Chuparrosa von Ixtli ================================================================================ Kapitel 2: Hey, Mickey! -----------------------     "Und was hat dein Vater dir über mich erzählt?" Ohne sich zu Alvaro herumzudrehen, räumte Diego die Opfergaben aus der Tasche und verteilte sie in aller Ruhe auf dem Altar. Alvaro starrte auf den schmalen Rücken, der leicht gebeugt über den ganzen Devotionalien balancierte, um bloß nicht mit einer der brennenden Kerzen in Berührung zu kommen, was manchmal verdammt knapp war. So knapp, dass er selbst mehrmals zusammenzuckte. Sein Vater hatte ihm jedenfalls nichts davon erzählt, wie jung Diego war... "Dass-dass du ein, äh, Schamane bist?" Alvaro fühlte, wie sich sein Gesicht rot färbte und war heilfroh, dass die Lichterketten gerade in der gleichen Farbe vor sich hin blinkten, als Diego ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zuwarf. Seelenruhig stellte Diego die Bierflaschen zu Füßen der Großen Dame, drapierte die Früchte und die knallbunten Geleebonbons direkt daneben, und lachte leise vor sich hin. "Sehe ich aus wie ein Schamane?" "Ich-ich-ich weiß nicht", stotterte Alvaro unbehaglich. Diego, der sich nun mit in die Seite gestützten Händen vor ihm aufbaute und breit grinsend auf die Antwort wartete, trug die gleiche Kleidung wie vermutlich ein Großteil aller gerade lebender Menschen: T-Shirt, ausgeblichene Jeans und Flipflops. "Ich habe noch keinen Schamanen gesehen", gestand Alvaro blitzschnell mit dem letzten Rest Luft aus seiner Lunge und schwieg dann wieder. "Fassen wir mal zusammen!" Diego rollte die dunklen Augen mit den unglaublich langen Wimpern zur Decke hin und tat, als müsste er scharf nachdenken. "Ich bin also ein Schamane. Kein Hexer oder Priester oder Zauberer, sonst hätte ich ja einen Umhang an, richtig?" Seine belustigt blitzenden Augen glitten hinab zu Alvaro. Er hielt kurz inne und sah Alvaro an, bis der endlich zögerlich nickte. "Und das hier ist auch kein Hexenlaboratorium." Wieder nickte Alvaro stumm zu den abwartenden Blicken und hoffte, dass die Sache damit geklärt wäre. Doch da täuschte er sich. "Weißt du, was das hier ist?" Oh Himmel, die Befragung ging weiter. Alvaro räusperte sich schnell. "Ein Schrein?" "Das hier", rief Diego und breitete seine Arme aus, was in dem vollgestellten Raum kaum noch möglich war. "Das hier ist eigentlich ein Hühnerstall", erklärte er feierlich und lachte über Alvaros tief erschütterten Gesichtsausdruck. "Und ich", Diegos erhobene Arme sanken müde an seiner Seite hinab. "Und ich bin damit dann wohl der Hühner-Schamane." Er stieß den letzten Satz so kraftlos aus, als hätte er gerade eine Jahrzehnte dauernde Schlacht verloren und Alvaro wusste nicht, ob er nicken oder lachen oder schweigen sollte und entschied sich für Letzteres, weil er das am liebsten tat. Diego, der die leere Tasche zusammenfaltete und sie dann Alvaro in die verkrampften Hände drückte, bog seine Lippen zu einem relativ neutralen Lächeln, doch Alvaro war genauso vorsichtig wie zu Anfang. "Dein Vater ist der Kollege von meinem Vater", rückte Diego schließlich mit der unspektakulären Wahrheit raus. "Wie ich meinen kenne, hat er deinem irgendwann in der Pause die gleiche Story aufgetischt, wie allen anderen in der Stadt: wenn er jemanden kenne, der Hilfe benötigt, ob bei einem Fluch oder einer Bitte an die Große Dame, soll er zu Diego kommen. Diego macht das schon! Er hat 'nen guten Draht ins Jenseits, musst du wissen. Highspeed sozusagen, und mit unbegrenztem Datenvolumen..." Alvaro grinste schüchtern. "Eine E-Mail hätte gereicht?" "Total", entgegnete Diego laut lachend und klopfte dem größeren schlaksigen jungen Mann, der langsam aufzutauen begann, freundschaftlich gegen den Arm. "Ich glaube, das wird ein lustiges Wochenende." Diego ging neben dem Altar in die Knie und öffnete eine Tür, die unter bunten Tüchern verborgen war, und die ein heiseres Seufzen von sich gab. Kühles Licht beschien Diegos Vorderseite, als er sich leicht vorbeugte und in dem Schränkchen herumkramte, aus dem kalte Luft kroch, ehe er die Tür wieder schwungvoll zuwarf. "Hier." Wortlos starrte Alvaro auf die eiskalte Bierdose hinab, die ihm Diego gerade in die Hand gedrückt hatte. "Was? Noch nie Bier getrunken?", spottete Diego. "Doch", murmelte Alvaro kaum hörbar, ohne die etwas erschrockenen Blicke von der Dose zu lassen, deren dünne Metallhülle so klirrend kalt war, dass es sich anfühlte, als würde sie an seinen Fingern festfrieren. "Aber noch nie aus einem Schrein..." "Ach ja, der Fluch der Toten", zog Diego ihn weiter auf und schob Alvaro, der schockstarr wie ein Reh im Scheinwerferlicht die Tür blockierte, schließlich vor sich her und aus dem Schrein heraus. "Dann erlösen wir dich mal von deinem Fluch", verkündete Diego gut gelaunt. Er ging jede Wette ein, dass der auf die Kappe von Alvaros Verwandtschaft ging - der noch lebenden allerdings.     "Setz dich", wies Diego Alvaro an und deutete auf den in der harschen Umgebung aus ständiger Befeuerung mit Sonnenlicht und Stürmen von wie Schleifpapier wirkendem Sand spröde gewordenen Gartenstuhl hin, den Diego ihm in den Schatten des kleinen Häuschens gestellt hatte. Alvaro nahm Platz und wartete geduldig darauf, dass jetzt das Ritual begann, mit dem Diego ihn von der Heimsuchung des Skorpions befreien sollte. Gebannt sah er zu Diego, der einen zweiten Gartenstuhl zu ihm schob. "Was soll ich tun?" "Einfach sitzen bleiben", war die lapidare Antwort. Der zweite Gartenstuhl zog eine kleine Sandwolke hinter sich her und kam knirschend neben Alvaro zum Stehen. Erleichtert seufzend ließ sich Diego auf den Stuhl fallen. Er lehnte sich nach links und gleich darauf erklang die scheppernde Stimme eines Radiomoderators aus dieser Richtung, der unglaublich tolle Preise anpries, die es in der nächsten halben Stunde hier zu gewinnen gab. Bis dahin sollten die Hörer auf keinen Fall umschalten und sich schnell anmelden, um an dem Gewinnspiel teilzunehmen. Eine Telefonnummer wurde hektisch vorgelesen und dann dröhnte auch schon der erste von mindestens hundert Songs aus dem Lautsprecher. Gekonnt fing Alvaro mit der freien Hand das Zigarettenpäckchen auf, das ihm Diego zuwarf. Er nahm sich eine und gab den Rest zurück. Die Bierdose zischte beim Öffnen und stieß einen feinen Nebel aus, der sich in der Hitze direkt verflüchtigte. Alvaro nahm einen ersten Schluck von dem eiskalten Getränk, und genoss das frische Kribbeln der Kohlensäure in seinem Mund. "Ist der Kühlschrank da drinnen Standard?" Diego setzte die Bierdose ab. "Wo? In einem Hühnerstall oder in einem Schrein?" Er wartete darauf, dass Alvaro seine Frage etwas näher erklärte, aber der sah ihn nicht weniger irritiert an, so dass sie am Ende beide lachen mussten. "Warum bist du so sicher, dass das Wochenende reicht?" Alvaro warf einen schnellen Blick zu Diego hin, der ein bisschen in seinem Gartenstuhl nach unten gesunken war und mit ausgestreckten Beinen dasaß, die Bierdose auf seinem Bauch balancierte und in der anderen Hand eine glimmende Zigarette hielt, an deren Hülle sich feiner Rauch in die Höhe kräuselte. "Ich hab's in deinen Augen gesehen", antwortete Diego kryptisch und zog an der Zigarette. Er wirkte ein wenig, als wäre er in einem völlig anderen Universum, wie er so da saß und auf den Horizont blickte, über den ein paar verirrte Wolken zogen. "Bei dir fehlt dieser glänzende Schimmer beginnenden Wahnsinns, den ich von den ganzen Pilgern hier sonst gewohnt bin." Sein Gesicht wandte sich Alvaro zu, der mit fragend zusammengezogenen Augenbrauen über den Zusammenhang nachdachte. "Das sieht mein Vater wahrscheinlich anders", murmelte Alvaro bedrückt. Diegos Mund verzog sich zu einem verständnisvollen Lächeln. "Du hast einfach nur Angst. Vor deinem Vater und davor, dass er recht hat." Alvaro wandte die ertappten Blicke von Diego ab und nahm einen Schluck Bier. Die Sonne tauchte die spärlich bewachsenen Felsen in flüssiges Gold, das, je weiter sie sank, in ein immer tiefer werdendes Orange überging. Ein warmer Wind wirbelte den Sand vor ihnen sachte auf über den eilig kleine schwarze Käfer krabbelten, als hätten sie etwas dringendes zu erledigen. Ihre dünnen Beinchen tippelten flink über sämtliche Hindernisse hinweg, Stöcke, Steine, Sandhügel, wobei sie gemessen an ihrer Größe in kürzester Zeit ganze Gebirge überquerten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Blitzschnell tauchten sie in dem vielverzweigten Wurzelwerk der wie halb tot wirkenden Kreosotbüsche ab, die, wenn es regnete, die ganze Umgebung mit ihrem schweren süßen Duft erfüllten, der danach noch tagelang wie Wolken über den Büschen hing. "Warum steht da drinnen-", begann Alvaro wie aus dem Nichts heraus. "Eine Mickey Maus?", beendete Diego die angefangene Frage und grinste Alvaro an, der eifrig nickte. "Gratulation, du bist der Erste, dem sie aufgefallen ist. Ich hatte die mal aus Spaß dort reingestellt. Allen anderen war es bisher egal, oder sie haben sie einfach nicht bemerkt." Er ließ die gerauchte Zigarette zwischen seinen Beinen zu Boden fallen und zertrat sie, bis die Glut erstarb. "Vielleicht stelle ich noch eine dazu. Was hältst du von Karlo?" "Karlo? Ernsthaft?" Alvaro klang ehrlich geschockt. "Du kannst doch keinen Kater zu einer Maus stellen!" "Dann mach halt einen brauchbaren Vorschlag, du Mäuse-Experte", lachte Diego. "Pluto natürlich. Der gehört ja sowieso zu Mickey. Oder Goofy. Hunde und Mäuse vertragen sich immerhin." "Hört, hört!", rief Diego theatralisch. "Ich habe schon gesehen, wie ein Hund eine Maus gefressen hat, also ist das ja offensichtlich nicht so!" Mit interessiert geweiteten Augen wartete er auf Alvaros weitere Argumente, der sich Mühe gab, jede einzelne in Frage kommende Figur aus Entenhausen anzupreisen, bis Diego schließlich lachend aufgab und sie sich endlich auf Pluto einigen konnten.   Alvaro merkte, wie die Anspannung immer weiter von ihm abfiel, so dass ihn für eine Weile nicht mal mehr Diegos amüsierte Blicke verunsicherten, die dieser ihm von Zeit zu Zeit zuwarf, wenn er dachte, Alvaro bekomme es nicht mit. "Ich kenne dich noch aus der Schule", sagte Diego irgendwann und nickte schnell als Alvaro ihn mit offenem Mund anstarrte. "Du warst eine Klasse unter mir." "Echt jetzt?" Einen Moment vergaß Alvaro sogar seine sonstige Schüchternheit. Er durchsuchte seine Erinnerungen nach seiner Schulzeit, aber wirklich spektakuläres war da nie vorgefallen. Dass sich Diego ausgerechnet an ihn erinnerte? "Das wurde also aus dem Skorpion-Jungen", fuhr Diego nachdenklich fort und schmunzelte über Alvaros sich rot verfärbende Wangen. "Du warst damals das Stadtgespräch!" "Das weiß ich selbst", nuschelte Alvaro kaum hörbar und nippte lieber wieder an seinem Bier. Wie könnte er das vergessen?! "Und was machst du sonst so, wenn du nicht an einem Exorzismus teilnehmen musst?" Diegos unkonventionelle Art der Themenführung ließ Alvaro wieder unwillkürlich grinsen. "Weiß ich noch nicht", seufzte er wie jemand, der vor der unlösbarsten Aufgabe der gesamten Menschheit stand, und schwieg sich wieder aus. Jeder Versuch, mal etwas selbstständiger zu werden, wurde gleich von seiner Familie im Keim erstickt. Viel war ihm da nicht mehr übrig geblieben. "Ging mir genauso, bevor ich das Haus von meinen Großeltern geerbt habe und dieser elende Mist mit dem Schrein losging." Das erste Mal fiel Diegos gute Laune wie eine Maske von seinem Gesicht und entblößte die Aussichtslosigkeit seiner Situation darunter, die Leute wie Alvaros Vater nie zu sehen bekamen. "Egal, was du machen willst, das hier", Diegos Hand machte eine ausladende Kreisbewegung, um ihre Umgebung einzuschließen, "kann ich dir jedenfalls nicht empfehlen, wenn du deine Ruhe haben willst..." "Ich merke es mir." Alvaro sah auf die halbleere Dose in seiner Hand hinab. Es wäre sicher das Letzte, was Diego hören wollte, aber 'das hier' klang in seinen Ohren lebenswerter als das, was ihn ab Sonntag wieder zuhause erwarten würde. "Wie sieht dein Tag hier normal aus?" "Voller Hokuspokus und Langeweile", antwortete Diego geknickt. "In genau dieser Reihenfolge, aber meistens mit mehr Langeweile als Hokuspokus. Das mit den Hühnern hat sich ja wohl erledigt, so lange der Stall besetzt - oder besser: besessen ist." Ganz kurz bereute Alvaro das Thema angeschnitten zu haben. Er hatte Diego eigentlich nicht runterziehen wollen. "Weißt du, die Leute stören mich ja nicht mal so sehr. Die meisten kommen her, stellen was in den Schrein, beten und gehen dann wieder. Und ich passe einfach nur auf, dass alles in Ordnung bleibt. Räume alte Sachen raus, gehe in die Stadt und schenke die übrigen Lebensmittel weiter, weil ich die nie im Leben selbst verwerten könnte. Aber weißt du, was mich richtig nervt?" Beeindruckt von Diegos bisherigem Monolog schüttelte Alvaro den Kopf. "Ich habe mir von meinem Leben was anderes vorgestellt, als mit 20 Jahren in der Wüste zu wohnen, in einem Haus, das nach Waldbrand und Pizzeria riecht, und mich um einen Schrein kümmern zu müssen, den es gar nicht geben sollte." Diegos Augen sahen müde aus, als er Alvaro kurz ansah. "Ich wollte in die Stadt, was anständiges arbeiten, gut davon leben und Spaß haben. Das war alles." "Könnte schlimmer sein." Alvaro wurde erst bewusst, was er da Unsinniges gesagt hatte, als sich Diego ihm zuwandte. Seine Mundwinkel zuckten, als würde er entweder gleich lachen oder weinen, aber er entschied sich für das Lachen. "Ach ja? Erzähl mal, was es Schlimmeres gibt." Schüchtern wich Alvaro Diegos jetzt belustigten Blicken aus. "Meinen Vater, der seit zehn Jahren ein Drama aus einem bescheuerten Skorpionstich macht?", murmelte Alvaro halb fragend. "Okay, damit steht es dann unentschieden!", verkündete Diego und lachte endlich wieder ohne diesen bitteren Zug um die Lippen. "Machen wir das Beste daraus - was anderes bleibt uns ja sowieso nicht übrig. Soll dein Vater halt denken, dass du hier von deinem Fluch geheilt wirst, aber in Wirklichkeit hast du einfach mal deine Ruhe." "Danke dafür. Ehrlich, ohne Witze", stieß Alvaro feierlich aus. "Erzähl es bloß nicht weiter, sonst wollen nachher alle bei mir übernachten und ich habe keine Lust, mich noch um ein Gästehaus kümmern zu müssen", alberte Diego weiter. Und gerade als Alvaro Diego versichern wollte, dass sein Geheimnis bei ihm gut aufgehoben war, fuhr dieser wie ein geölter Blitz von seinem Sitzplatz auf. "Verdammt!", schrie Diego auf und raste davon. "Ich hab den Scheiß Torso vergessen!"   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)