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Schnee

von

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Damals, als ich noch keine Ahnung hatte, war es die ganze Zeit über Winter in der kleinen Stadt. Ich hüpfte durch die Straßen, tapste auf dem Eis gefrorener Pfützen herum und aß den Schnee aus meinen Händen. Pfützen, die Wasser füllte, das einmal Schnee gewesen war, bedeckt von Eis, das wieder zu Wasser werden würde, bedeckt von Eis.

Der Kreislauf in der Stadt änderte sich nie. Die Menschen, die verschwanden, kamen wieder. Die Menschen, die wiederkamen, verschwanden erneut. Das Kommen und Gehen hielt diejenigen, die blieben, auf Trab. Es genügte.

So verlief auch mein Leben in denselben Bahnen. Bis einigen Leuten langweilig wurde.

Nach einigen Jahren schafften sie es, die Ruhe und Ordnung mit einem Schlag in heilloses Chaos zu stürzen.

Damit endete mein erstes Leben.
 

*
 

Immer wenn es schneite und der Wind wehte. Dann stellte ich mir immer vor, ich wäre ein Engel. Flügel aus weißem Puderzucker sprossen aus meinem Rücken und umarmten mich von hinten. Der Schnee hüllte mich ein und wärmte mein Herz.

Dann konnte ich für ein paar Momente ignorieren, wie die Eissplitter meine Haut pieksten.

Am liebsten ging ich durch die Straßen. Drinnen war es genauso kalt wie draußen, seit der Ofen verstopft war. Solange ich einen Schritt nach dem anderen machte, führte ich den Kreislauf fort. Solange ich die Hände in den Taschen fest zusammendrückte, die Wärme behielt, würde ich vielleicht nichts davon verlieren.
 

*
 

A child’s smile, a cherry blossom and a lover’s embrace,

Loveliest are the things that surely must end.
 

*
 

Natürlich habe ich nicht wirklich daran geglaubt.

„Was wirst du später machen?“, fragte ich einmal meinen Freund. Unsere Hände verschlangen sich in meiner Jackentasche ineinander, ein Knäuel aus Haut- und Fleischtentakeln. Ich stellte mir vor, wie sie mich von innen aussaugten.

Er sah mich nicht an, als er antwortete. Stattdessen spiegelten sich die Schneeflocken in seinen Augen. Seen voller Eis, die keine einzige Welle zerknittern konnte. „Später? Woran denkst du? Ich weiß es nicht. Es ist noch zu früh, um an sowas zu denken.“

Dafür liebte ich ihn, für seine Gedankenlosigkeit, und für seine Augen, die so waren wie der ewige Winter um uns herum.

Und dann noch einmal: „Verdammt, ich weiß es nicht, Shiro.“

Mein Name. Ich hasste ihn, denn er war genauso wie der ewige Winter um uns herum. Und er veränderte sich niemals, ebenso wie die kleine Stadt mitten in ihrer Geschäftigkeit erstarrt war. Einer Geschäftigkeit, die einer Maske gleicht, um die Grabesstille darunter zu verbergen.

„Diese Stadt ist ein Friedhof“, sagte ich und zog den Schal fester.

In der Tasche drückten seine Finger kurz meine. Die Tentakel einer Leiche.
 

*
 

Ich hielt mich für schlau.

Woher diese Arroganz? Meine Lehrerin nahm mich nach der zweiten Schulwoche beiseite und streckte mir eine Broschüre entgegen. „Du bist intelligent und lernst schnell. Geh zu der Adresse hinten auf der Broschüre, dort kannst du so viel Wissen ansammeln wie du willst. Wissen kann als Waffe gegen die Außenwelt verwendet werden. Wissen ist der Schlüssel zur Weisheit. Das solltest du dir merken, Shiro.“

Ich ging. Seitdem hat mich das Fieber nicht mehr losgelassen. Immer mehr, immer mehr musste ich lesen. Die Bücher stapelten sich in meinem Zimmer, bis Mutters Launen sich verschlechterten. Dann hörte ich auf, Bücher auszuleihen.

Es gab nun einen Grund, den ganzen Tag von zuhause fern zu bleiben.

Das Prinzip hinter dem Wort „Arroganz“ war mir fremd. Es klang wie ein Fremdwort, etwas, das ich nicht verstehen konnte. Auch andere, die es benutzten, als kennten sie es, täuschten sich nur selbst. Niemand kannte die Bedeutung dieses Wortes. Niemand.

Arro-ganz.

Es besaß aber einen besonderen Klang, der mir gefiel.

Wie gesagt, ich hielt mich für schlau. Deshalb konnte ich nicht genug von Büchern bekommen. Egal, für wie schlau man sich hielt, wie schlau man wirklich war.

Mehr war mehr. Nur die Starken überleben.

Das ist ein Grundsatz, den ich nicht von meiner Lehrerin gelernt habe.
 

*
 

Erkenne dich selbst.
-Inschrift auf dem Orakel und Apollotempel in Delphi, Griechenland.
 

*
 

Die erste Veränderung war mir nicht bewusst. Ebenso wenig wie allen anderen.

„Shiro, siehst du es?“

Ich folgte seiner ausgestreckten Hand, folgte seinem Finger in den Himmel hinauf. Grau. Der Schnee fiel aus der grauen Masse, die wir Himmel nannten. Er schmolz auf meinem Gesicht und verdampfte zu Nichts, bevor er meine Augen erreichen konnte. „Was ist da?“

Es sah aus wie immer. Die graue Masse. Ein Himmel war das nicht, aber wir hatten vergessen, wie er früher ausgesehen hatte.

Mein Freund lächelte, als würde er an der Erinnerung des Vergessenen festhalten. „Der Himmel ist heller geworden.“

Noch einmal blickte ich hoch. Nichts. Das bildest du dir ein. Ich konnte es nicht sagen.

Stattdessen nahm ich seine Hand und steckte sie in meine Tasche. Fleischtentakel.
 

*
 

Isn’t that the poison of the soul? The awareness of the self.
 

*
 

Drei. Vier.

Immer mehr Menschen zeigten in den Himmel. Die Flieger wählten andere Routen und zogen den Rauch ihrer Motoren mit sich. Das Grau löste sich also langsam auf.

Aber ich konnte immer noch nicht behaupten, dass ich den Unterschied sah. Mit Blindheit geschlagen. Andere lachten, seufzten auf und umarmten einander.

Für sie hatte der Krieg bereits aufgehört.
 

*
 

Ein Schatten ragte vor mir auf.

Inzwischen verbrachte ich meine ganze Zeit in den Straßen der Stadt. Studierte den schmutzigen Schnee, die geschwärzten Häuserwände und die Fenster, hinter denen ich nur Staub erkennen konnte. Bevor jemand meine Stille störte, die Seitengasse verdunkelte.

Ich blickte hoch.

Seine Augen. Illusionen frischen Grases und junger Knospen. Den Rest verdeckten ein dicker Schal und eine Kappe. Rauchiges Schwarz. Aber diese Augen.

Er beugte sich zu mir herab, die ich einen Kopf kleiner war, und sah mir ins Gesicht. „Wie heißt du, Mädchen?“

Ich hatte keine Ahnung. Sonst wäre ich schon längst nicht mehr dagestanden. „Shiro.“

Er kicherte, ein leises Geräusch wie fallender Schnee. Es entzog einem die Wärme. Da begann ich, mich unbehaglich zu fühlen. Scharrte nervös mit einem Fuß im Schnee herum. Weiße Sterne auf weißer Oberfläche.

Dann sagte er: „Du bist diejenige, die ich gesucht habe. Deine Lehrerin sagte, du seist besonders intelligent. Wir möchten ein paar Tests mit dir machen.“

„Ihr?“, flüsterte ich. Vermied es, ihn anzusehen. Der Schnee war so viel schöner.

„Project Deadman Wonderland, DW, um es kurz zu machen“, sagte er und kicherte.
 

*
 

Ich war mitgegangen. Hätte ich nur auf meine Instinkte vertraut, hätte ich nur an meinen Freund gedacht, hätte ich nur auf die Botschaften des fallenden Schnees gehört. Dicke Flocken an diesem Nachmittag.
 

*
 

Später. Tage und Nächte, Tage und Nächte. Während mein Körper systematisch auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt wurde, fühlte ich nur, wie ein weiterer Tag und eine weitere Nacht vergingen.

Es gab nichts. Nichts. Nur der Schnee fiel so leise vor meinem Fenster herab wie immer. Ich lernte, dass Schnee scheinheilig sein konnte.
 

*
 

Happy the man, of mortals happiest he,

Whose quiet mind from vain desires is free;

Whom neither hopes deceive, nor fears torment,

But lives at peace, within himself content;

In thought, or act, accountable to none

But to himself, and to the gods alone.

-George Granville, Lord Landsdowne.
 

*
 

Unsere Lippen trennten sich. Die Kälte fuhr zwischen uns wie ein Messer, scharf geschliffen. Seine Worte schwebten noch in der Luft.

„Shiro, ich werde gehen. Mein Entschluss steht fest. Um meine Familie zu ernähren, werde ich zur Armee gehen. Vielleicht auch zur Marine, wenn sie mich dort nicht haben wollen.“ Eine Pause. „Ich komme nicht mehr zurück.“

Die zweite Veränderung stand vor mir im kalten Dezemberwind.

Ich senkte den Blick. Der verdammte Schnee schien mir entgegenzugrinsen. Aber es war nur eine Pfütze, in der sich mein eigenes Gesicht spiegelte. „Tu, was du willst“, sagte ich.

Tu, was du willst.

Ich habe ihn nie wieder gesehen.
 

*
 

Oh, ich hielt mich auch für stark.

Mein weißes Haar und meine roten Augen – in der Schule gab es viele, die nicht verstanden, warum ich so aussah. Und wie könnte ich ihnen einen Vorwurf machen: Ich wusste es ja selbst nicht.

Jahrelang zogen sie mich an den Haaren, versteckten meine Schulbücher, warfen meine Hausschuhe aus dem Fenster, rissen Blätter aus meinen Schulheften, zerbrachen meine Bleistifte. Gossen Saft in meine Schultasche, aßen mein Pausenbrot und verhöhnten, verspotteten mich, spielten mir Tricks. Ich habe das ganze Spektrum erlebt.

Aber ich konnte ihnen nichts vorwerfen. Ich hätte ja selbst so gehandelt.

Einmal nahm mich die Lehrerin nach der Schule beiseite. Dieselbe, die mir die Broschüre der Bibliothek gegeben hatte. „Shiro, geht es dir gut? Wenn dich irgendjemand hänselt, weil du anders aussiehst, oder wenn du Schwierigkeiten hast, Freunde zu finden, musst du es mir sagen. Gibt es etwas, das du auf dem Herzen hast?“

Sie war meine Lieblingslehrerin. Wovor andere beide Augen zudrückten, das sah sie klar und deutlich.

Doch so weit ging meine Zuneigung nicht. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Frau Lehrerin. Da ist nichts.“ Um sie zu beruhigen, fügte ich hinzu: „Es geht mir gut“ und sah ihr in die Augen.

Mein blutroter Blick hat schon andere in die Knie gezwungen. Sie sah zur Seite und nickte. Entließ mich in die Anonymität der Straßen.
 

*
 

„AAAAAAAAAAAH!“

In diesem Moment fragte ich mich, wer diese schrecklichen Schreie ausstieß. Sie schienen von einem Tier zu kommen. Einem verwundeten, oder einer Mutter, die ihr Junges beschützte.

Erst nachdem alles vorbei war, kehrte die Erinnerung zurück. Der Schrei: Das war ich gewesen.

Und unter der Glaswand des DW-Stützpunktes stürzte die Welt ein. Ich sah zu, eine Hand an das Glas gelegt, wie die Erde sich aufbäumte und Risse bildete. Die Stadt zu Trümmern zermalmte.
 

*
 

Das große Erdbeben von Tokyo.

Deadman Wonderland, ein hochmodernes Gefängnis und ein Vergnügungspark, wurde auf den Überresten der Metropole gebaut.

Für die Menschen Japans begann eine neue Zeit.

Für die Person namens ‚Shiro‘ markierte dieses Erdbeben nur eines: Ein zweites und ein drittes Leben.
 

*
 

Sie erfanden viele Schimpfwörter für mich. Das schlimmste jedoch, das am längsten blieb, das bis zum Abschluss an mir klebte wie ein alter Kaugummi, das vergaß ich nie. Niemals. Mein Freund hatte es mir gegeben.

Wretched egg.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  totenlaerm
2013-09-01T23:01:17+00:00 02.09.2013 01:01
Es ist sehr schön geschrieben und wirklich eine atemberaubende Geschichte. Dennoch erfasse ich den Zusammenhang zu Deadman Wonderland nicht so wirklich weil es einfach überhaupt nicht rein passt. Immerhin ist Shiro selbst der Auslöser fürs Erdbeben gewesen, hat schon immer mit Ganta zusammen gewohnt, war schon immer wie nach dem Erdbeben (also kindlich und naiv), hat in dem Medizin Zentrum gelebt an dessen Stelle nach dem Erdbeben das DW errichtet wurde und wurde von Hagire adoptiert und von Gantas Mutter großgezogen und misshandelt. Ich denke mit dieser Vorgeschichte würde Deadman wonderland keinen Sinn mehr ergeben aber an sich ist das eine schöne Geschichte.
Antwort von:  Melange
04.09.2013 13:13
Ich weiß, das liegt daran, dass ich die Geschichte geschrieben habe, bevor diese ganzen Details im Manga herauskamen. Sie ist als alternative Vergangenheit für Shiro gedacht. :)
Antwort von:  totenlaerm
04.09.2013 17:39
Hm ach so. :D Aber Einzelheiten kamen auch schon im Anime vor z.b. dass DW erst nach dem Erdbeben errichtet wurde und dass Ganta und Shiro sich schon seit der Kindheit kennen und sie schon immer so kindlich war und man konnte erahnen dass sie für Experimente benutzt wurde da sie immer davon sprach dass sie so viele Spritzen bekommt usw. Aber das macht ja nichts, ist ja auch schön sich zu überlegen wie es sonst hätte sein können.
Von:  nesLichtbringer
2012-07-20T23:17:23+00:00 21.07.2012 01:17
Sehr schön geschrieben. Ich finde es Hammer ;)
Von:  Golem
2012-03-31T15:00:29+00:00 31.03.2012 17:00
Ich finde es sehr interessant und schön geschrieben.
Aller dings habe ich einen Flüchtigkeitsfehler gefunden xD
Einmal hast du statt "lesen" nämlich "lessen geschrieben.
Ansonsten ist es sehr schön und ich finde auch das mehr Leute es lesen sollten.

^_____^
Von:  _Hikari-chan_
2012-02-29T21:32:41+00:00 29.02.2012 22:32
Oh, ein Deadman Wonderland OS *___*
Und du hast noch gar keinen Kommi dazu Oo
das muss geändert werden

Also ich finde den OS wirklich toll geschrieben, du hast einen interessanten Schreibstil, der sich auch sehr gut lesen lässt
Auch die Art, wie du die Bereiche abgeteilt bzw unterteilt hast hat zumindest auf mich sehr gut gewirkt und dem ganzen ein gewisses Etwas gegeben
Inhaltlich fand ich es auch interessant und auch durchaus als gute Möglichkeit wie Shiro in DW gelandet ist - das weiß man ja glaub ich wirklich nicht
Natürlich ist Shiro hier anders dargestellt als im Manga aber das ist verständlich und ich fand es nicht störend da ihr Charakter sich ja sicher durch die Experimente in DW erst so entwickelt hat, wie er dann war im Manga

Fehler habe ich keine gefunden, was ebenfalls ein großer Pluspunkt war finde ich

Mehr habe ich eigentlich auch nicht wirklich zu sagen bzw fällt mir gerade nicht ein, was ich noch hinzufügen könnte
Von daher: Wirklich ein gelungener OS, der sich sehen lassen kann und meiner Meinung nach definitiv mehr Kommentare haben sollte
_Hikari-chan_
~present for you~


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