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Sirenengelächter

Halfjack gewidmet
von

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Der Flur

Der Flur
 

Ich spüre einen Finger auf meiner Stirn. Ich wische die kleine Hand zur Seite und öffne die Augen. Averrot hockt über mir und lächelt mich an.

„Das ist lustig. Das funktioniert ja wirklich. Dabei habe ich dich gar nicht angefasst, ich hatte meinen Finger kurz vor deinem Kopf, aber berührt habe ich ihn nicht.“

„Okay, du bist eindeutig ein Junge“, sage ich und erhebe meinen Oberkörper. „Mädchen würden so einen Blödsinn nicht machen.“ Mein Kopf dröhnt und die Konturen der Dinge vor meinen Augen sind immer noch verschwommen. Immer noch? Ich erinnere mich, die Ballettmaschine...

„Aber ich bin hier doch gar kein Junge.“

„Was?“ Mir fällt gerade die Veränderung auf. Ich nehme seine Hand in die meine und fasse nicht durch ihn hindurch. „Du bist kein Geist.“

„Genau“, sagt er glücklich. „Ich bin nur dort ein Geist. Und ein Junge. Hier bin ich ein Mensch und ein Mädchen.“

Ich glaube, mein leidgeprüfter Geduldsfaden ist gerade gerissen. „Hör auf, mir immer irgendwelche sinnlosen Brocken vorzuwerfen! Du fängst jetzt besser an, mir die Wahrheit zu sagen, und zwar die ganze Wahrheit, ich werde nämlich langsam echt sauer.“

„Na gut“, sagt sie nach einer Weile, die ich nutze, um aufzustehen und mir eine Zigarette anzuzünden. „Du bist lieb zu mir und ich mag nicht, dass du jetzt wütend bist. Mama und Papa wurden auch wütend, obwohl sie sonst immer lieb zu mir waren.“ Ach, verdammt. Jetzt tut es mir Leid, dass ich so grob war. Ich will mich erst entschuldigen, doch dann fällt mir die Frage ein, die ich schon viel früher hätte stellen sollen: „Was hast du getan?“ „Das... das weiß ich nicht, wirklich.“ „Lüg mich bitte nicht an“ „Aber...“ „Hör mal, ich bin hier in einem Alptraum gefangen, von dem du offensichtlich ein Teil bist, und ich habe keine Ahnung, wie ich hier jemals wieder lebend herauskommen soll oder warum ich überhaupt noch lebe, also sag mir endlich die Wahrheit!“ „Mama und Papa waren wütend, weil ich... weil ich nicht nur dort sein wollte.“ „Was soll das heißen?“, frage ich, aber es dämmert mir selber langsam: „Mit „dort“ meinst du diese rostig braune Schreckenswelt und weil du auf einmal auch in der normalen Welt existiert hast, wollten dich deine Eltern bestrafen.“

„Ja, nur die Leute mit richterlichen Befugnissen dürfen in diese Welt. Zumindest hat Mama das immer gesagt.“

„Und wieso lebst du wieder in dieser Welt?“ Er, nein, sie verzieht das Gesicht und Tränen laufen über ihre Wangen, sie möchte sich abwenden, doch ich nehme ihr Kinn in die Hand und drehe sie mir wieder zu. „Hey, was ist denn los, wieso weinst du?“

„Weil du ganz wütend auf mich sein wirst.“ Wenn sie mit irgendetwas von dem zu tun hat, was bisher passiert ist, dann hat sie wahrscheinlich sogar recht.

„Ich verspreche nicht wütend zu sein“, lüge ich schlecht, mit noch schlechterem Gewissen. Aber es scheint zu reichen: „Ich habe eine von den Karten zerrissen“, sagt sie und weint noch stärker. Da ich nur mit einem skeptischen Gesichtsausdruck antworten kann, holt sie Spielkarten aus einer kleinen Seitentasche ihres Kleides und zeigt sie mir. Auf der einen ist ein Mann mit entblößtem Oberkörper zu sehen, er trägt einen Rock und hält einen Speer in der Hand, sein Kopf wird von einem riesigen metallischen Ding verdeckt, das irgendwie aussieht wie eins der Raumschiffe von Kampfstern Galactica oder vielleicht eine Pyramide, die in einer Art Schaufel mündet. Auf der nächsten Karte ist eine ähnliche Gestalt, nur dass lediglich ihr halber Kopf von einem unförmigen Metalleimer bedeckt wird und dass sie viel muskulöser ist und ein riesiges Fleischerbeil in der gigantischen Faust hält. Die dritte Karte zeigt eine dünne Figur, mit einer riesigen Narbe über ihren Oberkörper, die ihre Brüste weitestgehend entstellt, aber einem unglaublich schönen Frauengesicht und halblangen braunen Haaren. Neben sich hält sie mit der sehnigen Hand einen Bogen mit silberner Sehne, der größer ist als sie selbst. Im Gegensatz zu den ersten beiden Karten wurde die untere Hälfte abgerissen. Als ich die nächste Karte ansehe, weiß ich, warum sie Angst hatte, dass ich wütend werden könnte. Ich stehe auf und zünde mir eine zweite Zigarette an. Sie sagt nichts, aber ich kann ihr Unbehagen deutlich spüren. Der Schwertkönig. Ich weiß nicht, warum ich mir in dem Punkt so sicher bin, aber sie hat ihn befreit, um in diese Welt zu kommen.

„Bist du jetzt sauer?“, schluchzt sie hinter mir. Ich drehe mich um, drücke die Zigarette aus, nehme sie in den Arm und versuche sie, so gut es geht, zu trösten. „Nein, ich bin nicht sauer.“ Und das bin ich wirklich nicht, was mich selbst etwas überrascht. Aber sie ist ein Kind und wusste nicht, was sie tat, und selbst wenn, würde alle Wut der Welt nichts mehr daran ändern.

„Lass uns gehen, nicht dass uns eines von den beiden Monstern erwischt. Vielleicht hat sich das Tor der Dunkelheit jetzt geöffnet. Aber sag mal, wie heißt die Frau mit dem Bogen eigentlich?“

„Das ist die Sehnenkönigin“ Ah, darauf hätte ich auch von alleine kommen können. Vermutlich sind die Namen einfach nur Hinweise auf ihre äußerlich offensichtlichste Eigenschaft. Dann ist das erste Monster wahrscheinlich der Pyramidenkopfritter und das zweite der Fleischerprinz. König und Königin sind als Titel ja schon vergeben. Naja, das wäre wahrscheinlich zu simpel. Ich hoffe allerdings, dass ich es nicht herausfinden werde, ob ich Recht habe.

„Sag mal, wenn du hier ein Mädchen bist, dann ist Averrot doch kein schöner Name für dich, wie heißt du denn hier?“

„Ich habe hier keinen Namen.“

„Dann müssen wir einen für dich finden“, schlage ich vor, während wir uns erneut dem Tor der letzten Dunkelheit nähern.
 

Gut, dass sie den Weg kennt, ich wüsste nicht einmal, wo ich in der tiefen Dunkelheit hingetreten bin, geschweige denn in welcher Straße ich war. Ich muss fast zwei Kilometer vom Krankenhaus entfernt aufgewacht sein. Wie kam ich überhaupt dorthin?

Irgendetwas blinkt in der Luft. Wie im Altweibersommer glänzen für einen winzigen Moment Fäden auf, wenn der Wind sie berührt und der Lichteinfall im richtigen Winkel auf sie trifft. Die Straßen sind jetzt wieder so leer wie bei meiner Ankunft. Aber irgendetwas hat sich verändert. Ich glaube, dass ich mir am Anfang sicher war, dass hier jemand ist, auch wenn ich niemanden finden konnte, jetzt ist es umgekehrt...

Das Lichtspiel in der Luft nimmt schon seit einer ganzen Weile zu, auf der Crichton Street sehe ich dann, wie einer dieser Fäden sich um eine Laterne spannt. Als ich ihn kurz berühre, beginnt mein Finger sofort zu bluten, erschrocken ziehe ich ihn zurück, doch ein Blutstropfen hat den Faden berührt und zieht sich in die Länge, springt auf andere Stränge über, dort, wo sie sich kreuzen, und färbt immer mehr ein, bis sich ein gewaltiges Netzwerk dieser Fäden offenbart, ich frage meine Begleiterin, was das ist, doch sie sieht mich selbst nur fragend an.

In einiger Entfernung sehe ich, wie sich die Fäden noch weiter verdichten und teilweise kaum Platz zum Durchschlüpfen bieten.

Aus einem Loch in der Mauer krabbelt eine weinende Frau hervor. Sie hat schwarzes langes Haar und bedeckt ihre Augen mit ihren Händen. „Die Welt steht in nebelgrauen Flammen, warum sieht es denn niemand?“ Wobei mir auffällt, dass sich der Nebel gelichtet hat, der mich in der Stadt begrüßte. „Hallo? Kann ich ihnen helfen?“

Als sie mich ansieht, beginnt sie noch stärker zu schluchzen. „Nein, nicht schon wieder.“ Und sie rennt in das Netz der rasierklingenscharfen Fäden. „Halt, sehen sie denn nicht...“ Doch meine Worte erreichen sie nicht mehr und ihr Körper geht in lauter Einzelteilen zu Boden. „Nein...“

„Du hättest sie nicht retten können, jeder kann sich nur selbst helfen, hat Mama immer gesagt.“
 

Mit viel Geduld und etlichen tiefen Schnitten schaffen wir es, uns langsam durch das Gewirr der messerscharfen Stränge zu kämpfen. Dann sehe ich es, das Tor der letzten Dunkelheit. Ich glaube, dass die Torflügel nun offen sind, doch von hier erkennt man nur eine Masse unendlicher Schwärze. Davor steht eine Frau mit einem Bogen, die Sehnenkönigin. Sie steht da wie auf dem Bild der Karte.

Die Frage, wie wir an ihr vorbeikommen, erübrigt sich, als der Schwertkönig aus der Richtung des Krankenhauses auftaucht und auf uns zu kommt. Erst als ein Pfeil in seiner Schulter steckt, ändert er die Richtung und stürzt auf das andere Monster zu.

Den ersten Schlag seines Armes pariert sie mit der Sehne ihres Bogens, der zweite kostet sie die rechte Hand, doch unbekümmert setzt sie mit dem Bogen nach und die Sehne schneidet tief in die Brust des Schwertkönigs...

„Jetzt können wir es schaffen, hinein zu huschen“, meint die Kleine und reißt mich in die Realität zurück. Wenn man die Ruhepause zwischen zwei Alptraumphasen Realität nennen will. Denn eines ist sicher, die andere Welt wird mich wieder einholen.

Hinter dem Tor erstreckt sich eine tiefe Treppe, von der ich das Ende nicht ausmachen kann. Das Tor knallt hinter uns zu und sperrt die beiden Ungetüme hoffentlich endgültig aus.
 

„Wieso geht es hier so tief hinab?“, frage ich nach mehreren Minuten des Treppensteigens, nach denen das Ende immer noch nicht auszumachen ist.

„Stille Hügel sind tief.“

Manchmal fällt es mir immer noch schwer, mich nicht andauernd von ihr verarscht zu fühlen. „Ist das so eine Art Sprichwort bei euch?“

„Nein, das hat der Andere gesagt, der vor dir da war.“

„Hast du mit dem Anderen gesprochen?“

„Nein, ich habe ihm nur immer zugeschaut, wenn niemand aufgepasst hat. Aber lass uns bitte etwas von der Medizin nehmen, die Schnitte tun so weh...“ Auf ihr Quengeln hin willige ich ein, dass wir beide je eine der Tabletten des Allheilmittels nehmen. Ich kann nicht sagen, warum, aber die Wunden wären mir irgendwie lieber gewesen.

Immer noch auf dem Weg nach unten meint sie plötzlich: „Ich glaube, Maria würde mir als Name sehr gut gefallen.“ „Ja, der Name gefällt mir auch sehr, dann heißt du ab jetzt Maria.“ Sie hat eindeutig einen besseren Namensgeschmack als ihre Eltern.
 

Dann endlich, nach etlichen weiteren Minuten, erscheint vor uns eine Tür.

Meine Hand umgreift die Klinke, sie bewegt sich nicht, doch im nächsten Moment finden wir uns im Krankenhaus wieder. Ein langer Gang voller verschlossener Türen erstreckt sich vor und auch hinter uns. Vor mir endet der Gang an einer Mauer, hinter mir endet der Flur mit der einzigen Tür, die einen Spalt weit geöffnet ist. Kaltes Licht ergießt sich aus ihr und verteilt sich auf dem sterilen Laminatboden. Es erhellt als einzige Lichtquelle den langen Gang. Die Taschenlampe verweigert zuerst erneut ihren Dienst, doch nach einigen beherzten Schlägen bequemt sie sich zum Funktionieren. Hier ist es erschreckend sauber, ist man nach all dem Dreck und dem Rost überhaupt nicht mehr gewöhnt. Das Ganze, die Sauberkeit, die Tür und das Licht, das sie verströmt, wirkt so unwirklich, als ob es anders sein müsste, als es jetzt ist. Dennoch bewege ich mich auf die offene Tür zu. Was sollte ich auch sonst tun?

Jede der geschlossenen Türen trägt dieselbe Ziffer. 212. Der zweite Stock also. Zuerst dachte ich mich verlesen zu haben, da die Nummerierung der Zimmer in den anderen Stockwerken nicht bis zur zehnten Stelle voranschritt. Doch da ich die anderen Türen in der Nähe anleuchte, sehe ich, dass ich mich nicht irre. Woran erinnert mich diese Nummer?

Von Schritt zu Schritt, welche ich der Tür näher komme, steigt eine kratzige Nervosität in mir auf, sie zieht mich nicht an, sie stößt mich ab. Kurz bevor ich sie erreiche, knallen die anderen Türen im Flur lautstark auf. Mit rasselndem Herzen drehe ich mich um, die Waffe im Anschlag und ziele in den leeren Flur. Nichts passiert und die Frequenz meines Herzschlages nimmt langsam wieder ab. Eine Patientin hatte mir einst etwas Ähnliches berichtet. Sie öffnete am Morgen kurz ihre Augen und sah eine offene Tür, obwohl sie es nicht erträgt, bei offenen Türen zu schlafen. Sie riss die Augen auf und die Tür war geschlossen. So, wie es sein sollte. Doch danach konnte sie nie wieder in diesem Zimmer schlafen. Für die Wenigsten wird so etwas wohl nachvollziehbar sein, doch für sie war es so schlimm, als wenn dort statt der offenen Tür der Höllenschlund gewesen wäre. Oder die Ballettmaschine. Naja, vielleicht nicht ganz so schlimm wie die Ballettmaschine.

„Du bist aber auch schreckhaft“, meint das Mädchen grinsend. Ich gehe nicht darauf ein, sondern lege die letzten Schritte zur Tür am Ende des Ganges zurück und will sie aufstoßen, doch die Tür ist nicht offen... sie hat sich aber auch nicht geschlossen, das „Licht“ wurde aufgemalt, aber es leuchtet, wie fluoreszierende Farbe. Eine optische Täuschung. Alle paar Sekunden schaue ich über meine Schultern, ich erwarte geradezu, dass es eine Falle ist, aber hinter mir taucht nichts auf. Nur welchen Sinn sollte diese Täuschung sonst haben? Sogar die Türklinke ist so präpariert, dass sie weiter in den Raum hineinsticht und damit die Gesamtillusion unterstützt. Die eigentliche Tür ist allerdings abgeschlossen. Vielleicht finde ich hier irgendwo einen Schlüssel für sie.

Die nun offen stehenden Räume sind ziemlich unterschiedlich und stellen architektonische Wunder dar. Der erste Raum ist sehr eng und bietet nur blanke weiße Wände. Gleich der zweite aber ähnelt dem großen Lagerraum, aus dem wir vor dem Schwertkönig geflohen sind. Hinter der dritten bis achten Tür sind unterschiedliche Teile der Stadt und mir unbekannte Landschaften zu sehen, jedoch sind sie durch eine Art Glaswand geschützt und für mich unzugänglich. Den Drang, zu testen, ob der Glasschutz kugelsicher ist, kann ich gerade noch unterdrücken. Ein Querschläger könnte uns ziemlich gefährlich werden und ich will Maria nicht zweimal auf dem Gewissen haben. Obwohl es schon ein sehr verlockender Gedanke ist, hier einfach auszubrechen. Durch eine Tür zu gehen und diesen ganzen Alptraum, Silent Hill, für immer hinter mir zu lassen...

Hinter der neunten Tür ist eine versumpfte Toilette, deren Gestank kaum zu ertragen ist. Ich sehe mich nur flüchtig um, Maria scheint der Gestank allerdings nichts auszumachen, denn sie untersucht die einzelnen Kabinen sehr genau.

„Da ist etwas in der Toilette.“ Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den erstickenden Gestank um mich und den Unwillen in mir, um mich bis zu Maria vorzukämpfen.

„Das Klo ist einfach nur verstopft...“, sage ich, obwohl auf den ersten Blick klar wird, dass ich mich irre.

„Nein, da ist etwas drin!“

„Ähmm, vielleicht sollten wir uns vorher noch anderswo umsehen, bevor wir dem auf den Grund gehen“, lüge ich, um endlich aus dem Raum herauszukommen. Das Thema hat sich erledigt, ich werde da nicht reinfassen. Auch nicht, wenn mein Leben davon abhängt...
 

Hinter den nächsten Türen sind wieder Landschaften, eine U-Bahn, ein Leuchtturm und ein Vergnügungspark. Ich bin mir nicht sicher, aber der Vergnügungspark und die Toiletten wirken so, als ob sie zu der anderen Welt gehören. So betrachtet ist der Übergang erschreckend fließend. Für den Einzelnen kann wahrscheinlich alles zum Alptraum werden.

Vor der vorletzten Tür auf der rechten Seite bleibe ich stehen.

Es ist das erste Zimmer, das zu der Umgebung passt. In einem Krankenbett liegt ein kleines Mädchen, ein Bein wird durch ein komplexes Konstrukt von Fäden und Schienen gerade in der Luft gehalten. Die Mutter, die am Bett sitzt, streichelt den Kopf des Kindes und spricht ununterbrochen. Das weiß ich noch, obwohl ich es von hier aus weder sehen noch hören kann. Mein Vater steht am Fenster, ich glaube, er hat zu der Zeit andauernd geweint und wollte nicht, dass wir es sehen. Ich habe häufig von dieser Szene geträumt. Wie ich da stumm und verhätschelt gefangen lag und mich wochenlang nicht bewegen konnte. Wie ich andauernd einen Fleck an der Decke anstarrte, immer versuchte etwas anderes in ihm zu sehen und mich endlos zu Tode langweilte.

„Warum schaust du so böse in den Raum rein?“ Irritiert drehe ich mich zu Maria um. „Siehst du die kleine Familie nicht?“

„Ah, doch. Jetzt, wo du‘s sagst. Aber was hängt da von der Decke?“

Da ist tatsächlich etwas. Eine Klinge wurde von oben durch die Decke gestoßen, mein früheres Ich müsste sie genau anblicken, doch reagiert das Kind nicht. Vor mir taucht aus dem Nichts eine Krankenschwester in dem Raum auf und der Schwertkönig bricht durch die Decke und landet elegant auf dem Bett. Mit einem Schlag zertrennt er die Fäden, die das Bein halten, das schmerzvoll herunterfällt. Ich schreie und schlage gegen die unsichtbare Barriere, ohne dass sie mich wahrnehmen. Keine Reaktion, von niemandem. Ein weiterer Schnitt und der Kopf der Krankenschwester fällt vom Hals. Der Schwertkönig springt vom Bett und seine Beine schneiden meine Mutter in drei gleichgroße Scheiben, ohne dass ihr entblößtes Fleisch auch nur einen einzigen Tropfen Blut hergeben würde. Dann geht er zum Fenster und mein Vater dreht sich um, doch sieht nicht die Gefahr, sondern blickt mich direkt, mit tränengeröteten Augen, an. Ich spüre, wie meine Beine nachgeben und ich in mir zusammensacke. Der rechte Arm des Monsters rammt immer wieder zuckend in den Unterleib meines Vaters, doch nun steht mein früheres Ich auf, springt vom Bett, als ob das Bein spontan geheilt wäre, reißt eine Injektionsnadel aus seinem Arm, geht zum Schwertkönig und sticht sie ihm in den Rücken. Das knackende Insektengeräusch wird wilder und lauter, er krümmt sich in seinen Rücken und die Tür schlägt mit einem gewaltigen Knall zu.

Auch alle anderen Türen haben sich mir wieder verschlossen und verriegelt.

Die Sirenen heulen wieder los, doch wird ihr Ton von kontinuierlichen, harten Pausen begleitet. Es klingt, als ob sie mich auslachen würden. Sirenengelächter. Doch der Flur, die Tür, die Decke, der Boden: Nichts scheint sich verändert zu haben. Kein Rost, kein Blut, kein Schmutz. Es ist alles so, wie im ersten Moment. Und ich habe immer noch keinen Schlüssel.

„Siehst du etwas, das ich nicht sehe, Maria?“, frage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, doch sie schüttelt nur müde den Kopf. Auch ich bin so schrecklich müde. Wann wird das alles endlich enden?

Ich spüre, wie sich meine Augen schließen und ich langsam an einer Wand zu Boden rutsche, meine Lider sind so schrecklich schwer, warum sollte ich sie noch offen halten?

„Hey, du kannst doch jetzt nicht so einfach einschlafen.“

„Hör auf mich zu pieksen.“

„Aber ich mache doch gar nichts.“

Ich reiße die Augen auf: „Das tut weh!“ Aber Maria ist fast einen Meter von mir entfernt. Ein unangenehmer stechender Schmerz pulsiert in meiner linken Schulter. Ich ziehe mein T-Shirt hoch und sehe etwas Dunkles unter der Haut, das sich hart anfühlt und einfach nur verdammt weh tut. Bevor ich weiß, was geschieht, kommt Maria auf mich zu, zieht mein Taschenmesser aus meiner Hose, klappt es auf und gibt es mir in die Hand.

„Du musst es herausschneiden.“ Langsam gewöhne ich mich an die direkte Art von der Kleinen. Der Gedanke, dass ich es natürlich nicht herausschneiden werde, verflüchtigt sich mit jedem Atemzug, in dem der Schmerz an den Grenzen des Erträglichen kratzt. Ich steche tief zu und schneide ein Stück empor. Erstaunlich freiwillig lässt sich der Fremdkörper von einer überschaubaren Menge Blut aus der Wunde spülen und kommt klirrend auf dem Boden auf.

Es ist ein Schlüssel.

Der leichte Schmerz des Schnittes ist nichts im Vergleich zu der Linderung, die einsetzt, jetzt, wo das Ding aus meiner Schulter heraus ist. Ich nehme es auf und gehe zur Tür, um sie endlich zu öffnen.

Widerstandslos und ohne dass ich die Klinke berühren muss, gibt sie nach, nachdem ich den Schlüssel im Schloss gedreht habe, und eröffnet mir mit einem leicht quietschenden Geräusch den Raum dahinter.

Dort steht eine kleine Anrichte mit einem runden Spiegel. Ich gehe auf den Spiegel zu, doch er zeigt mir nur meine großen braunen Augen, die kurzen Haare und mein rundes Gesicht, das nie seine Form verändert hat, egal wie wenig ich wog.

Ich wende mich ab, mir ist nicht nach Selbstreflektion.

„Du magst dein Gesicht nicht, oder? Dabei siehst du so schön aus.“

Ich seufze und sehe mich noch weiter im Raum um, aber da ist nichts außer alten leeren Schränken und dem Schminktisch, mit dem...

Da ist etwas Weißes im Spiegel.



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