Zum Inhalt der Seite

Ta Sho

Wiedergeboren
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Urlaub?!

So, kurze Anmerkung von mir... Es ist alles gleich geblieben, ich hab nur eine Szene angefügt, die für mich noch unbedingt in dieses Kapitel musste. Im Prinzip war das jetzt die Einleitung, in der nächsten Zeit folgt dann der Hauptteil *lach*
 

Sie waren später als beabsichtigt erst gelandet. Die Abfertigung am Militärraumhafen war eine nervenaufreibende, stundenlange Geduldsprobe für die Star Sheriffs gewesen. Sie waren vom Bodenpersonal beinahe wie Schwerverbrecher behandelt worden, hier auf der Erde stand man dem Kavallerie Oberkommando nach wie vor sehr skeptisch gegenüber. Dass die vier Freunde mit Ramrod angereist waren, war der Vertrauensbildung nicht unbedingt förderlich gewesen. Nun schloss Fireball die Wohnungstür auf und bat seine Freunde leise herein. Überall war das Licht schon gelöscht, wahrscheinlich schlief sie schon längst.

Nachdem er Colt beinahe die Ohren lang gezogen hätte, weil dieser mit den Schuhen durch die Wohnung spaziert wäre, schlich Fireball ins Wohnzimmer und sah nach dem Rechten. Sie saß also noch im Wohnzimmer. Eingeschlafen über einem Buch. Fireball schmunzelte leicht. So hatte er es sich immer vorgestellt, wenn er eines Tages wieder nachhause kommen würde. Ai feierte in wenigen Tagen einen runden Geburtstag und Fireball hatte es sich nicht nehmen lassen, sie aus diesem Anlass zu besuchen. Er nahm ihr das Buch, das sich als altes Familienalbum entpuppte, aus den Händen und legte es auf den kleinen Tisch. Ebenso leise, wie er eingetreten war, verließ er das Zimmer wieder. Fireball verteilte seine Freunde so gut es ging auf die Schlafzimmer. Nachdem im Haushalt der Hikaris allerdings nur ein Gästezimmer vorhanden war, quartierte er April in das Gästezimmer ein und Colt und Saber würden bei ihm im Zimmer nächtigen, japanisch traditionell auf dem Boden. Die Begeisterung hielt sich dementsprechend in Grenzen.

Fireball hatte nach einer halben Stunde Gezeter mit Colt getauscht und lag nun neben Saber auf der Schlafmatte. Kaum zu glauben, dass er doch noch einmal in die Heimat gefunden hatte. Noch verwunderlicher, dass er die Wohnungstür noch aufschließen hatte können. Stur, wie er immer schon gewesen war, war er damals gegangen, ohne seiner Mutter alles Gute zu wünschen und ohne sich von ihr zu verabschieden. Sie hatte ihn bestimmt mit hundert japanischen Flüchen belegt, als er Rennfahrer geworden war, gegen ihren Willen. Aber aufhalten hatte Ai ihn auch nicht können. Das konnte niemand. Jetzt, Jahre später, würde Ai in wenigen Tagen ihren fünfzigsten Geburtstag feiern und Fireball wollte ihr eine Freude machen. Seit seinem Auszug hatten sie sich weder gesehen noch voneinander gehört, ihr Wiegenfest hatte er dennoch nicht vergessen. Seine Freunde hatte er nur deshalb dabei, weil im Neuen Grenzland immer noch Krieg herrschte und Fireball ohne seine Kameraden niemals frei bekommen hätte. Wohl oder übel war er mit ihnen nach Japan geflogen.

Aufmerksam wanderten seine Augen über sein altes Zimmer. Nichts hatte sich verändert. Sein Schreibtisch sah aus, als wäre er nie fort gewesen. An den Wänden hingen Bilder und Poster seiner Idole. Die Zeit schien in seinem ehemaligen Reich einfach stehen geblieben zu sein. Fireball atmete tief durch und schloss die Augen. Am nächsten Morgen würde er Frage und Antwort stehen müssen.
 

Verschlafen tappte sie am nächsten Morgen in die Küche hinüber. Erst mal Kaffe machen. Nachdem sie verwundert auf den Kaffeeautomaten linste, der schon eingeschaltet war und sie sich sicher war, dass sie den am Vorabend ausgeschaltet hatte, riskierte Ai einen Blick in die Küche. Sie erblickte jemand völlig Fremdes an ihrem Frühstückstisch sitzen. Diese Person hatte sie noch nie im Leben gesehen, das wusste sie sicher. Entsetzt riss sie die Augen auf und startete sofort mit unzähligen Fragen: „Wer sind Sie? Und wie kommen Sie hier rein? Was machen Sie in meiner Wohnung?“

Überrascht sprang April von ihrem Platz auf und hielt Fireballs Mutter die Hand entgegen. Sie war kurz nach Fireball aufgestanden und hatte mit ihm gefrühstückt. Vor ein paar Minuten erst war er ins Bad gegangen und hatte April alleine in der Küche sitzen lassen. Dass seine Mutter aufstand, bevor Fireball wieder hier bei ihr sitzen würde, brachte die Blondine ins Schwitzen. Vor allem, weil Fireball ihr nichts von seinen Freunden erzählt zu haben schien. Hastig erklärte sie: „Guten Morgen, Misses Hikari. Ich bin April, eine Freundin von Fire.“

„Wessen Freundin?“, zu dem Schock eine fremde Person in der Küche sitzen zu haben, kam nun auch noch die Ratlosigkeit hinzu. Von wem sprach diese Blondine da? Ai dachte nicht im Traum daran, April die Hand zu geben, sie kannte dieses Weibsbild doch nicht!

April lächelte verlegen. Au Backe, sie kannte nicht einmal Fireballs Kosenamen. Wo war April da nur rein geraten? Ihr diplomatisches Geschick sollte ihr aus dieser Lage helfen und sie hoffte, dass sich Fireballs Mutter damit wieder etwas beruhigte: „Fireball. Ich bin eine Freundin Ihres Sohnes, Misses Hikari.“

Ai blinzelte ungläubig: „Mein Junge?“, abschätzig sah sie an April hinab. Ganz toll, dachte sie ironisch, da brachte der Ausreißer doch glatt ein Boxenluder mit nach Hause. Dieses Mädchen war blond, hatte große blaue Augen und ein makelloses Gesicht. Ihre Rundungen sprachen für sich. Das Mädchen konnte er nur an der Rennstrecke aufgegabelt haben. Und jetzt besaß er auch noch die Frechheit, sie einfach mit nachhause zu bringen und Ai nicht einmal vorzuwarnen. Gereizt und außer sich rief Ai in den Vorraum hinaus: „Shinji!!!“

Gleich darauf öffnete sich die Badezimmertür und Fireball steckte seinen Kopf in den Flur hinaus. Suchend sah er sich um, die liebliche Stimme konnte nur seiner Mutter gehören. Sie stand in der Küchentür, hatte den Oberkörper weit nach vorne gelehnt und hielt sich mit der Hand am Rahmen fest. Oh, da war die gute Laune nicht gerade heimisch. Blöd nur, dass auch der Sohnemann noch nicht ausgeschlafen war. Wie man in den Wald hinein schrie, kam es für gewöhnlich zurück: „Ja, so heiß ich für gewöhnlich. Was aber nicht heißt, dass ich bei jeder Lautstärke darauf reagiere, Ai.“

Die Japanerin stieß sich ab und schritt auf das Badezimmer zu. Gott, sie hatte Shinji lange Jahre nicht gesehen und das erste, was sie von ihm vernahm, waren aufgebrachte und verletzende Worte. Kein ‚Hallo‘ und kein ‚Guten Morgen‘ gab es mehr zwischen ihnen. Sie blickte geradewegs in die funkelnden und glänzenden Augen ihres Sohnes. Er war gesund. Und schlecht gelaunt. Ai fragte sich, wann er mit diesem Weibsbild nachhause gekommen war, sie hatte niemanden kommen gehört. Sie stieß die Badezimmertür auf und fuhr Fireball kreischend auf Japanisch an: „Hey, das ist immer noch meine Wohnung. Was treibt diese Blonde in meiner Küche? Zum Henker, Shinji, was machst du hier?“

Sie war vom Überraschungsbesuch ihres Sohnes so geplättet, dass sie die richtigen Worte nicht finden konnte. Ai fluchte über das Erscheinen von Fireball, dabei hätte sie vor Freude darüber in Tränen ausbrechen können. Ihr Junge war gesund und munter wieder nachhause zurückgekehrt, doch das Wie und Wann stellte diese Freuden in den Schatten. Ai war sich sicher, diese Bekanntschaft von Shinji, die dort immer noch in der Küche stand, in einem viel zu weiten T-Shirt und schnell zusammengebundenen Haaren, die sich immer wieder lösten, würde ihrem Sohn in absehbarer Zeit Schwierigkeiten machen. Wenn sie nicht hinter seinem Geld her war, hängte sie ihm bestimmt bald ein Kind an.

Fireball stapfte an Ai vorbei aus dem Bad und direkt in die Küche. Er strich sich die triefnassen Haare hinter die Ohren, so gut es ging und musterte April kurz. Kein Zweifel, solange er nichts von Ai gehört hatte, war sie April über den Mund gefahren. Seine Kollegin stand verwirrt und auch ein wenig verängstigt vor den beiden Kaffeetassen und sah hilfesuchend zu Fireball hinüber. Der beugte sich wieder in den Flur und explodierte schier: „Blondchen hat auch einen Namen, Ai. Der ist April und sie ist nicht die einzige. Ich hab noch zwei Freunde mitgebracht. Aber wenn dir das nicht passt, können wir auch gerne wieder gehen, übertrieben viel Zeit hab ich ohnehin nicht.“

„Du verschwindest jahrelang aus dieser Wohnung, schreibst nicht, rufst nicht an und dann tust du so, als wärst du gestern nur mal kurz mit Freunden auf einer Sauftour gewesen!“, Ai war nicht minder laut. Doch im Gegensatz zu Fireball schrie Ai in ihrer Muttersprache mit dem Junior, der ihr einen Schrecken nach dem anderen einjagte. Ihr Zorn und ihr Ärger überdeckten alle Freude, brachte sie dazu, nur noch mehr aus der Haut zu fahren. Kurz nach Fireball stand auch sie wieder in der Küche und nahm neben April, die ohnehin kein Wort verstand, kein Blatt vor den Mund: „Sag mal, spinnst du? Du hättest ja wenigstens mal vorher anrufen können.“

Okay, das war’s. Er hatte es nur gut gemeint, hatte ihr eine Freude machen wollen, aber der Empfang war schlimmer als der bei König Jarred. Der war wenigstens nicht beleidigend geworden. Er sah seiner Mutter frech in die Augen und verkündete: „Reg dich wieder ab! Ich wollte dir eine Freude machen und an deinem Geburtstag zuhause sein. Tut mir leid, dass es nicht anders ging und tut mir verdammt leid, dass ich hier bin.“, stinksauer drehte er sich um und ging ins Bad zurück: „Wenn das so ist, werden wir wieder fahren!“

Ai rauschte wieder an April vorbei, die keinerlei Beachtung in diesem Augenblick bekam. Sie fauchte gegen die geschlossene Badezimmertür: „Sehr schön. Ehrlich. Ich freu mich, dich zu sehen, Shinji.“, triefend sarkastisch sprudelte die Wahrheit aus ihr hervor. Sie freute sich aufrichtig, ihren Sohn wieder zuhause zu sehen. Doch unter diesen Bedingungen hätte sich keine Mutter gefreut. Weshalb nur hatte er vorher nicht einen Ton gesagt, dass er kommen wollte? Hatte Shinji am Ende Angst gehabt, sie würde es ihm verbieten und ihn wieder fortschicken, so wie jetzt: „Dann geh! Ich lege keinen Wert darauf, dich unter meinem Dach zu haben.“

Aus dem Bad kam es gedämpft zurück: „Trink erst mal einen Kaffee und lass mich in Ruhe, Ai.“

Wütend stampfte die Japanerin auf den Holzboden im Flur und ballte die Hände zu Fäusten. Mit dem Sturkopf war nicht zu reden! Sie drehte sich auf dem Absatz um und rauschte in die Küche. Ai musste sich beeilen. Das alles vernichtende Desaster in Form ihres Sohnes hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht. Sie wollte pünktlich zur Arbeit erscheinen. Während sie sich Kaffee in eine Tasse goss, musterte sie April und die beiden Kaffeetassen auf dem Tisch. Mürrisch erklärte sie ihrem Gast: „Und du könntest wenigstens die Sauerei wegmachen, wenn ihr fertig seid.“

Endlich bewegte sich April wieder. Mit großen Augen hatte sie das Spektakel verfolgt und dabei leider immer nur verstanden, was Fireball vom Stapel gelassen hatte. Die Worte seiner Mutter waren aber auch ohne Übersetzung grob und aggressiv rübergekommen. Nun zuckte sie zusammen, verstand zum ersten Mal etwas, was Ai sagte und nickte eifrig. April griff überrascht nach den beiden Tassen und versicherte: „Aber natürlich, Misses Hikari.“, April stellte sie in der Spüle ab und sah Ai aufmerksam an: „Es tut mir leid.“

Ai nickte lediglich. Sie hatte es auch nicht so gemeint. Es gab für ihr Verhalten einem Gast gegenüber keine Entschuldigung. Ai nahm einen Schluck vom Kaffee und musterte ihren blonden Gast noch einmal eingehend. Hatte ihr Bengel sie wirklich April genannt? Ai zog die Augenbrauen nach oben. Was für ein Zufall! Brachte der doch tatsächlich ein Mädchen mit nachhause, das genauso hieß, wie die Tochter ihrer früheren Freunde. So selten wie damals angenommen, war der Name also nicht.
 

„Mensch, so ein Höllenlärm.“, Colt stand mit Saber in der Küchentür und streckte sich ausgiebig. Er gähnte in den Raum hinein: „Sagt man sich in Japan immer so laut ‚Guten Morgen‘?“

Erschrocken schaute nun Ai zur Küchentür hinüber. Wer waren denn diese beiden Gestalten? Sie hatte sich kaum vom ersten Schreck und Zorn erholt, da stand neuer Ärger in der Tür. Was waren das denn für zwei komische Menschen? Egal, wer sie waren. Beschweren durfte sie hier nur eine Person. Ai zeigte mit dem Finger auf sich und erklärte kategorisch: „Die einzige, die Grund zum Jammern hat, bin ich. Wer seid ihr zwei Galgenvögel?“

Saber schob Colt sofort auf einen der Stühle und reichte Ai die Hand, wie es kurz zuvor April getan hatte. Auch er streckte seine Hand vergeblich aus, als er sich und Colt vorstellte: „Der ungehobelte Klotz da ist Colt und mein Name ist Saber Rider.“

Ai blickte wenig wohlwollend an Saber hinab und dann auf Colt. Noch ein Blick zu April. Wie um alles in der Welt passten die drei zu ihrem Sohn? Die konnten schlecht alle aus dem Renngeschäft stammen. Und ihr werter Herr Sohn? Der umschiffte das nette Treiben, indem er sich ins Bad verkrochen hatte. Egal. Sie wurde nicht schlau aus dem bunten Haufen in ihrer Küche und deshalb verhörte sie nun die Freunde statt ihren Sohn: „Seid ihr Rennfahrerkollegen?“

Die drei Freunde sahen sich ungläubig an. Colt vergrub seinen Kopf in der Tageszeitung, das würde er nicht ausbaden. Obwohl er die Schriftzeichen nicht entziffern konnte, schlug er die Zeitung auf und tat, als würde er lesen. Sicher war sicher.

Saber schluckte unweigerlich und begann sich auszurechnen, ob Fireballs Mutter ihren Sohn übertreffen konnte, wenn es ums Ausrasten ging. Den ersten Vorgeschmack darauf hatten sie vor Kurzem ja live zu hören bekommen.

Es blieb an April hängen. Schon wieder. Sie hatte vorhin schon den schwarzen Peter gezogen. Naja, viel eher hatte sie das unsagbare Pech gehabt, in der Küche sitzen geblieben zu sein, als sich Fireball die Zähne putzen gegangen war. Unsicher blickte sie zu Ai hinüber: „Nein?“

„Sondern?“, nun wurden die Blicke fragend. Ihre hellbraunen Augen hingen an April. Gut, zugegebenen, so billig sah die kleine Blondine nun auch wieder nicht aus.

Die Stimme von Ai war ruhiger geworden, das ermutigte auch Colt, den Kopf aus der Zeitung zu heben. Er antwortete ohne Umschweife: „Ihr Kleiner kutschiert uns durch die Gegend.“

Wie man’s machte, machte man’s falsch. Colt kassierte eine herzhafte Kopfnuss von April und Saber revidierte und korrigierte Colts Zwischenruf einfach: „Was Colt damit sagen wollte, Misses Hikari. Fireball ist unser Pilot. Wir sind Star Sheriffs.“

Porzellan zerschlug auf dem Boden in tausend Stücke und der Inhalt der Tasse verteilte sich über den gesamten Boden. Ai hielt sich die Hände vor die Augen und japste nach Luft. Nein! Alles, nur das nicht. Sie sah Fireball in einem Manöver sterben, genau wie Shinji. Was hatte sie in ihrem letzten Leben angestellt, um Vater und Sohn zu verlieren?

Saber sprang erschrocken von seinem Platz hoch und griff nach ihrer unfreiwilligen Gastgeberin. Im letzten Moment konnte er Ai davor bewahren, in den Scherbenhaufen zu sinken. Der Schotte sah ganz deutlich, wie Fireballs Mutter mit sich kämpfte. Sie wollte nicht schwach sein, hatte dennoch Tränen in den Augen und sackte vor ihren Augen zusammen. Sie hatte es nicht gewusst. Sie hatte es tatsächlich nicht gewusst! Saber griff um Ais Hände und zog sie zu sich. Erschrocken nahm er sie in den Arm und hielt sie fest. Der Highlander fragte beunruhigt: „Misses Hikari? Was haben Sie?“

Auch Colt war inzwischen hellwach und stand, ebenso wie April, neben Saber und Ai. Während die Blondine in der Spüle nach einem Lappen angelte, lotste Colt Saber mit seiner wertvollen Fracht auf einen Stuhl zurück. Ai war paralysiert und nicht ansprechbar. Sie mussten ihr einen riesigen Schrecken eingejagt haben. Colt setzte Ai auf einen Stuhl und strich ihr über die Schultern. Er spürte deutlich, wie sehr sie zitterte. Mann, mit diesem Kaliber Sohn hatte sie nicht grade das große Los gezogen, wie Colt dachte. Warum zum Henker hatte der kleine Teufel ihr nicht erzählt, dass er Star Sheriff geworden war?

April putzte die Bescherung so gut es ging weg. Die großen Scherben nahm sie in die Hände und legte sie vorsichtig auf die Anrichte über sich. Sie kniete auf dem Fliesenboden, hatte aber immer wieder auch ein Auge auf ihre beiden männlichen Begleiter und Fireballs Mutter. In diesem Augenblick tat ihr Ai unheimlich leid. Sie konnte sich vorstellen, was gerade in ihr vor sich ging. April hatte ihren Vater vor einiger Zeit auf die Familiengeschichte der Hikaris angesprochen, nachdem sie von König Jarred etwas über die erste Schlacht zwischen Menschen und Outridern gehört hatte.

Colt rieb Ai immer noch über die Schultern, er sah ihr in die Augen, doch das Paar hellbrauner Augen starrte an ihm vorbei. Der Cowboy warf einen Blick zu Saber und auch zu April, er kannte so etwas nicht. Saber nickte und umrundete Ais Stuhl. Ruhig schob er Colt zur Seite und kniete sich zu Fireballs Mutter hinunter. Er legte Ai eine Hand auf die ihren. Leise begann er zu erzählen: „Misses Hikari. Wir wollten Ihnen keinen Schrecken einjagen. Glauben Sie mir, wir haben unseren Job im Griff. Ihr Sohn ist ein großartiger Pilot, es liegt ihm sozusagen im Blut. Sie brauchen keine Angst um ihn zu haben.“

Ai spürte Sabers warme Hand auf ihren, das holte sie langsam wieder in die Realität zurück. Verschwommen hörte sie, was die beiden fremden Männer ihr erzählten. Sie blinzelte die Tränen aus den Augen und stand schließlich auf. Benommen streifte sie sich ihren Rock wieder zurecht und sah an sich hinab. Erst langsam verstand sie, was Saber sagte. Ihr Herz, das vorhin zu schlagen aufgehört hatte, begann nun wieder auf Hochtouren Blut durch ihren Körper zu pumpen. Nach einem dankbaren Nicken auf Saber, verschwand sie auch schon aus der Küche. Ihre Stimme überschlug sich beinahe: „Shinji! Oh, du Baka!“

Im Badezimmer war er nicht mehr, wie hätte es beim Meister der Katzenwäsche auch anders sein können. Da er nicht bei ihnen in der Küche gewesen war und sich selten im Wohnzimmer aufgehalten hatte, steuerte Ai zielstrebig sein Schlafzimmer an. Ohne zu klopfen trat sie ein und schloss die Tür gleich wieder. Was sie mit ihrem Sohn nun zu besprechen hatte, ging niemanden etwas an. Die zierliche Japanerin musterte Fireball aus zwei wütenden Augen, ehe sie ihn packte und zu sich herumdrehte: „Ist das wahr, Shinji?“

Fireball hatte sie nicht eintreten gehört. Das Schreien vorhin hatte er geflissentlich ignoriert. Sie hatte ihn oft schon als Dummkopf bezeichnet, das war nichts Außergewöhnliches mehr. Als sie ihn von der Kommode weggedreht hatte, spannte sich sein Körper. Widerstand regte sich im Hitzkopf, noch bevor er überhaupt wusste, was er seiner Mutter bestätigen sollte. Er schnauzte und riss seinen Arm los: „Was?!“

Sofort griff Ai nach der Hand ihres Jungen. Sie umschloss sie mit beiden Händen und sah ihn eindringlich an. Sie hatte Angst vor dem Nicken, das auf ihre Frage mit Sicherheit folgen würde. Die drei Fremden sahen nicht aus, als würden sie lügen, auch, wenn sie seltsame Gestalten waren. Sie atmete tief durch und fragte noch einmal: „Shinji, stimmt das, was deine Freunde sagen? Bist du zu den Star Sheriffs gegangen?“

Wieder riss sich Fireball los. Schon hörte er die nächste Standpauke. Gleich würde sie ihn endgültig zum Teufel jagen. Der Rennfahrer bot seiner Mutter die Stirn. Er ließ sich nichts verbieten. Nicht von ihr. Standhaft wehrte er sich dagegen, sein Vater zu sein. Denn genau das indizierte die Frage seiner Mutter gnadenlos. Sie zeigte Fireball, was Ai in ihm sah. Und es war nicht der Sohn, um den sie Angst hatte. Nein. Es war der Mann, den sie nicht verlieren wollte. Das tat Fireball unheimlich weh, gleichzeitig ärgerte es ihn aber über alle Maßen. Würde sie niemals einsehen, dass das nur ein dämlicher Glaube war?! Es gab so etwas wie Seelenwanderung nicht, niemand wurde im Körper eines anderen wiedergeboren. Zornig wich er einige Schritte zurück, er baute Distanz zwischen sich und Ai auf. Ungehalten fauchte Fireball: „Ja, zur Hölle. Ja! Ich bin Star Sheriff.“

Zitternd biss sich Ai auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Murmelnd brachte sie hervor: „Willst du dich mit aller Gewalt umbringen? Shinji, warum nur bist du so derart stur und leichtsinnig wie…“

Barsch unterbrach er Ai: „Wie mein Vater?!“, Fireball ging zur Tür: „Das bin ich nicht. Das werde ich niemals sein, Ai. Verdammt, ich bin sein Sohn. Nicht mehr und nicht weniger, sieh das endlich ein!“

Tränen sammelten sich in Ais Augen. Er war soviel mehr als nur der Sohn von Shinji Hikari. Er konnte es nicht wissen, er kannte seinen Vater doch nicht. Aber Ai wusste es. Und seit er wieder nachhause gekommen war, spürte sie es auch. Der erste Blick auf ihren Sohn hatte ausgereicht. Er sah seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich, benahm sich wie er. Nichts unterschied Fireball noch von Captain Hikari, nicht einmal mehr der Beruf. Als die Tür hinter Shinji zuflog, sank Ai auf den Boden. Der Sohn war der Vater geworden. Die Wiedergeburt ihres Mannes geisterte dieser Tage mehr als lautstark durch die Wohnung, brach ihr das Herz. Mit jedem Wort. Mit jedem Blick.
 

Die drei Freunde waren viel zu langsam gewesen, als Fireball ihnen im Vorbeigehen mitteilte: „Ihr kommt eine halbe Stunde ohne mich aus.“, war er auch schon verschwunden gewesen und hatte sie ihrem weiteren Schicksal überlassen.

In Colt war die Wut schneller aufgestiegen, als der Wunsch nach einer Tasse Kaffee. Die geschlossene Zimmertür war kein guter Schalldämpfer gewesen und so hatte er, genauso wie Saber und April, jedes Wort gehört. Sie hatten zwar nichts verstanden, weil nun auch Fireball in seiner Muttersprache gemault hatte, aber die Stimmung war deutlich fühlbar gewesen. Colt hätte dem kleinen Hombre gerade am liebsten den Kragen umgedreht. Wie konnte er nur so respektlos mit seiner Mutter umgehen? Der Cowboy verstand es ganz einfach nicht. Er, wenn er seine Eltern denn noch hätte, er würde seine Mutter niemals so behandeln. Das hatte sie nicht verdient. Mit keiner Mutter dieser Welt durfte so umgesprungen werden. Fireball hatte in seinen Augen verdammtes Glück, dass er seinen Abgang so vorgezogen hatte, sonst wär Colt ihm wirklich an den Hals gegangen.

Auch Saber hegte ähnliche Gedanken wie der Cowboy. Er räusperte sich kurz und entschied sich, seinen Kommentar hinunter zu schlucken. April und Colt schienen auch ohne ausgesprochene Worte auf seiner Seite zu stehen. Nach dem vorangegangenen Getöse und Gebrüll empfand Saber die nun vorherrschende Stille als bedrückend. Vor allem, weil man von Fireballs Mutter gar nichts mehr hörte. Erneut begann er sich Sorgen zu machen. Egal, was sein Pilot da vom Stapel gelassen hatte, es konnte nur schmerzhaft für die Mutter gewesen sein.

April stand bedächtig auf. Sie nickte ihren beiden Jungs zu und verschwand aus der Küche. Die Blondine konnte den Schmerz von Ai deutlich spüren, auch, wenn sie sich gar nicht kannten. Eines verband die beiden ungleichen Frauen. Nämlich der Hitzkopf, der wie ein Blitz aus der Wohnung verschwunden war. April verstand Fireball nicht. Normalerweise hatten Kinder, die nur noch einen Elternteil hatten, eine ganz besonders gute Beziehung zu diesem. Aber der Rennfahrer und seine Mutter rieben sich gegenseitig auf, setzten sich Widerstand entgegen, fast, als gehörten sie nicht zusammen. Das stimmte April traurig.
 

Leise klopfte sie an die Zimmertür: „Misses Hikari?“

Keine Antwort. Entweder wollte Ai nicht mit ihr reden oder es ging ihr schlecht. Sie legte ihr Ohr an die Tür und horchte hinein. Nichts. Ein unbehagliches Gefühl überkam April. Was hatte Fireball nur angerichtet? Sie konnte nicht tatenlos zusehen und so tun, als ginge sie das alles nichts an. Dazu war April ganz einfach nicht der Typ. Sachte zog sie die Schlafzimmertür einen Spalt auf und schlüpfte hinein. Commander Eagles Tochter achtete nicht auf das Zimmer, sie konzentrierte sich nur auf Fireballs Mutter, die vor dem Bett kniete und das Gesicht im Laken vergrub. Sie weinte bitter.

April kniete sich neben Ai und strich ihr mit einer Hand behutsam über die Schulter. April flüsterte bekümmert: „Misses Hikari? Bitte nehmen Sie sich Fireballs Worte nicht zu Herzen. Er meint es nicht so.“

Langsam hob Ai den Kopf. Ihre Arme lagen verschränkt auf dem Bett ihres Sohnes. Mit leeren Augen sah sie an April hinab. Weshalb saß dieses Mädchen hier und nahm Shinji auch noch in Schutz? Ai spürte den Knoten in ihrer Brust ganz deutlich. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren wieder grausame Realität geworden. Und ein zweites Mal würde sie es nicht ertragen können, Shinji zu Grabe zu tragen. Die blauen Augen der jungen Frau spiegelten Sorge wieder. Gereizt, aber vor allem irritiert, zog sich Ai vor April zurück. Sie wich von ihr weg, wischte sich mit zittrigen Fingern die Tränen aus den Augen und gab sich alle Mühe, ihre Stimme fest klingen zu lassen: „Was weißt du schon? Du hast keine Ahnung wie viel Leid das Kavallerie Oberkommando über uns gebracht hat.“

April fuhr erschrocken zurück. Sie krabbelte nach hinten und sah Fireballs Mutter mit weit aufgerissenen Augen an. Die Bitterkeit in Ais Stimme hatte sie erschrocken. April beschlich die ungute Vorahnung, dass sie sich in die Nesseln gesetzt hatte. Sie hatte sich in etwas eingemischt, von dem sie nichts wusste. Seit April den Rennfahrer kannte, hatte er nie über seine Familie gesprochen, war aber immer fröhlich und freundlich gewesen. Was sie hier allerdings von ihm erlebte, nach nicht einmal vierundzwanzig Stunden mit seiner Mutter unter einem Dach, machte April sprachlos. Beinahe. Ein unsicheres „Warum?“ brachte sie noch hervor, das sie beinahe verschluckt hätte.

Die Japanerin strich sich die Haare über die Schultern, ihre Augen hafteten an der Blondine. Es tat ihr leid, dass sie April mit ihren Worten erschrocken hatte, aber für sie war es ein unumstößlicher Fakt. Shinji war bereits für den Frieden im Neuen Grenzland gestorben, im Dienste des Oberkommandos. Überzeugt erklärte sie deshalb April: „Es wird nur noch mehr Unheil über uns bringen. Es wird Shinji das Leben kosten.“

Wieder waren Tränen in ihre Augen gestiegen, denn Ai ahnte bereits, wie Shinji ums Leben kommen würde. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, da sah sie, wie er starb. Für den Frieden, eine heile Welt, etwas, das es niemals geben würde.

Noch ein Stückchen weiter rutschte April nach hinten. Nun saß sie auf der Schlafmatte. Ramrods Navigatorin hatte Angst. Weshalb war sich Fireballs Mutter so sicher, dass der Rennfahrer sein Leben lassen würde? Sie konnte es nicht nachvollziehen, von Verstehen war noch lange keine Rede. April griff mit beiden Händen nach hinten, stützte sich damit auf der Matte ab und verschränkte die Beine zu einem Schneidersitz. Ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Angst und Unsicherheit. Wo war sie da rein geraten? All das waren jedoch verschwindend geringe Gründe, sich für die Störung zu entschuldigen und zu gehen. Zumindest für April. Sie hatte schnell gemerkt, dass sie hier etwas über ihren Piloten in Erfahrung brachte, was sie von niemandem sonst jemals hören würde. Ein Stück Familiengeschichte. Die Neugier siegte über die Verwunderung: „Aber wie kommen Sie nur darauf?“

Ai biss sich auf die Lippen. Woher sie das wusste? Dafür musste man kein Hellseher sein, wenn man Vater und Sohn kannte. Sie würden das gleiche Schicksal teilen, früher oder später. Fireballs Vater war der selbe Hitzkopf gewesen, als er in Fireballs Alter war. Ja, er war selbständig gewesen, hatte erwachsen gedacht, aber gehandelt hatte er immer unvernünftig. Ai hob hilflos die Hände. Ihre Stimme klang verbittert: „Weil er stur und leichtsinnig ist, wie sein Vater.“, waren das etwa Charakterzüge, die die junge Frau vor ihr noch nicht bemerkt hatte? Aprils große Augen deuteten dies an, doch Ai konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Den Sturkopf erkannte man sofort in ihm, da brauchte man ihn noch nicht mal besonders gut zu kennen. Deshalb bohrte sie nach: „Wie lange kennt ihr euch schon? Du und Shinji?“

Es war für Ai schlecht vorstellbar, dass April Fireball kaum kannte. Die Japanerin hatte am Frühstückstisch vorhin gemerkt, wie eingespielt die drei waren, da war sie sich ziemlich sicher, dass auch Shinji sich gut in dieses Team eingefügt hatte. Umso mehr verwunderte sie deshalb Aprils ungläubiges Gesicht.

April erholte sich kaum noch von ihrem Schrecken. Sie konnte nicht glauben, was sie von Ai gehört hatte. Aber mehr noch als das Was bekümmerte sie das Wie. War sie nach den Gesprächen mit ihrem Vater und ihrer ihr eigenen Naivität davon ausgegangen, dass sich Fireballs Eltern geliebt hatten, hörten sich Ais Worte nicht so an. Sie schien diese Charaktereigenschaften ihres Mannes zu verachten. April kam nicht umhin, ihr Recht zu geben, denn stur und leichtsinnig war Fireball tatsächlich. Aber er war auch etwas anderes. Fireball war unbefangen und voller Lebensfreude. Aufmerksam musterte April Fireballs Mutter. Hatte sie all die guten Eigenschaften verdrängt? Die Blondine erwiderte schließlich unsicher: „Aber… Sie haben seinen Vater doch geliebt, wie…?“

Mehr brachte sie nicht hervor, denn April scheute sich, darüber zu urteilen. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen würde, wenn sie ihren geliebten Mann im Krieg verlieren würde.

„Eben weil er es war, hab ich ihn geliebt.“, Ai senkte den Blick. Shinji war mit Feuer bei der Sache gewesen, mit einer unglaublichen Leidenschaft. Egal, was er getan hatte, er hatte es mit ganzem Herzen getan. So wie sein Sohn es heute tat. Ohne vom Fußboden aufzusehen, versuchte Ai April einen kleinen Einblick zu geben, sie sollte sie verstehen: „Sieh dir meinen Sohn an und du weißt, wer sein Vater war.“

Durch Ais Worte ermutigt, traute sich April wieder etwas zu sagen. Sie tat, was Ai ihr eben geraten hatte und stellte sich Fireball vor. Wenn er so wie sein Vater war, dann stand für die Blondine eines fest: „Er war bestimmt ein wundervoller Mensch. Fire steht zu dem, was er tut. Er steht hinter uns, wir können uns auf ihn verlassen. Er…“

Erstaunt hielt April inne. Hatte sie wirklich angefangen, von Fireball zu schwärmen? Sie mochte all diese Eigenschaften an Fireball, er war ihr Fels in der Brandung. Doch damit schien sie sich bei Ai noch unbeliebter zu machen. Die Japanerin deutete durch die Tür nach draußen. Sie fühlte sich von April nicht ernst genommen: „Denkst du, das wüsste ich nicht? Glaubst du, ich wüsste nicht, wie Shinji ist?“

Wieder wich die Blondine nach hinten. Zu allem Übel hatte sie nun auch noch alte Wunden aufgerissen. Verschreckt entschuldigte sie sich: „Tut mir leid… Ich wollte nicht…“

Langsam richtete sich Ai auf. Ihre Blicke glitten über April. Hatte sie vorhin noch geglaubt, dieses Mädchen würde ihrem Sohn Ärger machen, so korrigierte sich Ai nun. Es würde genau andersrum kommen. Ganz sicher. Fireballs Freundin würde leiden und vielleicht sogar daran zu Grunde gehen. Sie erinnerte sich schmerzhaft daran, was ihr Schicksal damals besiegelt hatte. Traurig wandte sie die hellbraunen Augen von April ab und ging zur Tür. Ai flüsterte gebrochen: „Lass nicht zu, dass dir mein Sohn das Herz bricht, April. Und das wird er so sicher, wie er Shinji heißt.“

April blieb beinahe das Herz stehen. Sie schluckte und antwortete tapfer: „Niemals.“

Noch einmal sah Ai zu April hinüber. Sie konnte die Antwort der Blondine nicht richtig glauben, ihr Gespür verriet das Gegenteil. Die Japanerin schloss die Augen und seufzte. Sie wusste noch haargenau, wie Shinji sie um seinen kleinen Finger gewickelt hatte. Er würde es auch wieder tun: „Sieh ihm nicht in seine braunen Augen. Es wird dein Verderben sein.“

Während Ai die Tür öffnete und sich verabschiedete, sie musste endlich in die Arbeit, sank April in sich zusammen. Woher hatte Ai das gewusst? Wie hatte sie ihr so sicher sagen können, wie sie ihr Herz an Fireball verloren hatte? April hauchte erschüttert: „Zu spät.“
 

Wie dehnbar der Begriff einer halben Stunde sein konnte, hatten Saber, Colt und April an diesem Vormittag am eigenen Leib erfahren. Nach dem Frühstück hatten sie es vorgezogen, die Wohnung zu verlassen, so lange Ai in der Arbeit war. Es war unhöflich, alleine in einer fremden Wohnung zu bleiben. Sie hatten gedacht, dass ihr lautstarker Pilot, wie vorhin groß angekündigt, in spätestens einer halben Stunde zurück sein würde. Doch die Uhr belehrte sie eines besseren. Kopfschüttelnd hatte Saber nach einer dreiviertel Stunde des Wartens seine Freunde auf einen Spaziergang durch die lebhafte kleine Stadt entführt. Wer wusste schon, wo Fireball tatsächlich hingegangen war und wie lange es dauerte. Colt grummelte eine Zeit lang vor sich hin, der perfekte Start in den Urlaub sah seines Erachtens anders aus. April ging stumm neben ihren Begleitern her, Ais Worte schwirrten ihr immer noch im Kopf herum und bedrückten sie. Woher konnte Fireballs Mutter mit Sicherheit sagen, welches Schicksal April erwarten würde, wenn sie sich in Fireball verliebte?

Saber lenkte Aprils Aufmerksamkeit schließlich auf erfreulichere Dinge. Er stupste seine Freundin und Kollegin an und deutete auf einen Gebäudekomplex, an dem sie gerade vorbeispazierten: „Sogar ein Shoppingcenter ist in der Nähe.“

Der Cowboy begann breit zu grinsen, während er Aprils Gesichtsausdruck gespannt verfolgte. Der änderte sich nämlich von nachdenklich zu hocherfreut. Oh, und er kannte Aprils nächstes Shoppingopfer bereits. Alleine schon für das, was sich Fireball heute Morgen geleistet hatte, war er für die nächsten fünfzehn Einkaufstouren mit April eingeteilt. Das breite Grinsen wurde zu einem fiesen und hämischen Lachen: „Tja, ich schätze, Fireball kann es kaum noch erwarten, mit dir den Tempel deiner Gelüste unsicher zu machen.“

„Die einzigen Gelüste, dich ich momentan hege, betreffen alle dich, Cowboy!“, April boxte ihm empört gegen die Schulter. So verdammt zweideutig, wie Colt immer war, regte sie das maßlos auf. Sie schimpfte: „Du machst es nicht mehr lange, wenn du so weitermachst, mein Guter.“

Der Viehtreiber rieb sich die getroffene Schulter und verzog wehleidig das Gesicht. Aber das Kontern ließ er sich trotzdem nicht nehmen. Endlich war April wieder gesprächig geworden, das sollte nach Möglichkeit auch so bleiben: „Nee, Prinzessin. Dein Guter hat uns heute ziemlich im Regen stehen gelassen. Und das bin, auch wenn ich es manchmal doch gern wäre, nicht ich. Hau unserem frechen Rotzlöffel eine runter, aber nicht mir.“

Saber ging aus der Schusslinie, und das schmunzelnd. Colt hatte April nun endgültig angestachelt und er wollte nicht unbedingt einen Blindgänger einkassieren, wenn er sich zwischen April und Colt aufhielt. Saber amüsierte sich still und heimlich über den Streit, auch wenn ihm nicht immer gefiel, was er hörte. Aber es ließ ihn diesen seltsamen Morgen vergessen und alleine das war die Schimpfworte der beiden wert.

Die Blondine holte erneut aus, schlug dieses Mal aber nicht zu, sondern bremste ihre Faust direkt vor Colts Gesicht herunter und hielt ihm ihre geballten Finger unter die Nase. Aufgebracht machte sie sich vor Colt größer und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Bei Colts letzten Worten war sie knallrot im Gesicht geworden, jede reife Tomate wäre neidisch auf diese gesunde Farbe gewesen. Wieso nur wurde ihr jedes Mal so unsagbar heiß, wenn Colt ihr und Fireball ein kleines Tete-à-Tete unterstellte? War an seinen saudummen Scherzen am Ende auch noch ein Funken Wahrheit dran? April fauchte: „Hör zu, Froschkönig! Wenn du heil bei Robin zuhause ankommen willst, schlag ich vor, du hältst deine übergroße Klappe, sonst endest du im Brunnen, bei den anderen Kröten.“

Nun prustete Colt los: „Ach, Rapunzel! Der einzige, der an deinen Turm kommen darf, ist ja wohl ganz eindeutig unser Rumpelstilzchen.“

Es war eine Wohltat mit April zu streiten, zumindest brachte es Colt auf andere Gedanken. Die Mordgelüste hatte er erst einmal ad acta gelegt. Viel wichtiger war es jetzt, April damit aufzuziehen, was sie gerne hätte aber nicht durfte. Keck stieß er seine Hüften seitlich gegen Aprils und zog sie noch mehr auf: „Obwohl… die edle Jeanne d’Arc war ja Jungfrau. Wie fest sitzt denn dein Keuschheitsgürtel, wenn man mal fragen darf, darf man doch?“

April zog die Lippen zusammen, bis sie nur noch zwei weiße Striche waren und funkelte Colt an. Das musste sie sich nicht gefallen lassen. Schon gar nicht von Colt. Schlagfertig giftete sie ihn deswegen an: „Der ist schon eingerostet, wenn du so fragst.“

„Eine eiserne Jungfrau sozusagen.“

Colt und April hielten in ihrem Geplänkel inne. Sie blinzelten auf Saber, unfähig einen Ton zu sagen. Bis Colt plötzlich loslachte. Der Schotte hatte einen derart trockenen Zwischenruf platziert, dass Colt damit nie im Leben gerechnet hätte. Während sich der Cowboy schon fast den Bauch vor Lachen halten musste, hatte April ein neues Opfer auserkoren.

Sie drehte sich mit wehender Mähne zu ihrem Boss und funkelte ihn düster an. Die Blondine stemmte die Arme in die Hüften und wollte herrisch wissen: „Wie darf ich denn das verstehen?“

Sabers Miene blieb unterdessen undurchschaubar und kühl. Kein Lächeln erschien auf seinen Lippen und nichts ließ erahnen, wie er sich über den Ausbruch von April gerade amüsierte. Mindestens so trocken wie vorhin, erklärte er: „Bei der Fülle an Dates, die du in letzter Zeit hattest? Verzeih mir, aber sogar bei der Jungfrau Maria war die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, größer als bei dir gerade.“

„Oh, du!!!“, April wollte Saber eine Kopfnuss verpassen, doch dieser duckte sich geistesgegenwärtig einfach unter ihrer Faust weg. Dafür aber trat sie ihm anschließend herzhaft gegen das Schienbein und maulte: „Wie soll man jemand vernünftigen kennenlernen, wenn man solche Bodyguards wie euch hat? Ihr vergrault ja alles, was Interesse an mir zeigen würde!“

Saber ging von der geduckten Haltung gleich in die Hocke und rieb sich das getroffene Schienbein. Ja, Aprils Tritte konnten höllisch wehtun. Dazu bräuchte sie nicht mal einen schwarzen Gürtel.

Colt bekam vor Lachen schon keine Luft mehr, das war eine Premiere. Saber, der sich ansonsten immer schön aus allen Streitigkeiten heraushielt und nur zuhörte und sich an den unsinnigen Wortmeldungen erfreute, wurde mal aktiv daran tätig und kassierte dafür gleich eine saftige Abreibung von April. Das war zu herrlich. Und Fireball verpasste den ganzen Spaß. Albern jauchzte Colt: „Ich hab noch keinen gesehen, Prinzessin, der sich näher als dreißig Meter an dich ran trauen würde. Und jeder, der dir zu nahe kommt, teilt Sabers Schicksal. Süße, du musst an deinen Umgangsformen arbeiten, wenn du jemals was anderes als lebensmüde Rennfahrer abkriegen willst.“
 

Es hatte länger gedauert, bis er sich wieder beruhigt hatte. Fireball war laufen gegangen. Zuerst war er stadtauswärts gegangen, aber seine Gedanken hatten sich wie eine Spirale dauernd nach oben gedreht und ihn immer wütender gemacht. Vom Gehen war es nicht besser geworden, weshalb er immer schneller geworden war, bis er schließlich durch den groß angelegten Park gelaufen war. Völlig verschwitzt und außer Atem stand er im Treppenhaus und wollte die Tür aufsperren, als auch seine Freunde die Treppen hoch kamen.

„Wen haben wir denn da? Du schnaufst wie eine alte Dampflock, Matchbox.“, Colt stieß sich den Hut aus dem Gesicht, während er auf Fireball zuging.

Fireball drehte sich kurz um: „Solang’s keine Diesellock ist.“

Dabei zuckte er mit den Schultern und drehte seinen Freunden wieder den Rücken zu. So egal wie in diesem Moment waren ihm Colts dumme Sprüche selten. Er schloss endlich die Tür auf und bat seine Freunde hinein. Es interessierte Fireball nicht, von wo sie gerade zurückkamen. Das einzige, wonach ihm gerade der Sinn stand, war eine eiskalte Dusche. Ohne sich zu bücken schlüpfte Fireball aus seinen Schuhen und trat die kleine Stufe hinauf, die den Eingangsbereich von der restlichen Wohnung trennte.

Saber ließ Fireball erst mal richtig ankommen und verkniff sich jedes Wort. Als Fireball jedoch mit frischen Klamotten aus seinem Zimmer kam und gleich darauf im Bad verschwinden wollte, griff er nach dem Rennfahrer und schob ihn von der Tür weg: „Hast du mal eine Minute?“

Fireball umklammerte die Jeans und das langärmlige, grüne Shirt fester. Den befehlenden Unterton in Sabers Stimme hätte er niemals überhören können. Konnte er in seinen eigenen vier Wänden nicht wenigstens fünf Minuten seine Ruhe haben? Nachdem ihn seine Freunde fordernd ansahen und keinen weiteren Abgang mehr duldeten, ließ Fireball die frische Kleidung auf den Boden fallen und deutete resignierend auf das Wohnzimmer. Während seine Freunde vorgingen, wischte sich Fireball mit dem verschwitzten T-Shirt übers Gesicht. Er folgte ihnen unfreiwillig und blieb am Fenster stehen, das seine Mutter heute in der Früh gekippt hatte. Der leichte Luftzug dort verschaffte ihm eine angenehme Kühlung, was eigentlich die kalte Dusche hätte sollen.

Auch, wenn sich Saber ansonsten mit Kommentaren und Urteilen bedeckt hielt, für Fireballs Verhalten gab es nur eine Beschreibung: „Beschämend, was du dir heute geleistet hast, Fireball.“, dabei setzte sich der Anführer bedächtig auf das Sofa und strich mit der Hand über den Tisch. Seine Augen folgten seiner Handbewegung, Fireball wollte er dabei nicht direkt ansehen, sonst hätte er das weniger freundlich formuliert.

Das erledigte ohnehin Colt. Der hatte nur darauf gewartet, dass Saber den Anfang machte und Fireball dezent auf das Thema hinwies. Er musterte den Rennfahrer abfällig. Kopfschüttelnd verschränkte er schließlich die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türstock. Wie konnte der freche Kerl nur? Wenig charmant fiel er mit der Tür ins Haus: „Dir sollte mal jemand den Knick einprügeln, Hombre. Der Umgang mit der eigenen Mutti ist ja schon ein Thema für sich, aber dann noch neben uns so mit ihr zu verfahren, das setzt dem ganzen Debakel die Krone auf. Ehrlich, wärst du nicht so schnell weg gewesen, ich hätt dir ein paar hinter die Löffel verteilt.“

Gemeint hatte Colt das Kniggebuch, aber das war ihm in der Hitze des Gefechts nicht eingefallen, deswegen hatte er einfach Knick gesagt. Bei Fachbegriffen war er noch nie sonderlich bewandert gewesen, seine Freunde hatten sich schnell daran gewöhnt, weshalb sollte er deswegen noch umständlich nach den richtigen Worten suchen? Auf die Ausrede von Fireball war der Cowboy nun mehr als gespannt.

Es gab Dinge im Leben, die konnte man zweifelsfrei voraussagen. Die Situation eben war eine davon. Aufmerksam hatte Fireball Saber zugehört, bei Colts Worten waren ihm lediglich die Augenbrauen in die Höhe geschossen. Was wollte der Scherzkeks von ihm? Fireball wischte sich noch einmal mit dem Handrücken über die Stirn. Verdammt, er war zu schnell und unkontrolliert gelaufen, sein Puls ging immer noch viel zu schnell, so wie sein Atem. Er atmete tief aus, stieß dabei einen seufzenden Laut aus und sah dann erwartungsvoll zu April hinüber. Die schwieg, was Fireball dann doch verwunderte. Sonst konnte sie nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen bleiben, wenn es um emotionale Themen ging, und jetzt sah es so aus, als berührte sie das gar nicht. Schulterzuckend verteidigte er sich dennoch vor seinen Freunden: „Ai ist ein verfluchter Morgenmuffel. Meine Wenigkeit ist da nicht besser. Das war früher so und das hat sich nicht geändert. Na und? Wenn sie heute Abend von der Arbeit kommt, lächelt sie wieder und dann mag sie euch auch ein bisschen mehr.“

Colt hielt sich empört den Hut auf dem Kopf fest. Das ging auf keine Kuhhaut mehr! Vor seinen Eltern hatte jeder normale Mensch Respekt, Ehrfurcht und nichts weiter als Bewunderung. Colt wäre nie eingefallen, so mit seinen Eltern zu reden, weder so laut noch so ungehobelt, was der Giftzwerg ohne Zweifel gewesen sein musste. Colt vermisste seine Eltern manchmal schmerzlich, er würde alles dafür geben, sie noch bei sich zu haben. Deswegen verstand der Kuhhirte nicht, wie man seinen Eltern so respektlos gegenüber treten konnte. Er grummelte ungehalten: „Sag mal, bist du echt so ein Esel, oder tust du nur so? Gott allein weiß, was du der lieben Ai da heute Früh so übertrieben freundlich vor die Füße gespuckt hast, aber Teufel noch eins, du kannst so nicht mit deiner Mutter reden!“

Fireball verdrehte genervt die Augen. Colt verstand zwar kein Wort, aber Vorwürfe machen konnte er trotzdem. Der Scharfschütze hatte keine Ahnung, worum es bei ihrer Debatte gegangen war, und dennoch maßte er sich ein Urteil an. Konnte der nicht einmal die Klappe halten? Da gab’s nur eine Antwort: „Ich bezweifle, dass du was anders machen würdest. Allerdings dürfte der Beweis mangels Anwesenheit schwer anzutreten sein.“

Wie ein Blitz schoss Colt quer durch den Raum und packte Fireball am Kragen. Wutschnaubend zog er den Rennfahrer zu sich und wollte ihn mit seinen bösen Blicken am liebsten aufspießen. Knurrend machte er klar: „Du verdammter Trottel! Wer weiß, wie lange du deine Mutter noch hast? Also egal, wie sie dich auf die Palme bringt, du hast nicht das Recht, ihr dafür Vorhaltungen zu machen. Sei dankbar für die wunderbare Fürsorge, die sie dir entgegenbringt.“

April zuckte leicht zusammen und trat einen Schritt zur Seite. Colts Reaktion hatte sie erschrocken. Aber sie verstand den Scharfschützen auch. Sie stimmte ihm sogar zu. Kein Kind hatte das Recht, seinen Eltern derart respektlos gegenüberzutreten, wie es Fireball getan hatte. Gespannt hielt sie den Atem an und beobachtete.

Fireball keuchte überrascht auf, er war zu ruckartig von seinem Platz weggezogen worden. Aber er ließ sich nicht alles gefallen. Reaktionsschnell schlug er Colts Hände von seinem Shirt und trat wieder nach hinten. Brüskiert rechtfertigte er sich: „Welche Fürsorge, du Affe?! Halt einfach den Rand, wenn du keine Ahnung hast!“

Nun ging Saber dazwischen. Das vor ihm war kein normaler kleiner Streit, wie er ihn beinahe täglich mit Fireball und Colt erlebte. Hier ging es um etwas Persönliches. Colt hatte seine Eltern verloren und vermisste diese, während der Rennfahrer nichts Eiligeres zu tun hatte, als das mütterliche Nest zu verlassen und seine eigenen Wege zu gehen. Dieses Mal stand auch Saber eher auf Colts Seite, gleichzeitig konnte er sich aber darauf besinnen, nichts über den Damm zu brechen. Fireball hatte bestimmt seine Gründe, auch wenn er diese gerade nicht sehen oder einordnen konnte. Saber schob die beiden Streithähne auseinander und mahnte Fireball: „Hör auf, Fireball! Wir wollten lediglich eine Erklärung von dir und du fühlst dich gleich angegriffen.“

„Moment mal!“, Fireball sah Saber erbost an. Sie hatten ihn angegriffen, war dem Säbelschwinger das nicht aufgefallen? Sie hatten Rechtfertigungen für sein Verhalten verlangt, hatten sich eine Meinung über die Geschehnisse von heute Morgen gemacht, aber nur nach den Gesichtspunkten, die seine Mutter betrafen. Seine Freunde wussten nicht, was vorher alles geschehen war, wie lange sie sich nicht gesehen hatten. Es hatte ja doch keinen Zweck, es ihnen erklären zu wollen. Deswegen hob Fireball hilflos die Hände vor die Brust und resignierte: „Ja, jede Mutter stirbt fast vor Sorge, aber keine macht so ein Drama draus, wie Ai.“

Nun stand Fireball endgültig auf verlorenem Posten. Colt schüttelte immer noch wütend den Kopf: „Meine hätte.“

Auch Saber machte keinen Hehl daraus: „Meine hat und tut noch immer.“

„Und bei mir übernimmt das Daddy.“, April sah Fireball stur dabei in die Augen. Es war eindeutig, was ihre blauen Augen zu vermelden hatten: Du tust deiner Mutter weh, du Esel.
 

Den restlichen Tag war Fireball seinen Freunden aus dem Weg gegangen und zwar konsequent. Er hatte sie angeschwiegen, wenn sie ihn nach etwas gefragt hatten. Das war seine Art zu strafen. Bisher hatten Saber, Colt und auch April mit dieser Eigenheit keine Bekanntschaft gemacht, nun waren sie überrascht und gaben nach wenigen Fragen, die mit Schweigen und dem Verlassen des Raumes beantwortet worden waren, auf. Fireball würde schon wieder zu sprechen anfangen, wenn er aufgehört hatte, zu schmollen.

Der Rennfahrer war wie vorhin geplant unter die Dusche gesprungen und hielt sich den restlichen Tag vorwiegend in der Küche auf. Er hatte die Tür geschlossen, weil er niemanden sehen wollte. Den Zorn aller drei auf einmal auf sich zu ziehen war für Fireball eine Premiere. Aber dadurch erst hatte er erkannt, was an diesem Morgen wirklich schief gelaufen war. Es tat ihm leid, keine Frage, aber gleichzeitig war der Widerstand in ihm ungebrochen. Fireball fühlte sich in einer Beziehung gefangen. In einer, die nicht seine war. Fireball war sukzessiv in die Rolle seines Vaters hineingezwängt worden. Aber wie dem auch sei, seine Freunde würden das weder erkennen noch einsehen, wenn er es ihnen so schilderte. Deswegen nahm er sich vor, zumindest während ihres Aufenthaltes in Japan die Füße still zu halten und mit Ai auszukommen. Um den Hausfrieden wieder herzustellen begann der Rennfahrer schließlich zu kochen.
 

Ai sah verwundert von ihrem Schlüsselbund zur geöffneten Wohnungstür auf. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie erwartet wurde. Sofort stieg ihr der wunderbare Duft von Ramen in die Nase. Es weckte Erinnerungen in ihr. Fireballs Vater hatte es gerne gekocht und noch lieber gegessen. Ai hatte früher oft mit Shinji in der Küche gestanden und gemeinsam gekocht, bis er fort gegangen war. Nun überraschte sie ihr Sohn mit Abendessen. Das warf Ai völlig aus der Bahn, weil es sich gerade anfühlte, wie vor zwanzig Jahren.

Fireball trat von der Eingangstür zurück. Mit gesenktem Kopf und angezogenen Schultern ging er in die Küche vor. Leise informierte er: „Abendessen ist fertig, Ai.“

Hatte sie sich geirrt, oder war ihm die Reue ins Gesicht geschrieben gestanden? Irritiert schüttelte Ai den Gedanken ab und zog sich am Eingang die Schuhe aus, ehe sie Fireball in die Küche folgte. Dort fand sie auch ihre Gäste vor, die schon geduldig vor ihren Gedecken saßen und auf Ai warteten.

„Setz dich.“, hörte sie Fireball in einem gedämpften Ton sagen. Die Japanerin tat, was ihr angeboten worden war, ansonsten hätte sie geholfen, das Gericht zu servieren. Sie setzte sich an den Kopf des Tisches, auf den beiden Stühlen links von ihr saßen bereits Colt und Saber, rechts saß April und Fireball würde den letzten Stuhl besetzen, sobald er aufgetischt hatte. Die Stille war ihr aufgefallen. Eine gewisse Spannung lag zwischen den Freunden und ihrem Sohn in der Luft, das konnte sie fühlen. Da war Shinji wohl nicht nur mit ihr aneinander geraten, sondern auch mit den fremden Gästen.

Schweigend begannen sie zu essen. Ai beobachtete gespannt ihren Besuch. Immer wieder sah sie von ihrer Schüssel auf und über den Tisch. Der Lockenkopf, der ihr an diesem Morgen mit Colt vorgestellt worden war, kämpfte verbittert mit seinen Stäbchen. Immer wieder rutschte ihm das Essen von dem ungewöhnlichen Esswerkzeug auf den Tisch. Er sammelte es dann mit seinen Fingern von dort auf und schob es sich schnell in den Mund. Aber aufgeben kam für ihn auch nicht in Frage. Der blonde, junge Mann, der beim Frühstück stets höflich gewesen war, saß links neben ihr und hatte mit dem Essbesteck keinerlei Probleme. Auch jetzt hielt er sich vornehm zurück und beobachtete, gleich wie Ai, die anderen beim Essen. April, das Mädchen mit den langen, blonden Haaren, saß wie selbstverständlich neben ihrem Sohn. Ai fragte sich, ob ihr Rat schon zu spät gekommen war. Auch April hatte Mühe mit dem Essen voran zu kommen, aber Fireball griff ihr immer wieder um die rechte Hand und korrigierte schweigend ihre Handhaltung. Jedes Mal wieder schenkte sie dem Rennfahrer dafür ein dankbares Lächeln. Fireball hingegen quittierte ihre Blicke nur damit, indem er ihre Hand wieder los ließ, aß kaum und hatte den Blick meistens stur auf die Tischplatte vor sich gerichtet. Es war Zeit, das für ihren Sohn so bedrückende Schweigen zu brechen.

Ai legte ihr Essbesteck zur Seite und sah noch einmal aufmerksam durch die Runde, ehe sie bemerkte: „Ruhig ist es hier.“

„Ja.“, Colt fiel ein Stein vom Herzen, dass Ai endlich zu reden angefangen hatte. Keine Minute länger hätte er das Schweigen noch ausgehalten. Grinsend deutete er mit den Stäbchen über den Tisch hinüber auf Fireball: „Wenn der Krawallstoppel nicht daheim ist, glaub ich das gern.“

Ai schmunzelte Colt entgegen. Er verhielt sich bei seinen Freunden also wie zuhause. An sich ein gutes Zeichen, wie Ai dachte, doch für Fireballs Freunde bedeutete das auch, dass sie mit seinem Hitzkopf zurecht kommen mussten und seine Ausbrüche ertragen mussten. Ihre hellbraunen Augen bedachten Fireball mit einem doch warmherzigen Blick. Unbewusst hatte er den Kopf eingezogen. Das schlechte Gewissen bedrückte ihn. Ein mütterliches Lächeln stahl sich davon.

Saber biss sich auf die Lippen, als Ai verkündete: „So sieht’s wohl aus. Alles war gut, bis er sprechen gelernt hat. Danach hat er angefangen, Widerworte zu geben. Sein erstes Wort war ‚Nein‘.“

Ai hatte sich von ihrem ersten Schrecken erholt, sie freute sich über den außergewöhnlichen Besuch. Die drei Freunde ihres Sohnes waren eine nette, unkomplizierte Bande, sie hatte ihnen Unrecht getan. Nachdem Colt ihr die Worte schon beinahe in den Mund gelegt hatte, konnte sie nicht mehr anders. Ja, das Wort Widerstand war ihrem Sohn nicht fremd. Im Gegenteil, es beschrieb ihn. Innerer Widerstand gegen alles, was er nicht selbst entscheiden konnte.

Fireball ließ die Hände unter dem Tisch verschwinden und beugte sich noch weiter nach unten. Sein Essen hatte er kaum angerührt. Die Späße musste er sich nun wohl oder übel gefallen lassen, die sie auf seinem Rücken austrugen. Wahrscheinlich hatte er es nicht anders verdient.

Der Cowboy nahm wieder einen Happen zwischen die Finger, der ihm auf die Tischplatte geplumpst war. In diesem Punkt würde er sich mit Ai zusammen tun. Er nahm die Gesprächigkeit ihrer Gastgeberin zum Anlass, den Rennfahrer schön durch den Kakao zu ziehen. Theatralisch seufzte er, als wäre bei Fireball schon lange Hopfen und Malz verloren: „Wenn er doch nur alles so gut könnte, wie frech und ungehobelt sein.“

Schlagfertig kam es von Ai zurück. Das ein oder andere Talent hatte Shinji schon: „Auto fahren.“

Die Blondine legte ihr Besteck zur Seite. Die Spannung im Raum war plötzlich verschwunden. Es wirkte manchmal wirklich Wunder, sich gemeinsam über jemanden lustig zu machen. Sie blinzelte zu Fireball hinüber. Das musste er sich nun gefallen lassen. Auch die Blondine war nach wie vor ein wenig eingeschnappt. Bemerkte der Sturschädel denn nicht, welche Sorgen sich seine Mutter um ihn machte? Die Blondine schenkte Ai wieder ihre Aufmerksamkeit, während sie Fireball noch einen Tiefschlag versetzte: „Fahren eher weniger. Aber im Autos zu Schrott fahren, macht ihm so schnell niemand was vor.“

Die beiden Hikari am Tisch zuckten bei diesen Worten merklich zusammen. Fireball, weil seine Mutter wieder ein Detail seines Lebens erfahren hatte, das er lieber verschwiegen hätte. Und Ai zuckte zusammen, weil ihre schlimmsten Befürchtungen auch im Bezug auf das Rennfahren Realität geworden zu sein schienen. Erschrocken sah die Mutter zu Fireball hinüber. Würde sie jemals etwas aus seinem Mund erfahren?

Und als wäre das noch nicht genug gewesen, mokierte zu diesem Thema auch noch Colt auf. Es regte ihn immer noch auf, wie sich der Rennfahrer seiner Mutter gegenüber verhielt. Dann aber brachte der Bengel noch nicht einmal eine Entschuldigung hervor. Der Cowboy zog die Augenbrauen zusammen und erklärte sich Fireballs Verhalten folgendermaßen: „Er muss wohl vergessen haben, wie man richtig Buße tut, als er damals sein Gedächtnis verloren hat.“

Nun hafteten die hellbraunen Augen an Colt. Noch eine Begebenheit aus Fireballs Leben, die ihr Angst machte. Nicht ein einziges Mal hatte Ai erfahren, wenn Shinji etwas zugestoßen war. Fireball hatte sich nie gemeldet und das Oberkommando schickte auch keine Infos raus. Ai fragte sich, was ihr Sohn bisher alles erlebt hatte. Ein Gefühl dabei wurde sie jedoch nicht los. Mit jedem Gedanken wurde es stärker. Die letzten Jahre, in denen sie den Ausreißer nicht gesehen oder gesprochen hatte, hatte er sich unabhängig entwickelt. Und trotzdem. Er war seinem Vater so enorm ähnlich geworden. Legte sie das Bild ihres Mannes gedanklich über das Gesicht ihres Sohnes, so gab es keinen merklichen Unterschied mehr. Auch die Charakterzüge, die für Shinji so typisches gewesen waren, traten nun alle hervor. Deutlich und unverkennbar.

Saber entschärfte Colts verbalen Ausrutscher, ehe Ai sich ernsthafte Sorgen machen konnte: „Das vergisst du bei Gelegenheit auch schon mal, Colt. Und du bist mit dem Kopf nirgends gegen gelaufen, oder?“, Sabers eindeutig fieses Lächeln ließ keinen Zweifel daran, dass er davon ausging, Colt wäre auch schon das ein oder andere Mal mit dem Kopf durch die Wand.

Ai lächelte Saber dankbar zu. Es war wohl wirklich nicht so schlimm gewesen. Buße sah bei jedem anders aus. Da in der Familie Hikari kaum über Gefühle gesprochen wurde, hielt man sich auch mit Entschuldigungen bedeckt. Die Japanerin kannte die Art, wie hier im Haus um Verzeihung gebeten wurde. Mit Essen. Nicht nur Liebe ging durch den Magen, sondern auch Verständnis und Vertrauen. Shinji hatte Ai damals schon immer bekocht, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte, sie selbst hatte immer besonders aufwendig aufgetischt und das Ebenbild seines Vaters machte da keine Ausnahme. Ai erklärte seinen Freunden: „Jedenfalls hat er es mit der Abbitte nicht so. Wer nicht weiß, wie er das für gewöhnlich tut, merkt es gar nicht.“

Dabei achtete Ai sorgsam auf die Reaktion von Fireball. Dieser stieß leise die Luft aus und sank noch mehr in sich zusammen, den Blick de- und reumütig zu Boden. Da saß das schlechte Gewissen tiefer als gewöhnlich. Wäre Ai nicht überzeugt davon gewesen, dass Shinji damit keine Freude hatte, hätte sie unverhohlen zu lachen angefangen. Das bedrückende Gewissen hatte er sich durchaus verdient, aber allzu schadenfroh wollte Ai doch nicht sein. Mit einem freundlichen Nicken entließ sie ihn aus der Abbitte.

„Das sieht jeder anders.“, grummelte Colt, der bei Fireball beim besten Willen keinen Anflug von Reue erkennen konnte. Eigentlich sollte der Rotzlöffel vor seiner Mutter knien und sie um Verzeihung anflehen. Nicht aufsehen und schweigen konnte auch was anderes bedeuten.

April schlug sich auch dieses Mal auf Colts Seite. Fireball sollte für seine Schandtaten ruhig richtig büßen. Mit allem Drum und Dran.

Nur der Schotte hatte Ais Worte richtig gedeutet. Schnell hatte er verstanden, wie Fireball seine Mutter um Verzeihung bat. Er nahm den letzten Bissen aus seiner Schüssel und nickte zu seinem Piloten hinüber. Der Schwertschwinger zwinkerte ihm zu: „Und bei jedem schmeckt’s anders. Das war richtig lecker! Danke.“

Nun hatte auch der letzte verstanden. Die Blondine streifte sich die Haare hinter die Schulter und gab das Essen mit Stäbchen für heute auf. Aber eine Empfehlung konnte sie noch aussprechen: „Wenn das so ist, dann hätte ich das nächste Mal doch lieber wieder eine Gabel, damit ich nicht verhungern muss.“

Sie schmunzelte leicht. Natürlich hatte ihr Fireball immer wieder geholfen, aber auch mit seiner Hilfe war nicht wirklich viel in ihren Magen gelangt. Die Tochter des Commanders stand mit dem asiatischen Essbesteck auf Kriegsfuß. Wie die Menschen hier sogar Nudelsuppe mit Stäbchen essen konnten, war ihr ein Rätsel.

„Dito.“, Colt ließ seine Stäbchen in die Essensschale fallen. Jetzt hatte er eine gute halbe Stunde hinein gefuttert, was das Werkzeug hergegeben hatte und er war immer noch hungrig. Es war zum Verzweifeln. Resignierend gestand er Ai: „Ich weiß nicht, wie oft er schon versucht hat, uns das beizubringen…“

Fireball schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Seit sie zu essen angefangen hatten, war er schweigend am Tisch gesessen und hatte sich alle Quer- und Tiefschläge gefallen lassen. Zwischendurch hatten sich die vier über ihn unterhalten, als wäre er nicht anwesend. Colt hatte es mit Absicht getan, das wusste der Rennfahrer. Nun aber hatte er keinen Kopf mehr dafür. Er hatte genug gelitten, hatte seine Pflicht getan. Ohne aufzusehen, ging er aus dem Wohnzimmer: „Ihr entschuldigt mich?“

Schnell stand auch Ai auf: „Wie wär’s mit Nachtisch?“

Eine Süßigkeit zum Abschluss eines guten Essens hatte immer Platz. Nachdem die vier auf Ramrod immer nur sporadisch aßen und sich mit dem Kochen keine große Mühe machten, war Nachtisch etwas richtig Seltsames. Es kam derart selten auf den Tisch, dass alle drei Ai begeistert zunickten. Gut erzogen stand nun auch Saber vom Tisch auf und half Ai, das gebrauchte Geschirr in die Küche zu tragen.
 

Der Schotte stellte das Geschirr auf die Spüle und betrachtete Ai einen Augenblick, die mit dem Kopf im Kühlschrank verschwunden war und allerhand Zutaten für das Dessert zusammen suchte. Auch, wenn er Fireballs Verhalten nicht gut heißen konnte, hatte Saber doch das Gefühl, bei seiner Mutter um Verständnis bitten zu müssen. Sie war immerhin von Fireball beleidigt und gedemütigt worden. Er konnte sich vorstellen, wie tief die Gram darüber wohl in Ai saß. Und für Saber gab es nur eine rationale Erklärung dafür. Einfühlsam begann er: „Fireball ist ein katastrophaler Dickschädel.“

Ohne sich zu Saber umzudrehen deutete Ai zum Küchenfenster hinüber, das im Dunkeln lag. Es war lieb gemeint von Saber, aber offenbar hatte er gedacht, sie beide wären allein in der Küche. Fireball stand am Küchenfenster und spähte in den Abend hinaus. Sie hätte ihn beim Eintreten selbst beinahe nicht gesehen, aber er stand dort im hintersten Winkel der Küche. Sie verkniff sich ein Lächeln, denn still war sie dankbar für Sabers Hilfe. Die dunkle Frau mochte den Schotten. Er war hilfsbereit und, das hatte sie am Morgen schon bemerkt, sofort zur Stelle, wenn man ihn brauchte.

Die aufmerksamen Augen folgten der Richtung, in die Ai gedeutet hatte, bis sie zum Fenster kamen. Hoppla, da stand noch jemand. Und es war der angesprochene Dickschädel, stützte sich mit den Armen am Fensterbrett ab und ließ den Blick über die Straßen unter sich gleiten. Nun war der Recke fehl am Platz. Schnell entschied er sich, Mutter und Sohn alleine zu lassen. Er suchte eine plausible Erklärung, als er die Küche verließ: „Ähm, ich sollte Colt und April wohl noch mit ihrem Essen helfen.“

Unglaublich, aber wahr. Saber hatte ein Fettnäpfchen erster Güte erwischt. Normalerweise war der Schotte taktvoll und überlegt, den Rennfahrer in der Ecke hatte er fahrlässig übersehen. Nun suchte er das Weite und hoffte, dass Fireball seinen Freunden davon nichts erzählte. Ansonsten würde Colt ihn damit ein Leben lang aufziehen.

„Hilfst du mir?“, es war weniger eine Bitte als eine Anweisung von Ai. Die beiden waren die nächsten paar Minuten bestimmt alleine, Saber würde ihnen schon die Zeit verschaffen, die sie brauchten. Inzwischen war der gröbste Ärger bei Ai verflogen. Doch die distanzierte Haltung war geblieben.

Die beiden standen sich im Augenblick so nahe, wie völlig Fremde. Von einer Familie war nichts zu sehen oder zu spüren. Ein unbehagliches Gefühl, wie Ai sich eingestand. Aber es kam nicht von ungefähr. Schon damals, als es um den Vertrag mit dem Autohersteller gegangen war, hatte sich etwas zwischen sie geschoben. Der Bruch war vor Jahren schon gekommen. Seine Heimkehr schien es nicht wieder gut zu machen, oder wenigstens wieder zu verbessern.

Fireball trat hinter seine Mutter und riskierte ebenfalls einen Blick in den Kühlschrank. Einsilbig fragte er: „Wobei?“

Ais Sohn konnte immer noch nicht über seinen Schatten springen. Er hatte die Ahnung, seine Mutter würde es nie verstehen, wenn er nun klein bei gab. Irgendwie fürchtete er sich davor, sie könnte ihn dann noch stärker in das Vermächtnis seines Vaters drängen. Das wollte er unter allen Umständen vermeiden, denn er sah sich nicht als Wiedergeburt des großen Captain Hikari. Er war dessen Sohn, nicht mehr und auch nicht weniger. Fireball war klar, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, aber eins zu eins ließ sich der Captain bestimmt nicht auf ihn umlegen. Das war unmöglich und nur ein Wunschdenken von Ai.

Ohne sich umzudrehen, reichte Ai ihm die Eier nach hinten. Sie erklärte unterkühlt und ohne Gefühlsregung: „Nachtisch. Es gibt gebackene Bananen.“

Die wortkarge Art und Weise genügte Ai um zu wissen, wie tief der Keil wirklich steckte. Auch, wenn sie ihr Kind fast schon drei Jahre nicht mehr gesehen hatte, so wusste sie doch, wie es tickte. Sie wusste es deshalb, weil sie alles kannte. Shinji war Ais Jugendliebe gewesen, sie hatten sich sehr früh schon kennen gelernt, mit sechzehn, und waren ein Leben lang ein Paar geblieben. Ein Leben lang. Ai schloss die Augen. Es war ein kurzes gemeinsames Leben gewesen. Shinji war viel zu früh hinter den Berg gegangen und hatte sie allein gelassen. Sie hatten gute, wie schlechte Zeiten zusammen, das war in jeder Beziehung so. Jeder, der behauptete, bei ihm wäre es anders, der log. Ai glaubte fest daran, dass die Seele ihres Mannes weiterlebte. Nein, sie wusste es, sie spürte es. Ihr Mann war immer noch bei ihr, in Gestalt ihres gemeinsamen Kindes.

Wortlos nahm Fireball den Karton mit den Hühnereiern entgegen und stellte ihn auf die Anrichte. Danach öffnete er einen Küchenschrank, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte auf die oberste Ablage. Für gewöhnlich stand der Honig dort oben. Verzagt schob er einige Lebensmittel zur Seite, bis das Objekt der Begierde endlich zum Vorschein kam. Der zähflüssige Brotaufstrich fand seinen Platz neben den Eiern. Immer noch schwieg Fireball. Er wusste nicht recht, was er mit seiner Mutter reden sollte, er fühlte sich auch nicht wirklich danach. Es war klar, dass Ai nach den Erlebnissen im Oberkommando fragen würde, wenn er den Mund aufmachte. Seine Freunde hatten ja genug Indizien diesbezüglich gestreut um Ais Interesse zu wecken. Während Ai begann, den Teig zuzubereiten, suchte der Spross nach einer Pfanne um sie auf den Herd zu stellen. Beide agierten wie ein eingespieltes Team, wussten auch ohne Worte, was zu tun war.

Aber das Schweigen hatte auch etwas kaltes, unnahbares. Ai fühlte sich nicht wohl, und mit jeder Minute, die sie ihr Sohn anschwieg, wurde ihr unwohler. Würde er die restlichen Tage, die er noch zu Besuch war, auch schweigen? Die Asiatin versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie scheinbar unbekümmert fragte: „Wann dieser Tage hast du dein Schweigegelübde abgelegt?“

Fireball goss Sojaöl in die Pfanne und heizte die Herdplatte an. Unbeteiligt kam die Antwort: „Seit alles, was ich sage, als Blödsinn abgetan wird.“

Bitterkeit schwang in Ais Stimme mit: „Nachdem alles, was du tust, darauf schließen lässt.“

Zuerst war er Rennfahrer geworden und nun auch noch Star Sheriff. In Ais Augen gab es keine größere Torheit mehr als diese. Mit Leidenschaft suchte sich Fireball das größte Himmelfahrtskommando aus, das es geben konnte. Sicherlich, er arbeitete für den Frieden und die Gerechtigkeit im Neuen Grenzland, aber diese Arbeit war gefährlich und heimtückisch. Ai bestand auf ihr Recht als Mutter, sich um ihren Spross sorgen zu dürfen. Nichts würde ihre Bedenken zerstreuen.

Ruppig legte Fireball ein Brett auf die Arbeitsfläche und griff bestimmt nach den Bananen aus dem Obstkorb, der auf dem Küchentisch stand. Während er die Früchte schälte, grummelte er: „Ich bin nicht mein Vater, Ai. Du kannst mich nicht für seine Fehler strafen.“

Das war doch mal eine Aussage mit handfesten Argumenten. Der Sohn des Captains sprach offen an, was ihn störte. Nun gut, ganz so offen, wie es hätte sein sollen, war es nicht, denn eigentlich hatte Shinji Hikari in Fireballs Augen keine Fehler gemacht. Er war für das eingetreten, woran er geglaubt hatte, er hatte nicht ahnen können, dass er Vater wurde, als er im Königreich Jarr gegen die Outrider gekämpft hatte. Es war weder die Schuld seines Vaters noch seine eigene. Ein bisschen was von seinen Eltern steckte in jedem Kind, warum wollte Ai das nicht einsehen? Mit blitzenden Augen öffnete er die Schublade und holte ein Küchenmesser heraus.

Ai rührte den Teig fester: „Das tu ich nicht. Ich kann dich nicht einmal für deine eigenen Dummheiten strafen, Shinji.“

Fireballs Mutter sah stur auf die Schüssel vor sich und vermied es, in die braunen Augen ihres Sohnes zu blicken. Sie wusste auch so, dass der Kampfgeist, die Ungeduld und die Güte, die er dennoch besaß, daraus blitzten. Die Augen waren das Fenster zur Seele hieß es. In diesem Fall waren sie für Ai aber auch ein Fenster in die Vergangenheit. Ai las immer wieder darin, wie in einem Tagebuch. Selbst in der größten Wut strahlten Fireballs Augen noch und erzählten ihr von den Zeiten, in denen Frieden herrschte und sie eine glückliche Familie gewesen waren. Sie erzählten von der Zeit, die sie mit Shinji hatte verbringen dürfen.

Wenig zärtlich landete das Messer auf dem Brett. Dummheiten! Frustriert schnaubte Fireball. War es wirklich eine Dummheit, den Menschen helfen zu wollen und ihnen ein sicheres Leben garantieren zu wollen? War es denn eine Dummheit, für den Frieden zu kämpfen? Wenn ja, dann war er gerne ein Dummkopf, denn er tat es mit ganzem Herzen. Er liebte seine neue Aufgabe, war gerne mit seinen Freunden im All unterwegs und beschützte die Schwachen. Was zum Teufel war daran falsch, wenn es sich für ihn so richtig anfühlte? Fireball konnte nichts erkennen, was daran schlecht oder gar verwerflich war.

Noch mehr Distanz baute sich zwischen Mutter und Sohn auf, mittlerweile schien eine meterdicke Mauer zwischen ihnen zu stehen. Wieder schwiegen sie sich an und machten miteinander den Nachtisch für Fireballs Freunde. Dem Rennfahrer kochte das Blut in den Adern, ihm war bewusst, dass ihm nicht nur wegen der Hitze, die der Gasherd von sich gab, warm war. Er spürte ganz deutlich, wie sich seine Gedanken wieder wie eine Spirale hochzuschrauben begannen und er mit jedem Atemzug wütender wurde. Bei jedem anderen hätte ein tiefer Atemzug genügt, um sich wieder zu beruhigen, doch bei Fireball war das nicht so. Mit jedem Mal, das er bewusst ein- und ausatmete, beschleunigte sich sein Herzschlag. Er war wütend und verfluchte an diesem Tag schon das zweite Mal, überhaupt nach Tokio zu seiner Mutter gekommen zu sein. Es hätte ihm klar sein müssen, dass sie dort weitermachte, wo sie bei ihrer letzten Diskussion über den Vertrag aufgehört hatte. Aber er war nicht sein Vater. Er war es nicht, zum Henker noch eins!

Ai hielt dieses Schweigen nicht lange durch. Es gab so vieles, über das sie mit ihrem Sohn sprechen wollte und auch musste. Seine Freunde hatten beim Abendessen einen kleinen Einblick in das Leben eines Star Sheriffs gewährt und es schien noch gefährlicher geworden zu sein, als zu Shinjis Zeiten. Wie viel Glück Fireball dabei zu haben schien, war zwar erfreulich, aber was war, wenn ihn dieses Glück eines Tages verließ? Sie würde Shinji wieder verlieren. Der Gedanke daran zerriss ihr das Herz in der Brust. Zittrig legte sie den Schneebesen zur Seite und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Ihre Augen schloss sie, als sie mit gesenktem Kopf versicherte: „Du bringst dich noch um.“

Entsetzt fuhr Fireball herum. Was redete sie da für absurdes Zeug? Bestimmt, unbeherrscht und vor allem laut fuhr er Ai an: „Woher willst du das wissen? Verflucht, Ai! Ich bin nicht wie mein Vater. Dad kommt nicht wieder, nie wieder! Will dir das nicht in den Kopf?“

Erschrocken fuhr Ai zusammen. Sie ließ zitternd das Geschirrtuch fallen und lief aus der Küche. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie die Zimmertür hinter sich schloss. Hastig umrundete sie ihr Bett und griff nach einem Bilderrahmen auf ihrem Nachttischchen. Ai betrachtete das Foto durch den Tränenschleier. Es war ihr Mann. Bekümmert flüsterte sie: „Warum nur wirst du dich niemals ändern, Shinji?“

Egal in welchem Leben, Shinji war mit knapp zwanzig Jahren in seiner schlimmsten Phase. Ihm war es nicht bewusst, aber alle um ihn herum litten, wenn er seine Gefühle wieder nicht unter Kontrolle hatte. Das war damals so gewesen, so war es auch heute. Heulend sank Ai auf das Bett, das Bild immer noch fest in ihren Händen.

Überspannt stieß Fireball die Pfanne von der Flamme und schaltete den Herd ab. Herzhaft fluchte er, als er Ai nachging: „Verdammt noch mal!“

Ohne zu klopfen trat er in Ais Zimmer und blieb in der offenen Tür stehen. Er lehnte sich an den Türstock. Fireball war leise gewesen, Ai hatte ihn nicht kommen gehört. Minutenlang stand er dort, verschränkte die Arme vor der Brust und überkreuzte die Beine. Der Japaner beobachtete, wie seine Mutter still in sich hinein weinte. Schlagartig war die Wut in ihm vergangen. Er beneidete seine Mutter nicht, sie tat ihm leid. Er hatte von klein auf gewusst, dass sie ihren Mann vermisste. Dennoch durfte sie das, was sie mit seinem Vater verloren hatte, nicht auf ihn projizieren. Es war ihm gegenüber nicht fair. Fireball konnte die Lücke nicht füllen, die der Captain hinterlassen hatte. Dazu war er nicht in der Lage. Betreten senkte Fireball den Blick und flüsterte, als er sich dem Raum abwandte: „Vater ist tot, seit fast zwanzig Jahren schon, Ai. Er wird nie wieder zurückkommen.“
 

Saber folgte dem Rennfahrer nach einer Weile. Eigentlich hatte das Abendessen doch einen positiven Verlauf genommen, weshalb das Gespräch zwischen Fireball und seiner Mutter letztendlich wieder gekippt war, war Saber mehr als nur unverständlich. Aber eines war sicher. Der Wirbelwind war einmal mehr ungehobelt mit Ai umgesprungen. Saber kam nicht dahinter, wie Fireball nur auf die Idee kam, so etwas zu seiner Mutter zu sagen. Ihm war durchaus aufgefallen, dass es kein gewöhnliches Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war, aber trotzdem. In letzter Instanz stand für den Schotten fest, dass man mit seinen Eltern angemessen umzugehen hatte, auch, wenn man – so wie Fireball und Ai offenbar – gleichberechtigt nebeneinander her lebte. In seinen Augen hatte sich der Pilot unverantwortlich verhalten. Das Desaster hatte beim Frühstück schon seinen Anfang genommen, als Ai erfahren hatte, dass ihr Junge bei den Star Sheriffs sein Brot verdiente. Das Ganze hatte innerhalb kürzester Zeit einen bombastischen Ärger heraufbeschworen, zwischen allen Beteiligten. Bis zum Abendessen war der erste Frust Gott sei Dank wieder abgeflacht gewesen und während des Essens hatte Saber sogar das Gefühl gehabt, alles wäre wieder im grünen Bereich. Aber zwischen Hauptgang und Dessert musste was entsetzlich daneben gegangen sein. Türen waren schwungvoll zugeflogen und es war geflucht worden, wie selten. Obwohl Saber kein einziges Wort des japanischen Kauderwelsches verstanden hatte, traute er sich seinen Säbel darauf verwetten, dass Fireball seine Mutter sehr verletzt hatte.

Saber stand vor der Garagentür und atmete tief durch. Er musste sich selbst etwas beruhigen, bevor er mit Fireball sprechen konnte. Er fühlte sich dazu verpflichtet, seinem Piloten ins Gewissen zu reden, alles andere hätte seine Erziehung ohnehin nicht gelten lassen. Aber er wollte ihn auch nicht unnötig anfauchen. Nach einem weiteren tiefen Atemzug straffte Saber die Schultern und klopfte. Da keine Antwort kam, öffnete er die Tür und schlich in die Garage. Hm, niemand zu sehen, aber der Wagen stand da und es brannte Licht. War Fireball am Ende zu Fuß gegangen? Ruhig fragte Saber in den Raum: „Fireball?“

Ein dumpfes Geräusch ertönte. Anschließend fiel ein Schraubenschlüssel scheppernd auf den Boden und Saber konnte Fireball zumindest akustisch wahrnehmen: „Au, scheiße! Keiner da, verdammt.“

Der Gebrauch von Schimpfwörtern hatte bei Fireball inflationär zugenommen, seit sie in Tokio angekommen waren. Dabei waren sie noch keine vierundzwanzig Stunden im Land. Eine bestürzende wie erschreckende Entwicklung, wie Saber festhielt. Das musste er dem Japaner gleich wieder austreiben, nicht dass er diesen Sprachgebrauch auch auf Ramrod beibehielt. Nicht mehr ganz so freundlich, wie Saber es sich vorgenommen hatte, konterte er: „Ja, das Gefühl hab ich auch. Bei dir ist zur Zeit nicht einmal mehr der Vogel heimisch.“

Saber konnte beobachten, wie der Rennfahrer sich unter dem Wagen hervorschob und aufstand. Der junge Hitzkopf rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Offenbar hatte Saber ihn erschreckt und er war mit dem Kopf gegen irgendwas gestoßen. Saber war ansonsten nicht der Mensch, der übertrieben viel Schadenfreude empfand, aber bei Fireball hatte er das Gefühl, er konnte es sich leisten. Innerlich schmunzelnd pries er den Paradespruch seiner Eltern an: ‚Wer nicht hören will, muss fühlen.‘ Es war nicht angebracht, es laut zu sagen, sich seinen Teil allerdings zu denken, genügte Saber in diesem Fall mehr als vollkommen.

Mit voller Wucht knallte Fireball die Motorhaube zu. Er hatte alleine sein wollen, niemanden mehr sehen und keine halbe Stunde später stand wieder einer bei ihm und versuchte ihn zu maßregeln. Fireball hatte die Schnauze gestrichen voll. Vor allem, weil es ausgerechnet Saber war, der ihn jetzt ins Gebet nehmen wollte. Der Sohn wohlhabender Eltern, die beide noch am Leben waren und ihrem Kind ganz sicher nichts vom buddhistischen Glauben beigebracht hatten. In diesem Augenblick war Fireballs letzte Bastion gefallen, nun hatte er nicht einmal mehr in der Garage seine heilige Ruhe. Sabers Kommentar war lediglich der viel zitierte letzte Tropfen im ohnehin vollen Fass. Giftig bemerkte Fireball: „Solang’s nicht zieht…“

„So vehement, wie du auf Durchzug stellst, wage ich das zu bezweifeln.“, Saber verschränkte die Arme vor der Brust und sah Fireball abschätzend dabei zu, wie der sich zur Werkbank drehte und den Schraubenschlüssel, auch lauter als üblich, dorthin schmiss. Ramrods Pilot war ohnehin schon sauer, Saber brauchte ihn nicht mehr mit Samthandschuhen anzufassen. Deshalb erklärte er undiplomatisch und ohne schöne Umschreibungen: „Wie kommst du eigentlich dazu, so mit deiner Mutter umzugehen?“

„Und wie kommst du dazu, darüber zu urteilen?!“, Fireball funkelte seinen Boss über die Schulter hinweg an. Fantastisch! Saber ergriff ohne zu zögern Partei für seine Mutter. Fireball stand auf verlorenem Posten, eindeutig. Und das auch noch ziemlich alleine, denn weder April noch Colt würden seine Auffassung teilen. Fireballs Blut begann zu kochen und er ärgerte sich, seine Freunde überhaupt mitgenommen zu haben. Bisher hatte ihm das nichts als Zoff und Streit eingebracht. Hätte Fireball seit seiner Ankunft auch nur irgendwas so steuern können, wie er es gewollt hätte, dann wüsste seine Mutter nicht, dass er Star Sheriff war oder dass er von anderen, für ihn damals, fremden Menschen mehr über seinen Vater erfahren hatte, als die letzten sechzehn Jahre von seiner Mutter. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er seine Mutter in dem Glauben gelassen, er wäre nach wie vor ein lebensmüder Rennfahrer. Er hätte sie schimpfen lassen und eine normale Woche mit ihr verbracht. So aber musste sich Fireball vor seiner Mutter für jede Entscheidung, die er seit dem Entschluss, Rennfahrer zu werden, gefällt hatte, rechtfertigen und bekam obendrein dauernd vor die Füße geworfen, dass er wie sein Vater enden würde. Natürlich nicht zu vergessen, seine Freunde. Die hatten seit dem Frühstück eindrucksvoll bewiesen, wie sehr sie hinter ihm standen. Fireball hatte keine Lust mehr. Am liebsten wäre er für den Rest der Woche untergetaucht und erst zur Geburtstagsfeier seiner Mutter wieder auf der Bildfläche erschienen. Aber das konnte er nicht.

Empört zog Saber die Augenbrauen nach oben. Keine sehr freundlichen Worte waren das, die er von seinem Piloten zu hören bekam. Ja, Familie war immer ein heißes Eisen, aber so siedend heiß konnte es nun auch wieder nicht sein. Der Rennfahrer regte sich völlig grundlos auf, alle anderen hätten da schon mehr Grund aus der Haut zu fahren. Saber sah Fireball kurz über die Schulter, er wischte sich die schmierigen Hände an einem Lappen ab. Anschließend glitten seine aufmerksamen, blauen Augen auf den Wagen. Sogar das Auto wurde besser behandelt als seine Mutter. Saber schmeckte das gar nicht. Am liebsten hätte er Fireball die Ohren lang gezogen oder ihn übers Knie gelegt, aber das hätte bestimmt nicht geholfen. So beschränkte sich der Schotte auf wohl bedachte und sorgsam ausgewählte Worte: „Seine Eltern hat man mit Respekt zu behandeln. Also bitte, Fireball.“

Ungehalten schnappte Fireball zurück: „Respekt ist Definitionssache.“

Das war zwar ein unumstößlicher Fakt, jedoch gab es moralisch vertretbare und allgemein gültige Verhaltensregeln im Umgang mit Menschen, die einem nahe standen. Fireball wusste das selbst nur zu gut. Aber er wollte Saber keinen Punkt gönnen und die Diskussion möglichst schnell wieder beenden. Er wollte Ruhe, er wollte niemanden sehen, konnte diesen simplen Wunsch niemand verstehen?

Interessant. Saber lehnte sich mit dem Becken gegen den Kotflügel des Autos und verschränkte die Arme vor der Brust. Er funkelte Fireball abschätzend an. Streng und sicher klang seine Stimme, als er den Piloten aufforderte: „Dann definier mal.“

Fireball schnaubte genervt und drehte sich Saber zu. Er lehnte sich gegen die Werkbank und stützte die Hände dort ab. Grummelnd erklärte er seine Sicht der Dinge: „Jeder bekommt den Respekt, den er verdient. Ai behandelt mich nicht wie einen Sohn. Hat sie nie und wird sie auch nie.“

Die Sache mit dem Sohn passte für Saber nicht dazu. Er hatte nach Respekt gefragt, hatte dazu auch eine simple Erklärung bekommen. Aber der Schluss passte einfach nicht ins Bild. Gut, Ai und Fireball waren nicht das typische Mutter-Sohn-Gespann, das man sich vorstellte, aber sie waren Mutter und Sohn. Und seines Erachtens behandelte Ai den Aufrührer da vor ihm auch wie ihr Kind. Es lag also nur am Sturkopf.

Er schien von Fireball keine Antworten zu bekommen, mit denen er auch was anfangen konnte. Deshalb hakte der Highlander nach: „Und wieso hat sie deinen Respekt nicht verdient?“

Gut, zugegeben, die Frage war provokant, denn das hatte Fireball so nicht gesagt, aber Saber hatte keine Bedenken. Wie viel wütender konnte der Hitzkopf denn schon noch werden? Die obere Grenze schien er mittlerweile garantiert erreicht zu haben.

Fireballs Finger krallten sich in die Werkbank, seine Augen blitzten Saber stinksauer an. Dementsprechend klangen auch seine Worte: „Sie hat meinen Respekt. Nur anscheinend nicht die Art von Respekt, wie du dir das vorstellst, Boss.“, damit unterstrich Fireball, welches Verhältnis sie beide hatten. Ein rein dienstliches. Zumindest hätte Fireball das im Augenblick gern so gesehen, denn seinem Boss musste man nicht auf jede private Frage antworten, seinem Freund schon. An Sabers Blick konnte Fireball bereits erahnen, dass ihm diese Aussage nichts nützte, deshalb fügte er noch hinzu: „Misch dich nicht ein.“

„Mich nicht einmischen?“, höhnisch lachte Saber auf. Also, alles was recht war und was möglich war, aber das leider nicht mehr. Der Zoff war so laut gewesen, dass sich die Freunde bereits mitten drin befunden hatten, noch bevor sie etwas davon gewusst hatten. Der Rennfahrer hatte eindeutig ein Eigentor geschossen. Saber stieß sich vom Wagen ab und rieb Fireball noch einmal ruhig unter die Nase: „Das ist schwer, nachdem du uns alle heute so unsanft da mit reingezogen hast. Und so wie du sie behandelst, tut sie mir nur leid. Von Respekt kann keine Rede sein, wenn du nicht mal merkst, was sie sich für Sorgen macht.“

Was hätte Fireball auch sonst von Saber in diesem Bezug erwarten sollen? Der Japaner schüttelte den Kopf und korrigierte ohne Umschweife: „Sorgen?“, dabei zog er eine Augenbraue spöttisch nach oben: „Papperlapapp! Tu uns allen den Gefallen und schalt deine Ohren einfach auf Durchzug, wenn du uns das nächste Mal diskutieren hörst.“

Fireball hatte absolut keine Lust mehr auf das Thema. Saber hatte seinen Unmut Kund getan, Fireball hatte es über sich ergehen lassen, war dabei sogar noch relativ ruhig geblieben und nun sollte der Schwertschwinger gefälligst wieder Land zwischen sich und die Garage bringen. Vier unsympathisch lange und persönliche Debatten an einem Tag waren Ramrods Piloten einfach zu viel. Er hätte ja nicht mal eine davon haben wollen.

Saber nickte skeptisch und kratzte sich mit der rechten Hand das Kinn: „Deine Menschenkenntnis macht mich sprachlos, Fireball. Sprachlos deshalb, weil keine da ist. Merkst du denn wirklich nicht, dass ihr Geschrei nur Angst um dich ist?“

Die Enttäuschung konnte man den Worten einwandfrei entnehmen. Aber Fireball hielt sie nicht für gerecht. Was wusste Saber schon? Was von den letzten sechzehn Jahren hatte er miterlebt? Nichts. Mit einer Familie im Rücken sprach es sich leicht daher. Fireball stieß sich von der Werkbank ab und ging am Auto vorbei: „Wohl eher die Angst, die sie um meinen Vater ausgestanden hat und nicht verarbeitet hat.“

Saber hob erstaunt die Augenbrauen. Hatte der Wirbelwind doch etwas davon verstanden, was er ihm die letzten paar Minuten erklären versuchte? Es war mit Fireball nicht immer einfach, die Erfahrung hatte auch Saber schon gemacht, aber in der Haut von Ai wollte er nicht stecken. Auf solche Kinder konnte er getrost verzichten. Er verfeinerte Fireballs letzten Satz, nur um sicher zu gehen: „Inklusive der, dich auch noch zu verlieren.“

„Das, was sie in mir sieht.“, Fireball strich mit den Fingerspitzen über die Motorhaube und senkte den Kopf. Es bekümmerte ihn doch erheblich, dass Ai ihn nicht als das sah, was er wirklich war. Sie sah in ihm nur die Wiedergeburt ihres Mannes, aber nicht den eigenständigen Menschen. Kopfschüttelnd beendete Fireball den Ausflug in sein Innerstes wieder, indem er es als überflüssig abtat: „Egal. Fakt ist, dass es dich nichts angeht, Saber.“

Da Fireball den kürzeren Weg versperrte, umrundete Saber den Wagen hinten. Er tadelte den Piloten noch einmal für das Desaster dieses Tages: „Dann hättest du ein paar Dinge etwas galanter handhaben sollen, jetzt stecken wir mit drin. Ich hab nicht darum gebeten, aber so ist es. Ich hätte jedenfalls nie gedacht, dass du dich so daneben benehmen kannst.“

Es war klar gewesen, wieso nur regte es ihn nun so maßlos auf? Fireball hatte gewusst, dass es Saber nicht verstehen würde, warum denn auch? Er war nicht in dieser Situation. Der Rennfahrer fuhr zu Saber herum und keifte: „Ich kann nicht anders. Ai wird nie verstehen, dass ich nicht er bin. Ich bin es nicht.“

Da zuckte die skeptische Augenbraue auch schon wieder nach oben. Dieses Mal noch ein Stückchen weiter. Saber wurde aus Fireball im Augenblick einfach nicht schlau. Aber, und da war er sich sicher, er war nicht der einzige. Ziemlich unterkühlt hielt er fest: „Woher willst du das wissen? Dein Verständnis für sie ist scheinbar genauso gut ausgeprägt, wie dein Respekt.“

Fireball legte die Handflächen auf den kalten Lack, wenigstens seine Hände sollten Abkühlung finden. Er beharrte: „Weil ich Ai kenne. Sie glaubt, ich wäre er. Seit ich denken kann, behandelt sie mich nicht, wie ihren Sohn, sondern wie einen...“, er stockte kurz und korrigierte sich: „wie ihren Mann.“

Saber gab unbeeindruckt Konter: „Das würde dann frühestens heute beginnen, das Denken.“

Der Schotte war nicht überzeugt von Fireballs Argumenten. Dafür waren sie viel zu fadenscheinig und klangen nach allgemeinen Ausflüchten.

„Klar…“

Saber zuckte mit den Schultern. Er hatte sich eine Meinung gebildet, alles was Fireball jetzt noch vorbringen würde, war uninteressant und höchstwahrscheinlich auch belanglos. Deshalb zog es Saber vor, einen Schlussstrich zu ziehen: „So wie du dich benimmst? Welchen Eindruck soll man da sonst kriegen?“

Das war zu viel. Fireball fuhr aus der Haut: „Wohlbehütetes Kind!“, er trat mit aller Kraft gegen den Reifen. Der zu kurz geratene Japaner musste seine Wut abbauen, sonst könnte sie auch noch Saber zu spüren bekommen. Er blaffte den Freund und Kollegen an: „Wär ich so aufgewachsen, wie du, würd ich auch solche Töne spucken. Gott, ehrlich!“, völlig entnervt warf er die Hände in die Höhe, als er die Garage fluchtartig verließ: „Du hast ja keine Ahnung! Ai wollte ihren Mann und keinen kleinen Jungen, der sich an ihren Rockzipfel klammert!“

Zum Schluss hatte Saber den Rennfahrer schon nur noch gehört, aber nicht mehr gesehen. Saber neigte den Kopf und versuchte den Abgang einzuschätzen. Was meinte Fireball bloß? Hatte er etwas übersehen? Saber war sich nicht sicher, wusste aber, dass er dem Kern der Streitereien auf die Schliche gekommen war. Es ging nicht um den Beruf, nicht um die respektlose Art und Weise von Fireball, es ging viel eher um die Schwierigkeiten, die die enorme Ähnlichkeit von Vater und Sohn hervorrief. Ganz klar war der Sohn dem Vater immer ähnlicher geworden. Den Zusammenhang aber verstand Saber nicht. Einige Minuten stand er noch in der verlassenen Garage, ohne eine akkurate Antwort zu finden. Fireball hatte ihn sprichwörtlich im Regen stehen gelassen. Jetzt wusste er zwar, was das Problem war, aber wie es dazu gehörte, war ihm nicht klar.
 

Das nächste Mal würde er dankend ablehnen, das hatte sich Fireball schon am Morgen geschworen, als er mit April ins Auto gestiegen war. Egal, wo sie auch waren, jedes Mal war er derjenige, der zum Handkuss kam, wenn April bummeln gehen wollte. Gut, an diesem Vormittag war er mehr als dankbar dafür gewesen, zumindest im ersten Moment. Schließlich war einkaufen mit April immer noch das kleinere Übel.

Er verbrachte seine freie Zeit gerne mit der Blondine und im Endeffekt musste er sich eingestehen, dass irgendwie auch einkaufen dazu zählte. Da hatten wenigstens beide mal Ruhe vor Colt und seinen dämlichen Sprüchen. Nach einem gemütlichen Mittagessen in einer Running-Sushi-Bar hatten sie sich wieder ins Getümmel gestürzt.

Fasziniert beobachtete Fireball, wie April im Geschäft herumstöberte, dies und jenes aus den Regalen nahm und prüfend beäugte. Er lehnte mit verschränkten Armen auf einem Kleiderständer und schmunzelte. Der Japaner konnte sehen, wie selig April im Augenblick war. Sie konnte behaupten, was sie wollte, aber Fireball wusste, dass sie sich vor Colt immer noch zu behaupten versuchte. Neben dem Kuhhirten zeigte April äußerst ungern wunde Punkte, war niemals wirklich angreifbar. Das kostete Ramrods Navigatorin mitunter sehr viel Kraft. Und die holte sie sich beim Bummeln wieder. Weibliches Seelenheil eben.

April stand plötzlich wieder vor ihm, er hatte sie die ganze Zeit über so gedankenverloren beobachtet, dass er nichts mehr mitbekommen hatte. Sie hielt ihm ein Top vor die Augen: „Gefällt dir das?“

Mit zusammen gezogenen Augenbrauen erhob sich Fireball aus seiner Position. Er musterte das Top und anschließend April. Nicht übertrieben begeistert schüttelte er den Kopf. Er war kein guter Modeberater, dennoch verließ sich April mit Vorliebe auf sein Urteil. Schweigend griff er nach dem Top in Mintgrün und hängte es dorthin zurück, von wo es April hatte. Leicht lächelnd kam er zu April zurück, mit einem ähnlichen Shirt, allerdings in einer anderen Farbe. Er hielt es April an den Oberkörper und nickte: „Sollte dir besser stehen.“

Die Blondine lugte an sich hinab und nickte. Sofort suchte sie mit dem Fundstück eine Umkleidekabine auf und probierte es an. April genoss diese wenigen Stunden, die sie mit Fireball alleine hatte, ungemein. Er war ein guter Freund, ein spitzen Modeberater, zumindest wenn er sich dann endlich in sein Schicksal gefügt hatte, und allem voran war seine Gesellschaft entspannend für April. Sie fühlte sich so unglaublich wohl bei ihm.

„Probier das mal dazu an.“, schon hing ein weißer Rock an der Innenseite der Kabinentür. Lachend schüttelte April den Kopf. Sie musste gerade daran denken, wie das wohl für andere Leute aussehen musste. Aber, und das war für April sofort klar, das war ihr ziemlich egal. Fireball und sie waren gute Freunde und die Routine beim Shoppen holte auch sie ab und an ein. Sogar die Größe war die Richtige. Okay, April wurde rot, von nun an war es unheimlich. Als der Rock dann auch noch perfekt zu dem Shirt passte, war für April klar: der Mann hatte Geschmack.

Fireball stand gerade in einer Schar Halbstarker, die alle zu ihm aufsahen, als April wieder aus der Umkleide kam. Ruhig verharrte sie etwas abseits der Szene und verfolgte was geschah. Er schrieb geduldig Autogramme, scherzte mit den Jugendlichen und lachte. Entmutigt verschränkte April die Arme vor der Brust. Er war wie ausgewechselt. Weshalb nur konnte Fireball zuhause nicht so lächeln? April war sich sicher, dieses erfüllende und gewinnende Lächeln, mit dem er jedes Herz im Sturm eroberte, kannte Ai nicht. Sie verstand es ganz einfach nicht. Was war es, was Ai und Fireball derart aufrieb? Die Blondine konnte sich keinen Reim darauf machen. Natürlich, es war nicht einfach, mit nur einem Elternteil aufzuwachsen, doch Ai hatte sich die größte Mühe gegeben. In der Hinsicht verhielt sich der Rennfahrer einfach nicht fair Ai gegenüber. Wieder glitten ihre blauen Augen über Fireball. In seinem Heimatland schienen ihn die Leute zu kennen, vor allem die jüngere Generation.

Fireball deutete mit dem Finger in Aprils Richtung und lachte freundlich auf, er hatte einem kleinen Mädchen gerade erklärt, weshalb er in diesem Geschäft war. Mit einer freundlichen Handbewegung wank er April zu sich, seine warmen, braunen Augen strahlten sie in diesem Augenblick herzlich an. Ertappt griff April fester um ihre Beute. Steif nickte sie und ging zu der Schar hinüber. Fireball legte einen Arm um sie und stellte sie den Jugendlichen auf Japanisch vor. April hob leicht lächelnd die Hand und grüßte stumm. Nach ein paar weiteren Worten verschwand die Bande laut lachend wieder.

Während Fireball April kurz erklärte, was das zu bedeuten hatte, ging April weiter durch die Abteilungen. Sie hörte ihm aufmerksam zu, suchte jedoch immer noch nach Klamotten. Ihre Gedanken wurden wieder ernster, die Entspannung hatte nicht lange gehalten. Und das alles nur wegen seines Lächelns. In der Gegenwart seiner Mutter war Fireball ein völlig anderer Mensch, nur verstand April das nicht. Es ging ihr nicht in ihren wunderhübschen Kopf.

April hielt Fireball ein Kleid hoch: „Wie gefällt dir das?“

Die Begeisterung hielt sich in Grenzen. Alles gefiel dem Rennfahrer nicht, schon gar nicht an April. Einer asiatischen Frau mochten bunte Kleider stehen, aber April war eher für unifarbene Kleidung gemacht. Er nahm ihr kopfschüttelnd das Kleid weg und gab ihr stattdessen ein schlichtes schwarzes: „Das ist eher was für dich.“

„Steht eine Beerdigung an?“, skeptisch nahm April das schwarze Kleid entgegen. Also, das war ihr persönlich zu schlicht. Nein, auf keinen Fall. Da musste wirklich jemand sterben, um sie in dieses Kleid zu bringen. Ohne weiteren Kommentar hängte April das Kleid zurück.

Ergeben seufzte Fireball und hielt ihr kurz darauf ein dunkelrotes hin: „Besser so?“

Vorhin hatte das so gut hingehauen, nun aber schien Fireball keine rechte Lust mehr zu haben. Irgendwann war es mit dem geduldigsten Begleiter vorbei, wie April feststellte. So schnell würde sie ihn allerdings nicht entlassen. Erstens, weil Fireball ihr schon seit Monaten versprochen hatte, mit ihr bummeln zu gehen und zweitens, weil sie ungestört waren und der Blondine das seltsame Schauspiel im Hause Hikari nicht aus dem Kopf ging. Gerade eben war ihr wieder eingefallen, was Saber ihr nach dem Frühstück noch erzählt hatte. Ein Blick auf den Piloten verriet April, dass Saber mit seiner Vermutung nicht so Unrecht hatte. Da lag ein Hund begraben, der belastete sowohl Mutter als auch Sohn. Vielleicht konnte sie Licht ins Dunkel bringen.

„Da fehlt was.“, unsicher zupfte April an dem Kleid.

Fireball verdrehte währenddessen die Augen und brummte: „Ja, und zwar gleich meine Nerven, wenn du so weiter machst, Süße.“

April zog am Saum des Kleides und prüfte es immer noch. Nein, das war es nicht. Egal, wie oft sie es noch drehen und wenden würde, davon würde es ihr nicht besser gefallen. Außerdem brauchte sie einen Aufhänger, um mit Fireball über seine Mutter reden zu können. Ohne es zu wissen, lieferte ihr der Rennfahrer auch gleich einen guten Grund. Aufgrund des Schnittes war sie skeptisch geworden, das Kleid schien mehr ein Zirkuszelt als ein Kleidungsstück zu sein, deswegen griff sie nach dem Etikett am Rücken und beäugte dieses. Gespielt empört drückte sie Fireball das Kleid wieder in die Hände: „Wohl eher der Chinesische Nationalzirkus.“

Verständnislos schüttelte Fireball daraufhin den Kopf. Wovon sprach die Blondine da nur? Er hängte das dunkelrote Kleid zurück und versuchte, die Freundin ein bisschen auf den Arm zu nehmen: „Baby, du bist hier in Japan. China ist über den Teich rüber.“, dabei deutete Fireball ungefähr in die Himmelsrichtung, in der das große Nachbarland lag.

Mit einem kleinen, giftigen Blick erklärte April Fireball schließlich: „Ja, so groß ist es, das Kleid, dass China auch noch locker reinpasst. Größe 56! Seh ich so fett aus?“

Da hatte der kleine Japaner einen Fettnapf erwischt, ohne es überhaupt zu wissen. Aber er nahm es mit Humor. Immerhin schien April deswegen schon eingeschnappt zu sein, ob er jetzt noch einen Scherz auf ihre Kosten machte, spielte keine große Rolle mehr. Frech grinsend packte er sie und kniff ihr in die Seiten: „Was nicht ist, kann ja noch werden. Was du alles in dich reinstopfst. Wundern würd’s mich nicht.“

Als ob sie eine solche Reaktion bestellt hätte. Innerlich triumphierend notierte sich April, dass Männer eben doch leicht zu durchschauen waren und bis zu einem gewissen Grad auch noch berechenbar. Sie hätte diese Antwort immer von Fireball erwartet. Er zog sie schließlich immer damit auf. So, wie sie ihn manchmal auch damit piesackte, was er für Mengen Süßkram verdrückte. Während sie ihn nach einem Kleid in Größe 34 schickte, ballte sie theatralisch ihre rechte Hand zur Faust und streckte sie ihm entgegen: „Ich kann dir auch eine Beule verpassen, die ihre eigene Postleitzahl kriegt!“, mit einem enttäuschten Unterton hielt sie fest: „Von Frauen hast du keine Ahnung.“

„Stimmt.“, kam die unbeteiligte Antwort zurück. Dabei zuckte Fireball mit den Schultern. So weit war er in all den Jahren schon selbst zur Erkenntnis gelangt, dass er von Frauen nicht mal den Hauch einer Ahnung hatte. Wie denn auch? Immerhin, und das hielt er April gleich unter die Nase: „Hab ja auch keine Frau.“

Unerhört war das. April fragte sich augenblicklich, wie Fireball es schaffte, die Herzen der stolzesten Frauen zu brechen, wenn er noch nicht mal gesteigerten Wert auf ihre Bekanntschaften legte? Der kurz geratene Pilot blieb ihr wohl immer ein Rätsel. Gedanklich korrigierte sich April sofort. Die Frauen, die Fireball anziehend fanden, würden ihr für immer ein Rätsel bleiben. Noch dazu, weil es nicht wenige waren. Zumindest aber hatte sie Fireball unwissentlich in die richtige Richtung gelotst. Alles andere war für April nur noch eine Frage mit Bedacht gewählter Worte. Kopfschüttelnd und leicht amüsiert wandte sich April um. Sie huschte in die Accessoiresabteilung, während sie Fireball anmeckerte: „Und was ist deine Mutter? Ein Huhn?“

Seufzend folgte der Rennfahrer seiner Kollegin, in dem Getümmel wollte er sie auf keinen Fall verlieren. Dann konnte er sie überall suchen und würde sie doch nirgends mehr finden. Darauf hatte er keine Lust. Er blieb neben ihr stehen und beobachtete sie, wie sie nach Ohrringen suchte. Dabei erklärte er ihr entschieden: „Ai hat Sonderstatus.“

April nickte verstehend: „Weil sie deine Mutter ist, schon klar.“

Nachdem sie von Fireball nur gebrummte Zustimmung erhielt, spielte April ihren Trumpf aus. Sie wusste, wie sie den Piloten zu den Antworten brachte, die sie hören wollte. Sofort senkte sie den Blick etwas traurig und murmelte: „Das haben wohl alle Mütter, dafür sind sie es schließlich. Meine ist… war es ja auch.“

Oh, sie konnte ein richtig fieses kleines Miststück sein. April linste mit großen blauen Augen kurz zu Fireball auf und beobachtete seine Reaktion. Die verlief wie erhofft. Fireball schloss etwas zu ihr auf und sein Tonfall verriet ihr, dass er sich um sie sorgte. Der Rennfahrer sprach vertraulich mit ihr: „Du vermisst sie manchmal, hm.“

Seine Stimme war warm und verständnisvoll dabei gewesen. Fireball hatte zwar irgendwie den Übergang von den Blödeleien zu den ernsteren Gesprächen verpasst, aber das machte ihm nichts. Er wusste, dass April selten über ihre Mutter sprach, umso fürsorglicher und vertraulicher behandelte er das Thema deswegen. Der Rennfahrer hing an April, nicht nur als Teamkollegin sondern auch als Freundin. Sie redeten selten über Dinge, die sie belasteten, doch wenn einem von beidem der Sinn danach stand, dann war er beim anderen in guten Händen. Was sie sich in solch spärlichen Minuten erzählten, würde niemals ein anderer erfahren, es blieb unter ihnen.

April nickte: „Ja. Ganz besonders in Momenten wie diesen.“

War aus ihrer Masche plötzlich Wahrheit geworden? April hielt ein paar silberne Ohrringe in Händen und starrte darauf. Sie vermisste ihre Mutter tatsächlich von Zeit zu Zeit. Und besonders fiel ihr dieses Fehlen in Momenten auf, die typische Frauengeschichten waren. Einkaufen, zusammen spazieren gehen, zusammensitzen eben. All die Sachen, die sie seit geraumer Zeit mit Fireball machte, waren Beschäftigungen, die sie im Normalfall mit ihrer Mutter oder ihrer besten Freundin getan hätte. Sie sah unsicher zu ihm auf. Vertraute sie ihm so sehr?

Behutsam legte Fireball ihr einen Arm um die Schultern und strich ihr über den Oberarm. Er drückte sie leicht an sich, als er ihr versicherte: „Du bist nicht allein, Süße.“

Er strahlte Geborgenheit aus. April würde sich nie jemanden so anvertrauen können, wie Fireball, das spürte sie tief in sich. Er war wie für sie geschaffen. Die Blondine löste sich aus seiner Umarmung. Sie hatte doch andere Pläne gehabt und wollte ihm eigentlich nicht damit in den Ohren liegen, wie sehr sie ihre Mutter manchmal vermisste. April legte die Ohrringe zurück und suchte weiter, dabei behielt sie immer auch Fireball im Auge und unterhielt sich mit ihm: „Wir sind gern so bummeln gegangen und haben solche Frauennachmittage gemacht. Aber das ist wohl überall so. Jedes Kind hat seine besonderen Zeiten mit der Mutter und dem Vater.“, sie hielt kurz inne und musterte Fireball aus den Augenwinkeln, ehe sie doch hinzufügte: „Naja, so weit vorhanden halt.“

„Hm.“, mehr kam von Fireball diesbezüglich nicht. Er hob die Schultern an und machte einen äußerst unbeteiligten Eindruck. Er wüsste nicht, was er April da erzählen sollte, denn da gab es nichts.

Erstaunt drehte sich April zu ihrem Gefährten um: „Was denn? Du etwa nicht?“

Ausweichend erklärte Fireball, bevor April das Thema noch weiter ausbreiten konnte: „Mit Vater ist es bekanntlich nicht so weit her bei mir.“

April biss sich kurz auf die Lippen. Saber hatte Recht, da lag der Hund begraben. Ohne lange zu überlegen spielte sie den Ball weiter an Fireball. So leicht kam er ihr nicht davon: „Aber du hattest doch bestimmt auch so etwas mit deiner Mutter.“

Fireball legte den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. Okay, jetzt waren sie lange genug ernst geblieben und über seine Mutter wollte er gerade nicht wirklich reden. Deshalb grinste er April schelmisch an: „Nein. Mein Shoppingtrauma hab ich von dir.“

„Meine Güte. Dass sie mit dir nicht einkaufen gegangen ist, war mir klar!“, April verdrehte genervt die Augen. Der Kerl konnte auch keine fünf Minuten ernst bleiben! Die Blondine angelte in einer Wühlkiste nach Ringen und verdeutlichte, was sie eigentlich gemeint hatte: „Eher hat sie dich auf die Go-Kart-Bahn geschleift.“

Amüsiert zog Fireball die Augenbrauen hoch: „Ai?“, als er bemerkte, dass April ihre Feststellung durchaus ernst gemeint hatte, begann er zu kichern. Seine werte Mutter hatte man niemals auch nur in der Nähe von Autos gesehen. Kopfschüttelnd erklärte Fireball: „Die ist freiwillig nicht mal in eine Werkstatt gegangen, von einer Go-Kart-Bahn ganz zu schweigen.“

Auf was für verrückte Ideen April immer kam. Fireball war erstaunt, denn die Blondine schien nicht aufgepasst zu haben. Ai hatte, seit die vier Freunde im Lande waren, mehr als einmal klar und deutlich verlautbart, was sie vom Rennfahren oder Ähnlichem hielt. Das dürfte an April vorbeigegangen sein.

„Sondern?“, fordernd stellte April die Frage. Es interessierte sie wirklich, was Fireball und seine Mutter gemeinsam unternommen hatten. Auf die Antwort von Fireball war sie nun gespannt. Aber das zeigte sie nicht.

Kurz hielt Fireball inne. Welche Momente hatte er wirklich mit seiner Mutter, die dem nahe kamen, was April wollte? Es gab nicht allzu vieles, was die beiden Japaner miteinander geteilt hatten, außer einem ziemlichen Dickschädel. Alles, was Fireball als Jugendlichen interessiert hatte, war der Mutter ein Dorn im Auge gewesen, keine zehn Pferde hätten Ai jemals nach Suzuka gebracht. Schließlich zog Fireball einen leichten Schmollmund und wurde sarkastisch: „Zum Nachsitzen.“

April sah fragend auf. Sie konnte ihre Verwunderung nicht verbergen, als sie verwirrt versuchte, ihre Gedanken zu ordnen: „Wir reden schon von Ai, deiner Mutter? Oder ist sie das nicht?“

Die Tochter des Kommandanten war gerade völlig ausgestiegen. Immerzu nannte Fireball seine Mutter beim Vornamen, bei den letzten Fragen war vehement hervorgedrungen, dass Nähe bei den beiden ein Fremdwort war. Aber April verstand das nicht. Sie hatte Ai weinen gesehen, vor Angst und Sorge um ihren einzigen Sohn. Bestimmt war er ihr niemals so egal gewesen, wie Fireball das sah. Das konnte sich April nicht vorstellen. Und noch etwas drängte sich in ihre Gedanken. Mutter und Sohn konnten sich unmöglich immer schon so behandelt haben.

Wieder nickte der Rennfahrer. Er wich einer Kundin aus, die sich an ihm vorbeidrängte. Seine Augen hafteten aber an April. Sie schien ihn nicht für voll zu nehmen. Aber wie sollte er ihr erklären, dass es nicht in jeder Familie so gesittet zugehen konnte, wie bei Commander Eagle und ihr? Das war ein hoffnungsloser Kampf.

April legte sich einen Armreif um und begutachtete ihn. Danach hob sie den Blick wieder zu Fireball. Jetzt oder nie. April fasste sich ein Herz. Sie lächelte leicht und versuchte, Fireball so zu packen: „Aber sie benimmt sich nicht wie eine, oder wie jetzt?“

Nachdem der Japaner erneut nur nickte, fuhr April fort: „Was ist sie dann? Deine Schwester? Tante?“, ihr Lächeln wurde breiter: „Geliebte?“

Leise kam es von Fireball: „Frau.“

Dabei senkte er den Blick bekümmert und stieß sich von seinem Platz ab. Es war kein schönes Gefühl, aber wenigstens hatte er bei April keinerlei Bedenken, sie würde es hinausposaunen.

Mit Verständnis war es allerdings auch bei April ziemlich weit her. Die Blondine grinste breit und hatte seine Antwort nicht ernst genommen. Spitzfindig und schlagfertig platzte es aus ihr hervor: „Wann habt ihr geheiratet?“

April hatte wirklich nicht daran geglaubt, dass Fireball das so gemeint haben könnte, wie er es gesagt hatte. Wer sagte so etwas schon im vollen Ernst? Amüsiert schüttelte April den Kopf und wandte sich wieder den Wühltischen zu.

„Vor ungefähr dreißig Jahren.“, verbittert klangen die Worte, sein Gesichtsausdruck unterstrich es noch zusätzlich. Fireball hatte die Augenbrauen nach oben gezogen, die Arme noch fester vor der Brust verschränkt als zuvor schon und er biss sich auf die Lippen. Natürlich, es klang zu komisch, was er da als Antwort ad hoc hervor gebracht hatte, aber für ihn war es eher eine Tatsache als ein Spaß.

Sofort drehte sich April wieder zu Fireball. Ungläubig starrte sie ihn an: „Du veralberst mich.“

Das war ihr wohl eine Nummer zu hoch gewesen, deswegen entschied sich Fireball, das Thema wieder unter den Teppich zu kehren. Er löste sich aus seiner steifen und verschlossenen Haltung und setzte ein kleines Lächeln auf. Entschuldigend hob er die Schultern: „Wenn du mir schon so doof kommst, Süße.“

„Pah!“, eingeschnappt riss April den Kopf in die Höhe und setzte sich in Bewegung. Veräppeln konnte sie sich auch alleine, noch dazu, wo sie es ernst gemeint hatte. Die Blondine hatte mit Fireball darüber reden wollen, was ihn und seine Mutter derart entfremdet hatte und er zog alles durch den Kakao. Eine andere Strategie musste her, wollte sie Fireball und auch Ai helfen. Und das wollte sie, alleine schon aus dem einfachen Grund, um für die restliche Zeit ihres Urlaubs wenigstens etwas Entspannung zu finden.

Schnurstraks landete April, mit ihrem Begleiter im Schlepptau, in der Abteilung für Dessous. Ungeachtet ihres Verfolgers begann April, diverse Unterwäsche zu sichten.

Doch ein wenig ängstlich, weil er befürchten musste, April zu sehr gekränkt zu haben, folgte Fireball seiner Gefährtin. Vergebens versuchte er sie wieder zu beschwichtigen: „Hey, April. Süße, jetzt hab dich halt nicht so.“

Dafür musste er jetzt schmoren. April ging weiter und landete schließlich bei den Negligees. April ließ Fireball geschlagene fünf Minuten hinter sich her trotten und ihn leiden. Ihr war gleich aufgefallen, dass es Fireball unangenehm war, in der Damenunterwäscheabteilung zu stehen. Offenbar erstens, weil er der einzige Mann dort weit und breit war und zweitens, weil April ausgerechnet bei den eher aufreizenden Kleidungsstücken verharrte. Sie betrachtete ein schwarzes Negligee eingehend, als sie sich entschied, das Schweigen zu brechen: „Ich hab dir eine simple Frage gestellt und du nimmst mich gleich so auf den Arm.“

Sie klang immer noch beleidigt, aber wenigstens sprach sie wieder mit ihm. Fireball fühlte sich in dieser Abteilung äußerst unwohl. Und das lag nicht etwa an den knappen Kleidungsstücken, sondern eher an seiner blühenden Fantasie. Seit April bei den knappen Nachthemdchen stand, glühten seine Ohren wie Feuer und er glaubte, verbrennen zu müssen. Sein inneres Auge zeigte ihm auch ohne Aufforderung, wie April in dem mit Spitzen bestickten Negligee aussah. Und das war ihm unangenehm. April war seine Kollegin, eine gute Freundin, aber eigentlich kein Mädchen, das man jemals in Unterwäsche sehen würde. Erschwerend kam hinzu, dass ihm gefallen würde, was er sich vorstellte und das durfte nicht sein.

Als April das schwarze Negligee vom Ständer zog und es sich auch noch anhielt, drehte Fireball den Kopf von April weg, er wollte sie nicht anstieren. Dafür aber bekam sie eine ehrlich gestammelte Antwort: „Okay, der Spruch mit den dreißig Jahren war ein bisschen zu viel des Guten. Aber leider genauso wenig Unsinn oder Scherz, wie das, woran Ai glaubt und festhält.“

Ganz überzeugt war April von diesem Modell nicht, deswegen griff sie nach einem ähnlichen. Auch dieses Hemdchen war schwarz, allerdings aus Satin und war an den Beinen bis knapp über die Hüften geschlitzt. Das gefiel ihr schon eher. Deswegen hielt es sich April an, während sie Fireball nach weiteren Informationen aushorchte: „Woran glaubt deine Mutter denn?“

Fireball hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr zu April hinzusehen, aber die Macht der Gewohnheit und die gute Kinderstube machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Rennfahrer suchte mit seinen Augen sofort nach April, nachdem sie ihn wieder angesprochen hatte. Was seine haselnussbraunen Augen nun zu sehen bekamen, schnürte ihm die Luft ab. Sofort kniff er die Augen zusammen, verdammt, da brauchte er nicht mehr viel Fantasie um sich vorstellen zu können, wie das Negligee weich über ihre Rundungen glitt. Nach einem tiefen Atemzug, um sich wieder zu beruhigen, gab er die gewünschte Auskunft: „Du bist mit dem Buddhismus ein wenig vertraut? Reinkarnation sagt dir was?“

April nickte leicht. Ja, sie hatte davon schon viel gelesen, immer mehr Menschen der westlichen Welt glaubten ebenfalls an die Wiedergeburt. Die Blondine war ein aufgeschlossener Mensch und hatte Interesse an allen Religionen und Weltbildern, deshalb konnte sie auch mit den Schlagworten des Japaners einiges anfangen. Allerdings fehlte ihr nun der Zusammenhang: „Aber was hat das mit dir zu tun?“

Tunlichst darauf bedacht, April nicht zu oft anzulinsen, antwortete Fireball: „Vater ist verschwunden, als sie…“, der abgebrühte Rennfahrer brachte den Gedanken nicht zu Ende. Wie sollte er auch, wenn April ihn so um den Verstand brachte? Unbeholfen begann er von neuem. Dieses Mal wählte er die einfachsten Worte, die er noch finden konnte: „Ai glaubt sehr stark daran. Es würde für sie einfach so vieles erklären und auch einfacher machen.“

Wieder nickte April, nebenbei suchte sie nach einem andersfarbigen Modell des Negligees, schwarz schien ihr zu brav. Als sie das gewünschte Stück gefunden hatte, ging sie damit zur nächsten Umkleidekabine. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, dass Fireball ihr auch in diesen privaten Momenten wie ein Schatten zur Seite stand. Während sie in der Umkleide verschwand, ließ sie sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen und versuchte das mit den anderen Informationen zu kombinieren und zu verknüpfen. Reinkarnation bedeutete Wiedergeburt oder auch Seelenwanderung. Das asiatische Volk glaubte durchaus daran und Fireball hatte es noch einmal extra betont, als er April über ihr Wissen über Buddhismus gefragt hatte. Nun war das fehlende Zwischenstück da! Die Navigatorin zog sich gerade das Shirt über den Kopf, als sie Fireball mitteilte: „Sie hält dich für die Wiedergeburt ihres Mannes.“, so erfreulich es auch war, dass sie diesem Faktum auf die Schliche gekommen war, im selben Atemzug machte es April auch traurig. Verständnisvoll fügte sie hinzu: „Wie hätte sie da jemals eine Mutter sein können?“

Der Rennfahrer lehnte neben der geschlossenen Kabinentür. Er nickte stumm. Jede Antwort war überflüssig, April hatte bereits verstanden. Wenigstens blieb ihm dieses Mal ein verwirrter Blick seines Gesprächspartners erspart, weil die Umkleidekabine zwischen den beiden stand. Saber hatte Fireball ja angesehen, als hätte er einen Außerirdischen gesehen. Aprils warme Tonlage verstärkte zusätzlich das Gefühl, sie würde es verstehen.

Da ging die Tür der Umkleidekabine auf und April wagte sich einen Schritt nach draußen. Sie trug nichts weiter als dieses dunkelrote Negligee und ihre Unterwäsche. Wie Gott sie schuf, stand sie vor Fireball, ohne jegliche Scheu oder Scham. Sie drehte sich sogar einmal im Kreis, dabei sprach sie wieder mit ihrem Modeberater: „Du hattest in dem Sinn eigentlich keine Mutter. …Und? Was sagst du?“

Fireball schlug bei diesem Anblick das Herz bis zum Hals. Hätte er bis dahin nicht gewusst, welche Perle in ihrem Team zuhause war, spätestens jetzt wäre es ihm schlagartig klar geworden. Aprils porzellanfärbige Haut war vom Scheitel bis zur Sohle ebenmäßig und glatt. Sie sah unglaublich in diesem Nichts aus. Völlig von der Rolle schüttelte er den Kopf: „Ja… nein… äh, ich mein…“, mit der letzten Selbstdisziplin wandte er die Augen von April ab, da konnte er endlich wieder einen vernünftigen Satz bilden: „Ich habe eine Frau.“

Nun wusste auch April sicher, wie sie manche Geschehnisse der letzten Tage zu werten hatte. Verständnisvoll nickte sie und gab Fireball Recht: „Eine Ehefrau namens Ai.“

Da das Problem nun gegessen war, zumindest war April nun soweit im Bilde, dass sie sich einen Reim machen konnte, galt ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kleidungsstück, das sie gerade trug. Mit geneigtem Kopf musterte sie Fireball, doch der starrte Löcher in die Luft. Gefiel es ihm, oder nicht? Noch einmal deutete sie auf das Negligee und fragte: „Also was jetzt? Sieht es zu billig aus?“

Heftiges Kopfschütteln war die schnellste Antwort. Die Worte brauchten eine Weile, bis sie in der richtigen Reihenfolge aus Fireballs Mund kamen: „N… Nein. Ist“, er schluckte das ‚heiß‘, das ihm auf der Zunge gelegen hatte, im letzten Moment hinunter und fuhr unverfänglicher fort: „hübsch.“

Gut, wie viel verfänglicher konnte diese Situation schon noch werden? Fireballs Augen glitten an April hinab, wusste sie überhaupt, was sie ihm da grade antat? Dem Rennfahrer war ganz anders geworden, seit sie in der Abteilung gelandet waren. Anständiger Gedanke war seit Minuten keiner mehr dabei gewesen, aber wahrscheinlich ging es jedem Mann da gleich. Bei so einer Kollegin konnte man doch nur auf unanständige Gedanken kommen. Noch einmal musterte er sie. Zum Schlafen alleine war das Nachthemd doch viel zu schade. Gab es da etwa jemanden, der Nacht für Nacht in den Genuss dieses Anblicks kommen sollte? Da er ohnehin keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und die Vernunft irgendwo in der letzten Abteilung abhanden gekommen war, sprach Fireball diese Gedanken laut aus: „Für wen kaufst du das, wenn man fragen darf?“

„Wer sagt, dass ich es kaufe? Ich probiere nur.“, mit einem Augenzwinkern verschwand April wieder in der Kabine. Noch während sie die Tür hinter sich schloss, wurde ihr plötzlich bewusst, was sie sich eben vor Fireball getraut hatte. Mit einem knallroten Kopf lehnte sie sich gegen die geschlossene Tür. Einmal mehr dankte sie dem lieben Herren da oben, dass weder Colt noch Saber jemals durch puren Zufall in einem solchen Laden landen würden.

Nachdenklich legte Fireball seine rechte Hand auf die Außenseite der Kabinentür. Er senkte den Kopf. Obwohl es eine Erleichterung gewesen war, mit jemanden darüber zu reden, lastete es ihm doch immer noch schwer auf dem Herzen. Denn Ai sah nicht nur die bloße Wiedergeburt von Captain Hikari in ihm, sie hatte auch eine Erwartungshaltung ihm gegenüber, die er nicht erfüllen konnte. Das überlebensgroße heroische Bild von seinem Vater schwebte über ihm, doch er konnte nicht hinein wachsen. Im Laufe der Jahre war er dahinter gekommen, dass nicht nur seine Mutter ihn ständig mit seinem Vater verglich, ihn in Fireball sah, sondern auch andere alte Bekannte von ihnen. Sie alle erlegten ihm diesen Druck auf. Schmerzlich gab er halblaut von sich: „Ich bin nicht mein Vater. In seine Fußstapfen werde ich niemals hineintreten.“

„Das musst du auch nicht.“, April hielt kurz inne und horchte in sich hinein. Instinktiv legte sie ihre Hand auf die Tür und starrte dagegen. Sie glaubte, seine Wärme dort spüren zu können. April hatte in diesem Augenblick vollstes Verständnis für Fireball.
 

Wieder umgezogen trat April aus der Umkleidekabine heraus. Sie nickte Fireball leicht zu und schlug den Weg zur Kasse ein. Der Rennfahrer hatte geduldig auf sie gewartet. Schweigsam, wie sie schnell gemerkt hatte. Die Blondine hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit einem warmen Lächeln mit sich. Sie mochte seine Nähe. Ohne darüber nachzudenken, schmiegte sie sich leicht an ihn, strich mit ihren Fingerspitzen über seinen Handrücken. Er brauchte nicht zu sein, wie sein Vater, April mochte ihn so, wie er war.

Ohne Widerworte ließ sich Fireball mitziehen, immerhin ging sie nun endlich zur Kasse und würde hoffentlich kein weiteres Geschäft mehr unsicher machen wollen. Während er auf April gewartet hatte, war er mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen. Es tat ihm weh, dass Ai nur etwas von Captain Hikari in ihm sah. Sie war weder stolz auf ihn, noch unterstützte sie ihn in seinem Tun. All das waren harte Brocken für Fireball.

Als er Aprils sanfte Berührung auf seiner Haut spürte, sah er zu ihr auf und lächelte sie warm an. Er war gerne mit ihr zusammen, auch, wenn sie ihn manchmal beinahe um den Verstand brachte. Fireball blickte in ihre großen, blauen Augen. Sie waren wundervoll.

Ihre Blicke trafen sich einen Augenblick lang. In diesem flüchtigen Moment schossen ihr Ais Worte wieder durch den Kopf: ‚Sieh ihm nicht in seine braunen Augen. Es wird dein Verderben sein.‘ Erschrocken richtete sie ihre Augen auf die Theke und legte ihre Einkäufe darauf. Es war bereits zu spät. Viel zu spät.

Während die Kassiererin die Ware einscannte, murmelte April: „Deine Mutter kennt dich wirklich gut, Fire.“

Skeptisch wich Fireball daraufhin einen Schritt von April weg. Was hatte sie da eben gesagt? Seine braunen Augen blickten in ihr Gesicht, hatte sie sich einen Scherz mit ihm erlaubt? Doch in ihrem Antlitz konnte er für diese Vermutung keine Bestätigung erkennen. April hatte es ernst gemeint. Aber wie um alles in der Welt kam sie plötzlich darauf? Er hatte doch nichts getan, zumindest war er sich keiner Schuld bewusst.

April beobachtete die Bewegungen der Kassiererin, horchte aber gespannt, ob sie von Fireball eine Antwort bekam. Aber ihre Begleitung blieb stumm. Wollte er dazu nichts sagen? Wunderte er sich nicht, in welchem Zusammenhang sie das erwähnt hatte? April zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche. Dabei blinzelte sie zu Fireball hinauf. Sie musste es ihm erklären. Schüchtern lächelnd gab sie der Verkäuferin die Kreditkarte und half Fireball auf die Sprünge: „Naja, deine Mutter hat mir erzählt, wie viel dir an Beziehungen liegt. Offenkundig hatte sie damit Recht.“

„Und wie viel liegt mir an Beziehungen?“, angespannt griff Fireball an die Kanten der Theke und lehnte sich dagegen. Was in Dreiteufelsnamen hatten Ai und April besprochen und wie waren sie auf das Gesprächsthema gekommen? Irgendwie hatte der Rennfahrer ab nun kein gutes Gefühl mehr. Viel eher kroch Angst in ihm hoch. Angst und Unsicherheit. Denn da gab es etwas, das sich Fireball nicht eingestand, jeder in seiner Umgebung jedoch erkennen konnte.

April biss sich auf die Lippen. Noch blieb sie ihm eine Antwort schuldig, sie wollte vorher noch bezahlen. Hinter ihnen standen schon etliche andere Kunden, die auch ihre Einkäufe zahlen wollten. Außerdem glaubte sie etwas in Fireballs Stimme gehört zu haben, das Argwohn und Groll zu ähneln schien. Höflich bedankte sich die Blondine bei der Verkäuferin und verließ vor Fireball das Geschäft.

Der Rennfahrer hatte das Vergnügen aufgebrummt bekommen, der Packesel vom Dienst zu sein, die Navigatorin trug nicht eine einzige Tüte. Das machte sie jedes Mal mit ihm! Zu allem Überfluss blieb sie ihm nun auch noch schon viel zu lange eine Antwort schuldig. Er wollte es wissen. Wie waren April und Ai auf dieses Gesprächsthema gekommen? Was ihn dann aber noch mehr irritierte und was er nicht verstand, war Aprils Meinung zu der Diskussion. Sie hatte ihm bis dato ja weder eine vernünftige Antwort noch ihre Gedanken dazu gegeben. Es verunsicherte den Rennfahrer enorm.

Endlich, die beiden waren wieder im Freien angekommen. Hier, im Eingangsbereich war erstaunlicherweise nicht viel los. April blieb stehen und sah sich um. Andere Länder, andere Sitten, das wurde auch hier wieder deutlich. Zwischen Parkplätzen und Einkaufszentrum war ein langer, mit Pflastersteinen ausgelegter Weg, angelegt worden, dazwischen Grünflächen mit Sträuchern und kleinen Zierbäumchen. Der Wind fuhr durch die Blätter der Büsche und drehte und wendete sie, wie es ihm grade gefiel. Tat der Rennfahrer das auch? Spielte er mit Frauen wie der Wind mit den Blättern? April drehte sich zu ihrem Begleiter um. Sie blinzelte ihn aufmerksam an, beobachtete jeder seiner Bewegungen. Seit sie in seine dunklen, warmen Augen gesehen hatte, gingen ihr die Worte von Ai nicht mehr aus dem Kopf. Hatte Ai tatsächlich in dieser kurzen Zeit mehr bemerken können, als es ihr über die Jahre hinweg aufgefallen war? April sah sich Fireball gegenüber. Nichts hatte sich seit ihren Anfängen geändert. Immer noch nahm sie ihn am liebsten zum Einkaufen mit. Er war da, schien zu spüren, wann sie Trost und Zuspruch brauchte oder wenn sie Halt benötigte. Fireball war ihr ständiger Begleiter, ihr Beschützer, ihr bester Freund und ihr engster Vertrauter. April erschrak über ihre eigenen Gedanken, denn neben diesen freundschaftlichen Eigenschaften, war ihr auch durch den Kopf geschossen, dass sie mehr wollte, als das. Eigentlich wollte April nicht nur einen Vertrauten, einen Freund, sie wollte ihr Leben an seiner Seite verbringen.

Fireball war ganz froh über den Wind, der ihm im Freien um die Ohren wehte. Im Kaufhaus war es elendig heiß gewesen, sich mit all den Taschen und Tüten bepackt raus zu bugsieren war schweißtreibende Arbeit. Dagegen war es für den Rennfahrer der reinste Urlaub, wenn er Jesse Blue die Hölle heiß machen konnte. April hatte tatsächlich noch auf ihn gewartet und war nicht zum Wagen vorgelaufen. Wie anständig von der Blondine. Fireball schmunzelte leicht, neigte den Kopf in Richtung ihres fahrbaren Untersatzes und spazierte neben April dorthin. Vollgepackt, wie er nun war, hatte der Pilot keine Hand mehr frei und die Wagenschlüssel waren in seinen Hosentaschen. Unschuldig lächelnd hielt Fireball seine Arme von seinem Körper weg und deutete mit einer kleinen Hüftbewegung die Hosentasche an, in der sein Schlüssel verschwunden war. Er bat die Blondine: „Süße. Sei so gut und sperr mein Auto auf. Der Schlüssel ist da.“

April nickte und schickte sich, den Schlüsselbund hervorzuholen. Mit geschickten Fingern griff sie in die engen Hosentaschen und zog ihn hervor. Etwas unschlüssig beäugte sie den kleinen Schlüsselbund. Gerade mal drei Schlüssel hingen an einem kleinen, asiatischen Anhänger. Es war ein kleiner, feuerroter Drache aus Stein. Er war fein gearbeitet, man konnte seine Krallen sehen, auch die Barthaare und das offene Maul. April kannte die Bedeutung dieses Schlüsselanhängers. Er sollte seinen Besitzer beschützen. Bestimmt hatte er diesen Anhänger von jemandem geschenkt bekommen. April drehte die drei Schlüssel in ihrer Hand. Einmal war da der Wohnungsschlüssel für Ais Wohnung, der zweite war der Autoschlüssel und der dritte? April konnte sich nicht vorstellen, wozu der dritte Schlüssel gehörte, es konnte nicht Fireballs Wohnung auf Yuma sein, denn die Türen dort sperrten nur noch mit Karten und Code. April entschied sich, ihn bei Gelegenheit mal danach zu fragen, nun entriegelte sie den Wagen und öffnete den Kofferraum des roten Sportflitzers.

Fireball begann sofort damit, Aprils Einkäufe im Fond zu verstauen. Noch immer hatte sie ihm keine Antwort gegeben. Aber er wollte es unbedingt wissen, immerhin wollte er gegen steuern können, sollte seine Mutter falsche Behauptungen aufgestellt haben. Während er die Tüten ablegte, lugte er beiläufig zu April, die neben ihm stand und ihm zusah: „Und jetzt mal ernsthaft, April. Wie viel liegt mir denn nun an Beziehungen?“

Die Blondine lehnte sich mit dem Becken gegen den Wagen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Sie blickte geradewegs zum Himmel auf, als sie gestand: „Ai meinte, du wärst nicht der Typ Mensch für Beziehungen. Ich glaube, damit hatte sie Recht.“, aufrichtige, blaue Augen sahen ihn plötzlich an, als sie offen wissen wollte: „Wie behandelst du denn schon Mädchen, an denen dir was liegt?“

Tatsächlich kannte April keine einzige Frau, die mit Fireball einmal zusammen gewesen war oder mit der er sich nicht nur freundschaftlich getroffen hatte. Sie flogen schon eine ganze Weile miteinander durchs Neue Grenzland und bisher war dem Rennfahrer noch nie ernsthaft an einer Frau gelegen. Ai hatte ihr bestimmt damit sagen wollen, dass ihr Sohn es nicht lange bei einer Frau aushielt, dass er kein Interesse an festen Bindungen hatte. Eine andere Erklärung dafür gab es im Augenblick nicht für April.

„Ich behandle sie mies“, Fireball drückte den Kofferraumdeckel mit beiden Händen nach unten, ziemlich schwungvoll, wie April zu hören bekam. Sie hatte ihn mit ihrer Aussage gereizt. Stocksauer ging Fireball an April vorbei, dabei knurrte er sie an: „So, wie es sich gehört natürlich.“

Wow. Ehe April noch was hätte sagen können, war Fireball schon an ihr vorbeigerauscht und in den Wagen gestiegen. Himmel, was hatte sie damit nun bloß vom Zaun gebrochen? Sie kannte seine hitzköpfige Art, Colt traf immerhin das ein oder andere Mal ziemlich tiefe Fettnäpfchen beim Rennfahrer, aber April hatte dem Kuhhirten da offensichtlich grade den Rang abgelaufen. Noch dazu, wo sie im Augenblick noch nicht mal wusste, wie sie das geschafft hatte. Sie hatte ihm eine simple Frage gestellt. Eigentlich hatte sie gedacht, mit ihm darüber reden zu können. April war verwundert, dass er niemals was über Mädchen ausplauderte, sie fragte sich, wie fest seine Beziehungen bisher gewesen waren. Sie konnte dem jungen Rennfahrer wirklich keine Eigenschaft zuordnen, wie er mit Mädchen umging, an denen er emotional hing. April wusste es doch nicht! Erschrocken sah sie Fireball nach, ehe sie sich vom Kotflügel abstieß, den Wagen umrundete und auf der Beifahrerseite Platz nahm. Während sie sich anschnallte, riskierte sie einen Blick zu ihrem Chauffeur. Er ließ den Motor kurz aufheulen, nachdem er gestartet hatte und die Handbremse löste. April blinzelte verunsichert. Passte sich Fireballs Fahrstil womöglich seiner Stimmung an, so wie es bei vielen Menschen der Fall war? Wenn ja, wollte April das möglichst schnell richtig stellen.

Die Blondine versuchte, ruhig und sachlich zu bleiben. Es war immerhin alles Fakt für sie: „Das kann ich nicht beurteilen, Fireball. Ich kenne keine deiner Freundinnen.“

Der Wagen verließ den Parkplatz, mindestens so schwungvoll, wie kurz zuvor der Kofferraumdeckel zugeflogen war. Fireball zwängte sich in den fließenden Verkehr, der an diesem Nachmittag extrem zähflüssig war. Ohne sein Gegenüber anzusehen, knurrte er sie gekränkt an: „Sind ja auch so viele, was denkst du denn?!“

Fireball bremste den Wagen scharf ab, als die Ampel vor ihnen auf rot sprang. Seine Augenbrauen zogen sich mürrisch zusammen, er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Das war nicht zu fassen! Wie kam April denn nur darauf? Fireball verfluchte und verteufelte seine Mutter, denn niemand anderes konnte April diesen Floh ins Ohr gesetzt haben. Er atmete tief durch, doch davon wurde es auch nicht besser. April hörte einfach gutgläubig auf etwas, das ihr eine wildfremde Frau erzählt hatte. Ganz nebenbei bedachte er nun auch noch Aprils Naivität mit einem satten Fluch. Spürte sie denn nicht, was er seit geraumer Zeit empfand? Konnte sie sich die Antwort nicht selbst geben, weshalb sie nie eine von seinen Freundinnen zu Gesicht bekam? Es gab doch keine in seinem Leben.

April krallte ihre Finger seitlich in die Sitze. Fireball war unter normalen Umständen schon kein guter Fahrer. Ja, fahren konnte er ausgezeichnet, auch den Verkehr konnte er einschätzen, sowie die Länge seines Wagens und dessen Fahrverhalten. Doch April behagte das manchmal nicht. Sie hatte in der Hinsicht nicht viel Vertrauen in den risikofreudigen Rennfahrer. Zu oft war ihm in seinem Wagen bisher schon etwas zugestoßen. Und auch, wenn all diese Unfälle beruflich bedingt waren, so verstärkten sie doch Aprils unbewusste Angst, es könnte auch im Alltag geschehen, erheblich. Dass er nun auch noch unüberlegt und von seinem Zorn gelenkt fuhr, jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Wieder sah sie zu ihm hinüber und beobachtete seine Reaktion auf ihre Worte: „Gerade deshalb sollte ich doch schon einmal eine getroffen haben, findest du nicht?“

Die Blondine nahm jedes Wort, das seit Beginn ihrer Unterhaltung gefallen war, für bare Münze, denn Fireball hatte sie nie angeflunkert. Natürlich entging ihr seine gereizte Tonlage nicht, aber das schob April eher darauf, dass sie mit ihm gerade über ein Kapitel seines Lebens sprach, das er nicht gern preis gab. Anders konnte es sich April nicht erklären. Immerhin war Fireball vor seiner Tätigkeit als Star Sheriff ein Rennfahrer gewesen. Und von allen Seiten hatte man immer wieder zu hören bekommen, wie sehr diese Klischees auf ihn zutrafen. Es waren nicht nur Freunde von damals gewesen, sondern auch andere Bekannte, wie Claudia Firenza. Bis heute hatte Fireball nicht ausgeplaudert, woher sie sich wirklich kannten und wie eng ihr Verhältnis zueinander war. Es wunderte April wirklich, nie eine seiner Freundinnen, die er doch sicherlich überall im Neuen Grenzland hatte, getroffen zu haben.

Da nahm Fireball schlagartig den Fuß vom Gas. Der Wagen stotterte und wäre beinahe abgestorben. Ramrods Pilot hatte eben die Fassung über Bord geschmissen. Erstaunt, erschrocken und unglaublich enttäuscht von Aprils Worten drängelte er sich auf eine Bushaltestelle. Er warf die Warnblinker an, zog die Handbremse und schoss danach augenblicklich aus seiner Position zu April hinüber. Fireball legte den Ellbogen seiner Arme auf die Rückenlehne des Sitzes und das Lenkrad und beugte sich zu April hinüber. Empört ließ er sich vernehmen: „Das ist es also, was du von mir denkst. Na, großartig einfach!“

Erschrocken wich April so weit es ging zurück. Die dunkelbraunen Augen funkelten und waren dabei fast schwarz geworden. Seine Gesichtszüge und seine Worte, die eindeutig den unteren Bereich der Gute-Laune-Skala sprengten, machten ihr plötzlich Angst. Sie konnte es nicht erklären, aber in diesem Moment wollte sie ihm nicht zu nahe kommen. Fireball war ansonsten nie so aggressiv geworden, wie gerade eben. Schützend hob die Blondine die Arme vor die Brust und zeigte ihre offenen Handflächen. Sie stotterte: „Ich… Fireball du bist ein Rennfahrer und impulsiv und…“

Kopfschüttelnd wandte sich Fireball wieder von April ab. Er war tief getroffen von ihren Mutmaßungen und der Tatsache, dass sie Gerüchten und blöd daher gesagten Worten mehr vertraute, als dem, was sie erlebt hatte. Es kränkte den ehemaligen Rennfahrer enorm, denn von April hatte er erwartet, dass sie eher zu ihm hielt und ihm glaubte. Tatsächlich jedoch sah sie in ihm einen waschechten und klischeetreuen Rennfahrer, der jede Gelegenheit zur Hasenjagd nützte. Das tat weh, weil er es niemals gewesen war, in keiner Sekunde.

Fireball drückte den Gang wieder rein und drängelte sich ein weiteres Mal in den einsetzenden Berufsverkehr. Er war unkonzentriert, bekam vom Verkehr nur noch die Hälfte mit und hätte zu allem Überfluss auch noch bald ein entgegen kommendes Fahrzeug übersehen, als er den Nachhauseweg eingeschlagen hatte. Er ließ den Wagen in die Garage kullern und stieg schweigend aus. Als er bemerkte, dass April ihm nicht folgte, drehte er sich noch einmal kurz um.

April saß im Wagen und versuchte einzuordnen, was gerade geschehen war. Hatte sie sich wirklich mit Fireball in die Wolle bekommen? Ihr Herz hatte einen Moment lang ausgesetzt, als er zu ihr herumgefahren war, seither schlug es jedoch, als wollte es zerspringen. Sah er denn nicht, dass sie es nur gefragt hatte, weil sie wissen wollte, woran sie war? Bemerkte der Pilot denn nicht, was er ihr bedeutete? April senkte betroffen den Kopf und redete sich ein, dass alles heilte. Auch ein gebrochenes Herz.

Fireball hatte noch einmal Kehrt gemacht, als er gesehen hatte, wie April den Kopf in ihre Hände legte und sich nicht mehr bewegte. Sorge um sie breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Hatte er sie zu sehr angebrummt? Der Rennfahrer öffnete die Beifahrertür und beugte sich zu April hinab. Er zog ihre Hände vom Gesicht und fragte sanft: „Was ist, Süße? Wir sind da.“

April wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und ihren Pony, der sie kitzelte. Mit traurigen Augen blickte sie zu Fireball hinüber. Er war ein Rennfahrer, der jede Gelegenheit wahrnahm, wenn sie sich ergab, nur diese nicht. April senkte augenblicklich die blauen Augen. Wollte er sie denn kein bisschen? War sie ihm nicht schön genug oder redete sie für seinen Geschmack zu viel? April schloss die Augen, denn Tränen suchten sich ihren Weg heraus. Hastig nickte sie und drückte Fireball aus der Tür: „Ich weiß.“

Bevor sie ihre Tränen nicht mehr verbergen konnte, drängte sie sich an Fireball vorbei und lief die Treppen nach oben. Hoffentlich begegnete ihr auf ihrem Weg zum Zimmer niemand mehr. Saber und Colt würden sofort spitz kriegen, dass sie weinte und sie nach dem Grund fragen. Aber sie wollte niemanden mehr sehen, vor allem keine Männer mit dunklen Haaren und ebenso dunklen wie großen und warmen Augen. Denn diese Augen brachen ihr das Herz. So wie Ai es gesagt hatte.
 

Irgendwie hatten die Freunde ihren Urlaub doch noch unbeschadet rum gekriegt. Während dieser Woche war Fireball jeden Tag mit seinen Freunden oder seiner Mutter aneinander geraten, er hatte sich permanent von ihnen auf den Schlips getreten gefühlt. Egal, was er gemacht hatte, irgendjemand hatte immer was zu meckern. Vor allem mit Ai war er ständig zusammen gekracht, meist nur wegen Kleinigkeiten. Seit er ihr auch noch erzählt hatte, dass ihm vor allem König Jarred viel von seinem Vater Preis gegeben hatte, war es mit der Mutter aus und vorbei. Ai konnte kaum glauben, dass ausgerechnet ein alter Freund von Shinji ihrem Sohn so viel erzählt hatte. Noch unglaublicher allerdings war gewesen, dass König Jarred und Fireball überhaupt zusammen gestoßen waren. Um sie wieder zu beruhigen, hatte Fireball noch versucht, ihr von dem Desaster zu erzählen, wie sie sich zum ersten Mal gegenüberstanden waren. Aber auch das hatte nicht geholfen, es hatte Ai nur noch wütender gemacht, weil Vater und Sohn sich wirklich wie ein Ei dem anderen glichen. Auch Shinji war anfangs nicht gut mit dem Monarchen ausgekommen, hatte ihn nach dem ersten Treffen sogar als unfähigen Choleriker bezeichnet, doch schon bald darauf waren sie gute Freunde gewesen. Ai schmerzte die Erinnerung an Jarred sehr, denn Shinjis Aufbruch zu ihm ins Königreich war sein Todesurteil gewesen.

Saber und Colt hatten irgendwann im Laufe dieser Woche aufgegeben, irgendwas richten zu wollen. Der Schotte war sogar soweit gegangen, dass er alles in Aprils Hände gelegt hatte, was Fireball und seine Mutter betraf. Sie war eine Frau und konnte sich wesentlich besser in beide hineinversetzen, als es Colt oder er gekonnt hatten. Bis zu dem Gespräch in der Garage nach dem Abendessen hatte Saber permanent versucht, aus Fireball schlau zu werden, aber das wurde er einfach nicht. Die zusammenhanglosen und verwirrenden Brocken, die Fireball in der Garage bezüglich seiner Familie von sich gegeben hatte, hatten den Schotten aufgeben lassen. Da war mehr als der Rennfahrer zugeben wollte vorgefallen.

Colt vermied es tunlichst, mit Fireball noch einmal über Eltern oder über Mütter im Speziellen zu reden. Er hatte kein Interesse daran, in seinem Urlaub noch einmal so an die Decke zu gehen, wie er es schlussendlich getan hatte. Deshalb vertrieb er sich lieber die Zeit, indem er April neckte oder mit Ai zusammen über den Junior der Familie Hikari herzog. Dabei achtete er stets sorgsam darauf, mit Ai nicht über die Star Sheriffs oder gar über das Rennfahren zu reden. Er hatte schnell bemerkt, dass beides keine geeigneten Themen für lustige Stunden waren. Da war es schon wesentlich erheiternder über den Hitzkopf Witze zu reißen und ihn auf den Arm zu nehmen. Ai hatte einige gute Geschichten auf Lager, die sie den Freunden immer wieder servierte.

April war hin und her gerissen. Einerseits konnte sie Ais Worte nicht vergessen, die ihr dringend davon abgeraten hatten, sich von Fireball das Herz brechen zu lassen und andererseits war ihr das Gespräch mit Fireball beim Einkaufen zu sehr im Gedächtnis haften geblieben, das vor allem für April Klarheit geschafft hatte. Seit diesem ominösen Nachmittag war nichts mehr so, wie es vorher zwischen Fireball und ihr gewesen war. Er hatte ihr vom buddhistischen Wiedergeburtsglauben erzählt und hatte ihr anschließend glaubhaft gemacht, wie viel Interesse er wirklich an ihr hatte. Zwar war er an die Decke gegangen, als er erfahren hatte, was Ai und April besprochen hatten, andererseits aber hatte er gleich deutlich gemacht, dass er nichts für sie empfand. Nun versuchte sie in einer Tour sowohl für Ai als auch für Fireball Verständnis aufzubringen. So weh es ihr auch tat, im Grunde genommen konnte sie Ais Verhalten besser nachvollziehen als Fireballs. Wiedergeburtsglaube hin oder her, Ai musste mit dem Ebenbild ihres Mannes leben, und Fireball brach ihr am laufenden Band das Herz. Es war sicher schon schwer genug, dass der Sohn seinem Vater ähnlich sah, dass er sich auch noch wie er verhielt, musste Ai immer wieder daran erinnern, was sie verloren hatte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (5)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  LinaW
2009-08-08T21:01:24+00:00 08.08.2009 23:01
Ich habe gerade angefangen, mich durch die FF zu lesen (warum um alles in der Welt sind alle neueren FF's so ellenlang *GGG*). Bis jetzt gefällt mir die Geschichte sehr gut und ich bin schon sehr gespannt darauf, zu sehen, wie sich die Ereignise weiter entwickeln werden. Die Streitereien und die Spitzen, die sich die Charas gegenseitig zuwerfen, sind auch sehr witzig und du hast es geschafft, sie gut einzubetten. Fireball ist nicht gerade mein Lieblingschara, aber die Story ist gut und deswegen werde ich mich auch weiter durch die FF durchwurschteln ;-)

Eine klitzekleinen Kritikpunkt habe ich allerdings. Warum redet Fireball nicht mit seinen Freunden? Das verstehe ich irgendwie nicht. Ich meine.. die sind Freunde. Gute Freunde - Himmel, sie vertrauen einander ihr Leben an - aber Fireball traut ihnen nicht zu, ihm zuzuhören und versuchen, ihn zu verstehen? Warum nicht? Das hat mich ein wenig gewundert. Das ist aber auch alles ^^
Von:  Sannyerd
2009-02-28T10:09:24+00:00 28.02.2009 11:09
Also ich bin hin und weg, als ich die FF gelesen habe (gestern)...mir gefällt sie sehr, sehr GUT! Endlich mal ein NEUES Thema!!! Ich bin ganz gespannt wie es weiter geht!
Von:  Misano
2009-02-22T18:01:07+00:00 22.02.2009 19:01
Ich hab's doch hoffentlich richtig verstanden: Die Story geht nocht weiter, oder???

Jedenfalls macht deine Ankündigung zur FF mich neugierig.
Mir hat Fires und Aprils Einkaufsbummel und vor allem der Aufenthalt in der Dessousabteilung herrlichen Spaß gemacht! ^^
Aber bitte lass Fireball nicht zu sehr in Selbstmitleid zerfließen. Natürlich ist es deine FF und du kannst ihn so schreiben, wie du möchtest, aber ich möchte dir nur den Tipp geben, es nicht zu sehr zu übertreiben.
Von: abgemeldet
2009-02-05T10:22:30+00:00 05.02.2009 11:22
Hi Süße!

Schön mal wieder was von dir zu lesen. Ist ja nun schon wieder eine Ewigkeit her und dann gleich wieder mit so einer tollen Story.
Ich hoffe doch mal, dass es die Geschichte ist, worüber wir uns einst mal unterhalten haben.
Ich bin schon mal gespannt, was als nächstes auf uns zukommt^^

*knuddel*

Turbo
Von:  She-Ra
2009-02-02T17:31:56+00:00 02.02.2009 18:31
Nun zu deinem dritten und leider letzten Kapitel. Die Idee der 'Zusammenführung' finde ich sehr gut. Auch die Umsetzung, wo Ai am nächsten Morgen auf die anderen trifft, find ich passend. Man kann sich sehr gut hinein versetzen in ihre Lage. WEil wer geht morgens gern in seine Küche und sieht da wen wildfremdes sitzen oder stehen.
Auch die entstandenen Diskussionen, das 'Einmischen' der anderen Star Sheriffs und ihr verhalten, sind dir sehr gut gelungen. Wo ich persönlich etwas hader, ist die Situation zwischen Ai und April in Fires Zimmer. Da ist mir April etwas zu 'eingeschüchtert'. Aber ok, jeder sieht es wohl anders ^^''''
Was mir besonders gut wieder gefiel, waren die Streiterein zwischen Aps und Colt. Dazu noch Sabers trockener Kommentar, war einfach göttlich ;)
Dein Humor is super;)
DIe anschließende gemeinsame Runde, wo es um das Thema Verhalten gegenüber der eigenen Eltern geht, ist dir ebenfalls gut gelungen und es passt vollkommen.
Fire kommt einem irgendwie immer wie ein kleines trotziges Kind vor ^^'''
Die Diskussion anschließend zwischen ihm und seiner Mutter ist auch sehr schön, auch wenn ich manchmal das GEfühl hatte, dass sie einen Tick bissel zu langatmig is *drop*
Das 'abschließende' Gespräch zwischen Fire und Saber ist auch nicht schlecht. Nur schade, dass deine FF dort endet. Wäre schon interessant zu erfahren, wie es weitergehen würde.

Mein gesamt Fazit: Eine schön ausgebaute FF. Sehr gute Idee und man kann sie gut in einem rutsch durchlesen. Fehlermäßig habe ich so nicht wirklich etwas finden können. Deine Wortwahl gefällt mir ebenfalls sehr gut. Also dort alle Daumen hoch;)
Jedoch einen kleinen Kritikpunkt habe ich dennoch. Auf Seite 1...

> Ziemlich pünktlich schloss er an diesem Abend die Tür zu ihrem Haus auf. Selten schaffte er es, wirklich pünktlich aus dem Oberkommando weg zu kommen, an diesem Tag hatte Shinji ihn jedoch mit sich geschleift. Der war dafür gewesen, ihre Familien wieder mal wieder länger zu sehen, als nur eine dreiviertel Stunde vor dem Zubettgehen. Shinji hatte den jungen Vater direkt aus dem Büro getreten.

Zuerst dachte ich, ok geht um Fire. Jedoch fragte ich mich dann, wieso auf einmal Charles? weil er ja zu Aps gehört. Daher habe ich diesen Absatz mehrfach gelesen, weil es irgendwie irritierend ist. Ganz sicher bin ich mir jetzt noch nicht einmal ^^''''
Habe ich dennoch was übersehen? Vllt kannst du mir ja da weiterhelfen

Jedenfalls schreib schön weiter;)

LG
She-Ra


Zurück