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Tangerine Charm

von

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Im Nachhinein gesehen hätte er es von Anfang an einfach besser wissen sollen. Wenn sich jemand solch herausragender analytischer Fähigkeiten rühmte, wie es bei Rei Ryugazaki der Fall war, so wäre es eigentlich eine geringe Hürde gewesen, die Gefahr bereits im Verzug zu erkennen. Ein schlichtes, höfliches „Nein“ hätte es ihm ermöglicht, diesem Desaster zu entkommen. Wie die Dinge allerdings lagen, hatte Rei schon immer ausgesprochene Schwierigkeiten gehabt, dieser speziellen Katastrophe auf zwei Beinen irgendetwas abzuschlagen. Abgesehen davon, dass das Wort „Nein“ neben „Warte“, „Unmöglich“ und „Niemals“ einfach nicht in Nagisas Wortschatz zu existieren schien.

Und nun standen sie auf einem verlassenen Bootssteg mitten im eisigen Nirgendwo, das Gewicht von drei Kilo Zitrusfrüchten drückte schwer auf seinen Armen und er betete zu allen eventuell zuständigen oder nicht zuständigen Göttern, dass er sich keine Lungenentzündung holen möge.

***

Der Tag hatte eigentlich recht vielversprechend begonnen. Da niemand von ihren Familien über die Feiertage einen Winterurlaub geplant hatte, war ihr Schwimmclub überein gekommen, den Jahreswechsel gemeinsam zu verbringen. Für Rei war dies das erste Silvester, was er gemeinsam mit Freunden feiern würde, und so konnte auch er eine gewisse Vorfreude nicht abstreiten, als sie sich schließlich alle am Abend des 31. Dezembers bei Haruka einfanden. Das Haus der Nanases hatte sich angeboten, da sie hier ungestört würden feiern können, ohne irgendwelchen Eltern zu sehr zur Last zu fallen. Was sich als gute Entscheidung entpuppt hatte, denn als Rei unter einem höflichen Gruß das Wohnzimmer betrat, hatten Nagisa und Rin bereits ein, vermutlich unter Aufbietung ihres gesamten Taschengeldkontingents angeschafftes, Arsenal von Feuerwerksraketen auf dem Fußboden verteilt.

„Das ist nicht ihr Ernst“, murmelte er leicht fassungslos, während sein Blick über die beachtliche Sammlung glitt, von der er sich ziemlich sicher war, dass sie mehr als ein Geschoss enthielt, das per Gesetz nicht in die Hände von Minderjährigen gelangen sollte. Gou, die an Rei herangetreten war, um ihm zur Begrüßung einen Becher Früchtepunsch zu reichen, zuckte lediglich mit den Schultern und antwortete mit vielsagendem Lächeln: „Jungs.“

Rei, dem sich diese Art des nachsichtigen Verständnisses komplett entzog, wollte gerade erwidern, dass sich abgerissene Gliedmaßen und ausgeschossene Augen nicht mit juvenilem Übermut rechtfertigen ließen, als im selben Moment Nagisa am anderen Ende des Raumes auf seine Ankunft aufmerksam wurde.

„Rei-chan!“

Ehe Rei es sich versah, wurde er beinahe umgeworfen, als das blonde Energiebündel sich überschwänglich an seine Seite drängte und ohne große Überleitung begann, ihn mit einer Kaskade von aufgeregten Worten zu überschütten. Obwohl mit einer überdurchschnittlichen Auffassungsgabe gesegnet, hatte Rei noch immer ab und zu Schwierigkeiten, Nagisas atemlosem und mitunter recht zusammenhanglosem Geplapper zu folgen. In den ersten Monaten ihrer Freundschaft hatte er noch krampfhaft versucht, jeden einzelnen Satz und jede ausschweifende Geste in irgendeinen logischen Zusammenhang zu bringen und zu interpretieren, doch mittlerweile kannte er Nagisa gut genug, um zu wissen, dass es nicht immer dessen Worte brauchte, um die Bedeutung dahinter zu erkennen.

Während Nagisa nun also ohne Punkt und Komma auf ihn einredete, wild gestikulierte und ihn mit Details über die unterschiedlichen Arten von Silvesterböllern überschüttete, brauchte Rei nur einen Blick in das strahlende, ausgelassen grinsende Gesicht seines Freundes zu werfen, um zu wissen, wie glücklich der Blonde darüber war, dass sie nach einem anstrengenden, nicht immer leichten Jahr alle gemeinsam Neujahr feiern würden. Und irgendwie machte das die Anwesenheit von potentiell lebensgefährlichen Feuerwerkskörpern auf dem Esstisch fast wieder wett.

***

Nach dem Essen saßen sie zu sechst um den niedrigen Tisch herum auf dem Boden, während der Fernseher relativ unbeachtet im Hintergrund irgendeine Gameshow mit Silvestermotto sendete. Der reichhaltige Fleischeintopf, dessen verdächtig fischiger Beigeschmack Rei noch immer ein wenig nachhing, hatte glücklicherweise auch den Tatendrang der Böllerfraktion ein wenig gedämpft. Selbst Nagisas Kopf lag faul auf der Tischplatte, während sich ihre Gespräche um das Schwimmen, die Schule und ihre Pläne für das kommende Jahr drehten und ausgelassenes Lachen den Raum erfüllte. Die Uhr zeigte an, dass es noch fast zwei Stunden bis Mitternacht waren und Rei begann langsam, sich wirklich zu entspannen, da es nicht so aussah, als ob an diesem Abend noch mit irgendwelchen Katastrophen gerechnet werden müsste. Er hätte es eigentlich besser wissen müssen.

Rei wusste nicht mehr, wie genau sie darauf gekommen waren, aber irgendwann fiel das Thema ihrer Unterhaltung auf Silvesterbräuche. Es schien so, als ob jede Familie ihre eigene Art hatte, den Jahresumbruch zu begehen. Makoto berichtete vom gemeinsamen Bleigießen mit seinen beiden jüngeren Geschwistern und dass es einmal ein Jahr gegeben hatte, in dem er die verbliebenen Stunden bis Mitternacht damit verbracht hatte, seine bitterlich schniefende kleine Schwester zu trösten, da ihr das Bleiorakel statt der erhofften Aussicht auf einen Märchenprinzen nur einen unförmigen Klumpen ausgespuckt hatte: „Versucht mal, einer Siebenjährigen einen verkrüppelten Haufen Schwermetall schönzureden.“

Rei stimmte, wie alle Anderen, in das Gelächter mit ein und schüttelte leicht amüsiert den Kopf. Er war noch nie jemand gewesen, der etwas auf Aberglauben und Orakel gegeben hatte, da dies einfach nicht seiner logikorientierten Weltsicht entsprach. Makotos Geschichte schien jedoch etwas losgetreten zu haben, denn kurz darauf meinte jeder der Anwesenden, etwas zum Thema beitragen zu müssen.

Neben den persönlichen Erfahrungswerten wurde auch Folklore über Neujahrstraditionen in anderen Ländern ausgetauscht, was Rei als durchaus informativ empfand, auch wenn Rins Erzählung über den mitternächtlichen Verzehr von Tigerhoden zur Steigerung des Reichtums eher Übelkeit als Begeisterung bei ihm hervorrief.

Er nippte gerade an seinem Punsch, als er ein mehr oder weniger dezentes Tätscheln an seinem Bein spürte, das er unter normalen Umständen als ausgesprochen unangebracht empfunden hätte. Er sah auf und blickte geradewegs in Nagisas erwartungsvoll aufgerissene Augen, die ihn stumm musterten. Rei brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass offenbar von ihm erwartet wurde, dass er ebenfalls etwas zum Gespräch beitrug, was nicht einmal so abwegig war. Er räusperte sich.

„Also…“

„Komm schon, Rei-chan! Du kennst doch bestimmt auch eine Geschichte über Silvesterbräuche“, fiel Nagisa ihm ins Wort und starrte ihn erneut so an, als ob er seinen Freund als die ultimative Quelle der Erleuchtung betrachten würde, was Rei einerseits schmeichelte, aber andererseits auch nicht unerheblich unter Druck setzte.

„Nun ja“, erwiderte er und schob in einer beiläufigen, nachdenklichen Geste seine Brille zurecht, während er in seinem Gedächtnis nach einer relevanten Information kramte, die er mit seinen Freunden teilen konnte. Dann erinnerte er sich an einen Artikel, den er vor nicht allzu langer Zeit in einem Wissensmagazin gelesen hatte, und ergriff erneut das Wort:

„Wusstet ihr, dass es in China Tradition ist, dass die unverheirateten Frauen um Mitternacht Mandarinen ins Meer werfen?“ Die Gesichter seiner Freunde zeigten verwirrtes Unverständnis, doch Nagisa rückte unweigerlich ein Stückchen weiter an ihn heran und hauchte mit unverkennbarer Faszination: „Um die blutrünstigen Meeresgötter zu beschwichtigen?“ „Sie tun das, um… was?“, stolperte Rei in seinen Ausführungen und starrte den Blonden nun seinerseits etwas entgeistert an.

 „Nein, das ist nicht der Grund, Nagisa-kun.“

„Keine Meeresgötter?“

Nein. Lässt du mich bitte ausreden?“

„Fein. Deine Geschichte ist aber gerade um mindestens dreißig Prozent langweiliger geworden“, gab Nagisa ein wenig schmollend zurück und Rei musste sich zwingen, einmal tief durchzuatmen, um Ruhe zu bewahren. Er räusperte sich erneut und beschloss, sich von den unsinnigen Zwischenbemerkungen nicht ablenken zu lassen, auch wenn der Rest ihrer Freunde  leicht zu grinsen begonnen hatte.

„Wie ich schon sagte. Die unverheirateten Frauen in China schreiben ihre Namen auf Mandarinen und werfen diese um Punkt Mitternacht ins Meer. Sie tun dies, weil sie glauben, dass sie so im neuen Jahr ihr Liebesglück finden werden.“

Wenn er ehrlich war, hielt Rei diesen Brauch für mindestens ebenso großen, albernen Aberglauben wie Bleigießen und Orakel, aber anscheinend hatte seine Erzählung nicht ganz ihre Wirkung verfehlt, denn zumindest Gou stieß ein tiefes, angetanes Seufzen aus: „Das ist eigentlich ziemlich romantisch, findet ihr nicht?“

„Auch eine Art, das neue Jahr zu begehen“, warf Makoto diplomatisch schmunzelnd ein, während Haruka neben ihm nicht den Eindruck machte, als ob er überhaupt aktiv zugehört hätte. Rin hingegen, der anscheinend noch immer ein wenig nachtragend war, weil seine Tigerhoden-Geschichte auf wenig Gegenliebe gestoßen war, stieß nur ein abfälliges Schnauben aus: „Lange nicht mehr so einen Quatsch gehört.“ Er fixierte Rei mit leicht zusammengekniffenen, roten Augen, als ob er ihm persönlich die Schuld an der Absurdität dieses Brauchs geben würde: „Und warum überhaupt Mandarinen?“

„Ich…“, begann der Angesprochene mit defensiv erhobenen Händen, aber wurde prompt wieder unterbrochen, was anscheinend langsam zur Gewohnheit wurde. „Und warum schreiben sie nicht gleich ihre Telefonnummern drauf, wenn sie schon so heiß darauf sind, irgendwelche Männer kennenzulernen? Aber Mandarinen?“ „Ich habe mir das nicht ausgedacht, Rin-san…“

„Was sollen sie denn sonst ins Meer werfen? Visitenkarten?“, gab Gou ihrem Bruder am anderen Ende des Tisches augenrollend Kontra, der daraufhin nur stur die Arme verschränkte und zurückgrollte: „Zum Beispiel. Wasserfeste Visitenkarten. Bisschen Kreativität darf man wohl noch erwarten.“

„Dieser Brauch ist bestimmt schon ziemlich alt. Ich glaube nicht, dass die Menschen im alten China schon Visitenkarten hatten, Rin...“, schaltete sich nun auch Makoto nachsichtig lächelnd ein, woraufhin in der Runde eine hitzige Diskussion über den Sinn oder Unsinn von Obst als Kommunikationsmittel entbrannte.

Rei, der nicht unbedingt vorhatte, zwischen die Fronten zu geraten, hielt sich bewusst heraus und warf stattdessen einen beiläufigen Seitenblick auf Nagisa, der sich während der letzten paar Minuten auffällig ruhig verhalten hatte. Das war erfahrungsgemäß verdächtig. „Alles in Ordnung, Nagisa-kun?“, erkundigte er sich irritiert und zuckte zusammen, als der Kopf des Blonden jäh zu ihm herum ruckte.

„Rei-chan…“

Der Angesprochene schluckte leicht, denn Nagisa trug diesen Ausdruck in seinem Gesicht, der sich immer genau dann zeigte, wenn ihm entweder eine fixe Idee gekommen war oder er im Begriff war, etwas auszufressen. In beiden Fällen könnte man davon ausgehen, dass Rei der Leidtragende sein würde. Ehe er jedoch einen Rückzieher machen konnte, hatte Nagisa mit seinen schmalen, nichtsdestotrotz erstaunlich kräftigen Fingern sein Handgelenk umkrallt und fixierte seinen Blick mit spitzbübisch glänzenden Augen.

„Lass es uns tun, Rei-chan.“

„Ähm…was?“

„Lass uns Mandarinen ins Meer werfen.“

Rei musste vermutlich ausgesprochen aufgeschreckt gewirkt haben, denn Nagisas letzte Worte wurden von einem leisen Lachen begleitet, doch die Finger gruben sich weiterhin in seinen Arm und begannen, leicht daran zu ruckeln. „Komm schon. Das wird lustig! Die Menschen in China machen das auch!“ „Die unverheirateten Frauen!“, protestierte Rei und versuchte dezent, seinen Arm zu befreien und ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen, „Außerdem ist das nur Aberglaube und zudem unnötige Verschwendung von Lebensmitteln und----!“ „Haru-chan!“, schnitt Nagisa ihm eiskalt ins Wort und wirbelte zu ihrem gemeinsamen Freund um, „Hast du Mandarinen da?!“

Haruka, anscheinend kein bisschen verwirrt von dem plötzlichen verbalen Überfall, nickte nur knapp und erhob sich wortlos. Leicht fassungslos beobachtet Rei, wie er den Raum verließ, anscheinend tatsächlich, um die gewünschten Mandarinen zu organisieren, was wiederum ihm selbst eventuell ein paar Minuten geben würde, um diesen Wahnsinn aufzuhalten und Nagisa etwas Vernunft einzureden.

„Nagisa-kun…“, begann er langsam, „Denk doch mal nach. Es ist eiskalt draußen und wir haben uns nicht hier getroffen, um so einen Unsinn…“ „Möchtest du denn nicht auch dein Liebesglück finden, Rei-chan?“ Die unvermittelte Frage ließ Rei stocken, und Nagisas Blick, der mit einem Mal ungewohnt ernsthaft auf ihm lag, musterte ihn so intensiv, dass er zu seinem Ärger spürte, wie sich sein Gesicht langsam erwärmte. „D-darum geht es doch hier gar nicht, ich…!“ „Wie viele braucht ihr?“

Rei hatte nicht bemerkt, wie Haruka hinter sie getreten war, sodass er beinahe seine Tasse umgestoßen hätte, als die ruhige, monotone Stimme in seinem Rücken erklang. Leise lachend griff Nagisa zu und bewahrte das Porzellan davor, auf direktem Wege zu Boden zu fallen. „So schreckhaft, Rei-chan…“, neckte der Blonde seinen Freund, bevor er mit erfreutem Summen aufsprang, um zu inspizieren, was Haruka mitgebracht hatte.

Mit tiefen, bewussten Atemzügen versuchte währenddessen Rei, seine Fassung wiederzuerlangen und sich einen Plan zurechtzulegen, wie er dieser Situation entfliehen konnte. Die Aussicht darauf, mitten in der Nacht an irgendeinem Strand im eiskalten Wind zu stehen und wie ein Idiot Gegenstände ins Wasser zu befördern, löste gelinde gesagt großen Unwillen bei ihm aus. Er hatte erwartet, dass sie bis Mitternacht gemütlich zusammensitzen und seinetwegen auch die eine oder andere Feuerwerksrakete zünden würden. Das war der Plan gewesen und Rei hatte sich in seinem Kopf bereits fest darauf eingestellt. Und dann kam Nagisa und wollte auf einmal alles umwerfen, so wie er es eigentlich regelmäßig tat. Und wenn das passierte, dann ging immer irgendetwas schief. Es war quasi ein ungeschriebenes Naturgesetz. Höflichkeit hin oder her, Rei konnte den Jahresumbruch genauso gut damit begehen, sich endlich einmal gegen den Blonden zu behaupten und ihm diese Idee auszureden.

Er hatte noch nicht einmal den Mund geöffnet, als Nagisa ihm auch schon zuvorkam und sich mit einnehmendem Lächeln und einer Mandarine in den Händen zu ihm umwandte.

„Was meinst du, wie viele werden wir brauchen, Rei-chan?“ Und Rei schwor, dass es in diesem Moment das verpatzte Timing und nicht etwa die schrecklich offene, aufrichtige Vorfreude im Gesicht seines Freundes war, die seinen Magen zusammenkrampfen und ihn sagen ließ: „Traditionell wirft man nur eine, aber… es schadet sicherlich nichts, ein paar mehr mitzunehmen.“

Nagisa nickte strahlend und Rei wusste, dass er verloren hatte.

***

„Und ihr seid sicher, dass ihr nicht mitkommen wollt?“ „Nein, geht ihr mal. Wir sehen uns dann nach Mitternacht“, lehnte Makoto stellvertretend für alle Anwesenden das Angebot ab, während er mit Haruka und den Matsuoka-Geschwistern dabei zusah, wie Nagisa und Rei sich für den Ausflug in die Kälte vorbereiteten. Rin, ganz der sensible Diplomat, der er im Leben noch nicht gewesen war, fügte mit schnaubendem Grinsen hinzu: „Keine zehn Pferde würden mich dazu bringen, mich für so ein mädchenhaftes Getue nach draußen zu begeben.“

„Tsk. Euer Verlust!“, ließ Nagisa nur resolut verlauten, während er sich einen Schal umzurrte und seinem nicht ganz so freiwilligen, einzigen Mitstreiter die Kiste mit den Mandarinen in die Hand drückte, „Wenn ich und Rei dann im kommenden Jahr unsere große Liebe finden, dann werdet ihr noch bedauern, nicht mitgekommen zu sein!“

„Ich glaube, wir müssen dann langsam los, Nagisa-kun!“, fuhr Rei hastig dazwischen und drängelte seinen gedankenlos plappernden Freund hastig aus der Tür hinaus, bevor er noch mehr Peinlichkeiten von sich geben konnte. Die Anderen winkten ihnen lachend hinterher, und als sich endlich die Tür hinter ihnen schloss, konnte er ein kurzes, etwas angespanntes Seufzen nicht unterdrücken.

Dagegen klang Nagisas helles Lachen neben ihm eher ein wenig amüsiert, und er spürte kurz darauf, wie ihn der Blonde sanft mit der Schulter anstieß. „Du kannst es kaum erwarten, was, Rei-chan?“, neckte er seinen Freund gutmütig, doch bevor dieser irgendetwas erwidern konnte, fügte er noch etwas leiser hinzu: „Danke, dass du mitkommst.“

Ohja, er hatte sowas von verloren. Rei wusste noch nicht einmal genau, warum es immer so schien, als ob Nagisa ihn zu wirklich allem überreden konnte und er dabei immer unweigerlich an den Punkt kam, an dem er es nicht einmal bereute, das wieder einmal zugelassen zu haben. Nagisa konnte wie ein quengelndes Kind sein, störrisch und darauf bedacht, seinen Kopf um jeden Preis durchzusetzen, aber wenn er ihn, wie jetzt, mit diesem aufrichtig dankbaren Blick ansah, wäre Rei ihm vermutlich überall hin gefolgt. Auch ans Meer, um Lebensmittel im Wasser zu versenken.

Dachte er zumindest. In der Realität sah es allerdings so aus, dass ihm bereits nach einer Viertelstunde Fußmarsch die Finger abfroren und der eiskalte Wind seine Augen tränen ließ. Da Iwatobi eine Küstenstadt mit direktem Zugang zum Meer war, schneite es zwar äußerst selten, sodass ihnen wenigstens das erspart blieb, doch die Böen, die ihnen unter die Kleidung fuhren, waren dennoch frostig. Insgeheim bewunderte Rei seinen Freund ein wenig, denn falls Nagisa fror, so ließ er sich diese Tatsache nicht im Geringsten anmerken. Die Schritte des Blonden waren leicht und beschwingt, musste er doch immerhin keine ganze Kiste voller Mandarinen mit sich herumtragen, und er plauderte unablässig, sodass sich Rei unweigerlich fragte, ob es gesund sein konnte, so viel kalte Luft zu schlucken.

Abgesehen davon… war es nicht so schlimm wie erwartet, so durch die Gegend zu spazieren. Wenn es etwas wärmer gewesen wäre, hätte Rei es sogar als angenehm empfunden, mit Nagisa durch die ausgestorben wirkenden kleinen Gassen ihrer Stadt zu streifen. Die Fenster, an denen sie vorbeikamen, waren hell erleuchtet und die Hauseingänge auf traditionelle Art mit Bambuszweigen geschmückt. Bislang hatte Rei den Silvesterabend immer zuhause mit seinen Eltern verbracht und, wie es üblich war, am Neujahrsmorgen den Tempel besucht, sodass es ihm normalerweise niemals in den Sinn gekommen wäre, von dieser Gewohnheit abzuweichen.

Eigentlich, dachte er stumm bei sich, war das gesamte vergangene Jahr vollkommen anders als die Jahre zuvor gewesen. Der Eintritt in den Schwimmclub und die Freunde, die er dadurch gewonnen hatte, hatten vieles von dem umgeworfen, was Rei zuvor als obligatorisch und normal empfunden hatte. Es hatte ihn über die Grenzen dessen getrieben, was er glaubte leisten zu können, und einen nicht unerheblichen Teil davon hatte er Nagisa zu verdanken, der sich irgendwie mit seiner hartnäckigen Sturheit und seinem ansteckenden Lachen in sein Leben gedrängt hatte und anscheinend auch vorhatte, dort zu verweilen.

„Denkst du gerade an etwas Gutes?“, riss die Stimme des Blonden ihn aus seinen Gedanken, und als er aufsah, stellte er fest, dass Nagisa nicht länger voranging, sondern sich an seine Seite gesellt hatte. Rei räusperte sich ein wenig verlegen, konnte aber das Lächeln, das sich in seine Mundwinkel geschlichen hatte, nicht ganz vertreiben. „Ich dachte nur gerade daran, was für ein turbulentes Jahr wir hatten.“ Er brauchte kaum hinsehen, um zu wissen, dass sich ein verstehendes Schmunzeln auf Nagisas legte, als dieser schlicht erwiderte: „Ja… es war ziemlich perfekt, oder?“

Rei konnte nicht anders, als einen zustimmenden Laut von sich zu geben, stolperte dann aber beinahe in seinen Schritten, als sein Freund auf einmal einen Schritt näher trat und sich im Gehen bei ihm unterhakte, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. Was es für jemanden, der so großzügig mit physischer Zutraulichkeit umging wie Nagisa, vermutlich auch war, während er selbst mit einem Mal froh war, dass er sich an der Mandarinenkiste festklammern konnte. Der andere Junge war ein gutes Stück kleiner als er selbst und musste auf diese Distanz den Kopf in den Nacken legen, um lächelnd zu ihm aufsehen zu können.

„Lass uns gemeinsam daran arbeiten, dass das kommende Jahr noch perfekter wird, okay?“ Rei fühlte einen Kloß in seinem Hals aufsteigen und er befürchtete schon beinahe, sich im kalten Wind irgendeine Krankheit eingefangen zu haben, denn sein Puls hatte ein nur als ungesund zu bezeichnendes Tempo angenommen. Ruckartig riss er seinen Blick von Nagisas Gesicht los und ließ ihn stattdessen unruhig über die ausgestorbene Strandpromenade schweifen, die sich vor ihnen auftat, als sie just in diesem Moment das Wohngebiet verließen. „E-es gibt keine grammatikalische Steigerungsform von ‚perfekt‘, Nagisa-kun. Hast du denn im Unterricht nicht aufgepasst?“, stieß er ein wenig konfus und am Thema vorbei hervor, doch Nagisa schien es entweder nicht zu bemerken oder er war sensibel genug zu spüren, dass Rei mit dieser nüchternen Erwiderung seine Verlegenheit zu überspielen versuchte. Was auch immer es war, der Blonde lachte nur leise und löste dann langsam seinen Griff um Reis Arm, um wieder ein Stück voran in Richtung des Strandes zu laufen.

„Du bist so streng. Komm, es ist nicht mehr weit!“ „N-Nagisa-kun! Nicht so schnell!“, stotterte Rei und beeilte sich, seinem Freund zu folgen und das warme Gefühl zu ignorieren, das Nagisas Hände an seinem Arm zurückgelassen hatten.

In dem flotten Tempo, das der Blonde ihnen vorgab, dauerte es nicht lange, bis einige Meter vor ihnen ein verlassener Bootssteg auftauchte, der auf das Wasser hinausführte und der sich vermutlich einigermaßen gut für die Umsetzung ihres Plans eignete. Rei hatte seine berechtigten Bedenken, seine Sicherheit einer windumtosten, morschen Holzkonstruktion anzuvertrauen, doch Nagisa verlachte seine Einwürfe lediglich und versprach, ihn aus dem Wasser zu ziehen, wenn er hinein geweht würde.

Der Steg hielt. Reis Haltung ebenfalls. Bei seinen Nerven war er sich nicht ganz so sicher, während er sich stoisch gegen den Wind stemmte und die unruhig schäumende See ihm feine Wassertröpfchen ins Gesicht spritzte. Das jahrelange Stabhochsprung-Training hatte seine Armmuskulatur recht effektiv gestärkt, aber dennoch hatte er in diesem Moment das Gefühl, als ob die drei Kilo Mandarinen in seinen Händen ihm jeden Moment die Schultergelenke auskugeln würden. So entkam ihm auch nur ein tiefes, resignierendes Seufzen, als Nagisa ihn fragte: „Okay. Hast du einen Stift?“ „Rechte Jackentasche.“ An diesem Punkt hoffe er einfach nur noch, dass sie diese idiotische Sache mit dem Mandarinenorakel, die noch dazu er selbst mit seiner vermaledeiten Geschichte unabsichtlich angestoßen hatte, schnell hinter sich bringen konnten.

Nagisa wühlte einen Moment in der Tasche seines Parkas und förderte schließlich mit einem triumphierenden Laut einen Kugelschreiber hervor, den Rei immer für den Fall der Fälle bei sich trug. Es wäre ihm zwar niemals im Traum eingefallen, dass der Stift eines Tages einmal dazu verwendet werden würde, auf Mandarinenschale zu schreiben, aber wenigstens zahlte sich seine weise Voraussicht aus. Wenn sich herausgestellt hätte, dass keiner von ihnen etwas zu schreiben mitgebracht und sie hätten umkehren müssen, wäre ihm vermutlich nichts anderes übrig geblieben, als Nagisa ins Meer zu werfen.

„Mach nicht so ein Gesicht, Rei-chan!“, grinste Nagisa den Angesprochenen von der Seite an, während er sich eine der Mandarinen aus dem Karton heraussuchte und Rei direkt vors Gesicht hielt, „Wenn du willst, schreibe ich deinen Namen auch auf eine Mandarine. Immerhin hast du ja beide Hände voll.“ „Ich glaube nicht, dass das…“ „Schau, schon fertig! Gut, dass dein Name nur so kurz ist, was?“ „Mach, was du willst…“, seufzte Rei daraufhin nur kopfschüttelnd. Es entzog sich ihm, warum Nagisa so fixiert auf dieses abergläubische Mandarinenorakel war und warum er unbedingt dabei sein musste. Im Nachhinein gesehen hatte der Blonde nicht einmal wirklich ernsthaft versucht, ihre anderen Freunde dazu zu überreden, sich ihnen anzuschließen.

Etwas nachdenklich schaute er Nagisa eine Weile schweigend dabei zu, wie dieser eine Mandarine nach der anderen aus der Kiste holte und in seiner etwas unordentlichen Schrift immer abwechselnd seinen eigenen und Reis Namen auftrug. Vor Konzentration war sein Nasenrücken ein wenig kraus gezogen, denn anscheinend war es nicht ganz einfach, auf der unebenen Haut der Zitrusfrüchte mit einem Kugelschreiber zu schreiben. Rei konnte sich nicht helfen, auch wenn ihn der eisige Seewind gerade mehr als unangenehm umwehte und ihm die Arme schmerzten, musste er doch zugeben, dass er diesen Anblick skurril und gleichzeitig liebenswert fand.

Als ob er seine Gedanken gelesen hätte, sah Nagisa in diesem Moment zu ihm auf und schien einen Moment zu stutzen, bevor er das Lächeln erwiderte, das sich, wie Rei erst verspätet feststellte, auf seine Lippen geschlichen hatte. „Bereit, Rei-chan?“

Der Angesprochene nickte ein wenig zu schnell und beeilte sich dann, die Kiste mit den nunmehr beschrifteten Mandarinen neben sich auf dem Steg abzustellen, um die Hände frei zu haben. Er ließ sich eine der Früchte mit seinem Namen von Nagisa geben und tauschte dann einen fragenden Blick mit diesem aus: „Wie… soll das jetzt ablaufen?“ „Du bist der Experte für Liebesorakel, Rei-chan. Sag du es mir.“ „Ich bin der… Moment mal!“, protestierte Rei und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, während sein Freund nur erheitert auflachte.

„Lass uns einfach die Mandarinen werfen, okay?“, bot Nagisa ihm mit untrüglichem amüsierten Aufblitzen in den Augen an, „Den Rest erledigen dann schon die Götter.“ „Die blutrünstigen Meeresgötter?“, erwiderte Rei mit einem leicht geschafften Schmunzeln. „Sei nicht albern, Rei-chan. Willst du deine große Liebe finden oder eine Springflut heraufbeschwören?“ „Ähm…“

„Okay. Auf drei.“ Nagisa atmete einmal tief und vernehmlich ein und wandte sich dann mit der Mandarine in der Hand feierlich der schwarzen, weitläufigen Wasserfläche vor ihnen zu. Rei, obgleich noch immer ein wenig verwirrt, tat das gleiche und wartete stumm das Signal ab. Auf „Drei!“ holten sie beinahe gleichzeitig aus und ließen die Mandarinen fliegen, woraufhin zwei leise Platscher irgendwo in der Dunkelheit erklangen. Rei wollte sich gerade erleichtert abwenden, als ein Schrei neben seinem Ohr ihn heftig zusammenfahren ließ.

„Rei-chan!!“ Nagisas Augen waren weit aufgerissen und trugen einen Ausdruck so entsetzter Fassungslosigkeit, dass sich Reis Magen für einen Moment angstvoll zusammenkrampfte. „W-was ist passiert, Nagisa-kun? Geht es dir…“ „Wir haben nicht bis Mitternacht gewartet!“

Vielleicht sollte er ihn doch einfach ins Meer werfen. Mühsam beherrscht, um sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm beinahe für einen Moment das Herz stehen geblieben wäre, starrte Rei sein Gegenüber an: „… ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt.“ „Bist du dir sicher? Was, wenn es jetzt nicht mehr funktioniert?“ „Nagisa-kun. Das Ganze ist Aberglaube. Es wird so oder so nicht funktionieren.“

Aus irgendeinem Grund schien das Gesagte den Blonden ernsthaft zu treffen, denn sein Gesichtsausdruck bekam für einen Moment lang etwas Verschlossenes, das Rei bislang erst einige seltene Male an Nagisa gesehen hatte. Mit einem Mal bekam er ein irrational schlechtes Gewissen und setzte dazu an, etwas Relativierendes zu sagen, wurde aber durch seinen Freund unterbrochen, der nur seufzend meinte: „Du kannst manchmal so ein Holzkopf sein, Rei. Machen wir einfach weiter, ja?“

Der Angesprochene blinzelte leicht verwirrt, war sich aber nicht ganz sicher, ob er wirklich nachfragen wollte, was Nagisa damit meinte. Stattdessen tat er es seinem Freund nach und bückte sich leicht vor, um eine weitere Mandarine aus der Kiste zu ziehen.

Eine Weile lang standen sie stumm nebeneinander auf dem Bootssteg und schleuderten die mitgebrachten Früchte ins Meer, auch wenn spürbar war, dass die Euphorie von zuvor verflogen war, wofür Rei nicht anders konnte, als sich irgendwie schuldig zu fühlen. Ihre Vorräte neigten sich bereits dem Ende zu, als Nagisa schließlich wieder in die unangenehme Stille hinein das Wort ergriff.

„Rei-chan?“

„Hm?“

„Glaubst du wirklich nicht daran? Dass du jemanden finden wirst?“

Rei warf einen kurzen Seitenblick neben sich, wo Nagisa mit ungewöhnlich in sich gekehrtem Blick auf das Meer hinaus starrte, und dachte einen Moment lang über die Frage nach, bevor er leise antwortete: „Nicht durch irgendein Ritual, nein… außerdem…“ Er hielt einen Moment lang inne, weil es ihn befangen machte, die nächsten Worte laut auszusprechen. „Außerdem will ich ja nicht einfach irgendwen finden.“

Er konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Nagisa überrascht zu ihm aufsah, traute sich jedoch nicht, den Blonden offen anzusehen, weil es ihm doch ein wenig unangenehm war, so etwas Kitschiges laut ausgesprochen zu haben. Nagisa jedoch machte sich weder über ihn lustig, noch zeigte er tatsächlich irgendeine unmittelbare Reaktion, was Rei ein wenig unruhig werden ließ. Dann nahm er plötzlich wahr, wie der andere Junge sein Gewicht vom einen auf das andere Bein verlagerte und leise, aber über das Rauschen der Wellen hinweg noch gut hörbar, murmelte: „Ich auch nicht.“

Reis Herz schien im nächsten Moment einen Takt auszusetzen, als er spürte, wie Nagisa sich so leicht, dass es genauso gut ein Versehen hätte sein können, gegen seine Schulter lehnte. Es war bei weitem nicht so, als ob etwas ähnliches nicht schon einmal geschehen wäre. Tatsächlich verging kaum eine Minute ihres beinahe täglichen Zusammenseins, in der Nagisa ihn nicht auf irgendeine Weise ganz selbstverständlich berührte, anstieß oder am Arm hinter sich her schleifte. Doch diese leichte Berührung an seiner Schulter hier auf diesem brüchigen Bootssteg erschien ihm anders als all das. Zaghafterer, auf gewisse Weise testend, als ob sie beide ein wenig atemlos darauf warten würden, was geschah. Lange Zeit sagte keiner von ihnen ein Wort. Schließlich war es wieder Nagisa, aus dessen leisen Worten Rei beinahe meinte, ein Lächeln herauszuhören, auch wenn das sicherlich Einbildung war.

„Ist dir kalt?“

„…was?“

„Du zitterst, Rei-chan.“

„Nein, ich… es ist eben ziemlich frisch hier.“

„Ja… ist es wirklich. Wir sollten auch langsam zurück.“

Der Blonde ließ ein kurzes Schmunzeln hören, und als Rei es endlich wagte, den Blick auf seine Seite zu lenken, stellte er fest, dass Nagisa auf eine Mandarine in seinen Händen hinabsah. Als er den Blick seines Freundes bemerkte, zuckte er nur leicht mit den Schultern und erklärte: „Das ist die letzte.“ „Möchtest du sie noch schnell ins Meer werfen?“, fragte Rei, doch gleichzeitig hatte er Angst, dass Nagisas warmes Gewicht an seiner Schulter verschwinden würde, wenn er es täte.

„Hmm.“ Nagisa starrte nur weiterhin bewegungslos auf die runde, orangene Frucht in seinen Händen, die seinen Namen trug, und Rei war schon versucht zu fragen, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei, als der Blonde plötzlich nach seiner Hand griff und ihm die Mandarine hineindrückte. Irritiert blinzelte Rei zuerst auf die Frucht und dann auf seinen Freund. „Nagisa-kun, was…“ „Ich will, dass du sie behältst.“

„Aber…“, begann er zu protestieren, stockte dann jedoch in seinen Worten, als er Nagisa ins Gesicht blickte, der sich ihm leicht entzogen hatte. Dieser rieb sich in einer flüchtigen, etwas unwirschen Bewegung kurz über die Wangen, die eine verdächtige dunkle Färbung aufwiesen, und es dauerte einen kurzen, verblüfften Augenblick, bis Rei realisierte, dass Nagisa allem Anschein nach verlegen war.

Er schluckte leicht, blickte auf die schon etwas angematschte Mandarine in seiner Hand hinab und wusste wieder einmal nicht, wie er in dieser seltsamen Situation angemessen reagieren sollte. Statistisch gesehen wäre es vermutlich am sichersten gewesen, einfach zu schweigen, doch da es Nagisa anscheinend große Überwindung gekostet hatte, ihm dieses… Obst zu schenken, wäre es vermutlich unhöflich gewesen, einfach so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. Zumal sein eigenes Herz gerade aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen begonnen hatte, schneller zu schlagen.

„Danke. Ähm…“, begann er etwas steif, „Ich werde… gut darauf achtgeben.“

Nagisa starrte ihn an und Rei starrte zurück. Keine Sekunde später ging erst ein leichtes Zucken über die Schultern des Blonden, dann entkam ihm ein Prusten, was schließlich in ein ausgewachsenes Lachen überging.

„Oh mein Gott, Rei-chan. Manchmal kann ich nicht glauben, dass du echt bist.“

„Wie bitte?“, wollte der Angesprochene verprellt wissen, doch seine Worte gingen in Nagisas ausgelassenem Gelächter unter, der sich mittlerweile vorneüber gekrümmt und das Gesicht in den Händen verborgen hatte. „Es ist nur… das war…!“, kicherte der Blonde unzusammenhängend und hatte anscheinend große Mühe, sich wieder zu sammeln, um einen vollständigen Satz hervorzubringen, „Das war so ernsthaft.“

„Nun, es war schließlich auch ernsthaft gemeint, oder etwa nicht?“, schnappte Rei zurück, wobei er sich nicht sicher war, ob er wirklich wütend oder einfach nur peinlich berührt war, weil Nagisas Gelächter ihm bewusst gemacht hatte, dass er vielleicht wirklich etwas zu dick aufgetragen hatte. Allerdings schien sein beleidigter Tonfall seinen Freund wieder ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, denn er richtete sich wieder auf und rieb sich mit dem Ende seines Schals die Lachtränen aus den Augenwinkeln, während er den Blick, noch immer ein wenig schmunzelnd, wieder auf Rei richtete.

„Doch, war es… du hast recht, entschuldige, Rei-chan“, lächelte er ihm mit einer so ungewohnt aufrichtigen Zuneigung in den Augen zu, dass Rei den Blick abwenden musste und stotternd murmelte: „Was… soll ich eigentlich mit der Mandarine anfangen?“

„Dein Liebesglück finden, natürlich. Hast du die ganze Zeit über nicht aufgepasst?“, erwiderte Nagisa amüsiert und trat langsam wieder näher.

„Auf der Mandarine steht dein Name.“

„Ja.“

„Aber dann… oh.“

Rei wagte es nicht, den Blick auch nur um wenige Millimeter zu heben, weil er sich sehr bewusst war, dass sich auf seinem Gesicht gerade das reinste Leuchtfeuer ausgebreitet hatte, was vermutlich eine weitaus vielsagendere Antwort war, als er momentan in der Lage war zu formulieren.

Doch auch diesmal nahm Nagisa ihm die Entscheidung ab, indem er an ihn herantrat und seine kleine, eiskalte Hand in Reis schob, um ihn mit sanftem Nachdruck mit sich zu ziehen. Dieser stockte merklich, doch als sie den Steg verlassen hatten, schlossen sich auch seine Finger um Nagisas Hand.

„Weißt du…“

„Hm?“, merkte Rei etwas abgelenkt auf, während sie nebeneinander die Treppenstufen zur Promenade hinauf erklommen. Nagisa warf ihm ein kurzes, spitzbübisches Grinsen von der Seite zu.

„Du könntest die Mandarine auch einfach aufessen.“

„Du hast mit potentiell giftigem Kugelschreiber darauf herum gekritzelt. Ich werde sie ganz sicher nicht essen.“

„Oh, Rei-chan… wir haben im neuen Jahr einiges an Arbeit vor uns.“

Nagisas helles Lachen klang durch die Nacht und ließ Rei ein wenig verwirrt, aber mit einem unbestimmten Kribbeln in der Magengrube zurück.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Yamis-Lady
2014-05-03T19:53:39+00:00 03.05.2014 21:53
awww, nagisa ist soooo toll T/////T
*anluv*
der OS ist wirklich zuckersüß geschrieben ♥
etwas verwundert hat mich, dass die anderen nagisa und rei nicht begleitet haben, aber vllt wissen sie j auch von nagisas gefühle zu rei und haben sich taktvoll zurückgehlaten XDD thihihi~

ich hoffe, es wird noch weitere FFs geben *_______*
Antwort von:  Newt
04.05.2014 14:26
Vielen Dank für dein Review! <3 Nun, wahrscheinlich hat der Rest schon geahnt, dass Nagisa irgendeine verrückte Idee ausheckt, und sie haben sich dann entsprechend dezent ausgeklinkt. ;) Rei ist im Grunde seines Herzens einfach zu gutmütig.
Antwort von:  Yamis-Lady
04.05.2014 22:42
hihi, ja bestimmt X//D
jaaa, er ist ein schatz ♥ die beiden sind einfach herzallerliebst *___________*
Von:  Souffrances
2014-02-13T16:16:38+00:00 13.02.2014 17:16
Oh gawd ich habe diese FF verschlungen! *Q*

Ich bin dir unglaublich danabr für diese so gelungene FF! Es gibt so vieles was den leser beim lesen verzaubert hat. Die Art wie du schreibst löst ein Kopfkino aus in dem man sich vollkommen verliert :D Die Character sind herrlich authentisch! Besonders die der beiden Hauptprotagonisten natürlich. Rei war unglaublich originalgetreu wobei ich mir gut vorstellen kann das er mit haru noch am schwierigsten zu schrieben wäre. Davon war hier allerdings nichts spührbar! Und Nagisas Character hatte in deiner FF ein so angenehmes gleichgewicht von seiner süßen art und der ernsthaftigkeit des verliebt seins das es einen beim elsen einfach ein lächeln aufs gesicht zaubert >//<
Großes Kompliment meinerseits!
Antwort von:  Newt
13.02.2014 17:20
Vielen Dank für das liebe Review, das mir meinerseits gerade ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat. ;v;!
Antwort von:  Souffrances
13.02.2014 17:22
/);A;/) Nichts zu danken! Nur ichd arf danken! Das ist das mindeste was man als Leser zurückgeben kann! Ich wünsche das noch viel mehr sich Zeit nehmen dir ein ausführliches Kommentar zu hinterlassen! Und jetzt stalk ich erstmal deine anderen FFs e_e
Von:  Naenia
2014-02-04T13:20:04+00:00 04.02.2014 14:20
Normalerweise bin ich ja absolut kein Fan von Nagisa, aber hier fand ich ihn fast sympathisch - das muss daran gelegen haben, dass du ihn zwar immer noch als redseliges Energiebündel dargestellt hast, ihm dabei aber irgendwie mehr Tiefe verliehen hast und eben das scheint mir in der Serie gefehlt zu haben. Ich bin echt froh, dass ich deine Geschichte gelesen habe, allein schon aus diesem Grund. :3
Natürlich gab es da noch viel mehr, Reis wunderbare, unheimlich authentische Gedankenwelt zum Beispiel - seine Art sich auszudrücken, deine treffende Wortwahl. Oder die niedlichen Erzählungen verrückter und weniger verrückter Neujahrstraditionen. Das waren so tolle Szenen! Ich wäre ja gern auch noch etwas länger in Harus Wohnung geblieben, um zu sehen, was der Rest da so treibt, während die anderen Beiden ihre ersten Schritte auf der Suche nach der großen Liebe machen. <3


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