, über den breiten Rand zogen sich feine Fäden von... Balsamico? Tupfer Tomatenmark und ein bisschen Grünzeug vervollständigten das Bild.

Seine Befürchtung, die Suppe könnte bei all dem Aufwand kalt geworden sein, erwies sich als falsch. Er genoss den fruchtigen Geschmack der hausgemachten Speise.

„Und? Wirst du die Stelle annehmen?”

Überrascht blickte Amir auf und musste sich kurz erinnern, was der andere meinen könnte. Er zuckte mit den Schultern. „Weiß noch nicht. Es ist eine tolle Gelegenheit, aber der Schritt von Berlin nach Aachen ist schon nicht gering.”

„Also bist du wirklich aus Berlin? Ich war mir nicht sicher, Firmenwagen sind ja gerne am Hauptsitz zugelassen”, erklärte Jakob auf seinen fragenden Blick hin.

„Ich bin waschechter Berliner. Aber keine Sorge, Berlinern tu ich nur, wenn ich mich aufrege.”

Wieder ließ der Blonde sein Lachen hören. „Ich fürchte, mir hört man meine Heimat sehr deutlich an.”

„Ach was”, er winkte ab. „Wenn du Hochdeutsch sprichst, ist alles okay.”

„Also besser kein Plattdeutsch mit dir reden?”

„Wenn du willst, dass ich dich verstehe? Nein. Andernfalls tu dir keinen Zwang an.”

Sie löffelten in gemütlichem Schweigen die Teller leer.

Langsam wurde ihm wirklich warm und so schälte sich Amir geübt aus seinem grauen Sakko, welches er anschließend über dem Stuhl neben sich drapierte. Mit den Ärmeln seines dunkelroten Hemds verfuhr er ebenso wie Jakob und schlug sie präzise um, bis kurz vor die Ellbogen. Als er wieder aufsah, begegnete er dem leicht abwesenden Blick seines Gegenübers, der ihm jedoch schnell auswich und im unaufdringlichen Schein der Deckenleuchten zu erröten schien. Nanu?

Die fleißige Bedienung tauchte wie aus dem Nichts neben ihnen auf und griff sich die leeren Suppenteller. „War alles bis jetzt in Ordnung?”, fragte sie freundlich.

„Ja, sehr gut.”

„Alles bestens, wie immer Lisa.” Der Blonde lächelte ihr zu und sie erwiderte es aufrichtig, die Mimik wohl als Aufforderung zum Smalltalk verstehend.

Aus irgendeinem Grund fand Amir Lisa schlagartig unsympathischer. Er wusste, es war blödsinnig, aber schließlich war Jakob wegen ihm hier und nicht, um wie jetzt mit der Bedienung zu plaudern. Und dass sie ihn dabei völlig außen vorließen, gefiel ihm noch viel weniger.

Ein anderer Gast, der Aufmerksamkeit forderte, erlöste sie von der Plage namens Lisa.

„Du bist wohl ziemlich beliebt”, rutschte es Amir wider besseren Wissens raus.

Jakob sah ihn verwirrt an. „Ich... kenne einige Leute? Und ich hoffe, dass mich die meisten auch mögen?” Sein schiefes Lächeln ließ ihn für einen Moment wie einen spitzbübischen Jungen aussehen. Er dachte kurz nach. „Na ja, zumindest wäre es schon praktisch, wenn ich mich nicht allzu unbeliebt machen würde.” Er wirkte wieder so lieb, dass Amir seine Anwandlung nicht lange beibehalten konnte.

„Entschuldige. Ich denke, ich bin das einfach nicht gewohnt.”

„Die städtische Anonymität ist also kein Vorurteil?” Der Blonde sah ihn neckend an und sein Herz machte einen kleinen Satz.

„Ist sie nicht. Ich kenne zwar einige meiner Nachbarn und in meinen üblichen Lokalen und Supermärkten kenne ich auch ein paar der Angestellten, aber es passiert eher selten, dass ich rumlaufe und erkannt werde. Außer, man ist ein wirklich bekannter Promi.”

„Gibt es hier im Dorf aber auch, gerade bei den Jüngeren. Wichtige Leute kennt man, alle, die mit Landwirtschaft und Handwerk zu tun haben, kennen einander und wer viel in Vereinen ist, wird logischerweise auch eher erkannt. Aber es gibt auch genug Leute, die ich maximal vom Sehen her kenne, wenn überhaupt.” Der Rest des dunklen Bieres geriet in Bewegung, als er das Glas locker aus dem Handgelenk rotierte.

„Hat wahrscheinlich beides Vor- und Nachteile”, meinte Amir versöhnlich.

„Wie bei fast allem also.”

 

Der Hauptgang war fantastisch! Amir hatte noch nicht oft Wild gegessen, aber mit dem hauchzarten Rehgulasch konnte er sich wirklich anfreunden. Dazu gab es Preiselbeeren und eine interessant eingelegte Birne, beides eindeutig selbstgemacht.

Sein Gast hatte etwas, das er als Kartoffelpizza vorgestellt hatte. Er würde auf ein Art Reibekuchen mit Gemüse und Käse überbacken tippen, auf keinen Fall ein Gericht, was ihm so bereits untergekommen wäre.

Unbewusst rutschte sein Blick vom Teller höher zu dem blonden Mann dahinter. So fremd ihm die ländliche Umgebung auch war, er kam nicht umhin sich einzugestehen, dass er sich bei dem Anderen schon ein bisschen zu wohl fühlte. Und das lag bei Weitem nicht an den tadellosen Tischmanieren oder den angenehmen Gesprächsthemen. In ihm stieg eine Wärme auf, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte und die hier leider wirklich fehl am Platz war.

„Stimmt was nicht?” Jakob sah ihn fragend an.

„Doch, doch, alles bestens. War nur in Gedanken”, wiegelte Amir schnell ab und zwang seine Augen zurück auf seinen eigenen Teller. Er griff nach seinem Weinglas und nahm einen großen Schluck. So gut er schmeckte, gerade wünschte er sich lieber etwas mit mehr Umdrehungen.

„Warst du eigentlich schon auf dem Weihnachtmarkt?”, fragte sein nichtsahnendes Gegenüber nach einigen Minuten einträchtiger, gefräßiger Stille.

„Ne, bin gestern erst angekommen und der öffnet ja immer nur am Wochenende.” Und ehrlich gesagt, hatte Amir bislang auch keinerlei Gedanken daran verschwendet, die Info zu den Öffnungszeiten hatte er unfreiwillig von seinen möglichen neuen Kollegen bekommen.

„Willst du denn?”

Etwas an der Art, wie der Blonde ihn ansah, ließ den Geschäftsreisenden zögern und seine Antwort überdenken. „Ich... habe schon Interesse”, formulierte er vorsichtig die Unwahrheit, zumindest, sofern sie sich auf die Fressbudenlandschaft unter Lichterketten bezog, die er zu erwarten glaubte. Betont lässig zuckte er mit den Schultern, als würde er einen Besuch ernstlich in Erwägung ziehen.

„Ich wollte morgen Abend runterfahren. Mich später vielleicht mit ein paar Freunden treffen. Wenn du magst, können wir ja etwas früher hin und ich führe dich ein wenig rum?”, bot Jakob an und nur seine Augen, die sich nicht so recht fokussieren wollten und die roten Ohrspitzen verrieten, dass er innerlich nicht ganz so locker war, wie er tat. Was Amir auf seltsame Art erleichterte.

„Klar, gerne”, hörte er sich schon zustimmen, noch bevor er weiter drüber nachdenken konnte.

Das breite Lächeln des Mannes vor ihm war ansteckend.

 

~*~

Hallo zusammen,

es tut mir schrecklich Leid, dass ich letzten Sonntag nichts hochgeladen habe, aber mir kam ein familiärer Notfall dazwischen und ich hatte einfach keine Kapazitäten mich um den letzten Korrekturschliff und das anschließende Hochladen zu kümmern. Ich hätte auch gerne hier noch ein paar Sachen ergänzt, vor allem innere Gedanken und Gefühle der jeweiligen Person aus der man die Szene erlebt, aber das hätte einfach zu lange gedauert.

Wenn ich es schaffe, kommt das nächste Kapitel Mitte der Woche, ich kann und will es aber nicht versprechen.

 

 

~ 3 ~

 

 

Jakob trommelte nervös auf dem Lenkrad seines Wagens herum. Seit mehreren Minuten, wie ihm die Anzeige seines Pickups verriet. Vor lauter Aufregung war er viel zu früh losgefahren, traute sich aber nicht, an der Rezeption des kleinen Hotels zu fragen, ob man Amir zu ihm schicken könnte. Aufdringlich wirken wollte er nämlich auch nicht. So ein Bockmist.

Nach weiteren drei Minuten trat eine vertraut wirkende Gestalt in dicker Winterjacke aus der Glastür. Amir sah sich um und kam, nach einem kurzen Winken von Jakob, in selbstsicheren, eleganten Schritten auf den Wagen zu. Die Wagentür öffnete sich und der Geschäftsmann auf Abwegen stieg ein. Umständlich, was ihn etwas an Eleganz verlieren ließ, wie Jakob schmunzelnd feststellte.

„Hi. Schicke Karre”, grinste Amir. „Mit der landen wir vermutlich nicht so schnell im Graben.”

Immer noch schmunzelnd schüttelte der Blonde den Kopf. „Ne, nicht wenn ich fahre.”

„Ey, was soll das denn heißen?”

Er kassierte einen leichten Faustschlag gegen den Oberschenkel und lachte nun offen, auch über Amir, der von sich selbst erschrocken schien. „Nichts, nichts. Gnade.”

Schnell startete er den Motor und fuhr auf die wenig befahrene Straße.

„Und, wie ist das Hotel so? Man hat ja selten Gelegenheit mal einen der Gäste persönlich zu fragen”, erkundigte sich Jakob mit einem kurzen Seitenblick.

„Sauber, gemütlich. Nicht so urig, wie ich gedacht hätte, eher ziemlich modern ohne direkt so kalt und unpersönlich zu wirken.” Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Das Frühstück war super.”

„Ich kenne es nur vor dem Umbau, da war es wirklich noch urig.” Jakob machte einen Schulterblick und überholt an der einzigen geraden Stelle gleich zwei Autos auf einmal. Der Motor des Ford Rangers heulte begeistert auf und ließ seine Pferdestärken spielen. Problemlos scherte er weit vor der nächsten Kurve wieder ein und hatte die anderen Wagen schnell abgehängt. Typisch Touristen, immer das Gleiche mit denen. Schnaubend wandte er den Blick vom Rückspiegel ab und zu seinem Beifahrer, der sich merklich versteift hatte. „Beruhig dich, ich hab das im Griff.” Für einen kurzen Moment war er beleidigt. So schlimm fuhr er gar nicht! Und die Straße war frei von Eis und Schnee, es hatte seit über 24 Stunden nicht mehr geschneit.

„Sorry, das kam nur etwas überraschend. Heute Vormittag bin ich hier deutlich langsamer gefahren.” Entschuldigend blickten die dunklen Augen zu ihm hinüber und Jakob musste sich zwingen, sich wieder der Straße zu widmen.

„Bist ja auch'n Touri”, grinste er und rechnete fast mit einem neuen Schlag. „Nich bös gemeint, aber Ortsfremde fahren hier meistens wie lebende Verkehrshindernisse.”

„Und Ortskundige wie angesengte Wildsäue”, konterte Amir.

Sie lachten beide.

An der kleinen Talsperre ordnete Jakob sich rechts ein und fuhr über die kurze Talbrücke den Berg hoch in Richtung Höfen, nicht ohne auf der zweispurigen Straße nicht noch mehrere Autos mit ortsfremden Kennzeichen zu überholen. Neben den weiß-schwarzen Nummernschildern fanden sich auch weiß-rote und gelb-schwarze, die Grenznähe zu Belgien und den Niederlanden machte sich bemerkbar.

„Ist hier eigentlich immer so viel los? Ich hab heute mal eure Shoppingmeile erkundet und manchmal kaum einen Parkplatz gefunden. Von den Straßen will ich gar nicht erst reden, die waren teils schlimmer als in Berlin.”

Nachdenklich wiegte der Blonde den Kopf. „Viel los, ja. Vor allem Samstags. Aber durch den Weihnachtsmarkt herrscht Ausnahmezustand. Und, bist du fündig geworden?”

„Jap.” Der Schwarzhaarige deutete nach unten. „Winterfeste, wasserdichte Schuhe. Jetzt bin ich gerüstet.”

Dagegen war nichts einzuwenden, Jakob selbst steckte in warmen Klamotten. Regen oder matschigen Schnee sollte es laut Wetterbericht die nächsten Tage zwar nicht geben, aber die Temperaturen kletterten bereits jetzt wieder fröhlich auf die zweistellige Zahl zu, im Minusbereich.

Er lenkte den Wagen an den überfüllten Besucherparkplätzen vorbei.

„Müssen wir hier nicht hin?”, fragte Amir zweifelnd.

„Ne, hab eine bessere Möglichkeit.” Die nächste Straße ging es rein und am dritten Haus parkte er auf einem weiträumigen Hof. Der Motor erstarb und mit ihm die leise Rockmusik, die im Hintergrund ihre Fahrt begleitet hatte.

„Dürfen wir hier parken?” Sein Gegenüber klang immer noch skeptisch.

„Sicher. Ist ein Freund von mir, der weiß Bescheid”, beruhigte er seinen Gast und stieg aus. „Hier müssen wir keine Gebühren zahlen und außerdem läuft uns kein Betrunkener vor's Auto.”

„Gutes Argument.”

Sie gingen nebeneinander her und folgten dem Strom an Menschen bis zur Bushaltestelle. Jakob zog seinen Geldbeutel hervor und löste für sie beide Tickets.

„Oh, danke. Dafür gebe ich dir gleich einen aus.” Angenehmerweise startete Amir keine sinnlose Diskussion – die Tickets waren ohnehin bezahlt – sondern kam direkt mit der gängigen Lösung.

„Tu das”, stimmte Jakob daher lächelnd zu.

Sie quetschten sich zwischen die anderen Gäste und warteten auf den nächsten Shuttlebus.

 

~*~

 

Der Bus war ein fahrender Albtraum aus zu vielen Menschen in Winterkleidung, heißer stickiger Luft und einer Luftfeuchtigkeit, die den Tropen Konkurrenz machen konnte. Sie ergatterten mit viel Glück noch eine Zweierreihe relativ weit vorne, wo der am Gang sitzende Jakob durch die stehenden Fahrgäste rigoros gegen Amir gedrückt wurde, der sich an die beschlagene Fensterscheibe drückte.

Der Busfahrer, vermutlich nervlich bereits seit Tagen durch, schloss irgendwie die Türen hinter den letzten Passagieren und fuhr los, ohne Rücksicht auf Verluste.

Ein wenig bereute der Geschäftsmann seine Zusage für den ach so romantischen Weihnachtsmarkt, einzig der unvermeidbare Körperkontakt zu dem attraktiven Bauern entschädigte ihn. In einer scharfen Rechtskurve wurde der für einen Augenblick noch näher gedrückt, Amir konnte das Aftershave von ihm wahrnehmen.

Die Front des Busses neigte sich bergab, die Kurven nahmen zu, als sie sich der im Tal liegenden historischen Altstadt näherten, durch Felder und Wälder hindurch. Gespräche führten sie nicht, es war einfach zu laut und anstrengend, aber zumindest ihn störte das wenig. Sein Bein war angenehm warm, dort, wo sie sich berührten.

Wenige Minuten später schon war die Fahrt vorbei. Wie ein Wasserfall ergoss sich die Menschenmenge auf den Parkplatz. Oder, als würde das große Gefährt sie alle auskotzen. Ein amüsanter Gedanke.

„So, willkommen in Monschau.” Jakob breitete die Arme aus und grinste ihn an, ehe er sich eine dunkelrote Mütze über die Ohren zog.

Amir wandte sich dem letzten Stück Straße zu, das bergab bis zu den ersten Häusern führte. Sein Blick glitt über die dekorierten Gebäude hinweg, die Hänge an den Seiten hoch.

„Wow. Wie kommt man auf die Idee, ausgerechnet hier im Tal eine Stadt zu bauen?”

„Ich habe keine Ahnung”, antwortete Jakob. „Aber immerhin hat man die Burg oben auf den Berg gebaut. Die sieht man aber von hier aus nicht, nur den Haller.” Damit deutete er zu einer beleuchteten Ruine am rechten Berghang hinauf.

Amir betrachtete kurz das verfallene Bauwerk. Irgendwas hatte er darüber gelesen, bei seiner aus Frust geborenen Recherche. Ganz bekam er es aber nicht zusammen und ehrlich gesagt, fand er es jetzt auch nicht so unheimlich spannend.

„Sollen wir los? Langsam könnte ich etwas Warmes zu trinken gebrauchen.”

„Oh, äh, sicher. Sorry.” Täuschte er sich, oder lief Jakob rot an?

Sie folgten den letzten Nachzüglern hinab und zwischen den Häusern in eine enge Gasse aus Kopfsteinpflaster, immer weiter zwischen dicht gedrängten Gebäuden im Fachwerkstil hindurch. Einige der Fenster waren beleuchtet und beherbergten kleine Geschäfte oder Gästhäuser, überall gab es dezente Weihnachtsbeleuchtung.

Die ersten Buden kamen in Sicht, nahmen quasi den gesamten Raum auf einem kleinen Platz ein. Hübsche Holzbuden mit Nadelzweigen an den Dachrändern und Kanten, ein grünes Schild in schwer leserlicher Schrift verriet, was man darin finden konnte, sollten einem zu viele Leute die Sicht versperren, so wie jetzt.

„So, Platz Nummer eins. Willst du dich direkt in das Gedränge in der Mitte schmeißen oder erst außen rum? Ich glaube, drinnen gibt es eh hauptsächlich Glühwein und Futterkram.” Jakob sah ihn fragend an, die Hände in den Jackentaschen vergraben.

„Lass uns außen rum”, antwortete Amir nach kurzem Zögern. Und das taten sie auch, gemütlich schlendernd. Wenig überraschend gab es den üblichen Kram: Artikel aus Schaf- und Alpakawolle, Holzartikel für den Haushalt, Seife, Duftkram, um den sie einen Bogen machten.

„Die Buden sind auch überall gleich”, sprach der Blonde seine Gedanken aus.

„Vermutlich. Aber was will man auch sonst anbieten? Wenigstens sieht es nicht nach billiger Massenware aus.” Er musterte eine große Salatschüssel aus poliertem Holz mit großer Maserung.

„Oh, ne, da würden die Leute hier auf die Barrikaden gehen.” Jakob lachte wieder sein tiefes Lachen. „Gefällt dir was?”

Amir zuckte mit den Schultern. „Es ist ganz nett, aber aktuell sollte ich wohl erstmal abwarten, bevor ich vor dem Umzug zu viel neuen Kram kaufe.” Er wandte sich ab und ging weiter.

„Also überlegst du, die Stelle anzunehmen?”, erkundigte Jakob sich neugierig.

„Weiß noch nicht. Die Bezahlung wäre super und die Position würde mich schon reizen, aber...” Erneut zuckte er die Schultern, diesmal ratlos.

„Aber dir gefällt es hier nicht?” Der Andere klang enttäuscht, auch wenn er es zu verbergen versuchte.

„Das nicht”, wehrte Amir schnell ab. „Aber es ist schon anders. Ich habe immer in Berlin gelebt.”

„Du hast ja noch nicht viel gesehen. Und Aachen ist schon deutlich mehr Stadt als das hier. Keine Metropole, aber doch groß und voll.” Er schwieg einige Schritte lang. „Ich glaube, wäre es andersrum, könnte ich das nicht. Ich brauche die Ruhe, das Schlimmste für mich wären wohl Nachbarn, von denen man alles mitbekommt. Und, dass sich alle so fremd sind.”

„Man gewöhnt sich an viel und mit seinen Nachbarn kann man schon Kontakt haben, wenn man will”, hielt Amir dagegen. „Dafür kann man viel mehr unternehmen, ohne dass es direkt der halbe Ort weiß.”

Schmunzelnd nickt der Bauer. „Ja, das stimmt wohl. Sag mal, du müsstest dann auch deine ganzen Freunde zurücklassen, oder?”

Amirs Miene verfinsterte sich kurz. „Die wenigen die ich noch hab, ja. Sagen wir mal, es ist eine blöde Idee, sich den Freundeskreis als Paar zu teilen.”

Jakob verzog mitleidig das Gesicht. „Autsch.”

„Mh-hm.” Brummend verkroch er sich tiefer in seiner Jacke und versuchte schnell an etwas anderes zu denken. Sie waren durch eine weitere gewundene Gasse mit Geschäften (diesmal sehr wohl auch mit billiger Massenware!) zu einem weiteren Platz gelangt. „Oh, scheint bei euch Brauch zu sein, den Statuen Mützen aufzusetzen.” Er deutete auf eine kaum brusthohe Metallskulptur zwischen den Menschen, auf deren Kopf jemand eine fröhlich blinkende Weihnachtsmütze platziert hatte.

„Sieht doch nett aus. Aber welche meinst du noch?”

„Na, die an der du mich vorbei abgeschleppt hast.”

Jakob überlegte kurz. „Ach, der Schmuggler. Möglich, dass der auch eine Verkleidung hat. Während des Lockdowns trug er immer brav eine Maske.”

Ungläubig schüttelte der Schwarzhaarige den Kopf. „Aber warum?”

Amüsiert zuckte sein Gegenüber die Schultern. „Warum nicht? Ist doch lustig.”

Er beschloss, nicht weiter über die Eigenheit der Anwohner nachzudenken, ihre Denkmäler thematisch passend zu dekorieren.

„Lebst du eigentlich schon immer hier in der Gegend?”, stellte er die erste Frage, die ihm in den Sinn kam.

Der Blonde schien überrascht über den plötzlichen Themenwechsel. „Äh, ja. Der Hof ist schon ewig im Familienbesitz und nach der Ausbildung habe ich ihn übernommen. Meine Schwester wollte lieber studieren und ist danach bei ihrem Partner geblieben. Hast du Geschwister?”

„Ja, drei Stück sogar. Einen älteren Bruder, eine ältere Schwester und noch einen kleinen Bruder. Wir sehen uns aber ohnehin nicht mehr oft.” Ein heftiger Stich in der Herzgegend erinnerte ihn schmerzlich daran, warum es noch mehr Gründe als nur den Job und seine gescheiterte Beziehung gab, etwas Abstand zwischen sich und Berlin zu bringen. Egal wie groß eine Stadt war, komplett fliehen konnte man nie. „Hey, können wir uns da vorne was zu trinken holen?”

„Hm? Klar.”

Sie schlugen sich nach links durch. „Was möchtest du?”

„Einen Kinderpunsch. Wenn ich Auto fahre, trinke ich nichts”, fügte er nach Amirs Blick hinzu.

„Sehr löblich”, befand dieser und nutzte die Chance eines freien Mitarbeiters und bestellte sich selbst einen Glühwein und für den Bauern den gewünschten Kinderpunsch. Und wie versprochen, zahlte er diese Runde.

 

Gemeinsam schlenderten sie von einem kleinen Platz zum nächsten, immer umgeben von den hübschen alten Häusern und Kopfsteinpflaster unter den Sohlen. Die Sprachenvielfalt der Menschen um ihn herum war faszinierend, er hörte bald mehr Französisch als Deutsch und auch Niederländisch und Englisch waren groß vertreten. Begleitet wurde ihre Tour durch das beständige Rauschen des Flusses nur wenige Meter unter ihnen, mal laut an den Brücken, mal leiser, wenn sie durch eine Häuserreihe von ihm getrennt waren.

Jakob wusste zu einigen Gebäuden etwas zu erzählen, mehr Volksmund als museumskundige Fachvorträge. Er hörte ihm gerne zu, die muntere Art und tiefe Stimme hatten ihre ganz eigene Wirkung auf ihn, der er sich in der selbst für Weihnachtsmuffel sehr besinnlichen Umgebung nur zu gerne hingab.

In einem kleinen Innenhof holten sie sich große, viereckige belgische Waffeln mit heißen Früchten und setzten sich so, dass sie die Besuchermassen aus sicherem Abstand beobachten konnten.

Amir erzählte ein bisschen aus Berlin. Den Straßen, die auch Nachts nicht schliefen, den vielen Möglichkeiten, den Kulturen. Den Vorteilen dicht getakteter Nahverkehrsmittel, bei denen Jakob nur lachen und das Klischee des dreimal am Tag kommenden Landbusses bestätigen konnte.

Irgendwann piepte Jakobs Handy.

„Oh, meine Freunde fragen schon, wo ich bin.” Er klang überrascht und blickte entschuldigend zu Amir.

„Dann solltest du wohl gehen.” Das war vielleicht nicht ganz ehrlich gemeint, zu gerne würde der Berliner noch mit ihm hier sitzen bleiben, aber er konnte ihn schlecht von seinen Freunden fernhalten.

„Ich? Wir. Oder magst du nicht?”

„Äh...”

„Außerdem muss ich dich doch eh zurückfahren.”

Nun ja, da war wohl etwas dran. Die zwei Glühwein sollten sein Hirn eigentlich nicht so langsam machen, wie es Amir gerade vorkam.

„Stimmt wohl.” Er lachte peinlich berührt und stand auf, den Müll in der Hand, welchen er nach kurzem Suchen in einem Mülleimer entsorgte.

Gemeinsam drängten sie sich durch die Massen zurück zu einem der zentraleren Plätze. Jakob sah sich um, das Handy noch in der Hand. Irgendwo inmitten der Menge hob sich eine winkende Hand und der Blonde erwiderte die Geste. „Los, komm mit.” Ohne Rücksicht warf er sich voran und bahnte einen Weg, auf dem Amir folgen konnte. Der nutzte die Chance und musterte ausgiebig die sich bietende Rückansicht, die ihn trotz der dicken Winterjacke noch warm werden ließ.

An einem der Tische, die Amir an die Futterkrippen in Wildparks erinnerten, stand eine Gruppe junger Menschen und begrüßte den Blonden überschwänglich mit Umarmungen und Wangenküsschen. Ein wenig deplatziert blieb Amir neben ihm stehen und winkte lächelnd in die Runde, als sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihm zuwandte.

„Hi, ich bin Amir.” Er beschloss, sich ungezwungen vorzustellen.

„Ah, der junge Mann aus Berlin”, erriet eine kleinere Frau mit braunen Locken und roten Wangen fröhlich.

„Ähm, ja. Der berüchtigte Dorffunk scheint bei euch ja gut zu funktionieren”

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Meine Schwester, Lisa, kellnert im Fuchs.” Sie zwinkerte ihm zu. „Ich bin Anne.”

„Und das sind Markus, Stefan, Sabine und Patrick”, stellte Jakob die anderen am Tisch nacheinander vor. Markus war wie Jakob ein großer, kräftiger Kerl mit dunklem Vollbart, Stefan der typische Durschnittskerl mit sympathischem Lächeln, den Arm um seine Frau gelegt. Sabine bestach durch eine schmale Figur und perfektes Styling und sie hätte deplatziert wirken müssen, wären nicht ihre schelmisch funkelnden Augen. Patrick war grob geschätzt der Jüngste im Bunde, mit wilden braunen Haaren und einer niedlichen Stupsnase. Ob schwul oder vielleicht nicht, in einem Szeneschuppen hätte er als Twink fraglos große Aufmerksamkeit genossen. Amir verkniff sich in letzter Minute ein Lachen, beim Gedanken daran, wie erschrocken das junge Landei dreinblicken würde, wenn sich ein Bär von Mann an ihn ranmachen würde. Vielleicht tat er ihm ja auch unrecht, aber das Bild in seinem Kopf war zu komisch.

„Los, erzähl, was macht ein Berliner hier bei uns? Nichts für ungut Kumpel, aber du wirkst nicht wie die üblichen Touristen, die hier busweise angekarrt werden.” Markus nahm kein Blatt vor den Mund und sprach direkt an, was sich die anderen vermutlich auch dachten.

„Eine berufliche Chance und eine etwas überfürsorgliche Vorgesetzte”, klärte Amir ihn auf. „Wobei, wäre sie wirklich so um mich bedacht, hätte sie mir einen Wagen mit ordentlichen Winterreifen gegeben”, fügte er nach einem Moment hinzu.

„Ach, dann hätte ich dich aber gar nicht abschleppen können”, schmunzelte Jakob, ehe ihm die Zweideutigkeit seiner Aussage bewusst wurde und sich seine ohnehin roten Wangen unter dem Gelächter seiner Freunde noch dunkler färbten. „Den Wagen, ihr Idioten”, grummelte er in seinen Schal und mied auffällig Amirs fragenden Blick. Nanu? „Ich geh eine Runde holen, was wollt ihr?”, lenkte der Blonde schnell ab und machte sich eilig in Richtung des nächst gelegenen Standes auf, gefolgt von Stefan.

Er blieb allein zurück, mit vier ihn neugierig anstarrenden Gesichtern.

 

~*~

 

Die Statue des fahrenden Händlers Maasens Päulche

Je länger ich es durch persönliche Probleme und leider auch Schicksalschläge nicht schaffte, die eigentlich fertigen Texte ein letztes Mal zu überarbeiten, desto schuldiger fühlte ich mich und umso schwieriger fiel es mir.

Ich möchte mich bei allen Leser:innen entschuldigen, aber es war einfach nicht machbar.

 

 

~ 4 ~

 

„Nochmal von vorn, die Geschichte klingt zu spannend, um sie so abzukürzen”, forderte Markus Amir auf und sprach damit aus, was alle zu denken schienen.

Dieser seufzte. „Ich habe innerhalb meines Unternehmens eine Versetzung auf eine Bürostelle beantragt, bislang bin ich im Außendienst. Ab Februar ist eine Stelle in Aachen frei, die und das Team sollte ich gestern kennenlernen. Auf dem Rückweg bin ich mit meinem Wagen halb im Graben gelandet, Jakob kam vorbei und hat mich rausgezogen und anschließend zur Werkstatt geschleppt. Als Dank hab ich ihn gestern im Fuchs zum Essen eingeladen”, er nickte kurz in Annes Richtung, deren Schwester Lisa sie dort bedient hatte, „und er wiederum hat sich angeboten, mir hier den Weihnachtsmarkt zu zeigen”, gab er die Kurzfassung der bisherigen Ereignisse zum Besten.

„Klingt nach einem Abstieg, von Berlin nach hier”, kommentierte Patrick und erntete dafür einen Allbogenstubser von Sabine. „Ey, lass das! Stimmt doch, oder nicht? Normalerweise ist es doch andersrum?”

„Kann ich so nicht sagen.” Amir zuckte mit den Schultern. „Bislang bin ich wie gesagt Außendienst, die Stelle wäre als Teamleiter. Karrieretechnisch schon ein Aufstieg. Und ein Ortswechsel wäre auch in meinem Sinne.” Er wollte nur ungern vor einer Gruppe Fremder weiter ins Detail gehen, sein Privatleben ging niemanden etwas an. Dass er sich bei Jakob wohl genug dafür gefühlt hatte, verdrängte er geflissentlich.

„Also bleibst du hier?”, stellte Markus die alles entscheidende Frage, auf die Amir selbst noch keine Antwort hatte.

„Ich-”, setzte er an, wurde jedoch von Jakob und Stefan unterbrochen, die mit den Getränken kamen. Der Bauer trug einen fragenden Ausdruck im Gesicht, den er nicht deuten konnte und der seinen Magen nervös kribbeln ließ. Schnell schloss er die Hände um seine frische Tasse Glühwein.

„Habt ihr ihn jetzt genug ausgequetscht?”, fragte Jakob ironisch in die Runde.

„Hm...”, nachdenklich tippte Patrick sich an die Lippe. „Nein. Sorry, du musst nochmal gehen.” Er machte eine scheuchende Handbewegung in die Richtung des Blonden und half damit nicht Amirs inneres Bild eines kleinen Twinks zu verscheuchen, was ihn wieder unterdrückt grinsen ließ. Zum Glück nicht weiter schlimm, der Rest der Freunde lachte herzhaft über Jakobs sprachlos beleidigtes Grummeln.

Das Grinsen verging ihm recht schnell wieder. Der Tisch war klein, gerade groß genug für sie alle und dank der umliegenden Fress- und Saufstände drängte sich eine nicht unerhebliche Masse Menschen auf dem kleinen Platz. Kurzum, Jakob wurde zwangsläufig eng an seine Seite gedrückt, wie gefühlte Stunden zuvor im Bus, und auch jetzt schien sich jede Faser seines Körpers auf die eingebildete Körperwärme. Himmel, er war doch keine Vierzehn mehr!

Er war so abgelenkt, dass er das Gespräch erst wieder verfolgte, als es bereits um andere Themen ging. Die örtliche Politik und dörflicher Tratsch interessierten ihn herzlich wenig, doch er beteiligte sich, wo es sich eben anbot. Die ungleiche Gruppe war ihm sympathisch und er fühlte sich von allen mindestens mal akzeptiert, was mehr war, als er anfangs zu hoffen gewagt hatte. Nachdenklich betrachtete er die Lampen im Tannenbaum gegenüber, während der Alkohol begann, seine Gedanken ein bisschen dumpfer werden zu lassen.

„Alles klar?”, fragte Jakob nach an seinem Ohr und Amir zuckte erschrocken zusammen.

„Sicher”, antwortete er reflexartig.

„Wir können auch weiter, wenn du dich langweilst.” Schelmisch zwinkerte der Blonde.

„Nein, ich habe dich schon genug beansprucht. Du warst für heute mit ihnen verabredet, nicht mit mir.” Er meinte es ernst. Dass er überhaupt eingeladen worden war, war schon viel verlangt von einem quasi Fremden.

„Ach, die sehe ich ständig, du... bist nur jetzt hier.”

Amir konnte den Ausdruck in den dunklen Augen weder deuten noch länger ertragen und so richtete er seine eigenen auf die leere Tasse in seinen Händen. Er seufzte und fasste einen egoistischen Entschluss. „Okay. Lass uns weiter, wenn du soweit bist.”

„Wie, ihr wollt abhauen?” Ihre Fluchtpläne waren nicht unbemerkt geblieben, Markus neben ihnen hatte wohl trotz der allgemeinen Geräuschkulisse zugehört. Auch der Rest der Gruppe sah sie mit unterschiedlichen Gefühlen in den Gesichtern an, von fragend bis hin zu wissend grinsend.

„Ja, ich wollte Amir noch den Rest zeigen, wir haben eben nicht alles geschafft”, erklärte Jakob.

„Ach, wie Schade. Aber vielleicht sieht man sich ja später oder die nächsten Tage nochmal”, sagte Sabine und kam um den Tisch rum, um sich von ihnen beiden mit einer Umarmung zu verabschieden. Die anderen taten es ihr gleich. Es wurden Verabschiedungen und Wünsche ausgetauscht, dann endlich konnten Amir und Jakob sich lösen und aus dem immer noch stetig wachsenden Pulk entkommen. Der Schwarzhaarige war große Menschenansammlungen gewöhnt, trotzdem war er froh, sich wieder frei bewegen zu können.

„Und das ist wirklich in Ordnung für dich?”, fragte er sicherheitshalber nach, denn ein wenig schuldig fühlte er sich dennoch.

„Sicher. Ehrlich gesagt mag ich es ohnehin nicht, wie die Sardinen in der Büchse dazustehen und ständig fremde Ellbogen im Rücken zu haben”, versicherte der junge Bauer grinsend.

„Okay, das kann ich voll verstehen”, lachte Amir.

Sie schlenderten weiter durch die engen Gassen. An einem Juwelier blieben sie stehen und der IT-ler schaute sich die ausgestellten Uhren an, Jakob dicht neben sich. Sie sprachen nicht viel, auch nicht, als der Blonde sie in ein verstecktes Gebäude führte, wo sich weitere Stände befanden. Er wartete, während der andere hausgemachten Likör in hübschen Fläschchen erwarb. Amir musterte eine der Flaschen näher und las das Etikett. Mirabellen-Schnaps. Als hätte er sich verbrannt, stellte er die Flasche zurück, wich einige Schritte vom Stand weg. Verdammt, warum griff er von allen Sorten ausgerechnet die, die-

„Alles okay?”, fragte Jakob neugierig und ein bisschen besorgt, ob seines ungewöhnlichen Verhaltens.

Amir atmete tief durch, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und nickte schließlich. „Unangenehme Erinnerungen”, stieß er zusammen mit der angehaltenen Luft aus, ohne es bewusst zu wollen.

Jakobs Ausdruck wechselte zu verständnisvoll. Er lächelte kurz aufmunternd und wandte sich dann dem Ausgang zu. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte einen Happen zu Essen vertragen.”

Dankbar für den Themenwechsel folgte der Schwarzhaarige ihm. „Essen klingt gut.”

Sie holten sich zwei Portionen Pommes an einem ziemlich überfüllten Stand. Die Wartezeit nutzte Amir, um ihnen zwei neue Getränke zu holen. Als er gerade zurückkam, schaute sich Jakob bereits vergeblich nach einem freien Platz an einem der Tische um.

„Hm, sieht schlecht aus”, konstatierte er. „Ich hab eine Idee, komm mit.”

Und schon drängte er sich an weiteren Menschen vorbei, nur um an der lustigen Statue mit der Weihnachtsmütze scharf links abzubiegen. Er führte sie beide auf eine schmale Brücke, deren anderes Ende an den halboffenen Türen einer Kirche endete. Chorgesang drang hinaus und bildete mit dem Rauschen des Flusses unter ihnen eine ganz eigene Atmosphäre.

„Hier. Vorsicht, nicht dass du aus Versehen die Fische fütterst.” Grinsend stellte Jakob die Pommes vor ihn auf das Geländer und erhielt im Gegenzug seine Tasse.

„Gilt für dich aber genauso”, erwiderte Amir und schob sich genüsslich ein frittiertes Kartoffelstäbchen zwischen die Zähne.

„Und, was sagst du jetzt zu unserem beschaulichen kleinen Städtchen?”, fragte Jakob nach einer Weile, den Arm mit der Fritte in einem großen Bogen schwenkend.

„Wirklich nett hier, passt zu Weihnachten.” Wie zur Bestätigung, hob der Chor m Hintergrund zu einem neuen Gesang an. „Wie ist es denn im Sommer?”

„Keine Ahnung”, antwortete der Blonde ehrlich und lachte ansteckend. „Ich komme eigentlich immer nur im Winter hier runter.”

„Wie, erst einen auf Kulturkenner und Fremdenführer machen und dann das?”, warf ihm Amir wenig ernst und selbst lachend vor.

Der zuckte nur mit den Schultern. „Für jetzt reicht es doch. Ich weiß, dass auch im Sommer viele Touristen kommen, muss also auch hübsch sein. Auch wenn durch das Tal gefühlt schon um fünf die Sonne untergeht.”

Der Schwarzhaarige ließ seinen Blick über die teilweise sehr steil ansteigenden und nur diffus von unten beleuchteten Berghänge wandern. „Das kann ich mir sogar beinahe vorstellen.”

„Wie sieht es in deiner Heimat aus? Was ist da schöner? Berlin im Sommer oder Winter?”

Amir hatte sich reflexartig schon seine übliche Rede ala 'Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen!' zurechtgelegt, die er in seinem Leben eindeutig zu oft gehalten hatte und wurde so durch Jakobs Zusatz ordentlich aus der Bahn geworfen.

Er starrte ihn vermutlich einige Sekunden an, räusperte sich peinlich berührt und gab vor, sich mit dem immer noch viel zu heißen Glühwein den Mund spülen zu müssen.

„Hm. Ich glaube, weder noch. Ich mag den Frühling am liebsten”, antwortete er schließlich, knüllte die leere Pappschale mitsamt Serviette zusammen und lehnte sich mit den Ellbogen auf das Geländer, die Tasse fest in den Händen. Der Fluss unter ihnen rauschte hypnotisch und die bunten Lichter des Marktes spiegelten sich als tanzende Flecken auf der unruhigen Oberfläche.

„Ja, der Frühling ist wirklich schön. Viel zu tun für mich, aber alle Male besser als im Herbst oder Winter”, stimmte Jakob zu.

„Gibt es denn eine Jahreszeit, in der du nicht viel zu tun hast?”, erkundigte sich Amir ehrlich interessiert und wandte den Kopf doch wieder nach links.

„Auch wieder wahr. Irgendwas ist immer, aber wenn ich es mir aussuchen dürfte, dann lieber im Frühjahr oder Frühsommer, wenn es wärmer und halbwegs trocken ist, als jetzt in der Kälte, im Matsch oder brüllender Hitze”, brummte Jakob erheitert. „Gib mal her, ich bring's weg.” Ohne auf Bestätigung zu warten, nahm er den Müll an sich und brachte ihn zum Mülleimer am Anfang der schmalen Brücke.

Amir richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Wasser und sog die klare, kalte Luft tief in seine Lungen. Es war kalt, aber dank seines spontanen Shoppingtrips war er bestens gerüstet. Doch trotz der dicken Jacke und des Pullovers aus unanständig weicher Wolle, fühlte er regelrecht die Körperwärme des anderen, als dieser zu ihm zurückkehrte und sich dicht – sehr dicht - neben ihn stellte, seine Pose mit den aufgestützten Ellbogen und den Tassen umklammernden Händen imitierend.

„Es ist wirklich schön hier”, meinte Amir nach einiger Zeit, drehte den Kopf zur Seite, nur um zu merken, dass ihn Jakob wohl schon einige Zeit beobachten musste, ein verträumtes Lächeln in den Mundwinkeln.

„Finde ich auch”, hauchte der Blonde, über das Rauschen des Flusses kaum zu verstehen.

Er wusste nicht, wer sich zuerst bewegte, wer zuerst eine Hand von der nur noch lauwarmen Tasse nahm, wer sich schneller und doch wie in Zeitlupe umdrehte. Es spielte keine Rolle.

Warm trafen sich ihre Lippen, wie Magnete fanden sie einander. Amir hatte diesen Ausdruck immer belächelt, doch jetzt gerade fiel ihm keine passendere Phrase ein. Jakobs Wange fühlte sich kühl unter seinen Fingerspitzen an, sein Atem dafür umso heißer. Die schmalen Lippen, etwas spröde von der vielen Kälte, bewegten sich gegen seine, testend, spielend.

Amir hätte ewig so stehenbleiben können, auf dieser kleinen Brücke, im Zugwind des Gewässers, fernab und doch inmitten des Trubels. Aber es war ihnen nicht vergönnt.

Ein schriller Ton zerriss die Stille und die Blase um sie herum. Ertappt stoben sie auseinander, starrten sich für einen Augenblick unsicher an, jeder auf die Ablehnung des anderen gefasst, die zu oft nach dem ersten Schock folgte. Als dieser auf beiden Seiten ausblieb, griff Jakob wie auf Autopilot nach seinem Handy, ohne den Blick für länger als eine Sekunde von dem Schwarzhaarigen zu nehmen.

„Shit, da muss ich rangehen”, sagte er mit entschuldigender und leicht genervter Miene. Amir nickte nur.

„Ja?”, fragte der Bauer ohne Begrüßung in sein Smartphone. Er lauschte, die aufgeregte weibliche Stimme war als sinnfreies Gebrabbel bis zu Amir zu hören. „Bitte was?” Er wirkte erschrocken. „Ja. ... Nein. Der Hauptwasseranschluss vom Stall ist in der alten Melkkammer. Dreh ihn ab. … Nein, da ist nur einer. Ein großes Ventil. … Alles klar, ich komme so schnell ich kann. Wird aber dauern, ich bin unten in Monschau. … Nein, schon okay. … Ja, bis dann.” Er legte auf, richtete seinen bedauernden Blick zurück auf sein Gegenüber. „Shit, eins der Viecher hat die Selbsttränke mit dem Arsch abgerissen und der halbe Stall steht unter Wasser. Ich muss hin.”

„Ich kann helfen”, purzelte es aus Amir heraus.

 

Jakob hoffte, dass er ihn nicht so zweifelnd anstarrte, wie Amir gerade ihn, erschrocken über seine eigene Courage. Er überlegte nicht lange, unwillig die gemeinsame Zeit so abrupt enden zu lassen, nicht nach den letzten Minuten.

„Okay”, sagte er nur, streckte die Hand nach dem anderen Mann aus, zögerte. Unsicher, wie der andere Mann reagieren würde.

Doch der ergriff seine Hand, schlang ihre Finger umeinander und folgte ihm. Sie sprachen nicht, jeder zu sehr damit beschäftigt, die plötzlichen Ereignisse einzuordnen.

Jakob hatte nichts dergleichen geplant, auch wenn er Amir von Anfang an anziehend fand. Er hatte sich einer vermeintlich aussichtslosen Schwärmerei hingegeben, einfach, weil er das Gefühl in seiner Magengegend genoss und der Schwarzhaarige eine angenehme Gesellschaft war. Aber eben auf der Brücke... er hatte wie ferngesteuert gehandelt, aus einem Instinkt heraus. Vielleicht hatte er unbewusst Signale von Amir empfangen, die er sich nicht eingestehen wollte. Oder es war hormongesteuerte Dummheit gewesen, wie er sie zuletzt mit sechzehn begangen hatte. Glücklicherweise war es heute glimpflicher ausgegangen als damals.

Die Menschen um sie herum schenkten ihnen ebenso wenig Aufmerksamkeit, wie die beiden Männer ihnen. Es war ein ständiges Spiel aus Ausweichen und Durchquetschen, doch irgendwann wurde die Menge lichter und sie konnten nebeneinander gehen.

Den Halt ihrer Hände hatten sie zwischenzeitlich verloren und Jakob traute sich nicht ihn zu erneuern. Sein Geist blieb leer, das statische Grundrauschen seiner Gedanken drängte er weg, so gut er konnte, unwillig sich mit den tausend Fragen zu beschäftigen, die dort auf ihn lauerten. Dafür bliebe später noch Zeit.

„Weißt du, wann der nächste Bus kommt?”, kam eine Frage aus dem Nichts heraus.

„Äh, ne. Die kommen etwa alle zwanzig Minuten, aber wann genau, keine Ahnung.” Er blickte den kleinen Anstieg zur Bushaltestelle hinauf. Es standen schon einige Wartende dort, doch der Erfahrung nach nicht genug, als dass der letzte Bus schon lange abgefahren sein könnte.

„Wir sind ja schnell da”, befand Amir.

„Ja, aber was-”

Weiter kam er nicht. Erstaunlich kräftig zog der Geschäftsmann ihn zwischen zwei parkenden Autos durch in eine etwas dunklere Ecke. Er ächzte, als sein Rücken auf die grobe Bruchsteinmauer traf. Sein Laut wurde von einem anderen Mund verschluckt, der sich verlangend auf seinen presste. Schlanke Finger, ohne die schwieligen Anzeichen körperlicher Arbeit, hielten sein Kinn und legten die Spitzen bis an seinen Hals.

Jakob schmunzelte, halb in sich hinein, halb in den Kuss, den er nun ebenso leidenschaftlich erwiderte. Scheinbar war er nicht der einzige, dem gerade die Gefühle durchgingen und das war wirklich beruhigend. Er saugte an seiner Unterlippe, tippte mutig mit seiner Zungenspitze dagegen und bat um Einlass. Gerade, als er seine Arme um den anderen schlang und ihn näher an sich zog, öffneten sich die verführerischen Lippen und ließen ihn ein. Amir verschränkte die Finger in seinem Nacken als hätte er Angst, dass Jakob plötzlich zurückweichen könnte. Als ob ihm das jetzt einfallen würde.

Was hektisch begann, wurde ruhiger, sanfter. Sie neckten sich, schmusten und knutschten so ausgelassen, dass sie beinahe die Ankunft des Busses verpasst hätten.

Sie grinsten sich verschwörerisch an, Jakob klaute sich einen letzten, eher keuschen Kuss, ehe sie sich beeilten und gerade so noch einen Stehplatz ergattern konnten. Hier benahmen sie sich, abgesehen von dem ungebetenen Publikum waren mehr als kleine Berührungen bei der Fahrweise des genervten Busfahrers ohnehin nicht möglich, ohne einen Unfall zu provozieren.

Sie wurden aus der stickigen Wärme ausgespuckt und eilten Richtung Auto, ehe die Gehwege von schlendernden Touristen verstopft werden konnten.

Jakob schloss seinen Pickup auf und sie steigen ein.

Warm legte sich Amirs Hand auf sein Bein, knapp unterhalb des Knies. Er warf einen Blick zur Seite und erwiderte das Lächeln. Kaum auf der Hauptstraße, legte er seine Hand über die von Amir. Es kribbelte aufgeregt in seinem Körper, nur langsam begriff er, was passierte und konnte es doch nicht glauben.

 

Der Hof, auf den Jakob sie lenkte, lag ein Stück eine schmale Straße voller Schlaglöcher entlang. Einige Lampen brannten und beleuchteten die Einfahrt und einen Teil der Gebäude. Amir hatte kaum Zeit, sie zu betrachten, denn schon sprang Jakob aus dem Wagen, von einer plötzlichen Eile erfasst. Ach ja, da war ja ein Grund für ihren plötzlichen Aufbruch gewesen und der war nicht auf die aufgeladene Spannung zwischen ihnen zurückzuführen.

Schnell folgte er dem Blonden zum Haupthaus und durch die grüne Holztüre in einen hellen, in Beige gehaltenen Flur hinein, wo dieser hinter einer weiteren Türe verschwand und nur noch rief: „Keine Sorge, Paula liebt Menschen.”

Mehr Vorwarnung bekam er nicht, da stand schon ein verdammt großer, schwarz-brauner Hund mit weißem Brustfell vor ihm. Den großen Kopf mit den runden braunen Augen fragend schiefgelegt, die Rute unsicher von links nach rechts pendelend.

„Huch, du musst dann wohl Paula sein”, stellte Amir nach dem ersten Schreck fest und hielt dem Tier seine Hand zum Schnüffeln hin. Die Hündin stupste sie mit ihrer feuchten Nase an und wedelte dann deutlich aufgeregter mit der Rute. Vorsichtig strich er ihr über den Kopf, was noch mehr Begeisterung hervorrief. Scheinbar hatte sie das gleiche aufgeschlossene Gemüt wie ihr Herrchen. Apropos?

„Jakob?”, rief er fragend.

„Moment. Welche Schuhgröße hast du?”

„44, warum?”, fragte er skeptisch zurück, während er weiter den Hund kraulte.

Doch da kam der Blonde schon in einer grünen Latzhose und dicken Socken zurück. „Weil du dir deine Schuhe wohl kaum im Stall versauen willst.” Er hielt ihm nicht nur ein Paar eingestaubter Gummistiefel, sondern auch eine wasserfeste Überziehhose und eine Jacke entgegen.

„Oh, das macht Sinn. Danke.” Etwas beschämt, dass er sich darüber keine Gedanken gemacht hatte, nahm er die Sachen entgegen und zog sich um, die Nase von Paula ständig im Weg.

„Komm, wir gehen hier hinten raus.” Jakob verschwand wieder durch die gleiche Tür wie zuvor, doch diesmal folgten ihm Amir und Paula. Der kleine geflieste Raum beherbergte einige ordentlich aufgereihte Paar Arbeitsschuhe und Stiefel, wovon sich Jakob direkt ein Paar anszog, diverse Jacken und eine alte Waschmaschine, von der Amir hoffte, dass Jakob sie nicht auch für seine guten Klamotten verwendete. Der Geruch nach Tier hing hier deutlich in der Luft.

Der Blonde schloss eine weitere Tür auf und schon waren sie wieder im Freien. Die Hündin ergriff sogleich die Gelegenheit und stürmte voraus, doch ihr Herrchen schien das nicht weiter zu beunruhigen. Vermutlich war es für einen Hofhund auch durchaus üblich frei herumlaufen zu können.

Sie steuerten auf ein offenes Tor zu, durch das Licht nach draußen fiel und Stimmen zu hören waren. Jakob bog hinein und wurde sogleich begrüßt und bestürmt. Amir blieb verdutzt im Eingang stehen.

Er hatte fest mit einem Kuhstall gerechnet, so einen, wie er ihn als Kind im Urlaub manchmal gesehen hatte. Doch das Tier, welches die große Schnauze neugierig in seine Richtung streckte, soweit es seine Stalltür zuließ, war selbst für einen Städter wie ihn eindeutig keine Kuh.

„Pass auf, der knabbert dir an der Jacke, wenn du ihn lässt”, warnte Jakob, der wieder zu Amir getreten war.

Der Schwarzhaarige trat vorsichtshalber einen Schritt zurück und sah den anderen mit großen Augen an. „Du hast einen Pferdehof?”, bekam er ganz perplex raus.

„Ja? Hatte ich das nicht erwähnt?” Der nicht ganz so bauerige Kerl kratzte sich am Kopf und grinste schief.

„Nein, hast du nicht. Ich dachte du hast Kühe oder so.”

„Ups. Kam wohl einfach noch nicht zur Sprache.” Er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und winkte Amir, ihm zu folgen. „Der Hof war früher von meinen Eltern, die hatten tatsächlich mal Rinder und nebenbei immer eine kleine Pferdezucht. Das Geschäft mit Rindern lohnt sich aber heute nicht mehr, nicht bei unserer kleinen Größe und wenn man halbwegs artgerecht halten will. Also bin ich direkt in die Pferdewirtschaft gegangen.” Während er redete, gingen sie an einigen Boxen vorbei, bis sie an drei offenen Türen ankamen. Amir kannte sich nicht aus, das Wasser auf dem Boden sah aber nicht aus, als gehöre es hierhin. Statt der erwarteten Huftiere befanden sich die zwei junge Frauen im Inneren, die Jakob eben schon begrüßt hatten.

„Kann ich irgendwie helfen?”, fragte der Schwarzhaarige mutig in die Runde und bekam sogleich eine Mistgabel in die Hand gedrückt.

„Wir können das komplette Stroh entsorgen, das ist nicht mehr zu retten. Einfach in eine der Schubkarren rein. Ich kümmere mich mal um die kaputte Leitung.” Jakob nickte zu einer halbvollen, grünen Schubkarre und ging selbst in die mittlere der drei Boxen. Von der Decke kam ein dünnes Rohr die Wand hinab, nur um auf Hüfthöhe abrupt zu enden. An der Wand war noch zu erkennen, dass dort eigentlich noch etwas angebracht worden war. Ein Blick in die linke Box zeigte an genau dieser Stelle eine kleine runde Schale mit einem silbernen Hebel. Wie auch immer, dies schien eine Art Tränke zu sein.

Unter den neugierigen Blicken der Damen begann er damit, mit der übergroßen Gabel in das goldgelbe Stroh zu stechen. Gar nicht so einfach, die Hälfte rutschte ihm direkt wieder herunter und es brauchte einige Versuche, bis die erste nennenswerte Ladung auch in der Karre landete. Das leise Kichern von nebenan überhörte er lieber. Blöde Weiber, was gab es da zu lachen? Konnte ja nicht jeder auf einem Bauernhof aufwachsen und die Handgriffe kennen.

Energisch förderte er eine weitere klägliche Ladung Stroh hinaus und stach die Zinken anschließend erneut in das nasse Pferdebett. In seinem Nacken begann es zu kribbeln, noch bevor er die Präsenz des anderen Mannes an seinem Rücken spüren konnte.

„Halt den Stil so”, erklärte Jakob nah an seinem Ohr und schob Amirs Hände mit den eigenen am Holz entlang. Der konnte nicht widerstehen und lehnte sich unauffällig ein Stück zurück, bis er an der Brust hinter ihm lehnte. Jakob brummte leise und drückte ihm einen Kuss auf den Kieferknochen, knapp unterhalb des Ohrs. Überrascht blickte der Geschäftsmann hinter sich in ein verschmitztes Grinsen, was völlig unbeeindruckt von ihren Zuschauerinnen schien. Das entlockte auch Amir ein Schmunzeln. Dass der andere aus seiner Orientierung keinen Hehl machte, überraschte und beeindruckte ihn auf gewisse Weise sogar.

 

Wie auch immer er sich den Abend vorgestellt hatte, über eine Stunde mit dreckigen Gummistiefeln in einem Pferdestall zu stehen, während ein verdammt heiß aussehender Bauer, äh, Pferdewirt mit diversem Werkzeug eine Wasserleitung flickte, war in seinen Fantasien nicht vorgekommen.

Wenigstens waren die beiden kichernden Frauen irgendwann unter viel Tamtam und verschwörerischen Blicken verschwunden und bedrängten ihn nicht weiter mit neugierigen Fragen, sobald Jakob außer Sicht war. Waren die immer so aufdringlich?

Erschöpft lehnte er sich auf den Besen in seiner Hand und starrte wenig subtil auf Jakobs Hintern, der sich in halb kniender Position besonders hervortat. Nein, er könnte sich wirklich schönere Dinge vorstellen, aber wenn er Hilfe anbot, zog er die nicht zurück, nur weil es ungemütlich wurde.

„So, ich glaube das war's”, verkündete Jakob die erlösenden Worte, erhob sich und streckte den Rücken durch.

Amir wollte sich keine Blöße geben und seine Erleichterung nicht zu offensichtlich zeigen. Möglichst lässig verlagerte er sein Gewicht zurück auf beide Füße und seinen Blick weiter nördlich.

„Hilfst du mir noch die Pferde wieder reinzuholen?”, fragte der Blonde weiter und sah ihn abwartend an.

„Ich?”

Jakob lachte. „Natürlich du. Oder siehst du hier sonst noch wen?”

Amir schnaubte. „Außer deinen Hund? Ne. Na gut, ich versuch's. Aber ich warne dich, ich kenne Pferde nur aus dem Streichelzoo.” Er stellte den Besen zum restlichen Kram und ging hinter Jakob her in die Dunkelheit, Paula neben sich. Der Hund schien einen Narren an ihm gefressen zu haben und Amir konnte nicht leugnen, den großen braunen Augen nicht zumindest ein bisschen verfallen zu sein.

Nach nur wenigen Metern kamen sie zu einem Holzgatter, über welches sich gleich drei Pferdeköpfe mit gespitzten Ohren in ihre Richtung streckten. Jakob redete auf die Tiere ein und schickte sie mit einem einfachen Handzeichen auf Abstand, sodass er das Tor ein wenig öffnen konnte. Wie durch Zauberhand erschienen drei Stricke in seiner Hand, die er geübt an den Tieren befestigte.

„Du kannst Bruno nehmen, der ist totenbrav. Lauf uns einfach nach und gleich dann in die rechte Box.”

Bruno, ein kräftiges Tier mit einem gigantischen Kopf und ebenso treudoofen Augen wie Paula, drückte seine große Schnauze prompt in Amirs Gesicht, kaum dass der den Strick übernommen hatte.

„Bah, lass das Junge, ich will deinen Sabber nicht!” Mit der freien Hand wischte er sich über die Wange und sah das große Pferd gespielt böse an, was dieses herzlich wenig beeindruckte. Ebenso die Tatsache, dass da ein Mensch am anderen Ende der Leine hing. Bruno stiefelte wie selbstverständlich hinter Jakob und den beiden deutlich edleren Tieren her und machte sich nicht viel aus Amir. Der war darüber insgeheim sogar ganz froh und tat so, als wäre es irgendwie doch sein Verdienst, das Pferd in seinen Stall zurückbefördert zu haben.

Jakob half ihm noch, das Halfter abzunehmen, dann schlossen sie gemeinsam die letzte Boxentür.

Unschlüssig standen sie voreinander. Der gemeinsame Abend schien vorbei, Abschied hing in der Luft. Amir wollte noch nicht gehen, nicht nur, weil er sicherlich roch, als wäre er einmal durch den Misthaufen gerollt.

Als hätte Jakob seine Gedanken gelesen, setzte er an: „Du kannst gerne hier duschen, wenn du willst...”

„Gern”, stimmte Amir zu, traute sich nicht, zu laut zu sprechen.

„Und, wenn du magst...” Der Blonde beendete seinen Satz nicht, wirkte plötzlich unsicher, obwohl er noch kurze Zeit zuvor offen mit ihm vor Zeugen geflirtet hatte.

Doch für Unsicherheiten war heute kein Platz, befand Amir. „Ich mag”, sagte er. Fest. Entschlossen. Überwand die kurze Distanz zwischen ihnen, legte eine Hand in den Nacken des anderen und zog ihn in einen Kuss, der keinen Raum mehr für Spekulationen ließ.

Epilog

 

 

~ Epilog ~

 

 

Amir erwachte, weil sich der Körper neben ihm unruhig bewegte. Grummelnd umfasste er die unerwartet schlanke Gestalt und drückte sie an seinen Körper, bis wieder Ruhe enkehrte und das leise Kichern verebbte.

„Noch fünf Minuten”, nuschelte er gähnend und grub sich tiefer in die Kissen, weg von den gemeinen Sonnenstrahlen, die sich durch die Vorhänge stahlen und ihn mit falschen Versprechungen von Wärme und Helligkeit locken wollten. Er war einfach weder ein Winter- noch ein Morgenmensch.

Er drohte gerade wieder ins Land der Träume abzugleiten, als mit einem Mal die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen wurde und mit einem Knall an die Wand prallte. Paula hüpfte dumpf bellend ins Zimmer und sprang auf das große Bett, auf die beiden Menschen darin.

„Paula, runter!”, schimpfte Jakob vom Flur aus mit eher wenig Erfolg.

Seufzend richtete Amir sich im Bett inmitten des beginnenden Chaos' auf und rieb sich über Augen und Wangen.

„Daddy, Daddy, es hat geschneit! Papa sagt, wir gehen nachher mit Bruno Schlitten fahren!” Eine zweite, kleine Gestalt krabbelte geschwind auf ihn drauf und drückte ihre viel zu kalten Finger heimtückisch auf seine nackte Haut. Unschwer zu erraten, wer dem kleinen Sechsjährigen diese Gemeinheit beigebracht hatte.

Neben ihnen regte sich der Berg aus Decken und ein verstrubbelter brauner Haarschopf erschien.

„Kilian, es is' viel su früh...”, nuschelte das kleine Mädchen mit mühsam geöffneten Augen, nur um sich direkt danach an Amirs Seite zu kuscheln und den Kopf unter seinem Arm zu verstecken. Wenigstens einer in diesem Haushalt, der seine Einstellung zu morgendlichen Überfällen teilte.

„Pia hat recht, es ist noch nicht mal halb Acht, Kilian. Komm, wir machen Frühstück für Daddy und deine Schwester”, versuchte Jakob die Situation reichlich spät zu beruhigen. Immerhin hatte er den Hund schon vom Bett entfernt.

„Frühstück klingt super”, stimmte Amir zu, wohlwissend, dass er gar nicht erst versuchen brauchte, jetzt noch einmal zu schlafen. „Mit viel Kaffee.” Fordernd reckte er sich Jakob entgegen, der keine weitere Aufforderung brauchte um sich zu ihm vorzubeugen. Der Kuss war lang aber keusch, die Wärme der Hand in seinem Nacken stand im Kontrast zu der Kälte des kleinen Metallrings, den Jakob sich weigerte jemals abzulegen.

„Ich will Kakao”, jammerte die kleine Pia von unten und brachte sie beide zum Schmunzeln.

„Zu Befehl, Prinzessin.” Der Blonde beugte sich zu ihr hinab und drückte auch ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Papa!”, rief Kilian aus Richtung Küche.

„Komme ja schon”, antwortete Jakob und ließ einen tiefen Seufzer hören.

 

Amir knöpfte sich den letzten Hemdknopf zu, als er die Küche betrat. Die beiden Kinder saßen in ihren Stühlen und schaufelten Müsli aus ihren Schüsseln, Paulas graue Schnauze zwischen ihnen am Boden geparkt, denn es könnte ja etwas herunterfallen. Die Zeiten, in denen sich die Hündin von den Essensresten der Kinder ernährte, waren zum Glück vorbei.

„Und wir gehen heute also mit Bruno Schlitten fahren?”, neckte der Schwarzhaarige Jakob, kaum dass er die Arme um ihn gelegt hatte.

„Wenn du Zeit hast?” Fragend sah der ihn an.

„Für euch? Immer. Ich muss nur gleich noch eine Mail schreiben und dann gehöre ich den ganzen Tag lang euch.” Er zwinkerte ihm zu.

„Musst du gleich wieder in deinem Büro arbeiten?”, fragte die Vierjährige neugierig.

„Nur ganz kurz, versprochen”, versicherte Amir ihr.

„Und dann gehen wir Schlitten fahren?”, wollte Kilian sichergehen.

„Ja, dann gehen wir Schlitten fahren”, versprach er auch das. Zufrieden lächelnd legte er den Kopf auf die Schulter seines Mannes, den Blick auf die weiße Schneelandschaft dort draußen gerichtet.

Dankbar, dass ihm ausgerechnet das verhasste Weiß das größte Glück seines Lebens beschert hatte.

 

 



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