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Morgenstern

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Verraten


 

🌢
 

Ein paar Wochen zuvor

Die Sonne brannte vom Himmel und ließ die Luft über der staubtrockenen Matschstraße flimmern. Man sah ihr an, wie lange es bereits nicht mehr geregnet hatte. Die Spuren eines Fahrwerks stachen deutlich heraus. Als der Schlamm noch feucht war, musste ein Karren mit schwerer Ladung hier entlanggekommen sein und seine Räder verewigt haben. Als die Temperaturen stiegen, wurden die Spuren gebacken wie Ton in einem Ofen.

Nebula verfolgte gerade kein bestimmtes Ziel.

Ihre Kutte bot ihr Schutz vor den Sonnenstrahlen, aber nicht vor der Hitze.

Sie wollte sehen, wohin ihr Weg sie führte.

Zuvor hatte sie einen Auftrag für einen Adligen in Güldenburg erfüllt. Der Mann wollte ein wertvolles Schwert in seinem Besitz wissen. Angeblich besäße es magische Fähigkeiten - zumindest behaupteten das die Gerüchte. Die blonde Söldnerin musste den Geschichten nachgehen. Es könnte sich immerhin um eine Teufelswaffe handeln. Als sie die Waffe endlich in ihren Besitz gebracht hatte, musste sie zu ihrer Ernüchterung feststellen, dass es sich um ein stinknormales langweiliges Schwert handelte, dessen Griff zwar reichlich verziert war, sonst jedoch keinerlei Besonderheiten aufwies.

Das Ding konnte der Adlige ruhig haben...

Immerhin entlohnte er sie fürstlich für ihre Dienste.

Das nächste Mal musste sie dennoch vorsichtiger mit solchen Gerüchten sein.

Die Erfahrung zeigt, an den meisten ist nichts dran.

Weiter hinten auf der Straße kam etwas zum Vorschein. Mit der Hand auf dem Griff ihres Schwertes näherte sich die Söldnerin dem Objekt. Mit sinkender Entfernung erkannte sie, dass es sich um einen umgestürzten Wagen handelte. Eine Sperrstange ragte aus einem Pferdekadaver heraus. Zerschlagene und intakte Kisten lagen verstreut auf dem Boden herum. Und irgendetwas befand sich zwischen ihnen. Als Nebula erkannte, dass es sich um eine Person handelte, beschleunigte sie ihren Schritt.

Es war ein Mann mittleren Alters mit dunklem Haar, welches im Schein der erbarmungslosen Sonne leicht grün schimmerte.

Vorsichtig rüttelte die Blondine an dem Bewusstlosen.

Allmählich kam er wieder zu sich.

“Was ist geschehen?”, fragte er leicht benommen. Dann sah er den Kadaver seines Pferdes und den umgestoßenen Wagen und schreckte auf. “Meine Waren! Meine Waren!”

“Immer langsam”, versuchte Nebula ihn zur Ruhe zu bewegen.

Aber ihr Gegenüber gedachte nicht im Traum daran. Dafür, dass er bis eben bewusstlos am Boden lag, war er sehr schnell wieder auf den Beinen und wuselte zwischen den Überresten seiner Ladung umher. “Es ist alles weg!”, stieß er panisch aus. “Ich bin ruiniert.”

“Seid still. Berichtet mir, was sich zugetragen hat.”

“Ich wurde überfallen!”

Nebula sah ihn daraufhin abschätzig an. “Ist das wahr?!”

“Junger Herr, wollt Ihr mich verspotten?”

Offenbar zeigte ihre Verkleidung Wirkung. Kein Wunder, da ihr halbes Gesicht von der Kapuze verdeckt wurde.

“Ich brauche mehr Informationen. Was hattet Ihr geladen? Wisst Ihr, wer Euch überfallen hat? Könnt Ihr mir sonst noch etwas berichten?”

“Ich transportierte Geschmeide nach Bärenhag. Ich fuhr die Straße entlang und ahnte nichts böses. Plötzlich bohrt sich dieser Speer in meinen Gaul und aus allen Richtungen fallen Männer über meinen Wagen her, wie Spatzen über die Saat! Warum haben sie mich leben lassen? Wenn ich meine Ware nicht abliefere, bin ich bankrott. Da wäre ich lieber tot!”

“Ihr wisst gar nicht, wie einsam der Tod ist...”

“Wie meint Ihr das?”

“Unwichtig! Ihr haltet nicht viel von angeheuerten Wachen, oder?”

“Tatsache, Ihr verspottet mich.”

“Mit mir an Eurer Seite wäre das nicht passiert!”

“Das sind große Worte, Bengel. Könnt Ihr ihnen Taten folgen lassen?”

“Was wollt Ihr?”

“Bringt mir meine Waren wieder und ich beteilige Euch am Gewinn.”

“Wie viel?”

“Zehn Prozent.”

“Zwanzig.”

“Halsabschneider!”

“Wollt Ihr Eure Waren wieder bekommen oder nicht?”

“Fünfzehn.”

“Na gut! Abgemacht!”

Nebula und der fahrende Händler besiegelten ihre Abmachung mit einem Handschlag.

“Falls Ihr Anhaltspunkte braucht: Bevor sie mich bewusstlos schlugen, sah ich einige in Richtung Westen fliehen. Vielleicht findet Ihr sie dort.”

“Ich werde mich darum kümmern. Schön hier bleiben!”

“Spaßvogel! Wo soll ich denn hin, ohne meine Waren?”

Nebula folgte der Weisung des Händlers und erkundete den Westen abseits der Straße. Zuerst wirkte alles unauffällig, bis zwischen Bäumen und Sträuchern ein Höhleneingang in einer Felswand auftat. Links und rechts brannten Fackeln und es befanden sich einige Kisten und Fässer auf einem kleinen Platz vor der Öffnung. Hier muss es sein, dachte Nebula und streckte den rechten Arm aus. “Brenne in meinen Venen, Bloodbane!”, befahl sie und rief ihre Waffe herbei. Allein und nur mit einem gewöhnlichen Schwert bewaffnet, wollte sie es auch nicht mit einer ganzen Räuberbande aufnehmen.
 

Ungeduldig beobachtete der Händler den Verlauf der Sonne.

Einige Zeit verstrich.

Wo bleibt der Kerl, grübelte der Mann. Er wird mich doch nicht versetzt haben?

Als er dann aber ein Pferd schnauben hörte und sich der Geräuschquelle zuwandte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Der Fremdling kam mit Pferd und Wagen vorgefahren und stoppte am Schauplatz des Überfalls.

“Ich glaube mein Schwein pfeift!”, staunte der Krämer. “Wo habt Ihr...”

“Ich fand dies, als ich die Räuber auseinander nahm”, erklärte Nebula und sprang von dem Wagen ab. “Euer Geschmeide ist bereits aufgeladen. Inklusive weiterem Diebesgut.”

“Ihr habt gegen die Räuber gekämpft? Allein?!”

“Das wolltet Ihr doch... Sie trennten sich nicht freiwillig von Eurem Zeugs...”

“Was habt Ihr mit ihnen gemacht?”

“Wollt Ihr Euch diesen Moment des Glücks mit schmutzigen Details trüben?”

“Nein. Ihr habt wohl Recht.”

“Lasst es mich so ausdrücken: Sie sind dauerhaft aus dem Geschäft.”

“Habt Dank, Fremder! Ihr habt mich gerettet.”

“Dankt mir in Münzen.”

“Natürlich, das habt Ihr Euch redlichst verdient.” Der Händler stieg auf den Anhänger und warf Nebula ein großes zusammengerolltes Tuch Seide zu.

Die Söldnerin fing den Wertgegenstand auf. “Was soll ich damit?!”, fragte sie verärgert. “Ich will Gold!”

“Ich wurde ausgeraubt, schon vergessen. Ware ist das einzige von Werte, das ich Euch geben kann.” Der Mann stieg wieder aus dem Wagen aus. “Wenn Ihr es zu Gold machen wollt, könnt Ihr es in Bärenhag verkaufen.” Er schwang sich auf die Kutscherbank.

“Verkaufen?”

Der Krämer klopfte mit der Hand auf den freien Platz neben sich. “Kommt schon, Bursche. Ich nehme Euch mit.” Offenbar hatte er immer noch nicht bemerkt, dass Nebula eine Frau war. Um so besser. Das bedeutete, die Tarnung war gut genug, um sich auch vor vielen Augen zu verbergen. Vielleicht sollte sie es riskieren, in die Stadt zu gehen. “Außerdem ist es gefährlich. Halunken sind nicht der einzige Schrecken. Es heißt, ein waschechter Raubritter treibe sein Unwesen. Mit dem werdet Ihr bestimmt auch nicht fertig. Die Leute sagen, er sei mit dem Teufel im Bunde.”

“Wirklich?”, erkundigte sich die Blondine. Sie stieg auf der anderen Seite auf und setzte sich auf die freie Hälfte der Kutscherbank. “Redet weiter!”
 

🌢
 

Gegenwart

Gierig tranken die Pferde aus der Tränke, als der Konvoi nach langer Fahrt eine Pause einlegte. Die Kaufmänner reisten den ganzen Tag unermüdlich, um voranzukommen. Nun waren nicht nur die Pferde, sondern auch die meisten Menschen erschöpft. Die Abendröte des Himmels blutete langsam in die Schwärze der Nacht aus. Dunkelheit, durchbrochen von funkelnden Sternen, erschien.

Bald wäre es sowieso zu dunkel, um die Reise fortzusetzen.

Darum entschieden die Händler, hier zu rasten.

Die Tiere legten sich auf provisorisch aufgehäuftem Stroh schlafen und die Wachen entschieden, wer von ihnen welche Schicht übernehmen würde. Gegenseitig betrogen sie beim Stäbchen ziehen, um die besten Zeiten. Die müden Zivilisten betteten sich in ihren Schlafsäcken zur Ruhe und waren in Gedanken schon beim nächsten Morgen. Bald schon würde die nächtliche Stille einsetzen. Doch die kräftezehrende Reise vermochte es nicht, alle ihres überschüssigen Tatendrangs zu berauben. Freunde des Kampfes hatten lodernde Fackeln im Kreis in den Boden gerammt und so einen Ring geschaffen. Schaulustige fanden sich am Rand ein, um dem versprochenen Spektakel beizuwohnen. Seitdem die beiden neuen dem Konvoi beigetreten waren, gab es jeden Abend einen Kampf. Einer war im Kampf geschult und der andere wollte es erlernen.

Die Zuschauer warteten ungeduldig.

“Traut euch endlich!”, forderte einer.

“Sie wird ihm wieder den Hintern versohlen!”, prophezeite ein anderer.

Dann endlich erfüllte sich der Wunsch der Schaulustigen und die Kontrahenten betraten bewaffnet den Ring. Es waren ein Mann und eine Frau, beide im gleichen Alter und noch sehr jung. Die Frau gehörte zu den Wachen und hatte einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Eigentlich war es unüblich, Frauen als Wachen anzuheuern, aber nachdem sie den Anführer der Wachen im Handumdrehen besiegt hatte, vergaßen die Wachen schnell ihre Vorurteile. Der Mann war der Schmied. Der Ersatz für den vorherigen, der sich in der letzten Stadt zusammen mit einer Tänzerin abgesetzt hatte. Er sollte nicht das Schwert führen, sondern es schleifen. Den Pferden die Hufe wechseln. Werkzeug reparieren. Aber die Bewunderung für die Frau und ihre Kampffertigkeit, ließ ihn seine eigentliche Aufgabe vergessen. Und ihre verblüffende Schönheit zog ihn an. Zumindest während eines Kampfes konnte er ihr nah sein. Und vielleicht würde sie ihn irgendwann mit anderen Augen sehen.

Ein frommer Wunsch...

“Bist du bereit für deine Packung?”, fragte die hübsche Frau.

“Bist du bereit, diesmal Staub zu schmecken?”, provozierte der junge Mann.

“Mach dich nicht lächerlich, Idiot! Fünfzehn Sekunden, dann liegst du flach!”

Die Frau zog das Schwert an ihrem Gürtel und brachte sich in Kampfstellung. Ihre Waffe wurde einhändig geführt und erlaubte ihr, sich mit dem anderen Arm zu verteidigen. Geschützt durch Achselzeug und Schienen, diente er ihr als Ersatz für einen Schild, welcher viel zu sperrig wäre und sie höchstens behinderte.

Der junge Mann reagierte, indem er wiederum seine Waffe zog. Es war ebenfalls eine einhändige Waffe, die er allerdings mit beiden Händen hielt. Seine mangelhafte Kampfhaltung blieb nicht unverborgen und wurde sofort kritisiert.

“Wenn du es dir nicht merken kannst, lass es!”, tadelte die Frau.

“N-Nein!”, widersprach der Mann. “Ich schaffe das!”

Dann stürmten sie aufeinander zu und ihre Klingen kreuzten sich. Funken sprühten, als sich Stahl an Stahl rieb. Der Schmied strengte sich an, einen Treffer zu landen, welcher sein Gegenüber entwaffnen würde. Keinesfalls kämpften sie, um sich ernsthaft zu verletzen. Aber die weibliche Wache wehrte alle seine Hiebe ab, als wäre es nichts.

“Konzentriere dich!”, setzte sie ihren Tadel fort. “Du bist echt hoffnungslos!”

Blitzschnell beugte sie sich nach vorn und wich so dem neuesten Angriff aus. Doch das war nicht das Ziel, welches sie verfolgte. Sie schlug ihre in Metall gehüllte Faust in die Magengrube ihres Gegners. Dem Schmied entglitt sein Schwert und er fiel auf die Knie, die Hände fest auf den schmerzenden Bauch gepresst.

Er hustete und es war ihm, als würde er sein Abendmahl gleich wiedersehen.

"Ein Krieger besteht nicht nur aus seinem Schwert! Merke dir das gefälligst!"

Das Publikum war nicht besonders begeistert von dem schnellen Sieg der Wächterin.

“Könnt Ihr ihn das nächste Mal etwas langsamer verhauen?”, entrüstete sich einer.

“Ja, wir wollen was sehen!”, meinte ein anderer.

“Sucht Euch einen richtigen Gegner!”, stichelte ein Dritter. "Nicht diese Memme."

Enttäuscht zogen sie von dannen.

Die Frau steckte ihre Waffe weg und half ihrem Gegner auf. Als er wieder stehen konnte, ergriff er sein Schwert und verstaute es ebenfalls. Gemeinsam traten sie aus dem Ring und gingen zu einem der Zelte.
 

Eine Öllampe warf Schatten an die Innenseiten des zügigen Zeltes, als eine Windböe durch es hindurch pfiff. Die Kontrahenten von einst lagen nun nebeneinander, jeder in seinem eigenen Schlafsack. Sicherheitshalber hatten sie eine Mauer aus ihren Habseligkeiten zwischen sich aufgebaut, damit sie sich nicht aus Versehen schlaftrunken zu nahe kamen. Zwar tuschelte man bereits, in welcher Beziehung sie zueinander stehen könnten, aber das waren nichts als Gerüchte. Beide starrten an die Decke und beobachteten die Schatten. Sie konnten nicht schlafen.

“Du warst heute nicht bei der Sache, Henrik!”, wurde der Schmied erneut getadelt.

“Ich habe mich angestrengt, Nebula!”, verteidigte sich dieser.

“Du bist einfach ein Lappen!”, sprach die Söldnerin. “Warum bleibst du nicht einfach ein Schmied und beschlägst Hufe?”

“Ich möchte dir keine Last sein!”

Nebula schwieg einen Moment. “Du bist mir keine Last!”, beschwichtigte sie ihn. “Wir haben uns dem Konvoi angeschlossen, um so an Informationen zu gelangen. Ich gehöre zur Wache und du zum Tross. Wir täten gut daran, unsere Rollen zu spielen!”

Dann schloss sie ihre Augen und das Gespräch war für sie beendet.

Henrik hingegen versank in Gedanken.
 

Sechs Tage zuvor

Völlig außer Atem hatte Henrik die Grenzen des für ihn Erträglichen erreicht. Der Schweiß rann ihm in Strömen. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie im nächsten Moment nachgeben würden. So ging das nicht weiter! Er benötigte eine Pause und stützte sich an einem umgefallenen Baumstamm ab. “Nebula!”, rief er. “B-Bitte warte!”

Die Blondine stoppte kurz ihren strammen Marsch und sah über ihre Schulter. “Wenn du nicht Schritt halten kannst, solltest du zurückgehen”, sprach sie kalt. “Einen Klotz am Bein kann ich auch nicht gebrauchen!” Sie sah wieder nach vorn und ging einfach weiter.

“W-Warte!” Henrik verstand sie nicht. Erst überwand sie sich, ihn zu bitten, sie zu begleiten und jetzt behandelte sie ihn wie ein lästiges Anhängsel?

Abermals blieb Nebula stehen, diesmal ohne sich umzudrehen.

Sie verzog ihr Gesicht und zeigte die Zähne. Ein widerwilliges Knurren verließ ihren Mund, als sie sich nun doch umwandte und zu ihrem Begleiter zurückkehrte. “Na schön, du sollst deine Pause bekommen.” Daraufhin setzte sie sich zu ihm, die Arme verschränkt und mit ungeduldigem Gesichtsausdruck.

“W-Warum ha-hast du es so eilig?”, erkundigte sich der Schmiedegeselle.

“Das habe ich dir doch alles schon erklärt, du Trottel. Und ich habe keine Lust es nochmal zu tun! Wir müssen die Kaufmänner erreichen.”

“W-Wegen der Sache, die du untersuchen willst?”

“Genau. Wir haben einen Auftrag.”

“Die Räuber?”

Nebula machte sich offen über Henrik lustig. “Nein, ein Rudel Exhibitionisten!"

“D-Die sind wirklich sch-schwer bedeckt zu halten.”

Sein feuchtfröhlicher Spruch überraschte die Söldnerin. Er ging einfach nicht auf ihre Provokation ein und schaffte es sogar, die Situation aufzulockern. Den sollte sie behalten! Vielleicht tat sie gut daran, sich ihm ein wenig mehr zu öffnen.

“Und d-du glaubst, du findest etwas?”

“Ich half vor einigen Tagen einem Händler. Er hat mir berichtet, das eine Handelsstraße durch das Nebeltal führt. Es gab schon oft Überfälle, wenn der Nebel besonders dicht ist. Dennoch wird die Straße nicht aufgegeben, da sie zu wichtig ist. Händler heuern Wachen an und lassen sich von ihnen beschützen.”

“Und?”

“Und da kommt mein Schwertarm ins Spiel. Ich werde als Wache anheuern.”

“A-Aber du bist eine-”

“Frau! Na und?!” Nebula ballte die rechte Hand zur Faust und stieß sie mit der flachen linken zusammen. ”Wenn sie keinen anderen Grund haben, mich abzulehnen, werde ich sie so lange verdreschen, bis sie mich bitten, sie zu beschütze!”

“I-Ich gl-glaube, das ist gegen d-das Gesetz...”

Plötzlich schwang sich Nebula wieder auf die Beine. “Genug geruht! Wir haben keine Zeit zu vertrödeln!”

Widerwillig erhob sich Henrik. Nun ging die elende Quälerei von vorn los.
 

“WAS wollt Ihr?!”, fragte einer der bereits angeheuerten Wächter und konnte sich beim Anblick der schmächtigen kleinen Frau das Lachen bald nicht mehr verkneifen. “Die Karawane beschützen?” Abschätzig musterte er das kurz geratene Weibsbild vor seinen Augen. “Ihr spinnt wohl!”

Henrik und Nebula hatten den Konvoi tatsächlich noch abfangen können.

Nun versuchte die Blondine als Wächterin angeheuert zu werden.

Sie standen inmitten der Wachen.

Henrik spürte Blicke in seinem Nacken, die eigentlich jemand anderem galten.

“Traut Ihr mir das nicht zu?”, beantwortete Nebula mit einer Gegenfrage, obwohl sie die Antwort dieses Mannes bereits kannte. Es waren die gleichen chauvinistischen Vorurteile, welche sie schon viel zu oft hören musste.

“Eine Wache muss groß sein. Muss stark sein. Und vor allem eins: männlich!”

“Glaubt Ihr, ich weiß das Schwert nicht zu führen?”

“Ihr könnt gern MEIN Schwert führen!” Der Mann ballte die Hände zu Fäusten und bewegte seine Lenden in einer maximal vulgären Geste. Sie verleitete die anderen dazu, hemmungslos loszupusten.

Die Provokation zeigte Wirkung. “Ich ramme Euch unangespitzt in den Boden!” Nebula zog wütend ihr Schwert.

“Aber lasse dich nicht so einfach provozieren!”, versuchte Henrik zu beschwichtigen.

“Halt die Klappe! Lass das die Erwachsenen Regeln!”

Hilflos sah er zu. Er empfand Mitleid. Für den Mann.

Unterdessen entbrannte der Kampf zwischen Nebula und dem Wächter. Allerdings war es nicht mehr als eine einseitige Prügelei. Gelangweilt blockte die Blondine die Hiebe und Schläge, mit denen sie eingedeckt wurde. Als sie genug hatte, schlug sie ihrem Gegner einmal kräftig in die Magengrube und setzte ihn außer Gefecht.

Umgehend verstummte das Gelächter.

Und ehe sie sich versahen, waren Henrik und Nebula angeheuert.
 

Gegenwart

Ein Poltern weckte den jungen Schmied und veranlasste ihn, seine Augen aufzuschlagen. Er sah über die Barriere von Habseligkeiten, aber konnte Nebula nicht neben sich entdecken. Ihr Verbleib schien ein Rätsel zu sein.

Dann polterte es erneut.

Henrik griff nach seinem Schwert und stürmte aus dem Zelt hinein in eine weiße Wand aus Morgendunst. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, entdeckte er Nebula. Sie hockte an einem kleinen Kessel, indem irgend etwas Unappetitliches vor sich hin blubberte, und rührte unentwegt in dem Gebräu herum. Noch hatte sie ihre Rüstung nicht angelegt - Die störte bestimmt beim Kochen.

Sie sah zu ihm auf und bemerkte, dass er sein Schwert in der Hand hielt.

“Was willst du denn mit dem Ding?”, fragte sie. “Willst du lieber Staub statt meiner Kochkünste schmecken?”

“N-Nein!”, antwortete er. Obwohl er sich sicher war, dass der Staub bestimmt besser schmecken würde. “Du warst nicht da und ich h-habe etwas poltern gehört.”

“Und da bist du gekommen, um mich zu retten?” Nebula machte ein spöttisches Gesicht. “Mein Ritter in glänzender Rüstung” Sie hörte auf zu rühren. “Ich denke, es ist fertig. Erlaubst du mir, uns beide vor dem Hungertod zu bewahren?”

“Was gibt es denn?”

“Haferschleim und Brot.” Nebula füllte mit einer Kelle Schleim in zwei Schüsseln ab.

Henrik verging blitzartig der Appetit. “Wäh! Schon wieder?”

“Das ist gesund und nahrhaft!” Nebula legte eine Kunstpause ein und sah verlegen zur Seite. “A-Außerdem kann ich nichts anderes kochen.”

“Ist doch nicht schlimm. Dafür hast du doch jetzt mich!”

Nebulas Gesicht errötete. Erregt und beschämt zugleich starrte sie ihn an. “W-Was soll das jetzt wieder heißen?!”

Henrik konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

“Wieso lachst du jetzt, du Idiot?!”

Der Schmied tat sein Bestes, um den Haferschleim nachträglich noch genießbar zu machen. Doch es stellte sich als Ding der Unmöglichkeit heraus. Mit langen Zähnen würgten beide ihr Frühstück herunter, das teilweise nach Kohle schmeckte, da Nebula der Schleim im Topf angebrannt war.

“Du hast Recht!”, gestand Nebula ein. “Das ist widerlich!”

Plötzlich horchte Nebula auf. Da war noch etwas anderes in der weißen Wand. “Geh! Versteck dich irgendwo!”, befahl sie ihrem Begleiter.

“A-Aber?”

“Na mach schon!”

Henrik tat, wie ihm geheißen wurde. Neben ihrem Zelt hatte einer der Händler seinen Planwagen abgestellt. Er kletterte hinein und suchte zwischen ein paar Fässern Schutz. Indes tauchte die gefährliche Schönheit in die weiße Wand ein. Kaum ein Geräusch drang aus dem dichten Dunst heraus. Henrik wollte zwar wissen, was sich zutrug, aber er gedachte wenigstens einmal auf Nebulas Worte zu hören. Dann, unerwartet, setzte sich der Planwagen wie von Geisterhand getrieben in Bewegung.
 

Ein in einem abgetragenen Lederwams gekleideter, unrasierter und ungewaschener Mann mit kurz geschorenen Haaren brach zusammen, als Nebula den Knauf ihres Schwertes auf seinen Kopf schlug. “Das war der letzte von ihnen!”, verkündete sie stolz.

Die anderen Wachen kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als die hübsche Frau die unbefleckte Klinge wegsteckte. Eine Augenweide und ein starker Krieger. Qualitäten, denen man selten kombiniert in einer Person begegnete. Um Nebula herum lagen sechs bewusstlose Angreifer. Sie hatte sie alle allein erledigt, während die anderen Wachen Mühe im Zweikampf hatten.

“Gute Arbeit”, sagte einer der Wachmänner verlegen.

“Wo sind die überhaupt hergekommen?”, fragte ein weiterer.

“Wahrscheinlich hielten sie sich für klug, uns zu überfallen, wenn niemand sie kommen sieht.”

“Aber so haben sie nicht gesehen, wie gut hier alles bewacht ist", tönte stolz ein weiterer.

“Ihr meint, sie haben unser blondes Biest nicht gesehen!”

Langsam aber sicher ließ die Sonne den dichten Schleier weichen und man konnte endlich wieder klar sehen. Die Wachen fesselten die Männer und setzten sie in einen der Planwagen fest. Einer der Händler verfiel urplötzlich in Hysterie, als er feststellte, dass etwas fehlte. Aufgeregt rannte er auf Nebula und die anderen Wachen zu.

“Mein Wagen ist fort!”, rief er unentwegt. “All der teure Wein!”

“Was meint Ihr damit, das Euer Wagen fort sei?”, erkundigte sich Nebula.

Der Mann deutete auf die Stelle, wo sein Wagen gestanden hatte. Nebula stellte mit Schrecken fest, dass sie und Henrik ihr Zelt direkt daneben aufgeschlagen hatten. Sie eilte, um nach ihrem Schmied zu suchen. Doch er war nicht im Zelt. Hatte er sich im Wagen versteckt? Du Idiot, dachte sie besorgt. Machst doch sonst nie was ich sage! Dann kehrte sie zu den anderen Wachen zurück.

“Ich werde den Wagen zurückholen!”, kündigte sie an.

“Das könnt Ihr nicht allein wagen!”, sagte einer der Männer. “Das ist Selbstmord! Wer weiß, wie viele noch da draußen sind. Ich werde Euch lieber begleiten.”

“Fein! Seid mir aber kein Klotz am Bein!”

Gemeinsam folgten sie den Wagenspuren. Sie führten sie in einen kleinen Wald. Dort fanden sie den Karren. Er war liegen geblieben, als eines der Räder in den schlammigen Resten eines Wasserloches stecken blieb. Zwei Männer versuchten es herauszuheben, um der misslichen Lage zu entkommen. Gerade als Nebula sich ihrer annehmen wollte, fühlte sie den Griff ihres Begleiters um ihren Körper und ein Messer an ihrer Kehle.
 

Henrik kauerte noch immer im Planwagen. Bisher war er noch nicht entdeckt worden. Er hatte einen Schreck bekommen, als der Wagen plötzlich losfuhr. Doch nun steckte ein Rad fest und die Räuber konnten ihre Flucht nicht mehr fortsetzen.

Sie sind beschäftigt, dachte Henrik. Es wäre die Gelegenheit!

Doch dann hörte er eine vertraute Stimme. Vorsichtig sah er durch den Spalt in der Plane.

Nebula wurde von einer der Wachen der Karawane festgehalten und mit einem Messer bedroht. Seine Hand wanderte an Stellen, wo sie nichts verloren hatte. Erst hinauf an ihre Brust und dann hinunter zwischen ihre Beine. Er presste ihre untere Hälfte gegen die seine. Sie konnte seine Geilheit durch ihrer beider Kleidung deutlich fühlen. “Ihr habt meine Freunde ausgeliefert, Weib”, flüsterte er ihr ins Ohr. “Dafür werdet Ihr mich entschädigen!”

Nebula wurde von dem Mann näher an den liegengebliebenen Wagen gezwungen.

“Schaut mal, Jungs!”, rief er seinen Komplizen zu. “Schaut, was ich hier habe!”

Die beiden Männer stoppten ihre Arbeit am Rad.

Die verräterische Wache machte sich noch einmal an Nebulas Oberweite zu schaffen. Sie fühlte seine widerlichen Griffel selbst durch ihr gepolstertes Oberteil hindurch. Er musste ihre Brust mit einem Brotteig verwechseln. “Ihr wisst, dass Ihr gleich unsäglich Schmerzen leiden werdet?!”, sagte sie zornig. Sie stieß ihren Kopf gegen den der korrupten Wache und befreite sich aus seinem Griff. Dann entriss sie ihm das Messer und schlug ihn mit geballter Faust bewusstlos. Durch den Schlag gingen mehrere seiner Zähne auf eine Reise ohne Wiederkehr. Nebula warf das Messer in der Hand auf einen der anderen Räuber. Die Klinge streifte dessen Wange und bohrte sich in den Baum hinter ihm. "Euch will ich vor die Wahl stellen: Werdet Ihr kämpfen oder fliehen?"

Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Sie streckten die eben erst gezogenen Waffen nieder und flohen. Ihren Kameraden ließen sie zurück. Wenig später traute sich auch Henrik aus seinem Versteck heraus. Vorsichtig stieg er aus dem Planwagen aus.

Nebula war sichtlich erleichtert, auch wenn sie es nicht offen zugab. “Idiot”, schimpfte sie. “Wenn du dich noch mal entführen lässt, töte ich dich selbst!”

“W-Was ist eigentlich passiert?”, fragte der Schmied.

“Dieser Wachmann dort war wohl insgeheim ein Räuber”, schloss Nebula. Dabei zeigte sie auf den Mann, der noch immer bewusstlos die imaginären Sterne bewunderte, welche um seinen Kopf kreisten. “Wahrscheinlich hat er seinen Leuten irgendwie ein Zeichen gegeben, wenn sie angreifen sollen.”

“Ist diese Gegend nicht als Nebeltal bekannt?”, fragte Henrik. “D-Das ist doch ihre übliche F-F-Vorgehensweise, den Nebel als Tarnung für ihre Überfälle nutzten.”

“Das haben sie davon, meinen schönen Namen in den Schmutz zu ziehen!”

Henrik entdeckte die ausgeschlagenen Zähne. “D-Du hättest aber nicht so hart zuschlagen müssen."

"Er hat mich schamlos befummelt, dieser notgeile falsche Fünfziger!" Nebula ging zu dem Wagen und hob ihn mühelos aus dem Schlamm. “Das hätten wir!”

“Sagenhaft!”, staunte der junge Schmied.

Gemeinsam kehrten sie zum Konvoi zurück. Der Verräter befand sich gefesselt im Planwagen. Sie berichteten, was sich zugetragen hatte. Die Wachen schienen betroffen, die Ratte in ihren Reihen nicht enttarnt zu haben. Sie legten den Mann bei seinen Komplizen in Ketten. Dann wurde die Reise fortgesetzt. Das Ziel war die Hauptstadt. Allerdings reisten Nebula und Henrik kurz danach allein weiter, da ihr Ziel in einer anderen Richtung lag. Obwohl Nebula um einiges stärker war, ließ sie Henrik das Gepäck schleppen. Das Zelt, den Proviant und einiges mehr. Ein Gentleman trägt einer Lady ihre Sachen!

Am Rand des Gebirges, welches das Nebeltal umschloss und mitverantwortlich für das Wetterphänomen war, welches dem Tal seinen Namen gab, lag die Stadt Schleierfirst.

Doch es war noch ein weiter Weg für Henrik, den freiberuflichen Packesel.
 

🌢
 

Aus der Ferne erkannten Nebula und Henrik die Konturen eines kleinen Dorfes. Es war eine gar mickrige Ansiedlung mit Stroh bedeckten Häusern und einer lachhaft kleinen Palisade. Im Ernstfall bot sie keinerlei Schutz gegen Angreifer. Wahrscheinlich vermochte sie es gerade so, das Nutzvieh am Stiften gehen zu hindern.

“Schau mal, ein Dorf!”, bemerkte der junge Schmied.

“Ich wusste nicht, dass es auf dem halben Weg nach Schleierfirst eine Siedlung gibt”, grübelte Nebula. “Andererseits, so klein wie sie ist, kann man sie schon mal übersehen.”

Der Proviant des Duos neigte sich dem Ende entgegen. Das Dorf bot die perfekte Gelegenheit, die Vorräte wieder aufzufüllen. Sicher fände sich auf dem Marktplatz das ein oder andere Nützliche für die weitere Reise.

Ein schmaler Pfad führte durch Wiesen und Felder. Er war nicht so staubig, wie es bei den Temperaturen zu vermuten wäre. Als sie die Kulturen durchquerten, stellten sie fest, dass sie in überraschend gutem Zustand waren. Nebula sah an den Rand des Feldes und erkannte mit kühlem Nass gefüllte Bewässerungsgräben. Die Dorfbewohner mussten einen verlässlichen Zugang zu Frischwasser besitzen, wenn sie ihre Felder trotz der Trockenheit am Leben erhalten konnten. Entweder eine Wasserpumpe oder eine unterirdische Quelle. Vielleicht war es keine so schlechte Idee, in das Dorf für eine Rast einzukehren.

Als sie sich dem Palisadentor näherten, hörten sie laute Stimmen aus der Siedlung schallen. Einige klagten, einige drohten.

“W-Was mag da vor sich gehen?”, fragte Henrik.

“Wir sollten uns da nicht einmischen!”, belehrte Nebula

“Vielleicht br-brauchen sie Hilfe!”

“Die Streitereien von Fremden sollten dich nicht kümmern!” Nebula spürte, dass irgendetwas faul war. Dennoch gab sie ihrem Begleiter schlussendlich nach. ”Aber es gibt nur einen Weg herauszufinden, was dort vor sich geht.”

“A-Also gehen wir hinein?”

“Ja, aber stolpere nicht überall herum!”

Mit der Hand an der Waffe betrat Nebula das Dorf. Henrik hingegen dachte im Traum nicht daran zu kämpfen. Lieber hielt er sich hinter Nebula und hoffte, nicht gesehen zu werden. Das stellte sich angesichts ihres Größenunterschiedes als schwieriger heraus, als er gedacht hatte.
 

“Bitte, gebt uns noch etwas Zeit!”, bettelte eine alte Frau. Sie musste eine wichtige Persönlichkeit in der Siedlung sein. Vielleicht die Dorfälteste. Sie trug das zu dicken Strähnen verklebte lange graue Haar in einem losen Pferdeschwanz und musste ihr gesamtes Gewicht auf einen Gehstock stützen, um nicht hinzufallen.

“Halt deine Schnauze, du alte Schachtel”, brüllte ein muskelbepackter, groß gewachsener Mann, der einen Dornen bewehrten Streitkolben am Gürtel trug. Er versetzte dem Gehstock einen Tritt, woraufhin die alte Frau hinfiel und wehklagend auf dem Rücken liegen blieb. “Der nächste Tribut für meinen Herrn ist fällig!”

“Großmutter!”, rief ein Junge besorgt und drängte sich aus der versammelten Menge hervor. “Großmutter, geht es dir gut?” Er starrte den Mann voll des Zornes an. “Du hast meiner Großmutter wehgetan, du Dreckschwein!”, beschimpfte er ihn.

Der Grobian knackte mit den Fingergelenken und anschließend mit dem Nacken. “Jetzt werd mal nicht frech, du Bengel!” Er ergriff seinen Kolben und machte sich bereit, dem Kind den Schädel einzuschlagen. Doch dann spürte er Widerstand. Egal mit wie viel Kraft er seine Waffe auf das Kind hernieder gehen lassen wollte, es gelang nicht. Er musste feststellen, dass jemand seinen Arm festhielt. Er sah sich nach dem Übeltäter um.

“Man schlägt keine Kinder!”, sprach Nebula, die ihn am Zuschlagen hinderte.

Der Mann wollte nicht glauben, dass eine zarte Frau, die ihm nicht mal bis zur Brust ragte, seinen Arm mit solcher Kraft festhalten konnte, dass er ihn nicht mehr bewegen konnte. Er versuchte, sich loszureißen - vergeblich. “Lasst los, Weib!, befahl er. “Lasst los, oder bereut es!” Er steigerte seinen Krafteinsatz.

Nebula spürte, wie er sich an ihr abmühte. Dennoch bewegte sich die Waffe nicht einen Millimeter. Schon irgendwie lustig… Sie beschloss, ihm den Gefallen zu tun und ließ los. “Bitteschön!” Als sie ihre Hand öffnete, wurde der Mann durch seine eigene Zugkraft umgeworfen, als die entsprechende Gegenkraft entfiel. Die anderen Männer, die zweifelsohne zu ihm gehörten, lachten ihn aus, als sein Gesicht im Staub landete.

Der Junge nutzte die Gelegenheit, um sich und seine Großmutter in Sicherheit zu bringen.

“A-Aber so f-fang doch bitte keinen Streit a-an”, bat der feige Henrik, welcher um jeden Preis einen Kampf vermeiden wollte.

“Er hat mich beleidigt und nicht andersherum!”, erwiderte Nebula.

“Du kleine dämliche Hure!”, schnaubte der Muskelberg, als er wieder aufstand. Er sammelte seine Waffe wieder auf, welche ihm bei seinem Sturz entglitten war. Die Schmach, von diesem vorlauten Weibsstück blamiert worden zu sein, wollte er ihr vergelten.

“Ich kann mich nicht erinnern, Euch das ‘Du’ angeboten zu haben.” Während der Bandit vor Wut schnaubte wie ein Stier, blieb Nebula ganz gelassen. Er war nichts weiter als ein Handlanger. Von ihm hatte sie nichts zu befürchten.

Ihre Einschätzung schien er allerdings nicht zu teilen.

“Du…” Der Mann scherte sich nicht den begonnenen Satz fortzuführen. Lieber hob er den Streitkolben und wollte auf Nebulas hübsches Gesicht mit ihm malträtieren.

Henrik duckte sich und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. Er wollte nicht mit ansehen, wie der arme Mann gleich von der Blondine massakriert würde.

Bevor die Waffe Nebula treffen konnte, schlug sie ihrem Angreifer die Faust ins Gesicht, sodass er abermals zu Boden ging. Diesmal mit so viel Energie, dass er sich mehrfach überschlug und anschließend nicht mehr aufstand.

Schockiert sahen die übrigen Männer die blonde Frau an.

“Keine Angst, Jungs”, versicherte sie ihnen spöttisch. “Der schläft nur ein bisschen.” Dann erhob sie die geballte Faust auf Höhe ihres Gesichtes und setzte ein bösartiges Grinsen auf. “Jetzt nehmt ihn und macht, dass ihr Land gewinnt, bevor ich mich vergesse!”

Tatsächlich gehorchten ihr die Halunken. Sie hoben ihren benommenen Kameraden an. Jeweils einer stützte einen Arm über der eigenen Schulter. Dann verließen sie zügig das Dorf. Jedoch nicht ohne eine Drohung auszuspucken. “Das wird nicht ohne Folgen bleiben!”, sagte einer. “Greymore wird euch alle bestrafen!”

Henrik konnte sehen, wie sich die Augen der Blondine bei der Erwähnung dieses Namens kurz weiteten. Daraus schloss er, dass sie ihn kannte.

Aber sie schwieg.
 

Obwohl sie nur kurz auf den Markt gehen wollten, bestanden die Dorfbewohner darauf, ein Fest zu veranstalten. Sie wollten sich bei ihren Rettern bedanken. Zwar gedachten Nebula und Henrik keinesfalls ihre Gastfreundschaft auszunutzen, aber es wäre genauso unhöflich gewesen, eine solche Einladung auszuschlagen. Darum entschieden sie sich, entgegen ihres Vorhabens, die Nacht im Dorf zu verweilen. Innerhalb weniger Stunden hatten die Dorfbewohner den Marktplatz mit Girlanden verziert und Tische aufgestellt. Zwar hätten Nebula und Henrik gern geholfen, aber die Dorfbewohner ließen es nicht zu. Also ergaben sie sich dem süßen Nichtstun und versuchten, nicht im Weg herum zu stehen, während sich die Dorfbewohner für sie den Rücken krumm schufteten.

Als es dann Abend wurde und die Dunkelheit einsetzte, wurden die Öllampen entzündet und warmes gelbes Licht hüllte den Marktplatz ein. Die Tische warteten reich gedeckt mit Trank und Speise auf die Ehrengäste. Kaum hatte sich Henrik an den Tisch gesetzt, wurde er von einigen Mädchen aus dem Dorf umschwärmt. Er verstand nicht warum, denn er hatte nichts getan, um das zu verdienen. Im Gegenteil! Er war feige und hatte einer Frau die Drecksarbeit überlassen, anstatt selbst etwas zu tun, wie es sich für einen echten Mann geziemte. Mit einem Lächeln versuchte er sich nichts anmerken zu lassen, doch innerlich wurde ihm ganz flau im Magen. Seine innere Stimme sagte ihm, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er ließ seine Blicke zu Nebula schweifen, die zusammen mit ein paar Männern saß. Sie tranken und lachten.

Wenigstens hat sie ihren Spaß, dachte er.

“Was ist denn mit dir?”, fragte eines der Mädchen. Offenbar wurde sein falsches Lächeln durchschaut. Die Dorfschönheit schlug ihre Arme um ihn und drängte sich ihm auf. Sein Gesicht tauchte unfreiwillig in ihren tiefen Ausschnitt ein, wie ein Neugeborenes in einem Taufbecken. So sehr er sich anstrenge, war es ihm unmöglich zu entkommen. Er zappelte und versuchte, sich zu befreien. “Bin ich dir nicht hübsch genug?”

“D-Doch!”, sagte er. “A-Aber ich be-bekomme keine Luft!” Seine Worte wurden von dem voluminösen Busen des Mädchens gedämpft und waren kaum zu verstehen. Es gelang ihm, sich der erstickenden Umarmung der Schönheit zu entziehen. Einen tiefen Atemzug nehmend, verließ er die Tafel, um etwas durch die Gassen zu schlendern.

Irgendwas stinkt hier, dachte er.
 

Der Alkohol hatte Nebulas Gesicht ganz rot werden lassen. Sie war so betrunken wie selten zuvor. Die schmutzigen Witze der Männer machten ihr nichts aus. Eigentlich würde ihre prüde und konservative Erziehung sie davon abhalten, sich in diesen Kreisen zu bewegen. Aber sie hörte zu und lachte sogar darüber. Nüchtern würde sie die Männer für solche vulgären Sprüche windelweich prügeln! Glück für sie, dass sie sternhagelvoll war.

“Geht eine Nonne zum Gemüsehändler und kauft eine Gurke”, polterte einer der Männer. “Sagt der Händler, sie solle doch zwei nehmen. Dann könne sie eine davon essen.”

Nebula und die Männer lachten hemmungslos.

“Wie erkennt man eine gute Hausfrau?”, fragte ein zweiter. “Ganz einfach! Wenn sie nach getanem Hausputz noch die Stange poliert.”

Erneut lachten alle hemmungslos und ausgiebig.

“Wartet, der ist auch gut!”, kündigte Nebula an. “Warum können die Hälfte aller Männer nach dem Akt nicht einschlafen? Na weil sie abhauen müssen, bevor der Gatte wiederkehrt!”

Und wieder wurde lauthals gelacht. Doch das Gelächter klang dumpf für die Blondine. Die Lachen von Nebulas Saufkumpanen waren wie aus einer anderen Welt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Vorsichtig versuchte sie aufzustehen. Der Boden schwankte wie ein Schiff bei tüchtigem Seegang. “Wie stark ist Euer Trank?”, fragte sie. “Entschuldigt mich mal...”

Wankend und in Schlangenlinien versuchte sie, auf beiden Beinen zu bleiben. Die Männer sahen sich ratlos an. Dieses Mädchen hatte sieben Krüge der Hausmarke der Dorfbrauerei in sich hineingeschüttet und vermochte es immer noch zu stehen. Unfassbar! Nun zwangen sie jedoch dringende Bedürfnisse, das Trinken zu unterbrechen. Nach einer Weile wollte einer der Männer nachsehen, wo Nebula blieb. Doch bevor er aufstehen konnte, kehrte sie zur Tafel zurück, nur um das Trinken fortzusetzen. Drei weitere Krüge der Hausmarke fielen ihr zum Opfer. Langsam fragten sich die Männer, ob dieses Mädchen ein Fass ohne Boden sei, bis es endlich genug war.

Nebula fühlte sich weich im Kopf. Alles drehte sich. Viel schlimmer als sie es gewohnt war. “Pff-verdammt, wie zz-stark is-zz daz Zeusch?”, stammelte sie vor sich her. Dann kippte die ganze Welt zur Seite und Nebula fühlte etwas hartes an ihrer Wange. Es war die Tischplatte. Sie war zu besoffen, um zu merken, dass sie gerade das Bewusstsein verlor.
 

Henrik schlenderte durch die dunklen Straßen des Dorfes. Bisher war es ihm nicht gelungen, seine Gedanken abzukühlen. Schwach leuchteten die Lichter des Festes durch die schmalen Gassen und die Geräusche der Feiernden drangen kaum noch an sein Ohr.

Ganz tief saugte er die kalte Nachtluft ein und atmete sie wieder aus.

Er konnte sich einfach nicht helfen. All die Aufregung um die “Rettung” des Dorfes fühlte sich aufgesetzt an. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die Dorfbewohner etwas im Schilde führten. Dann bemerkte er ein kleines Mädchen an einer Hauswand sitzen. Das Mondlicht strahlte sie an. Henrik beschloss, zu dem Mädchen zu gehen. Es war vielleicht acht bis höchstens zehn Jahre alt und trug abgerissene Kleider, als ob es auf der Straße lebte. Ihr einziges Besitztum schien ein blaues Buch zu sein, das sie wie einen kostbaren Schatz an ihren Körper presste.

“Was ist mit dir, Keine?”, fragte er, als das Kind nicht auf sein kommen reagierte und nur den Mond anstarrte.

“Ich wusste, dass du kommst”, flüsterte die Kleine. “Der Mond hat es mir verraten.”

“Wie meinst du das?”

“Wenn du ein paar Münzen für mich hast, werde ich dir aus den Händen lesen”, bot sie an.

Sie machte einen so ärmlichen Eindruck, dass das Mitleid den braunhaarigen Jungen überkam. Er willigte ein, sich von ihr die Zukunft deuten zu lassen und beabsichtigte, ihr im Anschluss all sein Geld zu geben.

"Bitte, gibt mir deine linke Hand”, sagte sie und legte ihr Buch beiseite.

Henrik reichte ihr, wie gefordert, die linke Hand.

Das Mädchen ergriff sie und fuhr mit dem Finger über Henriks Handteller. “Die linke Hand kennt deine Vergangenheit und Gegenwart”, erklärte es. “Du hast schon immer eine besondere Gabe besessen. Aber du warst bis vor kurzem nicht imstande, sie zu nutzen. Du warst vom Pech verfolgt und niemand wollte dir beistehen. Dann haben sich dir neue Möglichkeiten aufgetan, als eine Frau in dein Leben trat.”

Henrik war verblüfft. Wie konnte dieses fremde Mädchen so viel über ihn wissen? Selbst wenn sie sie beobachtet hatte, woher wusste sie von dem Rest?

“Bitte gib mir nun die rechte Hand”, sagte das Kind.

Henrik reichte ihr nun auch diese.

Das Mädchen sah sich nun auch die rechte Hand an. “Die rechte Hand kennt den Pfad, den du gehen wirst. Oh, was ist das?” Die Augen der Kleinen weiteten sich. “So etwas habe ich noch nie gesehen!” Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder sprach. “Du wirst deine große Gabe bald einsetzen. Der Schlüssel, sie zu verstehen, liegt in der Vergangenheit.”

“Das ist s-sehr interessant”, lobte Henrik. Auch wenn er nicht wusste, wie er ihre Weissagung deuten sollte. Wie er es geplant hatte, gab er ihr sein ganzes Geld.

“Oh, habt dank!”, sagte das Mädchen. “Aber das ist zu viel!”

“Nein! Ist genau richtig! Ich bin übrigens Henrik.”

“Schön dich kennenzulernen. Mein Name ist Annemarie.”

“Wieso sitzt du hier auf der Straße?”

“Ich weiß es nicht.”

“Hast du keine Eltern?”

“Ich weiß es nicht.”

“Das ist schlimm! Kannst du wirklich zu niemanden gehen?”

“Nein. Bitte gehe jetzt. Unser beider Schicksal wartet nicht gern!”

Henrik fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, das Mädchen allein auf der Straße sitzen zu lassen. Aber es hatte jetzt all sein Geld. Alles, was er aus dem Verkauf seiner Schmiede herausgeschlagen hatte und auch das Geld, welches er von Nebula als seinen Anteil am Gewinn erhielt, hatte den Besitzer gewechselt. Damit sollte die Kleine gut über die Runden kommen. Mehr konnte er wirklich nicht tun. Und das war mehr, als die meisten tun würden. Und auch mehr, als er sich leisten konnte.

Innerlich gespalten, machte er sich auf, zum Fest zurückzukehren.

Kurz vor dem Marktplatz fühlte er urplötzlich einen Schlag im Nacken. Er wurde sofort zu Boden geworfen und verlor das Bewusstsein. Ein Fremder ergriff Henriks Oberarbe und zerrte ihn von der Straße in die Dunkelheit.

Annemarie beobachtete es aus sicherer Entfernung. Seine Zukunft war vor ihrem geistigen Auge bereits Vergangenheit. Sie griff nach ihrem Buch, das noch immer neben ihr lag, und drückte es wieder fest an sich.



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