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Morgenstern

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Phantomschmerz


 

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Gleichzeitig schlugen Nebula und Henrik die Augen auf.

Verwirrung machte sich in ihren Köpfen breit. So richtig begreifen, was gerade passiert war, wollte keiner von ihnen. Nebula spürte fremden Schweiß in ihrer Hand. Als sie realisierte, dass es Henrik war, der sie hielt, entzog sie sie peinlich berührt. “Nimm deine Griffel weg!”, schimpfte sie.

“Hurra, ihr seid aufgewacht!”, freute sich Annemarie, die noch immer zwischen den Betten saß. “Du hast es geschafft, Henrik!”

“Was war das?”, fragte Henrik und setzte sich etwas benommen auf.

“Es war so echt”, sagte Nebula.

Henrik fasste sich an die Stirn. Ihm war schwindelig.

Nebula betrachtete, wie ihre Wunden verheilten. Das Tempo war selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich. Offenbar verschwanden sie, weil sie wachte und ihr nun klar war, dass sie zuvor träumte.

“Wir haben uns Sorgen gemacht”, meinte Annemarie.

“Er war in meinem Kopf…”, murmelte Nebula, wenig begeistert. Sie erinnerte sich an alles, was in dem Traum vorgefallen war. Bei dem Gedanken daran, dass Henrik nun ihre Ängste und Schwächen kannte, erröteten ihre Wangen noch mehr. “D-Du bist schon wieder in meine Privatsphäre eingedrungen!”, fuhr sie den Braunhaarigen daraufhin an. Schreien tat ihr gut. Es half ihr, nicht weiter nachzudenken. Darüber, was in ihrer Seelenwelt vorgefallen war und dass Henrik alles mit angesehen hatte.

“A-Aber...”, versuchte sich Henrik zu verteidigen.

“Nix aber! Du warst in meinem Kopf! D-Das war übergriffig!”

“E-Entschuldigung.”

Annemarie lächelte. Ob aus Freude oder aus Verzweiflung über den von Nebula künstlich heraufbeschworenen Streit, blieb ihr Geheimnis.

“Hast du mir geholfen, Nebula zu wecken?”, fragte Henrik das Mädchen.

“Das warst allein du”, verneinte sie. “Ich habe euch nur angefeuert.”

Nebula verwuschelte Annemaries orangene Haare. “Das hast du gut gemacht.”

Glücklich über das Lob, strahlte das Mädchen wie heiterer Sonnenschein.

“Und ich?”, fragte Henrik. “H-Hab ich das auch gut gemacht?”

Nebula ging nicht darauf ein.

“Was ist eigentlich geschehen?”, fragte Matthew.

“Ich bin eurem Bruder zu Valerias Grab gefolgt. Er hat Blumen niedergelegt. Er hat aber nichts mit dem zu tun, was mir widerfahren ist.”

“Aber wer hat dir das dann angetan?”, fragte Henrik besorgt.

Die Blondine seufzte. “Ein... schwarzes Phantom.” Sie glaubte selbst nicht, was sie da gerade eben sagte. Sie hatte schon viel Böses gesehen, doch in der Regel ging es von Menschen aus und nicht von irgendwelchen Hirngespinsten.

Stillschweigend nahmen es die Anwesenden hin.

Sie wollten fassen, was gerade eben passiert war.

Doch man ließ ihnen keine Zeit dazu. Hinter den Betten brach die Wand mit einem lauten Krach ein und Tageslicht stieß durch den aufgewirbelten Staub. Sofort verkroch sich Henrik unter seinem Bett. Sein verletztes Bein rebellierte in der Schiene, doch das war ihm in diesem Moment herzlich egal. Annemarie stolperte von ihrem Stuhl und brachte ihn dabei zu Fall. Sie rannte ans Ende des Zimmers zu Matthew und klammerte sich an ihn. Nebula sprang aus ihrem Bett, drehte sich in der Luft und wandte sich der Bedrohung zu, als sie landete. Der Staub legte sich. Eine schwarze Gestalt krallte sich an den Rändern des aufgebrochenen Mauerwerkes fest.

“Oh nein, diesmal nicht, Freundchen!”, sagte die Blondine voller Abscheu. "Koche in meinen Venen, Bloodbane!” Auf Befehl trat das Blut blubbernd aus den pulsierenden Adern ihres Armes aus und formte eine schwarze Klinge in ihrer Hand.

Das Phantom brüllte sie an und streckte ihr dabei sein ausdrucksarmes, augen- und nasenloses, glattes Gesicht entgegen.

“Man, bist du hässlich!” Nebula stürmte vor und stach zu.

Der Eindringling zerfiel sofort zu schwarzem Rauch und gab den Blick durch das Loch auf die Stadt frei. Nebula ließ ihre Waffe wieder verschwinden.

“D-Dämon! I-Ihr s-seid ein D-Dämon!”, schlotterte Matthew.

“Ihr habt größere Probleme!”, erwiderte Nebula.

Sie ging zur Seite und erlaubte den anderen durch die klaffende Wunde im Stein auf die Ortschaft zu schauen. Drei Rauchsäulen stiegen von verschiedenen Häusern auf und aus der Richtung der Kirche, welche man durch das Loch sehen konnte, tönten Kampfgeräusche.

“Oh, es brennt!”, bemerkte Annemarie und schmiegte sich noch mehr an Matthew.

“Was geht hier vor?!”, fragte dieser mit Nachdruck.

“Diese Dinger greifen die Stadt an”, antwortete Nebula mit grimmigem Gesichtsausdruck.

“Und nun?!”

“Ich werde sie aufhalten!”

Sie nahm ihren Gürtel und ihr Schwert an sich und band ihre Ausrüstung um. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schwang sie sich durch das Loch auf das Vordach. Von dort sprang sie auf die Straße und rannte dem Zentrum des Geschehens entgegen. Sie spürte eine Konzentration von Mordlust, deren Wut sich bei der Kirche sammelte.

Matthew stand der Stress ins Gesicht geschrieben. Der Moment, den er schon immer gefürchtet hatte, war nun gekommen. Jetzt musste er sich beeilen. Schnell weg von hier! Er riss sich von dem Mädchen los, das ihn festhielt, stolperte aus dem Raum hinaus und rannte wie von der Tarantel gestochen auf und davon.

“Hey!”, rief ihm Annemarie nach.

Aber Matthew hörte nicht auf sie. Er rannte weiter den Gang entlang und die Treppe hinunter in den Eingangsbereich.

Annemarie fühlte den Impuls, ihm zu folgen. “Warte!”, schrie sie.

Doch Matthew ignorierte sie.

Das Mädchen rannte ihm nach.

Unterdessen zog Stille im Zimmer ein.

Henrik traute sich jetzt unter dem Bett hervor. “Wo sind denn alle hin?”, sprach er laut zu sich selbst, als er realisierte, dass er nun ganz allein war. Er sah durch das Loch in der Wand. Auf die brennenden Häuser. Der Gestank der Feuer drang allmählich durch die Öffnung in das Zimmer ein. Henrik rutschte fast das Herz in die Hose. Sofort kroch er wieder unter das Bett und beschloss, dort zu verweilen, bis Nebula das Chaos beseitigt hätte.
 

Die Rauchschwaden aus den benachbarten Häusern hüllten die Stadtkirche ein. Der Geruch der Asche und der Glut kroch Nebula schon von weitem in die Nase, als sie sich dem Gotteshaus näherte, das von den schwarzen Phantomen attackiert wurde, und reizte ihr Riechorgan, sodass sie beinahe niesen musste.

Die Glocke im Turm des Gebäudes im gotischen Stil läutete ununterbrochen. Ihr unverwechselbarer Ton, welcher normalerweise den Alltag der Menschen strukturierte, verkam nun zu einem Alarmsignal. Chaos war auf dem Platz vor der Kirche ausgebrochen. Die schwarzen Schatten verleiteten die Menschen zu glauben, die Tore der Hölle hätten sich geöffnet. Nun suchten sie im Inneren der Kirche nach Sicherheit. Derweil stellten sich die Stadtwachen einem verzweifelten Kampf gegen die Kreaturen aus der Hölle. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie, griffen Menschen an und steckten Häuser in Brand. Zu Recht fragten sie sich, womit sie diese Strafe verdient hatten. Immerhin waren sie treue Anhänger des Namenlosen Gottes, welchen sie jeden Sonntag anbeteten und in Gedanken um Rat fragten, wenn sie ein Problem hatten, für das sie allein keine Lösung fanden.

Natürlich waren die Menschen, denen Gott antwortete, dünn gesät.

Und noch seltener die unter ihnen, welche noch einen gesunden Geist vorweisen konnten.

Anders als den Zivilisten war den Stadtwachen klar, dass ein Gebet sie nicht retten würde. Wenn der Herr im Himmel überhaupt jemanden half, dann denjenigen, die sich selbst helfen. Sie mussten ihre Pflicht tun und die Bewohner beschützen. Doch das erklärte noch immer nicht, wer die Tore zum Fegefeuer offen stehen gelassen hatte.

Die Stadtwache tat ihr Bestes, die Bürger zu schützen. Mutig wehrten sie die rasiermesserscharfen Klauen und Klingen der Ungetüme ab, so gut es ihnen möglich war. Einem der Wächter gelang es, eine der Kreaturen zu erschlagen. Sein Speer durchbohrte die Gestalt aus schwarzen Pech und ließ sie in Rauch aufgehen. Die anderen wohnten dem Schauspiel ungläubig bei. Ein Dämon war soeben zurück in die Hölle geschickt worden. Der Wächter konnte sein Glück kaum fassen und starrte seine Waffe perplex an. Seine Verwunderung währte nicht lange. Hinter ihm versetzte ein anderes Phantom einen seiner Kameraden in einen abscheulichen Traumschlaf und nahm ihn als Nächstes ins Visier. Eine schwarze Klaue grub sich in den Rücken des tapferen Mannes.

Er brach zusammen und begann bald hektisch zu atmen und wild um sich zu schlagen.

Welcher böse Traum ihn wohl plagte?

Die übrigen Wachen gaben ihr Bestes, die Monster zu beschäftigen.

Aber sie hatten keine Chance gegen die fliegenden Abscheulichkeiten und deren rasiermesserscharfen Klauen und Messer. Ein Kratzer der Phantome genügte, sie in ihren eigenen Albträumen einzusperren. Jeder Mensch fürchtete irgend etwas. Niemand war davor gefeit, mit seinen schlimmsten Ängsten konfrontiert zu werden. Während die Wächter versuchten, Boden gutzumachen, verbarrikadierten sich die Gläubigen in der Kirche und klammerten sich an die Hoffnung, in den Armen des namenlosen Gottes Schutz vor der teuflischen Bedrohung zu finden. Die langen Türen des Portales wurden mit einigen Bänken verriegelt. Vor Furcht gelähmt, fanden sie sich zusammen in ihrer Stunde der Not. Betend hockten die Menschen vor dem Abbild des Herrn und baten um einen Engel, der sie erretten möge. Angsterfüllt umklammerten Kinder ihre Mütter und Frauen ihre Männer, während sie besorgt den langsam verstummenden Schreien und verklingenden Kampfgeräuschen lauschten.

Dann wurde es still.

Vorsichtig streckten die Ersten ihre Hälse. Die Neugier hatte sie gepackt. War es vorbei? Hatten sie es überstanden. Zuerst zaghafte Seufzer wurden zum erleichterten Aufatmen. Sie waren sich sicher, dass ihr bedingungsloser Glaube sie gerettet hatte. Der Priester erhob die Hände zum Strebewerk meterweit über ihm und dankte dem namenlosen Gott im Stoßgebet für sein Einschreiten. Die ersten Schutzsuchenden wagten es aufzustehen.

Plötzlich wurde die junge Ruhe jäh gestört.

Eines der kunstvollen Fenster im linken Seitenschiff zerbarst.

Einem der Phantome gelang es, einzudringen.

Das Heiligtum wurde entweiht!

Zielstrebig rannte die finstere Gestalt zum Altar. Die Gläubigen in seiner Nähe wichen ihm kreidebleich vor Angst aus. Die Kreatur baute sich vor dem Priester auf. Das leere schwarze Gesicht begann, weibliche Züge anzunehmen und Haare wuchsen aus dem kahlen Schädel. Der ältere Mann bekreuzigte sich. Er hatte nicht damit gerechnet, das Gesicht, das er einst verteufelte, noch einmal wiederzusehen. Es ängstigte ihn bald mehr, als die Kreatur selbst. Der Geistliche verspürte ein Stechen in der Brust, fasste sich an selbige und brach tot zusammen, ohne dass das Phantom etwas zutun musste.

Panik setzte ein.
 

Annemaries orangene Haare wehten im Wind, als sie Matthew hinterher rannte. Sie konnte sein Handeln nicht verstehen.

Wo konnte er auf einmal hin wollen?

Mit den Laufschritten eines ausgewachsenen Mannes mitzuhalten, war eine fast unlösbare Aufgabe für das Mädchen. Der Abstand zwischen ihr und Matthew wurde immer größer. Sie musste sich alle Mühe geben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Als es schon fast passiert war, bremste er abrupt ab und betrat ein unscheinbares Haus am Stadtrand. Völlig außer Atem, erreichte auch Annemarie das Gebäude. Sie mühte sich, trotz ihrer geringen Größe, einen Blick durch das Fenster zu erhaschen.
 

Als Nebula endlich den Platz vor der Kirche erreichte, konnte sie gerade noch mit ansehen, wie die wenigen noch verbliebenen Stadtwachen von den Phantomen in das Reich der Albträume geschickt wurden. Sofort danach wurde sie von den Abscheulichkeiten wahrgenommen und angegriffen.

Nebula war sich der Flinkheit der Kreaturen schmerzlichst bewusst, und wählte entsprechend ihre schnellste Waffe aus ihrem Arsenal. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!”, befahl sie ihrem schwarzen Speer zu erscheinen, indem ein Blitz vom Himmel hinab in ihre ausgestreckte Hand einschlug. Sie hatte keine Zeit sich darum zu sorgen, möglicherweise von Schaulustigen hinter Fensterläden beobachtet zu werden, als die Phantome auf sie zugestürmt kamen. Andererseits wäre wohl kaum ein Zivilist kühn genug, nicht sofort zu fliehen. “Kettenblitz!” Einer elektrischen Entladung gleich, schoss sie daraufhin im Zickzack von Gegner zu Gegner und versetzte jedem von ihnen einen vernichtenden Treffer. Die Phantome zersetzten sich allesamt zu schwarzen Rauch. Nebula sah sich auf dem Platz vor der Kirche um. Die Stadtwachen lagen träumend auf den Pflastersteinen und versuchten, die grausamen Träume zu überleben.

Leis, ganz leis, käm der Tod.

Nebula wusste nicht, wie sie ihnen hätte helfen können.

Noch immer strahlte die Mordlust hell wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit.

Es kam aus dem Inneren des Gotteshauses.

Die Blondine beschloss, ihre Aufmerksamkeit dem heiligen, steinernen Gebilde zuzuwenden. Vorsichtig trat sie an die Kirchentüren, welche von einem mächtigen gotischen Portal eingefasst wurden. Rütteln an den Griffen brachte keinen Erfolg. Der Zugang zur Kirche blieb weiterhin versiegelt. Während sie die Türen malträtierte, spürte sie Widerstand. Etwas auf der anderen Seite verhinderte, die Türen zu öffnen.

Da half nur noch rohe Gewalt!

Ein beherzter Tritt gegen die sakrale Pforte löste das Problem.

Gott möge es ihr vergeben!

Im Inneren erschraken die Menschen, als die Barrikaden mit unmenschlicher Kraft zur Seite geschoben wurden. Das Tageslicht, welches durch die aufgebrochene Kirchentür hinein strömte, wurde von Nebulas Silhouette durchbrochen. Entschlossen überschritt sie die Schwelle und trat ein. Sofort erblickte sie eines der Phantome, wie es über dem toten Prediger hockte, den es mutmaßlich zuvor getötet hatte. Nebula wollte kein Risiko eingehen und ging sofort zum Angriff über. Da ihr Speer seine volle Kraft nur im Freien freisetzen konnte, sah sie sich gezwungen, ihre Waffe zu wechseln. “Koche in meinen Venen! Bloodbane!” Gungnir zerfloss und aus der entstandenen Masse formte sich das dämonische Schwert. Die pechschwarze Gestalt stürmte indes mit einem Dolch auf die Söldnerin los. Nebula wusste, ein Treffer dieser Waffe und sie würde das Schicksal der Wächter vor der Kirche teilen. Auf ein weiteres Erlebnis dieser Art konnte sie getrost verzichten. Drum wich sie den Stichen und Hieben aus, so gut es ging oder parierte mit ihrem Schwert.

Immer dann, wenn sich die teuflischen Klingen kreuzten, spürte sie, dass diese Waffe eine Täuschung war. Etwas Nicht-Existentes, nur ein Gedanke, welcher mit Gewalt in eine materielle Form gezwungen wurde. Bilder schossen einer Collage des Schreckens gleich mit jeder Berührung der Klingen durch ihren Kopf. Sie sah Menschen mit Fackeln und Mistgabeln, getrieben von Angst und Hass, ein Haus anzünden. Zwangsläufig erinnerte sie sich an Matthews Worte. “Ich verstehe, was du mir sagen willst”, sprach Nebula, als die Vision vorüber war. Doch die Kreatur interessierten ihre Worte wenig. Bloodbane und das Trugbild der fremden Teufelswaffe mussten eine Resonanz eingegangen sein. Bei diesen diabolischen Tötungsutensilien war selbst dies im Bereich des Möglichen. Man musste einfach mit allem rechnen. Die fragmentierten Visionen zeigten Nebula, in dieser Kirche versteckten sich die Leute, welche eine Unschuldige in ihrem eigenen Haus verbrannten.

Als das Phantom nach vorn preschte, sprang Nebula zur Seite und begab sich flink hinter es. Mit einem gezielten Stoß des Bloodbane wurde die Kreatur erschlagen und löste sich in Rauch auf, wie die anderen zuvor auch. Glücklicherweise war dieses Exemplar ebenfalls nicht so gefährlich wie jenes, das sie zuerst angegriffen hatte. Im Gegenteil. Sie überkam das Gefühl, jedes dieser Wesen war schwächer als das zuvor. Die Exemplare auf dem Platz vor der Kirche waren ebenfalls ein Leichtes für sie gewesen.

Woran das wohl liegen mochte...

Immerhin schien die Gefahr gebannt.

Es war für die schutzsuchenden Menschen die Gelegenheit, einmal durchzuatmen.

Aber die Achterbahn der Gefühle sollte nicht stillstehen.

Im nächsten Moment zerplatzte die Hoffnung, wie eine Seifenblase und noch mehr Fensterscheiben brachen. Die übrigen Phantome drangen voller Mordlust von allen Seiten in das Mittelschiff ein, bereit, Klingen und Klauen gegen unbewaffnetes Volk einzusetzen. Die Menschen realisierten, dass auch im Gebet keine Erlösung für ihre Sünden lag. Sie sprangen auf und versuchten panisch aus der Kirche zu entkommen. Wie sollte Nebula in diesem Chaos den Überblick behalten und die Kreaturen aufhalten? “Verflucht, rennt nicht alle durcheinander!”, entfuhr es ihr.

Bevor sie reagieren konnte, verdampften urplötzlich alle ihre Gegner, einer nach dem anderen. Metallisches Klingen wies auf die Wurfmesser hin, welche einzig auf dem Boden zurückblieben.

Inzwischen hatten die meisten das Gotteshaus verlassen.

“Das hätte ins Auge gehen können!”, sprach eine unbekannte Frauenstimme.

“Wer ist da?”, forderte Nebula die Unbekannte auf, sich erkennen zu geben und wandte sich mehrfach um, auf der Suche nach der Herkunft der Stimme.

Eine Person landete hinter ihr. Sie war von dem Deckenleuchter gesprungen, von dem aus sie wer weiß wie lange zugesehen hatte. Auf die Idee über sich zu schauen, war Nebula nicht gekommen. Sofort drehte sie sich zu ihr um. Vor ihr stand eine athletisch gebaute, aber dünne Frau mit blasser Haut. Sie war um mindestens einen halben Kopf größer als Nebula und trug einen buschig vom Schädel ausstrahlenden Pferdeschwanz ihres kirschroten Haares. Rot strahlten auch Teile ihrer größtenteils dunkelgrauen Kleidung. Besonders der Umhang an ihrer linken Schulter provozierte diesen Effekt. Auf dem Rücken hing eine Armbrust. Sie trug weitere Wurfmesser an Gürteln um ihre Oberschenkel. Sie besaß ebenfalls einen Dolch, den sie an ihrer Hüfte trug. Sie war sprichwörtlich und wahrhaftig bis an die Zähne bewaffnet.

“Wer seid Ihr?”, verlangte Nebula zu wissen.

Die Fremde strich sich lässig durch die Haarsträhnen ihres einseitigen Ponys. “Man nennt mich Cerise”, antwortete sie in einem selbstgefälligen und arroganten Tonfall. “Eigentlich hatte ich keine Lust, Euch schon wieder zu retten...”

“Schon wieder?”

“Habt Ihr Euch nicht gefragt, wie Ihr zurück in die Taverne gekommen seid?” Hochnäsig sah sie sie an. ”Als ob ein kleines Kind Euch hätte tragen können. Leicht seid Ihr ja nicht unbedingt, obwohl Ihr so klein seid!”

Wollte Cerise damit andeuten, dass sie zu dick ist?

“Und jetzt hätte es wegen Eurer Inkompetenz fast noch mehr Opfer gegeben.”

“Sagt das noch Mal!!”, entrüstete sich Nebula. Ihr kam in den Sinn, wie oft sie sich in letzter Zeit beobachtet fühlte. “Ihr verfolgt mich also. Das macht Ihr sicher nicht aus Spaß an der Freude. Sagt, wer verschwendet dafür sein Geld?”

“Was, kein Dankeschön?”, wich die Rothaarige aus. “Von jemanden Eures Standes hätte ich mehr Anstand erwartet.”

“Ihr wisst, wer ich bin?”

“Die Frau, die sich bekloppte Pseudonyme zulegt!”

Nebula war das erste Mal seit langem wirklich entsetzt. “Dann habt Dank für die Hilfe, Cerise!”, sprach sie, mehr aus Schock als aus Dankbarkeit.

“Na bitte, geht doch. Nun muss ich aber leider los.” Cerise wandte sich ab und kletterte mit Hilfe der mit eisernen Krallen bewährten Fingerkuppen ihrer Handschuhe eine Wand hinauf und stieg auf dem Sims eines kaputten Fensters.

“Werden wir uns noch einmal begegnen?”

Cerise hielt kurz inne. “Vermutlich nicht.” Dann setzte sie sich in Bewegung, nur um erneut anzuhalten. “Im Süden der Stadt findet Ihr ein Haus. Eilt Euch, oder der kleinen Annemarie wird es schlecht ergehen.” Dann entschwand sie durch das Fenster.

“Halt! Wartet!”

Doch Cerise dachte nicht im Traum daran zu gehorchen.

Sollte Nebula wirklich gehen, ohne nach den Stadtwachen zu sehen, welche noch immer Qualen litten? Wenn sie es täte, könnte es zu spät sein. Aus diesem Grund entschloss sie sich, Annemarie ohne Umwege zu Hilfe zu eilen.
 

Egal wie sehr sich das Mädchen auch mühte, sie konnte nicht durch das Fenster sehen. Sie war einfach zu klein. Drum fasste sich Annemarie ein Herz und öffnete die Haustür. Überraschenderweise hatte Matthew vergessen, sie abzuschließen. Vorsichtig schlich die Kleine auf Zehenspitzen durch den Eingangsbereich. Es war dunkel und von Matthew gab es keine Spur. Am Ende des Ganges stand eine Tür leicht offen. Lichtstrahlen fluteten aus dem Spalt in die Dunkelheit. Leise schlich sie sich näher und näher. Dann konnte sie endlich einen Blick erhaschen.

Matthew befand sich darin und kümmerte sich um eine bandagierte menschliche Gestalt. “Du musst damit aufhören!”, sprach er der Person zu.

Die Gestalt umklammerte einen Dolch in ihrer Hand.

“Du kannst sie nicht alle töten!”

Die bandagierte Person gab einige Laute des Missfallens von sich.

Annemarie versetzte der Anblick einen Schreck und ließ sie einen Schritt zurück gehen. Die Diele unter ihr wurde zum Verräter, als sie ein ächzendes Quietschen von sich gab.

Sofort wurde Matthew auf sie aufmerksam. “Wer ist da?!”

Aus der Brust der bandagierten Person stieg dunkler Rauch auf. Er sammelte sich über dem Bett und verdichtete sich zu einer Gestalt.

"Nein! Nicht!", rief Matthew, als er es bemerkte. “Das kostet dich zu viel Kraft!”

Annemarie rannte so schnell sie konnte zurück zum Ausgang.

Das Phantom riss die Tür ein und folgte ihr.

In der Dunkelheit stolperte das Mädchen über einen nicht identifizierbaren Gegenstand und fand sich auf dem harten Boden wieder. Im letzten Moment, kurz bevor die Kreatur die Kleine erreichen konnte, fiel die Haustür aus den Angeln und etwas warf sich dem Monster entgegen. Annemarie traute sich nicht aufzusehen und hörte nur Säbelrasseln.

“Was machst du hier?!”, schimpfte es auf einmal.

Annemarie blickte auf und erkannte Nebula. “Ich bin Matthew gefolgt.”

Plötzlich trat besagter Mann unter den Rahmen der völlig zerstörten Zimmertür. Er signalisierte ihnen, dass sie zu ihm kommen sollen.

Nebula verbarg ihre Überraschung nicht, als sie die bandagierte, schwer atmende Gestalt im Bett liegen sah. “Wer ist das?”, wollte sie wissen.

“Valeria”, erklärte Matthew. “Ich fand sie nach dem Brand. Seither pflege ich sie. Marcus weiß nichts davon. Ich… wollte nicht, dass er sie so sehen muss.”

“Und dennoch pflegt Ihr sie...” Nebula spürte die böse Energie, welche sich in dem Dolch in Valerias Hand konzentrierte. “Wo hat sie diese Waffe her?”

“Ich weiß es nicht. Sie hatte sie schon, als ich sie fand.”

“Das ist eine Teufelswaffe!”, belehrte die Blondine. “Damit ruft sie die Phantome.”

“Ich weiß. Ich wollte sie aufhalten. Aber ihr Hass ist zu stark. Jemand muss sie stoppen. Aber... Ich habe nicht die Kraft dazu.”

“Weil du sie auch liebst, stimmt's?”, fragte Annemarie.

“Wenn Ihr es nicht könnt, werde ich es tun”, bot sich Nebula an. Sie trat an das Bett heran und griff nach dem schwarzen Dolch.

Valeria wollte ihr Instrument der Rache nicht aufgeben. Schlampe!, schrie sie sie in Gedanken an. Aber ihre verbrannten Stimmbänder waren nicht zu mehr in der Lage, als einem armseliges Röcheln. Der Einsatz der Teufelswaffe hatte sie ausgelaugt. Nein!, protestierte sie. Sie war außerstande, sich der Kraft der ihr unbekannten Frau zu erwehren. Nein!, schrie ihr Geist verzweifelt. Ihr fehlte die Kraft, ein weiteres Phantom zu erzeugen.

Nebula entriss ihr den Dolch. Kaum war er nicht mehr in ihrer Hand, erschütterten schwere Anfälle Valerias gepeinigten Körper. Ihr Atem wurde hektischer, sie hustete und zitterte, bis sie verstummte.

Diesmal starb sie wirklich.

Matthew konnte die Tränen nicht zurückhalten und weinte aus tiefster Seele.

Nebula betrachtete den Dolch in ihrer Hand, während er allmählich seinen Widerstand aufgab und mit ihr verschmolz.
 

Ein endloses Meer aus schwarzen Äther erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen. Licht, ohne eine sichtbare Quelle, als käme es aus dem Raum selbst, erhellte das grenzenlose Nichts. Einen halben Meter über der bizarren stillen See schwebte eine blasse Frau mit weißen Haaren, verhüllt von einem blutroten Kleid mit Rüschen und angenähten Rosen. Sie erweckte den Anschein, auf irgendetwas oder irgendwen zu warten. Nach einer Weile ließ sie sich auf die Oberfläche der verflüssigten Finsternis sinken, bis sie auf ihr stand, wie der Messias persönlich. Grimmig guckend, fixierte sie einen imaginären Punkt irgendwo im leeren Raum vor ihr.

Plötzlich schoss etwas vor ihr aus der Schwärze, sprang über sie und versank hinter ihr wieder in den Untiefen.

Unbeeindruckt schritt die Frau auf der Stelle und richtete sich so neu aus.

Das Wesen durchstieß erneut die Oberfläche des pechschwarzen Meeres.

Prompt strecke sie ihren Arm aus und packte das Geschöpf. Es sah aus wie eine Mischung aus Aal und Fisch mit rasiermesserscharfen Flossen. Doch seine natürliche Bewaffnung half ihm wenig, dem festen Griff seiner Peinigerin zu entkommen.

“Da bist du ja, Nummer vierundvierzig”, sprach die Weißhaarige. Dann führte sie die Kreatur zu ihrem Mund und begann sie Stück für Stück, Happen für Happen, bei lebendigem Leibe zu verzehren.
 

Kaum war der Dolch ein Teil von ihr, erkannte Nebula seine wahre Natur. Sein Name war Mirage und er besaß die Macht, jegliche Vorstellung des Trägers Realität werden zu lassen und so auch Valerias Hass eine Form zu geben. Die Phantome entsprangen der Fantasie einer gepeinigten und rachsüchtigen Frau, die das Opfer des Hasses anderer geworden war.

Denn oft ist der Mensch schlimmer als der Teufel.
 

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Zögerlich öffneten die Männer der Stadtwache die Augen.

Die verschwommenen Silhouetten von neugierigen Anwohnern erschienen vor ihnen. Sie waren gekommen, nachdem die Opfer der Phantome aufhörten, sich hektisch zu regen, um ihre Neugier zu stillen. Der Fluch der Phantome hatte keine weiteren Opfer eingefordert. Die Wachmänner konnten sich nicht erklären, was mit ihnen passiert war, also versuchten sie es erst gar nicht.

Gerüchte über die Ereignisse, sollten sich abermals schnell in der Stadt ausbreiten.
 

Die Sonne versank am Horizont.

Eine gespenstige Stille lähmte die sonst so lebendige Stadt. Angst hatte sie fest im Griff.

Dennoch blieb die Zeit nicht stehen.

Henning saß noch immer in seiner Zelle.

Endlich kam einer der Wachen und ließ den verängstigten Jungen frei, denn es gab keinen Grund, ihn noch länger gefangen zu halten.

“Steh auf!”, befahl die Wache, als er sich trotz offener Tür nicht bewegte.

Er konnte nicht begreifen, dass er nun frei war.

Nachdem Nebula gegangen war, kam der Hauptmann der Wache erneut, um ihm weitere Fragen zu stellen. Er konnte die Schmach, dass ausgerechnet ein Weib mehr herausbekommen hatte, als seine besten Männer, nicht verknusen. Mit Gewalt versuchte er noch mehr Informationen aus Henning herauszuprügeln. Doch wo nichts war, konnte man nichts erfahren. Die Schläge sollten nun wirklich ein Ende haben? Gesicht und Körper des Jungen waren von Hämatomen übersät, nachdem man ihn misshandelte. Und dies waren nur jene Verletzungen seiner physischen Gestalt. Welchen Schaden seine Seele davongetragen hatte, konnte niemand einschätzen.

Der Wachmann verlor die Geduld und zerrte Henning aus der Zelle.

Ohne jede Entschuldigung für seine Gefangennahme und die Folter, obwohl er nichts falsches getan hatte, setzte man ihn nun vor die Tür.

Da er sich nicht besser zu helfen wusste, machte er sich auf den Heimweg.

Zuhause angekommen, umarmten ihn seine Eltern.

Sie spürten sein Zittern.

Er spürte die Wärme ihrer Umarmung.

Aber niemand sah ihn in der Finsternis versinken.
 

Als sich die Nacht über die Stadt legte, tönte eine wütende Stimme durch die Gassen.

Es war fast, als würde sie mit ihrer Kraft das Schild der Taverne in Schwingung versetzen.

Gäste verließen das Etablissement aus Sorge um ihre eigene Unversehrtheit.

“Gebt mir endlich was zu trinken!!”, forderte der stockbesoffene Mann am Tresen.

Doch der Schankwirt tat einen Teufel, ihm noch mehr einschenken.

Vor dem Mann sammelten sich bereits die Krüge.

“Los macht schon!”, tönte er erneut. “Gebt mir was zu saufen!”

“Ihr habt genug gehabt!”, erwiderte der Wirt.

Plötzlich sprang der Betrunkene von dem Hocker, auf dem er saß, packte sein Gegenüber und zog ihn gewaltsam auf den Tresen. “Ich will was trinken!”

“Hey!”, empörte sich ein anderer Gast.

Drei andere Männer brauchte es, um den Säufer unter Kontrolle zu bringen und den Wirt zu befreien. “Ihr wisst nicht, wann Schluss ist!”, belehrte einer der Männer.

“Ach halt doch deine Fresse!”, entgegnete der Säufer.

Die couragierten Kunden versuchten den Mann aus der Taverne zu buchsieren.

“Jetzt mache es dir nicht unnötig schwer!”, sprach der zweite Mann.

“Gebt mir mehr Bier! Ich will vergessen!”

“Nix da! Du hast schon deinen Anstand vergessen!”, meinte der dritte Mann.

“Leckt mich! Allesamt!”

Auf halbem Weg fuhr für einen kurzen Moment übermenschliche Kraft durch den Körper des Betrunkenen, als hätte er kein Bier, sondern den Zaubertrank von Miraculix konsumiert. Er befreite sich unter angestrengten Grunzen und schlug dem Mann zu seiner linken derb ins Gesicht, sodass dieser benommen rückwärts ging. Ein zweiter beantwortete die Aggression mit einem Schlag in die Magengrube und ließ den stark alkoholisierten Unruhestifter zusammenzucken.

Doch nur kurz.

Immerhin hatte er genug Intus, um ein ganzes Bataillon zu betäuben.

Er erlangte seine Kräfte zurück und schlug die anderen Männer.

Der zweite und der dritte Mann mussten einstecken.

Ein unkoordiniertes Gewitter von Faustschlägen prasselte auf sie ein.

In der Zwischenzeit fing sich der erste wieder und landete einen entscheidenden Treffer, der den Besoffenen rücklings auf einen Tisch warf, an dem noch andere Gäste saßen und dem Schauspiel aus vermeintlich sicherer Entfernung beiwohnten. Eine handfeste Kneipenschlägerrei bekam man immerhin nicht alle Tage geboten. Doch ihre Neugier bezahlten sie nun. Vor Schreck fielen sie rücklings von ihren Sitzgelegenheiten, als der Tisch unter der Krafteinwirkung des auf ihn aufkommenden Mannes zusammenbrach und sich die Reste von Ale und Schnaps auf seinen Kopf ergossen, als die fallenden Krüge ihren Inhalt über seinem Kopf entleerten. Schleunigst brachten sich die nicht an der Schlägerei beteiligten Gäste in Sicherheit. Stöhnend blieb der Betrunkene liegen, bis ihn seine Kontrahenten packten und an die frische Luft zerrten.

Er flog fast aus der Tür hinaus und landete mit dem Gesicht im Schlamm.

Sofort raffte er sich auf und wollte zurück in die Taverne stürmen, seinen Gegnern eine Abreibung verpassen. Aber er rannte nur gegen eine ausgestreckte Faust, taumelte im Kreis, sah Sterne trotz der Wolken und kippte nach hinten um.

So verweilte er eine Weile, bis er aufstand und zum nächsten Wirtshaus ging.
 

Einen Leichnam zu bestatten, war eine schmutzige Arbeit.

Überall an Nebulas Körper befand sich nun Schmutz. Unter ihren Fingernägeln war es schwärzer als in einem Pechkessel. Erde bedeckte ihre Unterarme und ihr Gesicht. Mindestens einmal hatte sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt und sich so beschmutzt. Außerdem roch der Gestank ihrer Ausdünstungen alles andere als appetitlich. Nebula hatte Matthew dabei unterstützt, Valeria so würdevoll zu bestatten, wie es situationsbedingt möglich war. Danach ließ sie ihn auf seinen Wunsch allein und beschloss, in einem Badehaus etwas gegen ihren Eigengeruch zu unternehmen.

Sie musste sich gedulden, bevor ein Zuber für sie frei wurde.

Dann war es endlich so weit.

Genüsslich ließ sie ihren Körper in das heiße, schaumige Wasser gleiten.

Doch der Genuss verging ihr alsbald. Sie fühlte Augen in ihrem Nacken. Ob diese Cerise sie noch immer von irgendwo aus beobachtete?

Sie sah sich um.

Verschiedenste Frauen hatten sich eingefunden und genossen gemeinschaftlich das Ritual der Reinigung. Alte und junge, große und kleine, dicke und dünne. Einige unterhielten sich. Eine lebendige Atmosphäre. Sie alle spülten den Schmutz des Tages ab, so wie sie es tat. Keine dieser Frauen war heute in der Kirche gewesen. Angst haben, erkannt zu werden, musste sie nicht. Nach solch einem Erlebnis käm gewiss niemand auf die Idee, baden zu gehen - außer ihr natürlich.

Gezwungenermaßen ließ sie ihr Bad an den Tag denken, an dem ihr Henrik begegnete. War dieser Lustmolch tatsächlich in das Damenbadehaus eingedrungen, unter dem Vorwand sich bei ihr bedanken zu wollen. Sie starrte auf die Tür. Mit seinem verletzten Bein würde es ihm schwer fallen, das heute zu wiederholen.

Ein diabolisches Grinsen zierte ihr Gesicht.

Wie gemein von ihr!

Eigentlich wollte sie ihm gegenüber nicht so fies sein.

Bei dem Gedanken an ihn, wurde ihr auf einmal ganz seltsam zu Mute.

Sie bekam ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch, wie eintausend Schmetterlinge. Sie wollte es nicht wahrhaben. Konnte es sein, dass sie in ihn… Nein! Auf keinen Fall! Doch das Kribbeln intensivierte sich, fühlte sich an, als wollten die Schmetterlinge nach Außen brechen. Dann plötzlich: Ein donnerndes Grollen, wie bei einem Unwetter in weiter Ferne.

Blasen stiegen aus dem Wasser auf.

Das Kribbeln verflog und ein übler Geruch breitete sich an seiner statt aus.

Nun ging es ihr besser. Hatte sie vielleicht etwas falsches gegessen?

Die Lautstärke ihres Donnerwetters zog die Blicke der anderen Gäste auf sie.

So viel dazu, nicht aufzufallen...

Peinlich berührt, versank sie im Schaum und wünschte sich, unsichtbar zu sein.
 

Nachdem sie sauber zurück in die schmutzige Kleidung gestiegen und so unauffällig wie möglich aus dem Badehaus entschwunden war, kehrte sie zur Taverne der Brüder zurück. Auf einmal kreuzte ein torkelnder Tollpatsch ihren Weg. Warf sich fast auf sie, als er das Gleichgewicht verlor und stürzte. Es war ihr sehr unangenehm, also schubste sie ihn von sich weg. Er landete im Dreck, rappelte sich auf, wollte aufstehen, doch das Gebräu in seinem Magen zwang ihn auf die Knie zurück. Er musste sich auf die Straße übergeben.

“Widerlich!”, kommentierte die Blondine.

Mehr als ein Brummen brachte der Betrunkene nicht zu Strande.

“Wir haben es wohl übertrieben?”

Erneut nur brummen.

Nebula hob ihn an und erkannte zwischen den Resten von Erbrochenen, dem Straßenschlamm und dem mutmaßlich aus einer Schlägerei stammenden Schwellungen in seinem Gesicht Marcus, den älteren der Brüder. “Was ist denn mit Euch passiert?”

“Ich wollte was trinken!”, antwortete Marcus.

“Habt Ihr scheinbar zu genüge!”

“Sie haben mir nichts mehr gegeben!”

Nebula half Marcus beim aufstehen. Er wischte sich das Erbrochene und den Schlamm aus dem Gesicht. Sie sah ihn voll des Bedauerns an. “Ihr kommt jetzt mit mir zur Taverne und schlaft Euren Rausch aus.”

Marcus musste schnell einsehen, dass es bei der brutalen Schönheit keine Widerrede gab. Ohne weiteren Widerstand zu leisten, resignierte er und ließ sich von Nebula zur Taverne eskortieren. Anschließend fiel er wie ein Stein in sein Bett.
 

Eine weitere Woche verging.

Nebula ging nicht mehr ohne ihre Kutte vor die Tür. Gerüchte von einer Heldin mit übermenschlichen Kräften machten den Umlauf. Schwarze Fee nannte man sie. Obgleich sie ihr mit Furcht begegnen oder sie vergöttern würden, wollte Nebula nichts damit zu tun haben. Sie konnte es nicht gebrauchen, urplötzlich eine lokale Berühmtheit zu sein. Drum zog sie ihre Kopfbedeckung stets so tief, dass sie selbst fast nichts mehr sehen konnte. Irgendwie gelang es ihr, von niemandem angesprochen zu werden.

Henrik langweilte sich sehr in seinem Bett. Den halben Tag schon. Die Schiene wie eine Fessel. Es war zu früh, um aufzustehen. Was sollte er also tun?

Dann kamen Annemarie und Nebula zur Tür herein. Die Blonde legte ihre Kutte ab und fühlte sich befreit. Das Mädchen trug wie immer ihr Buch mit dem blauen Einband bei sich. “Willkommen zurück!”, grüßte er seine Begleiterinnen. “Wo wart ihr denn?”

“Ich habe Nebula aus meinem Buch vorgelesen.” Stolz hielt sie es hoch. Volkes Märchen stand groß auf ihm geschrieben. Doch die Schriftzeichen sagten Henrik überhaupt nichts.

“Worum geht es in deinem Buch?”, fragte er.

“Aber das steht doch drauf”, gab sich das Mädchen unverstanden.

Nebula sah sie streng an.

“Ach so, du kannst ja nicht lesen.”

Nebula schaute noch strenger.

Doch Annemarie war sich keiner Schuld bewusst und lächelte fröhlich und unschuldig. Dann rannte sie zu Henrik und setzte sich auf das Bett. “Ich bin aber auch noch nicht so gut”, gestand sie ein. “Warum lernen wir es nicht zusammen?”

Annemarie las aus dem Buch vor und Henrik lauschte ihr.

Nebula nahm sich einen Stuhl und sah den beiden zu. Bald begannen sie mit ihren Fingern den Buchstaben zu folgen und versuchten, die Silben auszusprechen. Nebula fühlte sich unweigerlich an ihre Kindheit erinnert, als sie von ihrem Kindermädchen das Lesen gelehrt bekam.

“Die Mistress muss lesen können, damit sie sich bilden kann”, hatte sie immer gesagt. “Kein Prinz mag eine Prinzessin mit mehr Stroh im Kopf, als ein Kornspeicher.”

Liselotte.

Sie fragte sich, wie es ihr wohl ergangen war.

Fortan lasen Henrik und Annemarie jeden Tag die Märchen des Volkes. Jedes Mal klappte das Lesen besser. Für beide. Und so konnte Henrik die Zeit nutzen, die ihn seine Verletzung vom Leben fernhielt, und endlich lesen lernen.

Nach ungezählten weiteren Tagen und Nächten hatte die Schiene ihren Dienst getan.

Der Arzt kam ein letztes Mal, um sie zu entfernen.

Endlich war Henrik wieder frei!

Bald darauf packten sie ihre sieben Sachen. Nebula erinnerte sich an den Brief, den sie erhalten hatte. Sie musste schnellstmöglich nach Ewigkeit. Durch Henriks Verletzung hatten sie kostbare Zeit verloren. Die konnten sie nur wieder wettmachen, wenn sie den Weg über Faringart gingen. Ein Ort, bekannt als die Stadt der Jäger.

Sie verabschiedeten sich von den Brüdern.

Wieder nötigte Nebula Henrik, sämtliches Gepäck zu tragen.
 

Als die Jahreszeiten ins Land zogen, sah Matthew tatenlos mit an, wie sich Marcus ins Unglück stürzte. Fast alles Geld versoff er bei der Konkurenz. Jener, bei der er noch kein Hausverbot erteilt bekommen hatte. Würde Marcus sich totsaufen oder würde ihn vorher kein Wirt mehr an seinen Tresen lassen?

Das musste unbedingt aufhören!

Er konnte es nicht mehr verantworten, seinem Bruder zuzusehen, wie er immer weiter in die Abwärtsspirale aus Alkohol und Gewalt hinein rutschte. Er wusste, dass sein Bruder nur seinen Kummer betäuben wollte. Deshalb beschloss er, ihm endlich die Wahrheit zu sagen.

Das er Valeria gefunden und heimlich gepflegt hatte.

Das er sie selbst auch begehrte.

Dass sie nun bei seinem Zweithaus im Garten lag.

Nur den Teil mit den Morden ließ er aus.

Monatelang wollte Marcus nicht mehr mit ihm sprechen. Doch dann trafen sie sich eines Tages an Valerias Grab, als sie ihr beide gleichzeitig einen Strauß Blumen mitbrachten. Anstatt sich anzuschreien, hielten sie einander die Hände und beteten für Valerias Seele.
 

Der Mond schien in einer klaren Nacht durch das Fenster.

Ein Mädchen mit dunklen Haaren lag in ihrem Bett und träumte.

Die Tür öffnete sich.

Henning betrat das Zimmer seiner Schwester und setzte sich auf das Bett. Das einfallende Licht des Erdtrabanten ließ den Gegenstand in seiner Hand funkeln. Das spitze Küchenwerkzeug wippte auf und ab in seiner unruhigen Hand. Begeistert starrte er mit irrem Blick auf die Klinge in seiner Hand.

Plötzlich rührte sich seine kleine Schwester.

Hastig ließ er das Messer unter dem Ärmel seines Oberteiles verschwinden.

“Hallo, Brüderchen”, sprach die Kleine. “Was machst du hier?”

Als sie die Arme nach ihm ausstreckte, ließ er sich zur Seite fallen und erlaubte dem Mädchen so, ihn fest zu drücken. Die Kleine Schloss schloss ihre Augen wieder und schlief weiter. Er fühlte ihren Atem auf seiner Haut.

Henning holte das Messer wieder hervor.

Er spielte erneut mit ihm herum. Die Reflektionen des Mondlichts wurden überall an die Wände geworfen. Dann sah er auf seine kleine Schwester und wieder auf die Klinge.

Würde er den letzten Schritt auch noch gehen?



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