Verlust
Vergnügt streckte sie die Arme aus, es war einfach ein herrlicher Tag! Die schwarzen Haare wehten leicht im Wind und der Ausblick war grandios. Hier auf dem Balkon hatte man die Aussicht über ein kleines Gartengrundstück mit einem Teich. Darauf schwammen gerne einmal zwei Schwäne und Loraine war fasziniert von diesen wundervollen Tieren. Wie sie majestätisch über das Wasser glitten und sich nie stritten, so friedlich und liebevoll. Das junge Mädchen war so eine Gemütlichkeit nicht gewohnt, denn ihre Eltern waren nicht gerade oft daheim.
Ihre Mutter war Direktorin einer großen Bankfiliale und ihr Vater Chef eines Millarden schweren Konzerns. Beide hatten mehr als genug zu tun und eigentlich nie Zeit für ihre Tochter. Mittlerweile hatte die Schwarzhaarige sich damit abgefunden. Es war also nichts Neues, allein hier auf dem Balkon zu stehen und in Erinnerungen und Träumen zu schwelgen.
Morgen war der letzte Schultag und Loraine würde dann endlich in die elfte Klasse versetzt werden. Ihr siebzehnter Geburtstag stand in zwei Monaten an und sie hatte die Party schon geplant. Hier in der Stadt hatte sie viele Freunde und alle hatten das Kommen zu ihrer Geburtstagsfeier bereits angekündigt. Im Kopf stand alles, die Deko, die Musik, das Essen, die Getränke und natürlich plante sie insgeheim auch ihre Geschenke. Ein verstohlenes Lächeln setzte sich auf ihre Lippen, ehe sie die kalte Briese ins Innere des Hauses vertrieb. Ein lästiger Wind war aufgekommen und hatte ihr eine kleine Gänsehaut auf die Arme gemalt.
Loraine warf sich auf das Sofa und nahm die Fernbedienung. Überall kam nur Mist! Eine Soap, eine Dokumentation, ein merkwürdiger Teeniefilm aber eigentlich Nichts, dass sie fesselte. Dann schaltete sie erneut um, plötzlich huschte dort ihr Lieblingsschauspieler über die Leinwand und Loraine war gefesselt von seinem Anblick. Den Rest des Abends verbrachte sie, ein wenig gelangweilt, auf dem Sofa, sah den Film und ging bei Zeiten ins Bett, immerhin würde dann der morgige Tag umso schneller anbrechen und auch vorbei sein!
Sie schlief in einem rosanen Himmelbett in einem Zimmer mit violetter Tapete und weißen Streifen darauf. Ihre Tasche war bereits gepackt, denn übermorgen sollte es in den Urlaub gehen. Die Schülerin wusste noch nicht, wohin, doch bald würde sie es bemerken. So verbrachte sie eine ruhige Nacht, träumte von ihrem Schauspielhelden und wachte gut gelaunt und erholt am Morgen auf. Die Sonne schien durch das gegenüberliegende Fenster herein und stach in ihre Augen. Um zehn Uhr musste man in der Schule sein und ihr Wecker klingelte pünktlich um Neun. Das warme Wasser der Dusche ließ sie langsam wach werden und das Frühstück brachte ihr die nötige Kraft für den anstrengenden Tag.
Claudia wartete vor ihrer Haustür und lächelte bereits breit, als Loraine heraus kam. Das immer gut gelaunte Mädchen mit den blonden Zöpfen war ein herzensguter Mensch, die Beiden kannten sich seit sie in die erste Klasse gegangen waren. Wie jeden Morgen liefen sie gemeinsam und durchschritten das eiserne Tor ihrer Schule zusammen. Ein weiteres Mädchen, Christine, wartete bereits dort auf sie, ebenso wie Emily, die in der gläsernen Eingangshalle stand. Zu viert gingen sie den Gang entlang, zwei Treppen nach oben und in Raum Nummer 404 ließen sie sich auf ihre Plätze nieder. Es waren noch 10 Minuten Zeit, ehe die Zeugnisse vergeben wurden.
Miss Fielding betrat den Raum auf ihre gewohnt dominante und ernste Art. Sie war die Klassenlehrerin und würde sie nun mit ihren Noten beehren. Eigentlich wusste eh jeder, was sie zu verkünden hatte, doch wie bereits seid drei Jahren ließen alle die Prozedur über sich ergeben. Emily wurde gewürdigt, ebenso Mike, der meistens der Zweitbeste war, ein paar Floskeln wurden ausgetauscht und endlich die Zeugnismappen übergeben. Loraine hielt ihre stolz in der Hand und schlenderte, nun allein, nach Hause.
Die Mädels hatten sich noch in der Stadt verabredet, man wollte einen Kaffee trinken und danach ins Kino gehen. Da die Schwarzhaarige jedoch noch Koffer packen wollte und keine Zeit verlieren durfte, ging sie nicht mit, sondern in ihr Elternhaus. Dort wartete bereits der Herd auf sie, wo sie sich ein kleines Mittagessen zubereitete. Die Schülerin hatte bereits vor zwei Jahren ihre Leidenschaft fürs Kochen entdeckt, weswegen es ihr Nichts ausmachte, sich ihr Mittagessen selbst zu machen.
Es sollte ein besonderer Tag werden, sie wusste es zwar noch nicht, doch zum Mittagessen, pünktlich um Eins, hörte sie Schritte im Haus, eine Aktentasche wurde auf den Boden gestellt und hohe Absatzschuhe klackerten über das Parket. Ihre Eltern waren eingetroffen! Völlig verblüfft lief sie den Beiden entgegen, nahm ihnen die Mäntel ab und stellte zwei zusätzliche Teller auf den Tisch. Gemeinsam aßen sie die Speisen, die Loraine gezaubert hatte.
"Und, wie ist dein Zeugniss?", fragte ihr Vater sachlich und Loraine ignorierte den vorsichtigen Blick ihrer Mutter.
"Och, nichts Besonderes, alles Zweier und Einser, wie sonst auch", murmelte sie zwischen zwei Bissen und grinste dann.
"Aber wie immer war Emily die Klassenbesste.", jetzt grinste sie noch breiter. Ihre Eltern begrüßten die Freundschaft zur Klassen- und Schülersprecherin sehr!
"Schön.", entgegnete ihr Vater, während ihre Mutter immer besorgter aussah.
"Was ist los?", fragte die Jüngste am Tisch genervt, als ihr Blick auf die Mutter fiel.
"Ach, nichts...", stammelte sie und sofort wusste Loraine, etwas ging hier vor sich. "Los, spuck es schon aus. Ist der Urlaub abgesagt?", fragte sie, nun doch etwas genervt. Auch wenn sie ihren Eltern nie ein schlechtes Gewissen machte, auf diesen Urlaub hatte sie sich seid einiger Zeit gefreut!
"Nein, er wird nur ... verlängert!", sagte ihr Vater, immer noch sachlich und auf den Punkt. "Um genau zu sein, wir werden dort hinziehen.".
Das war wirklich eine schockierende Nachricht. Loraine blieb der Bissen im Halse stecken und ihre Augen weiteten sich.
"Das ist nicht euer Ernst, oder? Das war ein Scherz!", polterte sie los und erntete nur mitleidige Blicke.
"Leider nein. Dein Vater soll dort eine weitere Abteilung leiten und bekommt dafür das doppelte Gehalt.", nuschelte ihre Mutter und sah sie schuldbewusst an.
Doch es wurde nicht besser, die Blicke machten es nur noch schlimmer! Die Schwarzhaarige wünschte sich, sie nicht mehr ertragen zu müssen. Wohl auch deshalb wurde während dem Rest des Essens geschwiegen. Die Schülerin ging bereits in Gedanken durch, wie sie es ihren Freundinnen beibringen sollte und was sich nun alles änderte. Doch nichts wollte helfen! Ihre Sorgen und Ängste lösten sich natürlich nicht in Luft auf.
Der Nachmittag wurde mit heftigem SMS schreiben verbracht, Loraine führte das ein oder andere Telefonat und saß eine Weile an ihrem Laptop, um Emails zu versenden. Jeglicher Trost war jetzt willkommen! Am Abend hatte es ihr gänzlichst den Appettit verschlagen und sie verkroch sich statt dessen in die Laken ihres Bettes. Ihr Gesicht drückte Loraine in die weichen Daunenkissen und schluchzte jämmerlich vor sich hin. Wie sollte sie dort ankommen? Würde man sie überhaupt akzeptieren? Wie sollte sie ohne ihre Freundinnen auskommen? Die Schwarzhaarige war völlig verzweifelt.
Jene Nacht war unruhig und am Morgen taten ihre verquollenen Augen weh. Selbst die warme Dusche half nicht und auch das Frühstück wollte nicht seine gewohnten Dienste tun.
Ihre Eltern waren bereits voller Energie und Elan. Mutter und Vater machten den Eindruck, als würden sie sich darauf freuen, in ein anderes Haus, in einem anderen, weit entfernten Teil dieses Landes zu ziehen. Es musste mindestens 700 Kilometer weit weg sein! Es bestand überhaupt keine Chance, dass sie ihr altes Leben irgendwie retten könnte.
Loraines Vater fuhr die Familie, inklusive Loraines fünf Koffern, zum Flughafen. Überhaupt waren nur die Koffer der Familienjüngsten mitgenommen worden. Den Flughafen durchquerten sie gemeinsam. im Gewühl wäre Loraine dabei fast verloren gegangen - Was wohl an ihrer schlechten Orientierung lag, doch ihre Mutter war zurück gekommen und hatte sie wieder aufgesammelt.
Der Flieger war bequem und sie hatten Tickets für die erste Klasse. Eine freundlich wirkende Stewardess geleitete sie zu ihrem Sessel, nahm ihre Bestellung für später auf und wies sie kurz ein. Nach nur zwei Minuten hatte das Mädchen bereits verstanden, dass sie wohl die gesamte erste Klasse für sich hatten! Warum sonst stieg niemand sonst zu und warum kümmerte sich diese Frau so fürsorglich um die drei Personen?
Als das Flugzeug startete, krallte sich Loraine mit den Fingern in die Armlehne, sie mochte fliegen nicht unbedingt! Auch wenn ihre Eltern das kaum verstanden. Gerade ihr Vater war es gewohnt, mehrmals in der Woche ein Flugzeug zu benutzen. Ihre Mutter hatte Höhenangst und trotzdem mochte sie dieses Transportmittel.
Ihr neues Zuhause rückte also mit jeder Minute näher.
Die Landung war weich und ein kleiner Flughafen breitete sich unter ihnen aus. Bisher hatte Loraine gedacht, in dieser Idylle Urlaub zu machen für zwei Wochen. Dass sie nun hier für immer bleiben sollte war eine Umstellung, die sie so schnell nicht bewerkstelligen würde. Ein Taxi fuhr sie eine halbe Stunde mitten in die Pampa, ein riesiges Gehöft erstreckte sich vor ihren Augen und eine Bushaltestelle war genau vor dem Tor zu ihrem Hof.
"Und das ist es also?", fragte sie perplex.
"Ja, das ist es. Wir haben es gekauft und du bekommst, wenn du willst, ein Pferd.", das wäre wirklich ein guter Köder, hätte sie dafür nicht ihr gesamtes Leben aufgeben müssen! Seid drei Jahren wollte die leidenschaftliche Reiterin gern ein eigenes Pferd haben, doch jetzt nützte es ihr auch nichts mehr.
"Nein Danke!", giftete Loraine ihrer Mutter entgegen und stolzierte beleidigt in das schneeweiße Haus. Man konnte zu Recht behaupten, dass es vor vielen Jahren einmal ein Bauernhaus oder ähnliches gewesen sein musste. Hier und da konnte man noch Balken an der Decke erkennen und obwohl Küche, Wohn- und Esszimmer nicht voneinander getrennt waren, bildeten dicke, schwarz gestrichene Balken drei große Raumteiler. Alles hier war asymmetrisch geschnitten und Loraine kam nicht umhin, einen bewundernden Blick auf diesen pompösen Raum zu werfen. Den Boden zierten schwarze Marmorsteine mit anthrazitfarbenen Fugen. Eine breite Treppe mit silbernem Geländer, das eindeutig später eingesetzt wurde, führte in den zweiten Stock.
Ihr Zimmer lag so, dass die Morgensonne sie noch immer wecken konnte. Es befand sich ein sporadisches Bett im Raum, doch ihre Eltern hatten der Schülerin versprochen, die Einrichtung in den nächsten zwei Wochen her zu ordern. Internet gab es - wenigstens etwas! Und auch sonst gab es hier alles, was man sich wünschen konnte. Ihre Eltern hatten die Wohnung modern eingerichtet, was man von außen kaum erwarten würde. Nur Lorains Zimmer war noch unvollständig. Immerhin hatte das Mädchen es auch erst gestern erfahren und ihr Zimmer ausräumen, ohne das sie es bemerkte, war auch nur schwer möglich gewesen.
Die Ferien verbrachte sie damit, sich einzugewöhnen. Die Schränke wurden eingeräumt, die Gegend erkundet und die Schuluniform gekauft. Schrecklich, hier gab es sogar eine Uniform für die Schule! Sie bestand aus einer hellvioletten Bluse, einer dunkelblauen Strickweste und einem ebenso blauen Rock mit violetten Streifen. Es sah eigentlich ganz niedlich aus, aber eine modebewusste Teenagerin ließ sich eben nur ungern in gesellschaftliche Zwänge stecken. Ihre Eltern hingegen fanden es ganz toll. Natürlich ... Auch die Bücher hatten sie schon gekauft, Stifte und Papier hatte sie ja auch so noch.
An ihrem ersten Schultag wachte sie noch vor dem Klingeln ihres Weckers auf, duschte und frühstückte, wie sie es schon immer getan hatte. Die Küche war edel, alles war verchromt und der Herd hatte sogar ein Ceranfeld. Der Kühlschrank hatte eine Eiswürfelmaschiene und ein Flachbildfernseher hing neben der Tür, so, dass man direkt darauf sah, wenn man am Tisch saß. Loraine fand die Einrichtung wirklich faszinierend, dennoch tröstete sie nicht über den Verlust hinweg.
Sie musste noch fünf Minuten an der Haltestelle warten, dann kam ein kleiner gelber Bus angezuckelt. Er hielt und öffnete die Tür. Als die Schwarzhaarige eingestiegen war, suchte sie sich einen Platz. Es war leicht, denn der Bus war noch leer. Der Fahrer erklärte ihr, dass sie die Erste im Bus war und jetzt der Reihe nach alle Ortschaften abgefahren wurden.
An der nächsten Haltestelle stieg ein junger Man mit zerstrubbeltem braunen Haar und stechend hellblauen Augen ein.
Auch er schien allein zu sein.
Danach ging es schnell und der Bus war voll. Sie fuhren insgesamt eine halbe Stunde, dann ließ der Fahrer die Schüler direkt vor dem Schulgebäude aussteigen.
Ihre Schule war majestätisch, die Wände waren in Gelb gestrichen und die Fenster waren riesig. Loraine wollte sich gar nicht ausmalen, wie oft sie sich verlaufen würde in dieser Schule!
Schluckend durchquerte sie ein kleines Tor aus Eisen, ehe sie den Schulhof betreten konnte. Dieser Bau würde also ihre neue Welt werden, ihr neues Reich! Auch die Klasse wirkte auf den ersten Blick wirklich nett, alle sahen sie neugierig an und auch der Braunhaarige war wieder zu sehen. Der Klassenlehrer stellte sie noch vor, ehe sich Loraine ihren Platz aussuchte.
Was wohl auf sie zukommen würde? Ob sie Freunde finden konnte? Oder würde sie allein bleiben bis zu ihrem Abschluss?
Doch sicher würde Loraine nie damit rechnen, was wirklich auf sie zu kam!