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Traum aus Glas

von

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Ein Traum... So zerbrechlich wie dünnes Glas.

Größer als jeder kaputte Wolkenkratzer, den ich je in meinem kurzen Leben gesehen hatte.

Ich hielt ihn fest, mit der stetigen Angst, dass er zerbrechen würde.

Aber solange er in mir existierte, lebte ich weiter.

Solange es noch eine minimale Chance gab meinen Traum wahr zu machen, ging ich weiter.

Nichts und niemand würde mich aufhalten.


 

Seit ich meine einsame Reise angetreten war, waren bereits viele Jahre vergangen. Jahre voller Enttäuschungen, voller Trauer und voller Einsamkeit. Dennoch kann ich nicht bestreiten, dass es auch mal kurze Lichtblicke in der so düster gewordenen Welt gab, die mich wohl voran trieben. Es schien jedoch wie ein Fluch, dass all die Menschen, Wesen und gar Maschinen, die ich begann zu lieben, mich wieder verließen oder vor meinen Augen starben. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Tränen ich schon für all diese guten Seelen geweint habe und womöglich noch weinen werde. Und dennoch schenkten sie mir wunderschöne Erfahrungen und Erinnerungen, welche ich niemals vergessen werde.

Aber vorerst genug davon. Ich bin Seto, einer der letzten Überlebenden nach der verheerenden Katastrophe von 1968, die von japanischen Wissenschaftlern verursacht wurde und nahezu die gesamte Menschheit auslöschte.
 

Der sogenannte „Glaskäfig“ sollte der Menschheit die Fähigkeit geben, einander ohne Worte zu verstehen und Gefühle und Gedanken deuten zu können. Stattdessen fielen aber Milliarden Menschen in einen tiefen Schlaf, aus dem sie nie wieder erwachten...

Woher ich das alles weiß? Nun, ich begegnete dem Geist des Wissenschaftlers, der zu den Protagonisten dieser Tragödie gehörte. Eine gute Freundin von mir konnte ihn allerdings besänftigen, sodass der „Glaskäfig“ kein weiteres Mal zum Einsatz kommen sollte.

Ich setzte meine Reise fort, stets auf der Suche nach weiteren Überlebenden. Ich bin mir sicher, dass ich nach einer Woche Tokyo verlassen hatte und weiter Richtung Westen ging. Irgendwann kam ich an einer wunderschönen Küste an und traute meinen Augen kaum. Wenn man mit nackten Füßen durch den warmen Sand lief und seinen Blick über das Meer schweifen ließ, schien es mit ein bisschen Fantasie so, als wäre die Zeit stehen geblieben... als wäre nie etwas geschehen.
 

Ich schloss meine Augen für einen Moment, ließ die sanfte Brise durch mein Haar wehen und leckte mit meiner Zunge über meine salzigen Lippen. Die Möwen über mir kreischten und ich belächelte sie. Die andauernde Ruhe war unerträglich, sodass ich für jedes Geräusch der Natur mehr als dankbar war.

Plötzlich hörte ich jedoch ungewohnte Laute aus der Ferne:

„Hey! Hey, du!“, rief jemand und ich riss erschrocken meine Augen auf. Wieder einmal meine Einbildung? Das musste aufhören, dachte ich mir und schüttelte den Kopf. Meistens halluzinierte ich, wenn ich zu wenig trank oder es mir an Essen fehlte. Ich atmete also tief durch und versuchte die Rufe zu ignorieren. Sie wurden allerdings immer lauter und lauter...
 

Irgendwann drehte ich mich in die Richtung aus der die Rufe kamen und sog scharf Luft ein vor Schreck. Ein Mensch! Ein leibhaftiger Mensch! Oder ein Geist? Oder wieder eine Maschine? Ach, es war mir so egal in diesem Moment!

Ich rannte voller Vorfreude auf den jungen Mann zu und rief zurück: „Hallo!“ Als ich schwer atmend bei ihm ankam, musterte ich ihn und lächelte glücklich. Seine braune Hose war nur bis zu den Knien lang und an einigen Stellen zerrissen oder geflickt. Sein weißes Unterhemd war schmutzig und auch seine braune Haut hatte überall Flecken und Kratzer. Man sah ihm seine lange und schwere Reise deutlicher an als mir, dachte ich und musterte ihn weiter. An seinem Gürtel hing allerlei nützliches Zeug, wie ein Messer und andere Werkzeuge. Um seinen Kopf trug er ein dunkelblaues Tuch gewickelt und aus seinen schmalen Augen grinste er mich fröhlich an.
 

„Du sprechen Japanisch?“, fragte er und ich blinzelte mehrmals verwundert. Er hatte einen furchtbaren Akzent.

„Ähm.. Ja! Ich heiße Seto! Wer bist du und wo kommst du her?“, fragte ich schüchtern und erblickte hinter ihm ein Floß, welches er sich wohl aus Müll und anderen Teilen zusammen gebaut hatte. Er lachte laut und stemmte die Hände in die Hüfte.

„Ich wusste, dass hier Menschen gibt! Langer Weg hinter mir. Über's Meer gefahren ich bin! Ganz allein! Ich der stärkste Mensch der Welt, haha! Ich heißen Zhao Chonghao. Aus China ich kommen, jawohl!“, erzählte er stolz und rümpfte die Nase.

„Was?! Du bist den ganzen weiten Weg mit deinem kleinen Floß über das Meer gefahren? Das ist ja unglaublich! Aber... warum hast du das getan?“, fragte ich mehr als erstaunt und hätte ihm wohl nicht geglaubt, wenn er nicht so einen unglaublichen Akzent gehabt hätte. Plötzlich verschwand sein Grinsen und er setzte sich nachdenklich wirkend auf den Sandboden. Sein Kopf war gesenkt, als er murmelte: „Mein geliebtes Land kaputt. Alles kaputt! Nirgends mehr Menschen... Nur schlimme, schlimme Monster! Gar nicht schön, Seto. Gar nicht schön.“
 

Er hob seinen Kopf wieder und schaute mich mit glitzernden Augen erwartungsvoll an. „Hier in Japan schön, oder Seto? Hier viele Menschen? Chonghao hier mit euch leben kann, oder?“

Ich schluckte schwer und fühlte mich schlecht, da ich genau wusste, dass ich diesen hoffnungsvollen Jungen nun enttäuschen musste.

„Es... es tut mir Leid. Ich habe seit Ewigkeiten keine Menschen mehr gesehen. Zumindest keine lebenden... und auch hier ist alles zerstört.“, murmelte ich und beobachtete, wie das Gesicht des Chinesen kreidebleich wurde.

„Keine Menschen mehr.“, wiederholte er leise und sprang auf, um vor Wut zu schreien und sein Kopftuch hart auf den Boden zu werfen. Ich wich etwas zurück und wusste nicht, was ich tun sollte. Er tat mir Leid, denn das Gefühl, was er in diesem Moment wohl verspürte, kannte ich nur all zu gut. Man glaubt, dass das Glück direkt vor der Nase steht und man nur noch die Arme sanft darum legen muss, um es für immer zu behalten... und dann löst es sich in Luft auf und man steht erneut vor dem Nichts. Ein schreckliches Gefühl.
 

Chonghao lief eine Weile schnaubend auf und ab, bevor er sein Tuch wieder aufhob und es aufsetzte. Dann lief er zu mir und sah mich eindringlich an.

„Na ja... Zumindest ein Mensch hier ist! Und du bist sicher noch nicht überall gelaufen, oder? Chonghao dich nun begleiten wird. Wir zusammen Menschen finden, jawohl!“, rief er und klopfte mir hart auf die Schulter. Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte und es trieb mir fast die Tränen in die Augen.

„Ist das auch kein Traum?“, sprach ich meine Gedanken leise aus und der Chinese schlug mir plötzlich gegen den Hinterkopf. „Au!“, rief ich laut und sah ihn entsetzt an. „Bist du verrückt? Warum haust du mich?“ Er grinste gemein und wuschelte mir durch die Haare.

„Kein Traum! Chonghao ist echt.“, sagte er und lachte wieder. „Komm mit! Ich zeigen dir Floß. Lecker Essen aus Heimat ich haben!“

Er griff nach meinem Arm und zerrte mich durch den Sand also zu seinem handwerklichen Meisterstück. Er fischte eine große Plastiktonne aus dem Wasser, die dem Floß an einer Schnur hinterher schwamm. In dieser Tonne waren Chonghaos wichtige Sachen.
 

Ich staunte über all die fremden Dinge, die er mir zeigte und versuchte mir zu erklären. Er hatte wie ich zahlreiche Erinnerungen gesammelt und zeigte mir wunderschönen Schmuck, Werkzeuge, Fotos und Briefe, die er selbst auf seiner Reise gefunden hatte. Plötzlich entdeckte ich etwas Seltsames zwischen all den schönen Dingen und nahm es in die Hand. Es war ein merkwürdiger, viereckiger Kasten, in dem aber nichts drin zu sein schien.

„Was ist das? Ich habe so etwas noch nie gesehen. Was tust du damit?“, fragte ich neugierig und musterte den handlichen Metallkasten. Mein neuer Freund sah nachdenklich nach oben und verschränkte die Arme.

„Wie sagt man in Setos Sprache? Diànchí heißt es in China. Du brauchst Diànchí für Maschine!“, versuchte er mir klar zu machen, was es war und ich schaute nachdenklich.
 

„Diàn...chí...?“, wiederholte ich unsicher und er nickte. „Was macht es mit Maschinen? Es ist doch so klein.“, überlegte ich und Chonghao antwortete: „Ohne Diànchí, Maschine kaputt! Diànchí ist Strom!“

Plötzlich riss ich meine Augen auf und ließ den Kasten reflexartig aus meinen Händen fallen. Eine längst verdrängte Erinnerung schoss mir durch den Kopf. Eine der wenigen Erinnerungen, die ich zumindest versuchte zu verdrängen, da sie mir das Herz zerriss.

Es war nur wenige Wochen vor diesem Treffen mit Chonghao gewesen, als ich meinen einzig wahren besten Freund kennen lernte: Crow. Er war ein verrückter Junge, der anfangs ziemlich gemein zu mir war, doch schnell verstanden wir uns auf Anhieb und versprachen uns für immer Freunde zu bleiben. Ich kann nicht beschreiben, was ich für ein unglaubliches Glück in diesem Moment empfand. Wenn ich in Crows gefährliche Augen blickte, sah ich in seine Seele hinein und fand mich geborgen in Sicherheit und Liebe. So dachte ich zumindest, denn es stellte sich heraus, dass mein bester Freund eine Maschine war. Gebaut in jenem Forschungszentrum, das für den Untergang der Menschheit verantwortlich war.
 

Meine letzten Minuten mit Crow waren schier unerträglich. Ich weinte bitterlich und hielt ihn in meinen Armen. Er war schwach und versuchte dennoch mich aufzubauen und mir nette Dinge zu sagen. Er nahm seine Kraft zusammen, um mir ein Lächeln zu schenken. Ein so trauriges Lächeln, dass ich wohl niemals verdrängen kann. Zu seinen letzten, automatisch gesprochenen Worten gehörte, dass seine Batterie leer gewesen sei. Ohne sie funktionierte er nicht mehr und sein System stürzte ab. Ich hatte von Technik absolut keine Ahnung und verstand nur, dass es wohl so etwas wie sein Herz gewesen musste. Sein Herz hörte einfach auf zu schlagen, da es keine Energie mehr hatte.
 

„Batterie!“, rief ich laut und drehte meinen Kopf zu Chonghao. „Eine Batterie! Das ist doch eine Batterie, oder?“, fragte ich und rüttelte an seinen Armen. Er rollte mit den Augen und rief lächelnd: „Genau! Eine Batterie!“ Ich weiß nicht, warum Chonghao sich in diesem Moment so mit mir freute, aber wir rannten mit den Armen gen Himmel gestreckt durch den Sand und riefen immer wieder 'Batterie, eine Batterie'. Er hatte wohl nicht die leiseste Ahnung, warum mich das so glücklich machte, aber ein Mensch, der monatelang in Einsamkeit vor sich hin gelebt hat, nimmt an jeder menschlichen Gefühlsregung teil, egal ob gut oder schlecht. Er steigerte sich mit in meine Freude hinein und konnte sich so ebenfalls freuen. Das war doch etwas Gutes!
 

Als wir uns aber wieder beruhigt hatten, fragte ich ihn lächelnd: „Du musst mir helfen Chonghao! Mit dieser Batterie können wir eine sehr wichtige Maschine wieder zum Leben erwecken! Ist das nicht toll?“

„Ist Maschine gut, um Menschen zu finden?“, fragte er aufgeregt und seine schmalen Augen wurden erstaunlich groß. Ich nickte eifrig und antwortete: „Ja! Und wir wären nicht mehr allein! Wir müssen unbedingt nach Tokyo zurück!“ Dass ich ihm nicht ganz das versprach, was er sich wirklich wünschte, realisierte ich in diesem Moment nicht. Ich hatte nur noch eines im Kopf: Ich musste mit dieser Batterie Crow wieder zum Leben erwecken, koste es was es wolle. Dann wäre ich von mir aus auch mit Chonghao um die ganze Welt gereist, um andere Menschen zu finden! Er musste mir nur diesen Gefallen tun und mir helfen wieder zurück nach Tokyo zu kehren.
 

Ich kramte meine gezeichneten Karten aus meiner Tasche und zeigte sie dem Chinesen. Dieser schaute erst skeptisch und lachte dann lauthals.

„Das soll Karte sein? Man kann nix erkennen! Wie finden du Weg nach Tokyo?“, fragte er und lachte mich weiter aus. Ich sah ihn etwas beleidigt an und entgegnete: „Vertrau mir! Ich bin bisher wunderbar mit diesen Karten zurecht gekommen! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bis es dunkel wird, sollten wir ein Unterschlupf gefunden haben, da es auch hier Monster gibt.“

Chonghao nickte und band sich mit dem langen Seil die Plastiktonne auf dem Rücken, in der all seine Schätze waren.

„Los geht’s!“, rief er vorfreudig und folgte mir.
 

Da der Tag leider schon angebrochen war, hatten wir nicht mehr viel Zeit und kamen schließlich in einem kleinen Geschäft an einer wohl sonst viel befahrenen Straße unter. Bäume und Unkraut hatten sich durch das Asphalt und die kaputten Scheiben des Schaufensters geschlängelt, sodass wir nicht vollkommen geschützt waren. Das Licht unseres Lagerfeuers hielt wohl aber die schlimmsten Monster fern, sodass wir Ruhe hatten. Wir wärmten uns etwas Essbares aus Konserven auf und starrten in das knisternde Feuer.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du den ganzen weiten Weg über das Meer geschafft hast.“, sagte ich leise und stellte mir vor, wie ich auf dem Meer segelte. Das Meer war mir fremd, weshalb ich mich davor fürchtete und hoffte, dass ich das niemals tun musste.
 

„Mein Vater ist Fischer. Das Meer ist Chonghaos zweites Heimat! Ich kenne jeden Fisch und jede Welle, haha.“, erzählte er stolz und lachte wieder locker auf.

„Wow... Trotzdem bist du sehr mutig!“, sagte ich und lächelte ihn an.

„Tja... Für Traum tut man alles!“, lächelte er zurück und berührte mit diesen Worten mein Herz. Ach, er sprach mir so aus der Seele! Wo war ich nicht überall lang gelaufen auf der Suche nach anderen Menschen, auf der Suche nach Ren, auf der Suche nach Liebe und Wärme. Die dunkelsten Orte und die gefährlichsten Monster hatte ich bezwungen, nur für diesen einen Traum. Aber kam ich durch das Treffen auf Chonghao der Erfüllung meines Traums nicht wieder ein Stück näher?

„Erzähl mir mehr von dir, Chonghao! Von deiner Familie... und von China!“, bat ich ihn aufgeregt und löffelte etwas Suppe aus meiner Aludose.
 

„Hmmm...“, machte er, legte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf mit einer Hand. „Wo fange ich an? Ich bin 17 Jahr alt und komme aus kleines Dorf bei Meer. Wunderschönes Dorf, Seto! Nicht voll mit Autos und hohe Häuser. Viel Ruhe und viel nette Menschen. Ich lebe mit Familie und Frau in kleines Haus und auf Boot.“, erzählte er und lächelte etwas in Gedanken versunken an die Decke. „Du hast schon eine Frau?“, fragte ich erstaunt und wurde etwas rot. Chonghao sah mich kurz verwirrt an, lachte dann aber wieder laut.

„Jawohl! Die schönste Frau in China! Meine Phuong... Sie schimpft, wenn sie Chonghaos schmutzige Kleidung sieht!“, scherzte er und lachte etwas bitter auf. Ich wusste, dass sie wohl nicht mehr leben würde, lächelte aber versucht aufbauend, denn ich merkte, dass Chonghao gerne von ihr schwärmte. So kamen die schönen Erinnerungen zurück und mit ihnen, die wohligen Gefühle.
 

„Irgendwo wartet Phuong. Ich weiß das. Phuong ist klug! Viel klüger als Chonghao. Und wenn ich es nach Japan geschafft, dann Phuong auch!“, sagte er und schien fest überzeugt davon. Das war dann wohl Chonghaos Traum. Ich nickte und stimmte zu: „Bestimmt! Irgendwo wartet sie auf dich.“ Und wenn es im Himmel bei den Engeln sei. Ich wusste, dass ich ihm womöglich wieder falsche Hoffnungen machte, aber es tat ihm gut. Ich wusste nur zu gut, wie wichtig in dieser schlimmen Zeit ein Traum oder ein Ziel war. Wir beide hatten einen Traum und würden uns von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Wir unterhielten uns noch eine Weile über Chonghaos Familie, bis ich ruhig neben ihm am Feuer einschlief. Es war lange her gewesen, dass ich so sanft in den Schlaf fand und nicht von zahllosen Alpträumen geplagt war. Die Nähe von Chonghao half mir ungemein.
 

Doch noch in der selben Nacht geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Anfangs vermutete ich, dass Chonghao unruhig schlief und konnte in meiner Müdigkeit nicht zuordnen, woher genau diese Berührungen kamen. Als ich dann aber ein fremdes Lippenpaar auf den meinen spürte, erwachte ich schlagartig und riss meine Augen erschrocken auf. Im Licht des noch immer lodernden Feuers erblickte ich Chonghao. Er drückte mich fest auf den kalten Boden und küsste mich forsch, was mir die Schamesröte ins Gesicht trieb, nachdem der erste Schreck verflogen war. Wieso tat er das?
 

Ich erinnerte mich an Crow, der mir nach seinem Kuss versicherte, dass beste Freunde so etwas tun würden. Dieser Kuss fühlte sich aber nicht ansatzweise danach an. Er war hart und aggressiv. Er fühlte sich nicht warm und schön an, er demütigte und bedrohte mich. Ich protestierte laut in den Kuss und zappelte wild unter dem anderen, bis ich schließlich einen Faustgroßen Stein in greifbarer Näher ertastete und gegen Chonghaos Kopf schlug. Sofort fuhr er vor Schmerz zurück und rollte von mir herunter. Er fluchte wohl auf chinesisch und hielt sich den schmerzenden Kopf. Ich wich rückwärts in eine Ecke und kauerte mich dort schwer atmend vor Aufregung zusammen. Meine Gedanken überschlugen sich und ich verstand die Welt nicht mehr. Chonghao warf mir einen missmutigen Blick zu und stand auf. Dann griff er nach all seinen Sachen und sammelte sie hektisch zusammen. Ich bekam große Augen und sprang ebenfalls auf, als er zum Gehen ansetzte.
 

„Chonghao! Du, du darfst nicht gehen!“, rief ich verzweifelt und klammerte mich an seinen Arm. Diesen riss er mir aber fort und zischelte: „Bist du verrückt?! Ich habe Kontrolle verloren... Darf nicht bei Seto bleiben!“

Er ging aus dem Laden und mein Herz schnürte sich eng zusammen vor Angst. Zum einen fürchtete ich mich wieder vor der Einsamkeit und zum anderen wusste ich, dass mit Chonghao wohl auch meine einzige Chance gehen würde, Crow wieder zu beleben.

„Chonghao! Nicht!“, rief ich wieder und rannte ihm nach. Ich stellte mich vor ihm hin und schob ihn rückwärts wieder Richtung Laden. Da mich meine Gefühle und Gedanken übermannten, begann ich zu weinen und sah verzweifelt in seine reuevollen Augen.

„Von... von mir aus kannst du mich küssen so oft du willst, das macht mir nichts, a-aber... du musst bei mir bleiben! Du darfst nicht auch noch gehen! Alle gehen immer! Ich hab' es satt! Du musst bei mir bleiben! Ich flehe dich an.“, rief ich und sah, dass Chonghaos Gesicht wieder sanftere Züge bekam und er mich bemitleidend ansah. Dann senkte er seufzend den Kopf und schob mich vorsichtig von sich.
 

„Dummkopf.“, murmelte er und grinste wieder schief. Ich war erleichtert, denn dieses Grinsen schien anzudeuten, dass alles wieder gut werden würde. „Mach nicht solche Angebote! Ich bleiben hier.“, sagte er und atmete tief durch. Ich tat es ihm gleich und wischte mir hektisch die Tränen weg.

„Danke! Danke...“, wisperte ich erschöpft und wir gingen in den Laden zurück. Wir sprachen kein Wort mehr über diesen Vorfall, doch es war schon auffällig, dass Chonghao nun am anderen Ende des Raumes schlief und nicht mehr bei mir. Das machte aber nichts, denn die Hauptsache war, dass er überhaupt da war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  VonArrcross
2011-09-19T01:28:59+00:00 19.09.2011 03:28
Das Kapitel ist wirklich sehr gut geschrieben. Shanghao ist ein interessanter Junge und mich würde zu sehr interessieren was die beiden zusammen noch erleben werden.
Die Einsamkeit einer beinahe ausgestorbenen Welt, hasst du auch wunderbar rüber gebracht und ab und an schmerzte es mir, bei der eigenen Erinnerungen an das Spiel. Sie sind nicht so schmerzhaft wie Setos eigene Einsamkeit und doch war auch ich immer heilfroh, wenn ich jemanden zum reden gefunden hatte. Dieses Glücksgefühl und die Angst wieder alleine zu sein, hast du wirklich super geschildert.


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