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Eine unbeugsame Schülerin

Vorgeschichte des Phantom der Oper
von

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Die Taschendiebin

Die Taschendiebin
 

Drückende Sommerhitze wand sich durch die Straßen Roms, der Architektur Hauptstadt der Mittleren Welt. Ihre Unbarmherzigkeit durchtränkte die Häuserschluchten, ließ die Luft aus Angst vor ihr erzittern. Nur vereinzelte Wolken trieben über den strahlendblauen Himmel und Erik wusste, dass es so schnell nicht kühler werden würde.

Die Riemen seiner Maske begannen auf der Haut zu Jucken, als der Schweiß über sein Gesicht lief, doch er wagte es nicht sie abzunehmen. Menschen hasteten an ihm vorbei und nahmen ihn nicht einmal wahr. Das erste Mal in seinem Leben waren die Menschen zu beschäftigt um seine Andersartigkeit zu sehen und ihn als Monster zu beschimpfen. Es tat gut, nun einmal als ein Phantom durch die Welt zu wandeln und nicht als Sohn des Teufels verschrien zu werden.

Noch immer flossen Javerts Worte über die „wandelnde Leiche“ wie Gift durch seine Adern, doch zeitgleich spürte Erik noch immer das Pulsieren der Macht in sich, als das Messer in die ledrige, fette Haut gefahren war und jeder Stich das Lebens seines Peinigers verkürzt hatte.

Eine Frau drängte Erik zu Seite.

„Non va in mia stradina, idioto“, keifte sie verärgert und balancierte einen Korb voller roter Äpfel an Eriks schlanker Gestalt vorbei. Steh mir nicht im Weg, Idiot. Der Junge verstand jedes Wort der gemurmelten Wortwolke, welche sich über die Häuser Roms erhob. Für sein Architekturstudium in jungen Jahren war es für Erik unabdingbar gewesen die Sprache von Leonardo da Vinci zu lernen. Viele bezeichneten sie auch als la lingua di amore, die Sprache der Liebe, doch er verstand nicht, was an dieser Sprache anders war als an jeder anderen. Genauso wie Französisch, Latein, Deutsch und Englisch, so war auch sie nur aus Regeln und Gefügen aufgebaut. Was machte eine Sprache besser als die andere?

Schnell schüttelte Erik den Kopf und setzte seinen Weg auf dem Kopfsteinpflaster fort. Es war erst früher Morgen, die Sonne hatte gerade erst die umgebenden Hügel überwunden, doch schon jetzt war die trockene Hitze kaum zu ertragen, doch es kümmerte das Phantom nicht. Geschickt schlängelte sich Erik durch die tiefen Schluchten der Altstadt. Er war fasziniert von der Standhaftigkeit der Bauten, welche bereits aus der Antike stammten. Die Bauten Caesars, Alexanders des Großen erhoben sich wie Stalagmiten aus den restlichen, stümperhaften Holzhütten, welche die Römer nach dem verheerenden Brand Roms durch Nero schnell wieder errichtet hatten. Noch bevor die Sonne die Stadtmauern überwand, wollte er sich mit Giovanni, dem Steinmetz, in der Sixtinischen Kapelle treffen und Erik hatte nicht vor zu spät zu kommen. Er würde seinen Lehrmeister nicht warten lassen.

Ein Bettler griff nach seiner Hose und Erik blieb irritiert stehen. Unwirsch warf er dem elendigen Wurm einen vernichtenden Blick zu. Er war es satt,das heuchlerische Leid der Menschheit und die Unbarmherzigkeit der Gesellschaft an jeder Ecke dieser Stadt zu sehen. Zu sehr erinnerte es den jungen Knaben an seine eigene Geschichte.

„Signore, prego, un po’ di dinaro.“, bettelte er, seine beinah blinden Augen blickten mit ihrem stumpfen Glanz zu ihm hinauf. Eriks hellblauen Augen betrachteten den Mann für einige Momente, formte die Lider zu engen Schlitzen, doch dann riss er seinen Saum los und wandte sich ab. Selbst wenn er Geld gehabt hätte, so wusste Erik nicht, warum er es für einen Menschen opfern sollte, wo die Menschheit ihm doch auch nie etwas geschenkt hatte. Wegen so einer Belanglosigkeit würde Erik seine Zeit nicht verschwenden.

Mit der Anmut einer Katze setzte der Junge seinen Weg fort. Erik ließ die Hauptstraße hinter sich, betrat das Staatsgebiet des Vatikans und bog vor den Toren des Petersplatzes recht ab. Die Straße, die zur Sixtinischen Kapelle führte, schlängelte sich einen Hügel hinauf, auf dessen Gipfel die Private Krypta des Papstes befand. Erik war neugierig, wie die Steinmetzte der Gotik dieses wichtige, religiöse- es fröstelte Erik bei diesen Wort in seinem Kopf und er schnaubte unwirsch- Monument umgesetzt hatten. Auch auf Michelangelos Deckengemälde in der Kapelle war gespannt. Laut den Gerüchten der Straße sollten sie die Schönheit in ihrer Perfektion darstellen.

Erik runzelte die Stirn bei diesen Gedanken. Das bezweifelte er. Perfektion wurde niemals erreicht, man näherte sich nur an, wie eine Asymptote, die niemals die X-Achse eines Graphen schnitt. Selbst sich selbst maß Erik nicht an, jeweils absolute Perfektion zu erreichen, doch ihr immer näher zu kommen war sein stetes Bestreben. Er behauptete bloß, dass er ihr bereits umso viel näher gekommen war, als die meisten einfältigen Wesen, die das von sich behaupteten. Und doch hatte er niemals Anerkennung für sein Werk erhalten. Niemals hätte er den berühmten Da Vinci Preis für Architektur gewinnen können, auch wenn selbst der Professor sein Werk als überragend angesehen hatte, als er 6 Jahre alt gewesen war.

Als er das große, marmorne Tor passierte, blieb er kurz in dessen Schatten stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl es erst halb sieben morgens war, war die Schwüle schon beklemmend und machte das Atmen in seinem schwarzen Umhang schwer. Das weiße Hemd klebte schon an seiner bleichen Haut, doch Erik kümmerte sich nicht darum. Er überlegte eher wie er an den Wachen des Vatikans vorbei kam, die um den Eingang zur Kapelle patrouillierten. Würden sie von ihm verlangen die Maske abzunehmen? Dann würde er garantiert nicht mehr hineinkommen. Schließlich war er der Sohn Satans. Was sollte er denn schon anderes sein mit diesem Gesicht? Kurz verzogen sich seine Augen vor Schmerz, doch dann schüttelte der Junge seinen Kopf und trat aus dem Schatten. Dunkle, bronzefarbene Backsteine zierten den rechten Flügel des Vatikangebäudes. Es war ein schlichtes Backsteingebäude mit einem goldenen, fünf Meter großen Kreuz über dem Eingang. Erik runzelte die Stirn. Das sollte also das Meisterwerk Di Angelos sein? Erik hätte breite, ausladende Pfeiler, Kreuzschiffe und aufwendig inszeniertes Bollwerk erwartet. Sicherlich, es handelte sich hier bloß um die Privatkapelle des Papstes und war normalerweise Besuchern gegenüber nicht geöffnet, dennoch. Etwas mehr hatte er schon erwartet.

Seine Augen wanderten über dem Platz, suchten nach Giovanni, doch der alte Mann war nicht zu entdecken. Der Platz war wie ausgestorben. Die Römer lagen wohl noch entweder in ihren Betten oder waren auf dem Markt. Erik war das nur Recht. Je weniger Menschen sich hier umherdrängten wie aufgebrachtes Vieh, desto weniger misstrauische Blicke würde er ernten.

Das Betreten eines Gotteshauses hatte noch immer einen seltsamen Beigeschmack für ihn. Jeder Schritt weg vom Torbogen kostete ihn Überwindung und er schaffte es bloß indem er sich einredete es nicht als einen Pilgerbesuch zu betrachten, sondern um sich die Architektur zusammen mit seinem Meister und Art Vaterersatz zu betrachten. Nein, sein Weg in die Sixtinische Kapelle war nicht religiös orientiert, sondern von wissenschaftlicher Natur. Erik holte tief Luft unter seinem Leinenhemd, als er sich dies immer wieder vor Augen geführt hatte und nickte dann kaum merklich. So war es gut. Für ihn war das hier nichts weiter als ein Gebäude, dessen Struktur er analysieren möchte. Er würde sich nicht mit dem Heiligen Geist oder Ähnlichem aufhalten, denn im Reich Gottes war sowieso kein Platz für ihn. Das hatte Erik schon in jungen Jahren erkannt. Er war der Sohn Satans, von unglaublichem Wissen und nun auch mit dem Rausch des Todes ausgestattet, gehörte er eigentlich nicht in diese Welt und in das Himmelreich erst recht nicht. Da machte er sich nichts vor. Für ihn gab es keinen angestammten Platz, kein zu Hause, kein Heim. Er war dazu verdammt auf ewig rastlos, in seinem Drang nach Wissen und Perfektion, umherzureisen.

Erik bemerkte erst jetzt, dass er stehen geblieben war. Warum? Es schien, als hätte sich ein Instinkt von ihm gemeldet. Irritiert runzelte er die Augenbrauen hinter seiner Maske. Vor ihm, im Schatten einer hohen Mauer verborgen sah er eine Gestalt hocken. Erik beobachtete sie unauffällig. Lauern wäre noch besser ausgedrückt. Geduckt kauerte sie dicht an die steinerne Wand gepresst, bereit zuzuschlagen wie ein Raubtier in der Nacht. Erik fragte sich warum. Er stand direkt neben dem Schemen. Die tiefstehende Sonne warf lange Schatten, sodass man sich gut in ihnen verborgen konnte. Er kannte diese Vorzüge nur allzu gut. Aus den Augenwinkeln bemerkte der Junge wie sich die schmale Silhouette sich langsam in Bewegung setzte einer bedächtigen Welle gleich. Sie kroch auf ihn zu, ihren Blick auf seine Hüfte gerichtet.

Blitzschnell wirbelte Erik herum und tänzelte so hinter den Rücken der jungen Frau, griff nach ihren Händen und riss sie hoch. Ein strenger, italienischer Fluch, der hier besser unbenannt blieb, entfuhr dem dreckigen Mund.

„Du wirst mich nicht bestehlen.“, flüsterte Erik ihr mit seiner Stimme, welche von einem machtvollen, beinah hypnotischen Klang gesegnet war, bedrohlich in ihr Ohr, was sie erstarren ließ. Erik sah wie ein eisiger Schauer ihren Rücken hinablief und sich instinktiv in eine Defensivhaltung begab um den Angreifer zu beschwichtigen.

„A…aber, Signore…“, setzte sie mit zitternder Stimme an und warf einen schüchternen Blick über die Schulter. Als sie nun Erik genauer ansah, schnaubte sie plötzlich und riss mit solch einer unerwarteten Kraft an ihren Händen, dass er keine Chance hatte sie weiter festzuhalten. Dieses Mädchen war wirklich stark. Sonst war er immer stärker gewesen, obwohl seine Gestalt einen eher schmächtigen Eindruck machte. Erik wusste sich die Naturgesetze zu nutzen zu machen oder sich einen taktischen Vorteil zu verschaffen.

„Du bist ja bloß ein Knabe.“, rief das Mädchen aus und sprang hastig einen Schritt zurück. Zumindest war sie nicht dumm, sondern brachte heimlich Abstand zwischen sie beide. Das musste Erik ihr zugestehen.

„Was ändert das?“, erwiderte Erik mit Nachdruck und behielt seine Umgebung im Blick. Keine der Wachen hatten den Zwischenfall bemerkt und würden somit Alarmschlagen. Vielleicht sollte er…Er brach den Gedanken ab. Noch nicht. Er wollte nicht dem dunklen Drang in sich nachgeben.

„Eine ganze Menge.“, schnaubte das vielleicht 15 Jährige Mädchen und lächelte keck. Ihre Zähne waren noch in relativ annehmbarer Verfassung in Anbetracht ihres Lebens. Sie waren gelblich verfärbt und besaßen einige Löcher soweit Erik es ausmachen konnte, doch noch waren sie nicht verfault. Erik legte seine Stirn in Falten, war sich jedoch nicht sicher, ob das Mädchen es überhaupt sah, ob sie überhaupt bemerkte, in welcher Gefahr sie sich befand. Er spürte bereits wieder diesen Drang in sich, den Giovanni so lange in ihm versiegelt hatte. Ein Pochen in seiner Hand ließ ihn immer wieder einen Hauch in Richtung der Schlinge tasten, die er stets bei sich trug um sich zu verteidigen und seine Augen huschten über den Platz um festzustellen ob es mögliche Zeugen geben würde.

„Und was?“, fragte er mit eisiger Stimme und seine lebhaften Augen hinter der Maske durchbohrten das Mädchen wie ein Pfeil. Diese zuckte kurz, wich aber nicht zurück, sondern verharrte stur an der Stelle auf der sie stand.

„Bei einem Knaben brauch ich mich nicht zu entschuldigen.“ Erik wäre beinahe die Kinnlade hinabgeklappt, wenn er nicht so beherrscht gewesen wäre. Seine Lippen wurden schmal, als er auf sie biss und seine Hand sich fest zur Faust schloss. Was erlaubte dieses kleine, dreckige Mädchen sich? So etwas Dreistes hatte er selten erlebt.

„Eine seltsame Art der Gerechtigkeitsvorstellung.“, sagte Erik ruhig und holte tief Luft um das Brodeln in seiner Brust zu ersticken. Warum ging er nicht einfach weiter? Warum ließ er das Mädchen nicht einfach stehen? Sie würde es sowieso nicht schaffen ihn zu bestehlen. Dafür waren seine Sinne zu fein.

„Was? Ein Mann kann mir etwas anhaben. Ein Knabe nicht.“ Erik atmete zischend ein und unterdrückte so ein Zischen. Um ihn herum schien die Luft zu flirren zu beginnen, getränkt von der Wut, die sich langsam in seinem Magen fraß. Ahnte das Mädchen nicht, dass sie mit dem Tod tanzte? Mit ihrem Tod? Eine kühle Brise wehte über die Mauern des Platzes hinweg und bauschte Eriks Reiseumhang die den Flügel eines Todesengels auf. Wirklich, perfekte Untermalung. Erik lächelte amüsiert und strich eine seiner dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Das glaubst auch nur du, mein liebes Fräulein.“, schmunzelte er und ein amüsiertes Grinsen zuckte um seine Mundwinkel. Obwohl das Mädchen alles verkörperte, was er an der Menschheit hasste, so verharrte er dennoch hier und stritt mit ihr. Warum? Er verstand es selbst nicht.

„Aber ich habe gerade selbst als du im Vorteil warst dich abgewehrt und glaube mir, wenn du es drauf anlegst, kann ich als Knabe viel mehr, als du für möglich hältst.“ Arroganz und Herablassung tropfte wie Quecksilber von seiner Stimme, vergiftete sie mit einer Aura der Macht. Erik wusste, dass wenn er wollte, er Menschen nach seinen Belieben manipulieren konnte. Es war ihm ein leichtes. Nur bei seiner Mutter war es ihm nie gelungen.

Seine Lippen kräuselten sich, als er an seine Mutter dachte und so verdrängte er die Gedanken schnell. Er hatte sich von ihr gelöst. Sie hatte ihn nie geliebt, also warum sollte Erik noch an sie denken? Nein, diese Frau hatte nicht einen seiner kostbaren Gedanken verdient. Niemals wieder.

„Tzzz. Ich bin die Stärkste weit und breit. Ich bin nicht umsonst Francesca Stranieri.“, fuhr sie ihn triumphal an und begab sich in Pose. Erik hingegen zog bloß nur eine Augenbraue hoch und neigte den Kopf leicht zur Seite.

„Francesca, die Fremde?“, wiederholte er bedächtig ihren Namen und betonte die Übersetzung ihres Namens voller unverhohlener Belustigung. Seine Stimme verfehlte seine Wirkung nicht. Francesca errötete und bleckte animalisch ihre Zähne. Es war so typisch für die Menschen. Kaum gingen ihnen die Argumente aus, so begaben sie sich auf ihre tierischen Instinkte wie Angriff oder Flucht zurück. Erik hatte dieses…er nannte es mal Spiel, oft genug beobachtete und wieder einmal festgestellt, dass er besser war als die Menschen. Es hatte sein Selbstbewusstsein gestärkt und ihm gezeigt, dass er zu höherem berufen war. Zeitgleich jedoch fühlte er sich einsam. Nirgendwo war sein Zuhause, er gehörte Nirgendwo hin, denn in der gebildeten Schicht der Gesellschaft würde sein Talent niemals Anerkennung erlangen, ganz gleich wie brillant er war. Die Tore des Ruhmes würden ihm für immer verschlossen bleiben, sobald man seine Gestalt erblickte. Dieses Gesicht, was ein Fluch, sein Alptraum in jungen Jahren gewesen war.

Francesca trat auf ihn zu und blieb nur wenige Zentimeter vor ihr stehen. Ihre Nasenlöcher bebten vor kochender Wut. Offensichtlich hatte er einen wunden Punkt getroffen.

„Das ist ein stolzer Name!“, blaffte sie ihn an und ihre braunen Locken wippten über ihrer Schulter. Erik kam nicht ohnehin zu bemerken, dass sie, wenn sie keine obdachlose Diebin wäre, durchaus ansehnlich wäre. Ihr haselnussbraunes Haar war kräftig und voll, ihr Körper gut gebaut, die Nase gerade, die vollen Lippen keck geschwungen und ihre grasgrünen Augen blitzten ihn wach an. Aus ihr hätte mehr werden können, das spürte Erik. Vor ihm stand kein dummes Mädchen, nur ein wenig tölpelhaftes, lautes, das nicht wusste, wann es Grenzen überschritt. Auch an ihr zeigte sich die Engstirnigkeit der Gesellschaft. Ein jeder reicher Vater hätte sich eine solche Tochter gewünscht, wenn auch vielleicht nicht so hitzköpfig, aber das würde eine ordentliche Erziehung oder das Alter geben, doch weil sie auf der Straße lebte, war Francesca nicht mehr wert als ein Apfel, wenn überhaupt.

„Das ist Ansichtssache, wertes Fräulein.“, entgegnete Erik und legte einen samtenen Ton in seine Stimme. Er wollte sie loswerden. Er merkte, dass er zu viel über nachzudenken begann, dass er sich zu viel mit ihr befasste und das wollte er nicht. Wenn er Menschen an sich heranließ wurde es gefährlich. Sie würden ihn eh nur enttäuschen. Niemand ertrug seine Wahrheit, keiner mochte ihn verstehen. Erik hatte schon lange den Glauben an die Menschheit verloren und sah sie nur als ein großes Übel. So hochtragend und frevelhaft zu gleich, dass es ihn erschaudern ließ. Nein, die Menschheit war ein Fluch. Gezeichnet von Gottes größtem Geschenk, dem Wissen und der Liebe und doch wandten sie sich ab und stürzten sich ins Chaos, in Machtkämpfe und in Kriege.

Erik musste zwar zugeben, dass ihn die Machtkämpfe mit Javert durchaus amüsiert hatten. Es war so leicht gewesen ihn mit Geld auszustechen und zu manipulieren. Es war wirklich ein großer Spaß gewesen, doch Erik hatte es nur getan um seine Würde wieder zu erlangen und am Ende war das Spiel zu weit gegangen. Er hatte Javert getötet und so den letzten Rest Unschuld abgegeben, den er hatte. Sicherlich, er hätte sich damit herausreden können, das Javert ihn vergewaltigen wollte, aber Erik spürte nun stärker denn je, dass es für ihn nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre, bis er Jemanden getötet hatte. Javerts Handlungen hatten ihn bloß eine Entschuldigung geliefert und so den Zeitpunkt vorgezogen. Mehr jedoch auch nicht. Erik hatte schon lange den Drang gehabt, die letzte Grenze menschlicher Ethik zu sprengen und sich auch vom letzten Gebot der Kirche abzuwenden. Früher einmal war er durchaus gläubig gewesen, doch als ihm der Pfarrer eröffnet hatte, dass sein geliebter Hund keinen Platz im Himmel hätte, seine Mörder jedoch schon, hatte er allen Werten abgeschworen. In jener Nacht, als ein wütender Mob Sally erschlagen hatte und ihn selbst fast tötete, hatte sich sein Leben verändert. Seine Mutter wollte ihn in eine Irrenanstalt stecken und zusammen mit ihrem jungen, Pariser Arzt durchbrennen. Nein, er hatte sein Schicksal selbst in die Hand genommen.

Schon seltsam dass Erik den Drang verspürte mit den Moralvorstellungen der Gesellschaft zu brechen, wo er doch an derer Stelle wie Höflichkeit und Respekt so sehr an ihnen hing, sogar noch mehr als die meisten Menschen.

Erik verscheuchte seinen langen Gedankengang und wandte sich Francesca zu, die noch immer keuchend vor ihm stand und die Hände in die Hüfte gestemmt hatte. Es verwunderte Erik. Seine bedrohliche Aura hatte sie noch nicht vertrieben, normalerweise nahmen die Menschen reis aus vor ihm, wenn er es darauf anlegte, doch dieses Mädchen war nicht gewillt auch nur einen Zentimeter nachzugeben und Erik spürte wie ihre trotzige Art ihn anstrengte.

Francesca betrachtete ihn abschätzig und schlich einige Meter nach hinten. Zwei Mitglieder der Schweizer Garde bogen gerade genau um die Ecke des Vorplatzes der Kapelle. Sie trugen die blaue Exerzieruniform und ein schwarzes Barett. Der Stoff wellte sich über den Krempen ihrer schwarzen Lederstiefel und schimmerte we eine Woge des Meeres im Morgenlicht. Da es sich nicht um den offiziellen Vatikan Platz handelte, trug die Garde auch nicht ihre bekannte Uniform aus rotem Samt und grünen Seidenpuffern. Einer der beiden hatte eine weiße, im Takt des Ganges leicht wippende, Feder auf den Kopf gesteckt, was ihn als Feldwebel auswies.

Erik sah seine Chance gekommen diese unangenehme Situation zu beenden. Er müsste einfach nur zu der Wache gehen und Francesca melden. Gerade als er losgehen wollte um den versuchten Diebstahl anzuklagen, schreckte er zurück. Würde er das tun, so würde er riskieren, dass auch er auf Grund seiner Maske abschätzig oder gar vertrieben wurde. Der Schwarze Tod war zwar ausgemerzt, doch die Angst von Kranken waberte noch immer durch die Gassen der Stadt. Nein, das Risiko vertrieben zu werden war zu groß. Schließlich wollte Erik doch unbedingt das Gemälde Michelangelos sehen. Also packte er hastig an dem Arm ihres Lumpens und zog sie in den Schatten einer Mauer. Gerade als sie protestieren wollte, hielt er ihr seine Hand mit den unnatürlich langen Fingern vor den Mund und beobachtete die Garde.

Die beiden Gardisten blieben kurz vor ihnen stehen und ließen ihren Blick schweifen. Die Klinge ihrer Hellbarde blitzte unheilvoll auf, als das Licht er Morgensonne sich auf ihnen brach und die Scheide ihrer Schwerter wippte bei jedem Schritt. Sicher, Erik hätte sie besiegen können, wenn er denn gewollt hätte, doch er wollte nun nicht auch noch der Mörder der Wachen des höchsten Geistlichen der christlichen Welt bleiben. Es behagte ihm nicht bei dem Gedanken.

Francesca wand sich unter dem festen Druck seiner Umklammerung, doch der Junge kümmerte sich nicht darum, stattdessen drückte er sie sogar noch gegen die Wand um ihr jeglichen Bewegungsfreiraum zu nehmen. Seine Finger krallten sich in den kratzigen Stoff ihrer Kleidung und es war ihm egal, was sie dachte, was er mit ihr tun würde. Es war nicht das erste Mal, das ein Mädchen er würde sie Vergewaltigen. Er hatte sogar einmal die Möglichkeit dazu gehabt, doch wegen seines Stolzes hatte er es verschmäht und was war der Dank gewesen, als er ihr stattdessen geholfen hatte? Sie wollte ihn verraten und der schrecklichen Strafe der Zigeuner aussetzen, die auf dieses Vergehen stand. Nein, zu so einem niederen Drang würde er niemals Nachgeben. Sexuelle Gewalt war unästhetisch, schmutzig und von niederer Geburt. Mord hingegen konnte man in ein wunderschönes Gewand kleiden und zu einem richtigen Theaterstück inszenieren.

Francesca stieß einen verärgerten Laut aus, doch Erik zischte nur bösartig und sie schwieg sofort. Die Aura der Bedrohung hing wie eine Nebelschwade um Erik, wenn er es wollte. Sein Gegenüber fühlte sich dann, als stünde es einem Raubtier gegenüber, das nur darauf wartete zuzuschlagen. Es ging dann nur noch um das Wann, denn dass es geschehen würde, war nur noch eine Frage der Zeit.

Der jüngere Gardist kratzte sich träge am Kopf und fing sich einen Rüffel vom Feldwebel ein, dass er sich zu einer Aktion hatte hinreißen lassen. Ein Mitglied der Schweizer Garde musste stets Haltung bewahren und keine Anzeichen von Müdigkeit, Hunger, Durst oder Ähnlichem zeigen. Synchron blickten die Wachen in die jeweils entgegengesetzte Richtung, doch die tiefen Schatten verschlangen Erik in seinem Umhang und somit auch die hinter ihm versteckte Diebin. Auch wenn Erik die Gardisten beobachtete, so behielt er doch stets das Mädchen im Auge. Nicht, dass sie noch einmal auf dumme Gedanken kam und versuchte ihn sein letztes Geld zu stehlen. Schließlich nickten sich die Wachen zu und setzten ihren Rundgang fort.

Augenblicklich ließ Erik sie los und trat einen Schritt zurück.

„Der Platz der Sixtina ist keinen Ort für eine Diebin wie dich. Wenn du erwischt wirst, wird das dein Tod bedeuten.“, erklärte Erik ruhig, während er die Schnallen seines Umhang richtete und sich Staub von den Schultern klopfte, der von den spröden Mauern herabgerieselt war.

„Ich kann gut auf mich selber aufpassen.“, erwiderte das Mädchen hitzig und ihre braunen Locken wippten aufgebracht um ihrem Kopf. Ein ironischer, kalter Blick streifte den ihren und Erik wandte sich ab.

„Ich mein es nur im Guten. Wie ungeschickt bist, hat man gerade gesehen. Du schaffst es nicht einmal einen Knaben...“- Seine Stimme spottete, als er ihre Formulierung gegen sie verwendete- „... hier zu bestehlen. Das hier ist nicht dein Metier. Im Rotlichtviertel könntest du mehr...“ Noch bevor Erik den Satz hatte beendet können, hatte Francesca eine von ihm unvorhersehbare Bewegung gemacht, ihn am Umhang gepackt und herum gezerrt. Augenblicklich spürte er ihre harte Hand gegen seine Wange und für einen kurzen Augenblick tanzten Sterne vor seinen Augen, als er zurück taumelte. Der Schlag war so heftig, dass Erik erst nicht bemerkte wie das Band seiner Maske sich löste und sie langsam zu Boden rutschte. Erst das dumpfe Klirren des Stoffes, als er zu Boden fiel riss ihn wie ein Alarmsignal aus seiner Trance. Entsetzt blickte er in die grünen Augen der jungen Frau, die erschrocken geweitet waren. Auch Francescas Mund war offen und Erik rechnete jeden Augenblick mit einem Schrei. Wie in einem uralten Reflex verdeckte er sein Gesicht mit der Hand um den Anblick der teuflischen Maske zu verbergen. In Momenten wie diesen fühlte er sich nackt und schwach wie ein ungeborenes. Dieser Fetzen Fleisch, dass ihn das Aussehen einer Leiche verlieh, eines Monsters gar, raubte ihn immer das letzte Rest Würde und Stolz.

Augenblicklich als er den Verlust des künstlichen Schutzes spürte, verschwand jede Selbstsicherheit aus seiner Haltung. Seine Schultern fielen hinab und er wirkte nun wie ein trauriger, gebrochener Mann. In einer müden Bewegung beugte Erik sich hinab, hob die Maske wieder auf und legte sie an. Als er das Band wieder verschlossen hatte, blickte er auf. Er erwartete Grauen, Furcht, Hass, all diese animalischen Gefühle die mit dem Anblick des Bösen einhergingen, doch stattdessen grinste Francesca und sagte nur:

„Was? Das soll eine Gruselmaske sein? Ich habe schon Schlimmeres gesehen auf der Straße. Da musst du dir etwas Besseres einfallen lassen.“ Erik wäre beinahe zurückgetaumelt so überrascht war er. Kein Kreuzzeichen, kein Schrei, kein Entsetzen? Es verwirrte ihn und ließ seine Gedanken aufbranden wie eine Sturmflut. Ungläubig schüttelte er seinen Kopf und nun ging er einige Schritte zurück. Mit diesem einfachen Satz hatte sie seine Macht über sie gebrochen, nun war er es, der fliehen wollte.

„Erik!“, rief eine vertraute Stimme über den Platz und der junge atmete erleichtert auf. Giovanni, seine Rettung. Der alte Steinmetz stand neben dem Eingang der Sixtina und starrte in seine Richtung. Die wasserblauen, etwas altersblinden Augen betrachteten ihn irritiert.

Um vor seinem Meister nicht schlecht dazustehen, verneigte Erik sich hastig und ein wenig zu steif vor Francesca. Er wollte nicht, dass Giovanni seine Unsicherheit bemerkte, auch wenn er ihn nicht danach gefragt hätte. Nein, stattdessen wollte er die distanzierte Höflichkeit wiedergewinnen, die er vor allem Frauen gegenüber innehatte.

„Das Treffen hat mich gefreut, Signora.“, sagte er mit freundlicher Stimme. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Sein Umhang bauschte sich auf, als er sich hastig umdrehte und zu Giovanni eilte. Insgeheim betete er zu Gott, dass er diesem Mädchen niemals wieder begegnete. Doch wann war Gott jemals auf Eriks Seite gewesen?



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