Zum Inhalt der Seite

Morgenstern

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Drachenkind


 

🌢
 

Genüssliche Dämpfe stiegen empor in den klaren Nachthimmel. Gewiss würde der Wohlgeruch auch die Sterne des Firmamentes erfreuen, wenn sie denn Nasen hätten, die das herrliche Aroma aufnehmen könnten. Ein rhythmisch wiederkehrendes Quietschen störte jäh die besinnliche Stimmung. Eine Konstruktion aus in der Mitte über Kreuz gebundenen Stäben war um das Lagerfeuer errichtet worden. Der nächtliche kalte Wind der Winterlandschaft ließ die Flamme flackern und die Schatten derjenigen wilde Tänze aufführen, die sich zusammengefunden hatten. In der Gabelung der verbundenen Stäben lag waagerecht ein Spieß, der durch den Körper eines Tieres getrieben war. An seinem Ende befand sich ein Aufsatz mit einem Kurbelgriff, der mit einem Gewinde festgeschraubt werden konnte. Mit ihm wurde der köstliche Düfte emittierende Braten über dem Feuer gedreht, bis er von allen Seiten gut durch war.

Missmutig stand Nebula am Feuer und drehte die Kurbel.

Hätte sie nur nie darauf bestanden, bei der Zubereitung des Abendessen zu helfen…

Da die anderen befürchteten, dass sie nicht einmal Fleisch anbraten könne, ohne eine kulinarische Katastrophe zu fabrizieren, war der undankbare Job des Kurbeldrehers die einzige Aufgabe, die sie ihr zutrauten.

Das Holz des Griffes ächzte und stöhnte unter dem Druck, den die Finger der Blondine ausübten, während sie versuchte, ihrer Wut Herr zu werden.

Am liebsten hätte sie ihre Zähne darin vergraben.

Zuvor wurde der Braten von Clay und Henrik gewürzt und vorbereitet.

Clay hatte sich um die Innereien gekümmert. Während die anderen die Füllung genießen würden, mit der Henrik das ausgehöhlte Tier gestopft hatte, sollten die Eingeweide Clays inneren Wolf sättigen.

Da Toshiro die Nahrungszubereitung in guten Händen wusste, beschäftigte er sich damit, zu trainieren und noch mehr Muskeln anzuhäufen.

Während Annemarie vergnügt in ihrem Märchenbuch schmökerte, förderten Aki und Cerise den kulturellen Austausch, indem sie ihr Wissen um die effizientesten Methoden zur Beendigung von Leben teilten.

“Ä-Ähm Leute”, begann Henrik zu sprechen. “H-Hallo! Ich…” Aber scheinbar hörte ihm niemand zu.

Plötzlich durchbrach ein schreckliches Grölen die Idylle. Sofort sahen sich alle nach der Quelle um. Clay hatte das Elend nicht mehr länger mit ansehen können, und verschaffte sich an Henriks Stelle Gehör durch sein wölfisches Gebrüll. “Der Junge will was sagen.”

"Ach, ist das Essen fertig?”, fragte Nebula. “Kann ich das Kurbeln einstellen?”

“N-Nein!”, antwortete der Braunhaarige. Er hatte sich die Zeit mit dem Säugling vertrieben und mit ihm gespielt. Nun hob er ihn an und stützte seinen Kopf auf seinem Ellenbogen. “E-Er braucht einen Namen.” Vorsichtig kraulte er den Jungen unter dem Kinn. “Schließlich ist er kein D-Ding.”

“Das wäre nicht klug”, äußerte sich Aki. “Ihm einen Namen zu geben, zieht zwangsläufig eine emotionale Bindung nach sich. Dann fällt die Trennung schwerer.”

Beinahe erschrocken blickten sich einige zur sonst so schweigsamen Frau um.

“Vielleicht hat sie Recht…”, grübelte Clay und strich sich über seinen Bart.

“Och nö!”, schrie Annemarie auf. “Ich will einen Namen aussuchen!”

“Reicht es nicht, ihn Schreihals zu nennen?”, kommentierte Cerise. “Laut ist er ja.”

Nebula funkelte sie bestimmend an, während sie das Kurbeln fortsetzte. Ihre Tätigkeit reduzierte die Bedrohlichkeit ihres Blicks allerdings erheblich.

“Oh, oh, oh! Ich habs”, verkündete Annemarie. “Wir nennen ihn Hänsel.”

Cerise stieß die flache Hand auf ihr Gesicht und schüttelte mit dem Kopf.

Das Baby sperrte den Mund auf und schrie, als täte es sein Missfallen kund.

“W-Wir können ihn n-nicht nach irgendeinem Märchen nennen”, mahnte Henrik.

“Wie wäre es mit Adrian?”, schlug Clay vor.

Aber auch das beruhigte den Kleinen nicht.

Nebula stellte das Kurbeln ein. “Ein Kind bekommt seinen Namen bei der Weihung”, intervenierte sie. Hastig verbarg sie das Zittern ihrer rechten Hand.

Genervt stöhnte Cerise und rollte mit den Augen. Als ob der Krach nicht schlimm genug wäre, kam jetzt die Prinzessin mit ihren verklemmten Moralvorstellungen dazu.

Angelockt von der hitzigen Diskussion, fand Toshiro zu ihnen. Er hatte sogar sein Training beim einhunderteinundvierzigsten Liegestütz abgebrochen, um seine eigenen Argumente mit einzubringen. “Wir nennen ihn Kaji”, verkündete der muskulöse Blonde. “Das bedeutet Feuer.”

Wie durch ein Wunder beruhigte sich der Säugling.

“W-Wieso wollt Ihr das bestimmen?”, fragte Henrik.

“Genau!”, schmollte Annemarie. “Ich will! Ich!”

“Ihm gefällt es offenbar”, meinte Toshiro.

Tatsächlich lachte der Junge und wackelte vergnügt mit Armen und Beinen.

“Außerdem…” Toshiro trat an Henrik heran und nahm ihm den Säugling ab. Er umfasste den Oberkörper des Kindes und hielt ihn Henrik gegenüber, sodass sich ihre Gesichter gegenüberstanden. Plötzlich öffnete der Junge seinen Mund und rülpste. Eine kleine Stichflamme verließ seinen Mund und versengte Henriks Haar. “... passt es zu ihm.”

Cerise gab sich hemmungslosem Gelächter hin.

Sogar Aki konnte es ein Schmunzeln entlocken.

Fassungslos fror Henrik rußiges Gesicht ein. Erst wollte es ihm keiner Glauben und jetzt nutzten sie es, um sich auf seine Kosten zu amüsieren.
 

Angestrengt kniff Alaric sein verbliebenes Auge zusammen, als er ein allerletztes Mal seine Muskulatur anspannte und die nötige Kraft aufbrachte, den finalen Liegestütz zu beenden. Danach stützte er auch den rechten Arm auf den Boden auf, welchen er zuvor auf dem Rücken gehalten hatte. Mit einem Gefühl der Zufriedenheit nutzte er beide Extremitäten als Aufstehhilfe. Einarmige Liegestütze gehörten zu seinem täglichen Übungen. Mit dem rechten Arm hatte er zuvor schon begonnen und nun waren auch die Trainingseinheiten des Linken vollständig.

Kurz verschnaufend bewegte sich der jüngste Spross der Kaiserfamilie zu einer Wasserschale und beträufelte seine schweißgetränkte Stirn mit dem erfrischenden kühlen Nass und ließ es anschließend über seinen entblößten Oberkörper laufen. Die Ströme der Flüssigkeit bahnten sich ihren Weg über die Hügel und Täler seines ansehnlichen Waschbrettbauch, bis sie vom Saum seines Beinkleides aufgesogen wurden.

Der rhythmische Paukenschlag seines Herzens gab ihm das wohltuende Gefühl, etwas getan zu haben - anders als seine administrativen Tätigkeiten. Körperliche Ertüchtigung war der mehr als notwendige Ausgleich dazu.

Statt zu trainieren hätte er sich ebenso gut die Erkenntnisse der Schattenschwestern zu Gemüte führen können, die noch immer auf seinem Schreibpult lagen. Aber noch hatte er sich nicht dazu durchringen können, die Siegel zu brechen.

Wäre sein Körper das einzige, das er stählen wollte, hätte Alaric sich den Weg in die Garnison sparen können. Doch für das Training seiner Fähigkeiten benötigte er Platz, den seine Gemächer ihm nicht bieten konnten. Auf dem Aufmarschplatz gab es genug freie Fläche und bis zum Morgenappell waren noch mehrere Stunden Zeit.

Diese gedachte der Prinz zu nutzen.

“Trenne Körper und Geist!”, beschwor er. “Anima!”

Er nahm die übliche Pose ein. An seinem zur Seite hin ausgestreckten Arm begann ein kaltes Feuer zu lodern. Zwischen den saphirblauen Flammen materialisierte sich eine Kette, die sich einer Schlange gleich rasselnd um Alarics Arm wand.

Plötzlich fuhr ein Schmerz durch Alarics Kopf wie ein Messer durch Butter.

Er ließ den Prinzen auf die Knie fallen und sein Haupt ergreifen.

Indes entschwanden die Segmente des Anima und die Flammen erloschen.

Alaric nutzte den freigewordenen Arm, um Halt auf dem Boden des Platzes zu finden.

Er keuchte und kniff erneut sein Auge zu.

Der imaginäre Dolch in seinem Schädel wurde gedreht und quälte ihn.

Dann öffnete er sein Auge wieder.

Sein Blick fiel auf einen ledernen Stiefel.

Vor ihm stand eine Person, die zuvor noch nicht da gewesen war.

Alaric hob sein Haupt.

“Geht es Euch gut, Hoheit?”, fragte der Soldat, der vor dem Prinzen stand. Nicht selten kam seine Hoheit hierher, um seine Kräfte zu trainieren. Er hatte gerade seinen Rundgang absolviert, als er Alaric zusammenbrechen sah. Er war sofort zu ihm geeilt. Aber der Prinz hatte seine Rufe scheinbar überhört.

“Mein Kopf!”, exklamierte der Hochwohlgeborene.

“Soll ich einen Heiler rufen?”, erkundigte sich der Soldat.

Inzwischen fühlte sich der Schmerz wie eine Speerstange an, die quer durch seinen Schädel getrieben wurde. “Es geht schon”, versicherte er und stand vorsichtig auf. Unter Aufwartung all seiner Kräfte verließ er den Aufmarschplatz.

Der Soldat blieb noch einen Moment stehen, bis er seine Runde wieder aufnahm.

Als Alaric sich unbeobachtet fühlte, wanderte die Hand zurück an seinen Kopf. Zwar wurden die Schmerzen allmählich weniger, den Gefallen zu verschwinden, taten sie ihm allerdings nicht. Er musste dringlichst etwas gegen diesen Fluch unternehmen, nun da es begonnen hatte, seine Fähigkeiten zu beeinträchtigen.
 

Mit nichts als einem Namen betraten Nebula und die anderen die Stadt. Die Suche nach diesem Philippe glich der nach einer Nadel im Heuhaufen. Lescar war nicht gerade klein. Wo sollten sie beginnen? Die ersterbende Stimme der Frau, die ihnen den Säugling übergab, hallte noch immer in den Ohren der Prinzessin nach und trieb sie voran. Vielleicht gehörte der Name dem Vater des Kindes. Die Kunde von der Zerstörung des Dorfes musste inzwischen auch in die Stadt vorgedrungen sein. Sicherlich würde er sich freuen, dass sein Sohn wohl auf war. Vielleicht war auch eine Belohnung drin - in fremden Landen musste man sehen, wo man blieb.

Aber dazu mussten sie den Mann erst ausfindig machen.

Die besten Chancen rechnete sich die Gruppe auf den Märkten aus. Die Knotenpunkte des zivilen Lebens waren stets reich an Möglichkeiten. Anschlagbretter offerierten Aufträge für Tagelöhner, der Stadtschreier unterrichtete die Einwohner von Lescar über aktuelle Ereignisse und an den Marktständen gab es reiche Angebote. Menschenmassen strömten gleich Blut durch ein Gefäßsystem auf den unzähligen Straßen zum Hauptmarkt. Irgendjemand wusste immer etwas.

Man musste nur die richtige Person abgreifen.

Es wäre nicht klug gewesen, die ganze Zeit ein Baby durch die Stadt zu schleppen. Darum blieben Annemarie und Henrik zurück in einem Gasthaus, um auf den Jungen aufzupassen. Die verbliebenen Fünf strömten aus und begannen die Passanten zu fragen.

Kopfschütteln um Kopfschütteln. Die Sonne rannte über das Himmelszelt während Nebula und den Anderen ein Schulterzucken nach dem anderen entgegnet wurde. Niemand wollte einen Philippe kennen. Nicht einmal Cerise gelang es, ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen. Allerdings konnte man auch nicht erwarten, dass sie sofort Erfolg haben würden.

Als der Tag sich dem Ende entgegen neigte, trafen sich alle am großen Brunnen mitten auf dem Markt wieder. Sie tauschten sich über ihr kollektives Versagen aus. Auch Aki, Clay und Toshiro hatten nichts herausfinden können.

Wütend trat Nebula gegen einen hölzernen Eimer, der ihrem Kraftausbruch nichts entgegenzusetzen hatte und in seine Einzelteile zerfiel. “Verdammt!”, machte sie ihrem Ärger Luft. “Irgendwer muss den Kerl doch kennen!”

“Das ist in der Tat seltsam”, pflichtete Cerise bei. “Philippe ist in Aschfeuer kein so seltener Name.” Sie grübelte. “Ich hatte schon das Gefühl, als ob einigen der Name etwas sagt. Aber sie haben geschwiegen.”

“Also habe ich mir das nicht eingebildet!”, sagte Toshiro.

Demütig fiel Aki vor ihm auf die Knie, begleitet von den skeptischen Blicken der anderen. “Es tut mir leid, dass ich auch nicht von Nutzen sein konnte, Toshiro-sama.” Als ob sie eine Strafe erwartete, sah sie den jungen blonden Mann an.

“Ich denke, heute erreichen wir nichts mehr”, meinte Clay. “Lasst uns zurück zur Herberge gehen. Sonst kommen wir noch in die Sperrstunde.”

Vernünftig! Nicht auszudenken, die Stadtwache hätte einen Grund, sich für sie zu interessieren. Die anderen stimmten zu und sie kehrten zurück. Außerdem stiefelten sie schon den ganzen Tag durch die Kälte.

Vor dem Gebäude erwarteten sie nicht nur Henrik und Annemarie - letztere hielt den kleinen Kaji in ihren Armen - sondern auch ein paar ungebetene Gäste. Vorsichtig gingen Nebula und die anderen weiter, bis das spärliche Licht die Männer als Mitglieder der Stadtwache erkennbar machte.

Verflucht! Hatten sie es nicht mehr rechtzeitig geschafft?

Einige Meter vor dem alten Fachwerkhaus kam der Tross zum stehen. Nebula und die anderen sahen verwirrt zu den Soldaten. Es ging doch nicht etwa um die von der Prinzessin begangene Sachbeschädigung?

Einer der Männer trat vor und machte sich sprechbereit.

“Was wird uns vorgeworfen?”, kam Nebula ihm zuvor.

“Ihr seid die Fremden, die zu viele Fragen stellen!”, meinte der Mann.

“Z-Zu v-viele?”, stotterte Henrik ängstlich.

“Oh, waren es etwa die falschen?”, fragte Cerise zynisch. “Das tut uns aber Leid.”

“Wenn Ihr nicht unsere Fragen beantwortet, wird es das sicher.” Er wandte sich zu den anderen Stadtwachen um. “Männer: Abführen!” Zwei von ihnen verblieben am Eingang des Gasthofs, während der Rest begann, nun auch die Ankommenden zu umstellen.

Aki zuckte bereits der Finger. Sie wollte einen Abzug betätigen.

Auch Toshiro verspürte die Lust, lieber gleich als später loszuschlagen. Mit fixiertem Blick und breitem Grinsen im Gesicht starrte er den Anführer der Soldaten an.

Um einer Eskalation vorzubeugen, beschlossen Nebula und ihre Begleiter, dass es besser war, den Wachen Folge zu leisten und sie zu begleiten.

“Wo werden wir hingebracht?”, fragte Clay.

“Zur Garnison”, antwortete der Gruppenführer.

Einen Moment später setzten sich alle in Bewegung. Erst sah es so aus, als ob man sie tatsächlich zum Militärgebäude bringen wollte. Doch als sie an ihm vorbei geführt wurden und eine verdächtig abgelegene Gasse betraten, wanderte auch Nebulas Hand allmählich an die Waffe. Das stank doch zum Himmel!

Plötzlich gab der Gruppenführer seinen Männern ein Zeichen und jeder versuchte, sich einen von Nebulas Verbündeten zu schnappen. Einer packte Annemarie, aber sie rammte ihm zielsicher den Ellenbogen in den Schritt und entschwand, während er sich vor Schmerz krümmte, beschämt von einem kleinen Mädchen ausgetrickst worden zu sein. Sie versteckte sich zusammen mit dem Baby hinter einem großen Fass. Clay, Henrik, Toshiro und sogar Cerise hatten weniger Glück und wurden mit einer Klinge am Hals in Schach gehalten. Aki zog ihre Bayonettpistolen und fuhr mit einem Knopfdruck die Klingen aus, bevor ihre Manndeckung reagieren konnte. Nebula wehrte ebenfalls den Versuch der Gefangennahme mit ihrem Schwert ab.

Während die anderen Gefangenen ängstlich auf die Klinge an ihrer Kehle blickten, brachte Cerise den Mann hinter sich Mittels erotischem Augenkontakt ins Schwitzen. Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über die Klinge, bis die Haut brach und roter Lebenssaft austrat. Gemächlich führte sie den verletzten Finger zum Mund und leckte sich den Blutstropfen ab. Augenklimpernd wandte sie sich dem Mann hinter ihr zu. “Du hast aber ein scharfes Schwert”, hauchte sie.
 

🌢
 

Alaric hatte es sich inmitten seiner Gemächer im Schneidersitz bequem gemacht. Noch immer beunruhigte ihn, dass Anima beim Training scheinbar den Gehorsam verweigert hatte. Das hatte es noch nie getan!

Schon wieder führte der Weg zur Lösung seines Problems über ein Ritual.

Seit seiner Jugend hatte man ihn schon darauf vorbereitet, ein Waffenmeister zu sein. Anders als bei solchen, die nur durch Zufall in den Besitz einer Teufelswaffe gelangen, genoss er ein mentales Training. Unter anderem lehrte man ihm eine Technik, mit der es ihm möglich war, die Seelenwelt des Anima zu betreten.

Zwar gab es Fälle, wo die Waffe selbst den Kontakt suchte, aber für den Waffenmeister war das Ritual - abgesehen von Befehlen während des Kampfes - die einzige Möglichkeit, bewusst mit der Waffe zu kommunizieren.

Alaric schloss seine Augen und verlangsamte seinen Atem.

Er konzentrierte sich und horchte in sich hinein.

Die lästigen Gedanken an seine Pflichten schob er beiseite - für den Moment.

Langsam verhallten die Störgeräusche in seinem Kopf.

Alaric fand sich im imaginären Bild einer pechschwarzen stürmischen See wieder, die von Minute zu Minute immer ruhiger wurde, bis er mit dem kleinen Ruderboot, in das er sich hinein fantasiert hatte, zu den Ufern einer farblosen Insel rudern konnte.

Er sprang aus seinem Transportmittel hinaus in den schneeweißen Sand.

Der Prinz sah nach oben und erblickte den ebenfalls weißen Himmel mit seiner schwarzen Sonne. In seinem Kopf hatte er das von jeglichen Tünchen befreite Reich von Anima betreten. Hier wirkte er wie ein Fremdkörper mit all den Farben - seien es die Seinen oder jene der Gewandung seines imaginären Selbstbildes. Ein unwirklicher und surrealer Ort. Alles war einfach falsch. Licht war dunkel und Schatten war hell. Hier kam er nicht gern her. Diese Ebene der Existenz, die jeglicher Logik trotzte und sich seiner Kontrolle entzog, ließ Unbehagen in ihm aufsteigen. Es war, als ob an jeder Ecke ein neuer Gedanke an unaussprechliche Grausamkeit nur darauf wartete, von ihm Besitz zu ergreifen. Ein schwacher Charakter würde ihnen gewiss verfallen.

Schritt um Schritt entfernte sich Alaric von seinem Boot und drang tiefer in den finsteren Urwald ein, in dessen Mitte Anima auf ihn warten würde.
 

Mittels eines mächtigen Hiebes seines Schwertes zerteilte Alaric eine pechschwarze Rankenpflanze, die ihm den Weg versperrte. Es war erstaunlich, wie realistisch diese erdachte Welt war. Er spürte den Widerstand des Gewächses, als befinde er sich in einem echten Urwald und schlage sich durch echtes Dickicht durch. Und vorhin war es ihm, als habe ihn ein lästiges Insekt um etwas Blut erleichtert.

Hinter der Ranke kam ein schmaler, halb zugewachsener Weg zum Vorschein.

Ein gräulicher Pfad, der sich von dem viel hellem Boden sichtlich abhob.

An seinem Ende konnte man schemenhaft eine Lichtung erkennen.

Alaric wusste bereits, was sich dort befand. Er tat es zwar nicht gern, aber es war mitnichten das erste Mal, dass er die Insel in seinem Geist aufsuchte.

Zielstrebig überbrückte der Schwarzelf die Distanz und trat aus dem Urwald heraus.

Tatsächlich erwartete ihn eine Lichtung. In ihrer Mitte befand sich eine massive Stufenpyramide, um die etwas Lebendiges herum gewickelt zu sein schien. Die pechschwarzen Sonnenstrahlen wurden von der schuppigen Haut aufgesogen wie Tinte von einem Füllfederhalter. Langsam wand sich der kraftvolle Leib um die Konstruktion und das Haupt einer gigantischen Schlange erhob sich. Mit unentwegten Züngeln erfasste sie die Gerüche ihrer Umgebung.

Dann streckte sie ihren Körper in die Höhe.

Ihr Kopf verdeckte die schwarze Sonne.

Ein heller Schatten fiel auf Alaric.

“Was willst du von mir?”, fragte die Schlange ungehalten. Sie sprach ohne ihr Maul auch nur ein Stück zu bewegen.

Alaric mühte sich, den Augenkontakt mit der Kreatur zu halten, die ihn haushoch überragte und wie der Turm von Babel in den Himmel reichte.

“Sprich!”

“Heute hast du mir den Gehorsam verweigert”, klagte der Prinz an. “Wieso gehorchst du deinem Meister nicht?”

“Du willst mein Meister sein und bist nicht einmal Herr über dich selbst?”

“Wie meinst du das?”, fragte Alaric unverständig.

“Etwas anderes hat Anspruch auf deine Seele erhoben.”

Anima musste die ewige Dunkelheit meinen.

“Deine Existenz ist mit der Menschenfrau verbunden, der du mich einst die Seele entreißen ließt. Eine so reine Seele habe ich noch nie gefühlt. Das vergesse ich nicht. Sie hat deinen Platz im Limbus eingenommen. Aber nicht aus freien Stücken. Ich spüre, wie die Menschenfrau um ihre Freiheit kämpft.”

“Das war nicht meine Entscheidung”, verteidigte sich Alaric. “Ich unterlag im Kampf und wurde gegen meinen Willen ins Leben zurückgeholt!"

“Aber seid ihr Sterblichen nicht so versessen auf euer kurzes Dasein?”

“Nicht wenn jemand anderes an meiner statt leiden muss!”

“Wie Nobel von dir! Dennoch warst du es, der mich ihre Seele entreißen ließ.”

“Woher sollte ich wissen, dass meine Schwester-”

“In einem Anfall von Überheblichkeit warst du der Ansicht, die Menschenfrau für eine Lüge bestrafen zu müssen, bei der sie keine große Wahl hatte, als ihre Rolle zu spielen!”

Ertappt verzog Alaric sein Gesicht.

Anima lebte in seinem Körper und in seinem Geist. Da war es wenig verwunderlich, dass es genauestens über ihn und sein Seelenleben Bescheid wusste. Es war beängstigend, einen Gesprächspartner zu haben, vor dem es keine Geheimnisse gab.

“Früher hast du die Dinge noch hinterfragt. Aber dann hast du beschlossen, die Augen zu verschließen und zu funktionieren. Die Erwartungen deines Vaters zu erfüllen und ihm ein guter Sohn zu sein. Auf dem Bankett hast du den Betrug an ihm aufgedeckt und bist beinahe automatisch zu dem Schluss gekommen, dafür Rache nehmen zu müssen.”

Alaric rang mit der Fassung. “Aber ich…”, flüsterte er.

“Du stehst praktisch mit einem Bein im Grab. Der Limbus fordert deine Seele ein. Das Herz dieser Menschenfrau ist viel zu rein, als dass die Dunkelheit es akzeptieren würde. Deine Wiederbelebung war kein Segen, sondern ein Fluch. Du hast deine Seele nur auf Zeit zurück erhalten. Die Finsternis wird dich früher oder später holen kommen.”

“Und darum verweigerst du mir den Gehorsam?”

“Richtig!”, brüllte Anima donnernd. “Du verabscheust Ehrlosigkeit. Ich Schwäche. Beides hast du in dieser Nacht unter Beweis gestellt! Ich werde dich beobachten und dann entscheiden, ob ich dir gehorche. Und jetzt verschwinde!”

Blitzschnell schoss der Kopf der Schlange auf Alaric zu und ihre Beißwerkzeuge vergruben sich an der Stelle im Boden, an der er einen Moment zuvor noch gestanden hatte. Eine Wolke aus Schmutz wurde aufgewirbelt.
 

Die Priesterinnen des Tempels hatten soeben die Prozedur der Einbalsamierung abgeschlossen. Behutsam rieben sie nun die kalte Haut des humanoiden Kadavers mit heiligem Öl ein. Diese letzte Ölung war eine zeitaufwändige Prozedur. Die traditionellen Riten schreiben vor, dass sie nur von den Glutjungfern durchgeführt werden durften. Frauen, die durch das Feuer gezeichnet wurden, und ihren heiligen Dienst beim Elendsschlund leisten. Die Hand einer der Frauen streifte dabei über die vernähte Öffnung am Bauch des Toten, wo zuvor die Organe entnommen worden waren. Sie war sauber vernäht. Die Glutjungfer konnte stolz auf ihre Arbeit sein. Es war wichtig, die Hülle in einem guten Zustand der Asche zurückzugeben, andernfalls würde man den Vulkan erzürnen.

So sehr die Schwarzelfen die Menschen für ihren Glauben an den namenlosen Gott auch belächelten, hingen viele an ihren eigenen alten Traditionen fest. Die Überzeugung der Reinigung durch die Asche schenkte vielen Sündern Hoffnung.

Der Körper war nun völlig entleert. Frei von allen Sünden seines Besitzers. Nach dem Glauben der Schwarzelfen saß die Seele in den Gedärmen. Der Leib war nicht mehr als ein Gefäß. Die Entfernung der Innereien war deshalb ein wichtiger Bestandteil des Bestattungsritual. Der Körper wurde später den heißen Strömen aus dem Inneren der Erde übergeben, sodass nach der Zerstörung eine neue Schöpfung folgen konnte.

Aber mit den Organen wurde anders verfahren.

Man wollte sichergehen, dass die Seele ihren Weg in das Jenseits fand. Darum würden die Gedärme zwei Wochen lang sorgsam entwässert und anschließend von den Priesterinnen unter freiem Himmel verbrannt, auf dass sich die Asche der Organe mit jener der Ahnen vereinigte, die bereits ihren Platz in der großen Aschewolke gefunden hatten. Was anschließend übrig blieb, wurde in Urnen gefüllt und in einer Krypta zur Ruhe gebettet.

Belanors sterbliche Überreste stellten da keine Ausnahme dar.

Egal welche Verfehlungen er zu seinen Lebzeiten begangen haben möge, das Feuer des Berges würde ihn von allen seinen Sünden reinwaschen.

Wenn er zu Lebzeiten selbst nicht viel mit Religion anfangen konnte, waren seine Mutter und seine Geschwister sehr gläubig. Sie lebten in den verschiedensten Winkeln des Kaiserreichs, aber einmal im Jahr pilgerten sie nach Vanitas und besuchten den Tempel am Elendsschlund. Dieses Jahr mussten sie zweimal zusammenkommen. Die Mutter wollte für ihren Sohn ein gutes Leben nach dem Tod arrangieren und hatte die notwendigen Tribute entrichtet, damit die Glutjungfern zu Werke gingen.

Nachdem die Haut Belanors vollständig mit den Ölen gesalbt war, zogen die Priesterinnen ihm sein letztes Hemd an. Es war die Gewandung, in der sein Leichnam in die Lava geworfen werden sollte. In den meisten Fällen bestanden sie aus einfachen gewebten Stoffen, aber Belanors Familie war sehr reich, weshalb sein letztes Hemd sündhaft teuer war. Als der Körper bekleidet war, wurde er mit einem Laken abgedeckt.

Die Glutjungfern ergriffen die Schalen mit den Organen und ihre Werkzeuge und verließen die Kammer. Der Körper des Diplomaten würde die nächsten Tage aufgebahrt werden, damit sich seine Angehörigen angemessen verabschieden könnten. Die großen Türen zum Einbalsamierungsraum wurden geschlossen.

Plötzlich kündigte sich hoher Besuch an.

Begleitet von zwei Leibwachen, erschien niemand geringerer als die Prinzessin auf der Bildfläche. Lezabel wollte ihrem verstorbenen Ehemann einen Besuch abstatten.

Die Glutjungfern verneigen sich.

“Ich möchte meinen Gatten sehen!”, verlangte die dünne Schwarzhaarige.

“Gewiss, Eure Hoheit!”, antwortete eine der Priesterinnen.

Sofort wurde die soeben geschlossene Tür wieder geöffnet.

Lezabel wandte sich an ihre Leibwächter. “Ihr bleibt draußen und passt auf!”, bellte sie ihre Befehle in einem abfälligen Tonfall.

Ihre Wachen, einer kahlköpfig mit akzentuierten Riechorgan und der andere mit einem kindlichen Milchgesicht, standen stramm und salutieren.

Lezabel trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Nun war sie allein in der Kammer.

Sie sah sich um.

Es gab nicht viel zu sehen.

Glattes Mauerwerk mit kultischen Wandmalereien.

Ein paar Tische, auf denen Leichen einbalsamiert wurden. Sie waren alle leer, bis auf einen. Unter dem Laken musste Belanor liegen, dachte die Prinzessin. Lezabel trat an den Tisch heran. Während sie dies Tat, hallten die Schritte in ihren schweren Absatzstiefeln von den Wänden wieder. Die Prinzessin ergriff das Laken, schlug es schwungvoll zurück und enthüllte den Leib ihres Gatten.

Ihr Blick fiel auf das Gewand aus teurer Seide. “Schwiegermutter hat weder Kosten noch Mühen gescheut”, stellte sie fest. Lezabel schritt um den Tisch herum und fing ein Bild ihres Mannes aus jedem erdenklichen Blickwinkel ein. Die Glutjungfern hatten gar wundersame Arbeit geleistet. Es war nicht eine Spur der Strangmarken zu sehen, die Alaric an seinem Hals entdeckte, als er ihn tot in der Zelle fand. “Die wissen wie es geht”, flüsterte Lezabel während sie mit ihren Fingern über den Hals Belanors fuhr.

Sie spürte das Öl auf der Haut.

“Habt Ihr Euch aus der Verantwortung gestohlen”, warf sie der Leiche vor. Ihre Augen, die bis eben noch Bewunderung für die Arbeit der Glutjungfern wiederspiegeln, wechselten in einen abfälligen Ausdruck. “Ob die Ahnen das gut finden…”, stichelte sie.

Wen wollte sie damit beleidigen? Als Toter konnte Belanor es nicht mehr hören. Nach dem Glauben der Schwarzelfen war nicht einmal mehr seine Seele anwesend, da sie zuvor mit den Eingeweiden aus dem Raum getragen worden waren.

Lezabel musste sich einfach nur selbst gefallen wollen…

“Wirklich schade!”, sprach die Prinzessin weiter, während sie sich neben der Körpermitte in Stellung brachte. Zielsicher griff sie nach Belanors Gemächt. “Einen Toten zu quälen macht keinen Spaß!”, sprach sie abfällig, während sie das Geschlächtsteil mit all ihrer zur Verfügung stehenden dämonischen Kraft zerquetschte.
 

Einen tiefen Atemzug nehmend, schreckte Alaric aus der Trance auf. Erleichtert stellte er fest, dass er nicht im Magen einer übergroßen Schlange gelandet war und sich stattdessen wieder in der realen Welt in seinen Gemächern befand. Das schwache rote Glühen des Lavasee unter dem Palast, das durch die in Blei gefassten Fenster hinter ihm eindrang, beruhigte seinen aufgewühlten Geist.

Er erhob sich aus dem Schneidersitz und stand auf.

Noch einmal musste er es versuchen. Er streckte seinen Arm aus und rief Anima herbei: “Trenne Körper und Geist, Anima!” Aber nichts geschah. Die Schlange ließ ihren Worten Taten folgen. Er musste ihr beweisen, dass er ihrer noch immer würdig war.
 

🌢
 

“Was wollt Ihr wirklich von uns?!”, fragte Nebula fordernd.

Der Anführer der Geiselnehmer zeigte keine Reaktion.

Ein kurzer Augenkontakt zwischen den Freunden genügte.

Als erstes erledigte sich Cerise ihres Geiselnehmers. Dem armen Mann war sowieso trotz der Kälte viel zu heiß in seiner Haut. Er konnte nicht mehr klar denken, angesichts des verführerischen Halbblutes in seiner Gewalt, und war so ein leichtes Opfer für die Rothaarige. Mit einem Stoß ihres Hinterkopfes überraschte sie ihn. Danach entzog sie sich ihm und schlug ihm ins Gesicht.

Toshiro ergriff die Klinge vor ihm und setzte ihren Träger mit einer elektrischen Entladung außer Gefecht.

Das Schwert von Clays Möchtegern-Geiselnehmers zerbrach, als dieser es mit bloßen Händen zerdrückte. Er musste nicht Henrik sein, um das schlechte Handwerk zu bemerken. Die Klinge hatte nie eine anständige Härtung erfahren.

Henrik nutzte seine Kräfte und bewegte die Waffe von seiner Kehle weg. Danach ließ er sie - mit samt ihres Trägers - an einer Hauswand aufschlagen.

Angesichts der schlechten Performance seiner Untergebenen war anzunehmen, dass der Anführer dieses Überfallkommandos nun doch gesprächsbereit war…

“Sagt Ihr uns jetzt, was Ihr von uns wollt?”
 

In regelmäßigen Abständen wiederholte sich das Geräusch eines Tropfens, der von der durch Kondenswasser befeuchteten Decke hinunter auf den steinernen Boden fiel. Die Luft war bedrückend schwer und feucht. Moose und Schimmel hatten sich überall im Mauerwerk festgesetzt. Ungefähr alle 10 Meter erhellte eine Fackel die Umgebung. Sie steckten in einfachen Metallhalterungen.

Die Gruppe ließ sich von ihren ehemaligen Angreifern leiten.

Ihr Weg führte durch einen Wartungstunnel der städtischen Wasserversorgung. Er transportierte schon lange kein Wasser mehr und verlief neben dem eigentlichen Abwassersystem. Augenscheinlich war er nun einem neuen Zweck zugeführt worden.

Unentwegt nach einem ganz bestimmten Namen zu fragen, hatte ungewollte Aufmerksamkeit heraufbeschworen. Es stellte sich heraus, dass die Männer zu diesem Philippe gehörten, den Nebula und die anderen zu finden versuchten. Entweder taten sie so, als seien sie bei der Stadtwache, oder es war ihnen gelungen, diese zu unterwandern. Philippe musste seine Leute geschickt haben, als ihm zugetragen wurde, dass jemand Kontakt mit ihm suchte.

Endlich erreichten sie ihr Ziel.

Eine unbeleuchtete Abzweigung führte zu einer unscheinbar wirkenden Tür. Alsbald wurde sie aufgestoßen und gab den Blick auf den gewaltigen Raum frei, den sie verbarg. Es handelte sich um eine mehrere Stockwerke große Zisterne. Die Vertrauten blickten nach unten. Nur der Boden war noch mit Wasser gefüllt. Sie wurde bestimmt seit langer Zeit nicht mehr genutzt. Der Zugang lag im oberen Teil und einige Hängebrücken verbanden Holzkonstruktionen im leeren Innenraum. Auf ihnen hatte man Hütten und Werkstätten errichtet. Interessiert sahen sich die Neuankömmlinge um. Es kam einer Stadt unter der eigentlichen Stadt gleich. Aber nichts stach so sehr hervor wie die unzähligen Schilde und Banner mit ihren Wappen.

Sie stellten allesamt das gleiche Motiv dar.

“W-Was ist das a-alles hier?”, stammelte Henrik.

“Das ist ja wuselig hier!”, entfleuchte es Annemarie, als ihr Blick auf die Menschen fiel, die sich im Komplex herumtreiben.

“Scarlet Sword”, sagte Cerise. Sie deutete auf eines der Wappenschilde mit dem blutroten Schwert darauf. “Mit denen hatte ich schon… ähm… zu tun.”

Nebula dachte sich ihren Teil und schwieg.

“Wow!”, staunte Annemarie. “Du kennst echt jeden!” Sie trug noch immer den Säugling, der ganz aufgeweckt mit den kleinen Ärmchen ruderte.

Gemeinsam folgten sie den Männern weiter und drangen tiefer in die Anlage vor, bis sie eine größere Plattform mit einem massiven Holzanbau erreichten.

Aki wirkte nachdenklich. Ob sie grübelte, wie das ganze Holz hierher gebracht wurde, ohne Aufsehen zu erregen? Der Gang wäre dafür auf jeden Fall zu schmal.

Nebula und ihre Vertrauten wurden bereits von einem stämmigen Mann und dessen beiden Leibwächtern erwartet. Sie standen vor einer großen Tür, die links und rechts von weißen Flaggen flankiert wurde. Sie hingen herunter wie Wandteppiche und zeigten ebenfalls das Symbol des roten Schwertes.
 

Gefasst wurde den Ausführungen von Nebula und ihren Begleitern gelauscht.

Nachdem sich der Anführer des Lagers als Philippe zu erkennen gegeben und sie hereingebeten hatte, ließ er sich von ihnen berichten, woher sie seinen Namen kannten und was sie von ihm wollten. Nun saßen sie alle um einen großen runden Tisch.

Sie sagten ihm, was sie bedenkenlos weitergeben konnten. Dass sie geschäftlich unterwegs waren, als plötzlich ein Drache über ihre Köpfe flog, während sie ihrer Tätigkeit auf dem Markt nachgingen. Das Ungetüm steuerte ein Dorf an, etwa einen halben Tagesmarsch entfernt. Sofort gaben sie ihrem unguten Gefühl nach und machten sich auf den Weg. Alles, was sie noch vorfanden, beschränkte sich auf Tod und Zerstörung. Der Drache hatte in dem Dorf keinen Stein auf dem anderen gelassen. Auf den Pfaden lagen die Opfer seines Feuerodems. Als sie die Trümmer durchsuchten, stießen sie auf eine Frau, die sie mit letzter Kraft bat, ein Baby nach Lescar zu bringen. Später gab ihnen jemand den Rat, in der Stadt nach Philippe zu fragen.

“So habt Ihr also von mir erfahren”, sammelte Philippe seine Gedanken. Er wirkte seit der Erwähnung des Drachen nervös. Sein Blick wanderte stets zwischen den Gesichtern der Fremden und dem Baby, um das sich Annemarie kümmerte, hin und her. “Irgendwer konnte seinen Mund nicht halten…”

“Gutes Personal ist Mangelware”, kommentierte Cerise.

“Habt Ihr darum Eure Schergen geschickt?”, fragte Nebula.

“Ich musste eure Absichten in Erfahrung bringen.”

“Ihr hättet fragen können!”

“Ich habe die Situation gern unter Kontrolle.”

“U-Uns die Schwerter an die Kehle halten, ist der f-falsche Weg!”, stellte Henrik klar.

Abermals verirrten sich Philippes Blicke. “Man kann nie vorsichtig genug sein.”

“Es ist etwas mit dem Jungen”, mutmaßte die sonst stille Aki. “Ihr seht ihn andauernd an.” Sie hatte längst bemerkt, dass ihr Gegenüber unentwegt den Säugling anstarrte. Eine Tatsache, die auch an den anderen nicht unbemerkt vorbeigegangen war.

Einen Moment schwieg der Anführer von Scarlet Sword.

“In der Tat”, bestätigte er anschließend. “Reneé!”, rief er aus. “Kommst du bitte?”

Die Tür hinter ihm öffnete sich und eine schwangere Frau trat ein. Ihr Bauch war kugelrund. Bestimmt war es bald soweit.

“Das ist meine Frau Reneé”, stellte sie Philippe vor. “Wärst du so gut, dich um das Kind zu kümmern?”, wandte er sich an sie. “Ich muss unseren Gästen etwas zeigen.”

Die Frau kam seiner Bitte nach und trat an den Tisch heran. Sie streckte die Arme aus, bereit, das Kind in Empfang zu nehmen.

Ein Moment des Zögerns verstrich.

“Keine Angst, sie hat schon gegessen”, scherzte Philippe, wohl auf Reneés überschüssige Schwangerschaftspfunde anspielend.

Reneé zog ihre Arme wieder ein. Sie ging zu ihrem Mann und er fing sich einen Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Danach kehre sie zu Annemarie zurück und streckte abermals ihre Arme aus.

Nachdem Nebula ihre Zustimmung durch Nicken signalisierte, überreichte Annemarie den Säugling, für den sie sich seit jeher verantwortlich gefühlt hatte.

“Du bist aber ein Süßer!”, meinte Reneé und schaukelte das Kind sorgsam.

Philippe erhob sich.

Nebula und die Anderen verstanden dies als Aufbruchsignal und taten es ihm gleich.

“Stopp!”, intervenierte der Anführer von Scarlet Sword. “Nur die Hälfte von euch. Die andere bleibt hier. Als Rückversicherung.”

“Immer etwas in den Hinterhand haben”, brachte Nebula ihren Unmut zum Ausdruck.

“So haben wir bisher überlebt.”

“Keine Angst, Blondie, ich pass schon auf deinen Liebsten und das Gör auf!”, bot sich Cerise an. “Wenn die Typen eine krumme Nummer abziehen wollen, werde ich mich um sie kümmern”, versicherte sie, während sie lässig ihre Fingernägel begutachtete.

“Danke für das Angebot”, zeigte sich Nebula erkenntlich.

“D-Das wird nicht nötig sein”, meinte Henrik. “Ich komme mit.”

“Dann bleibe ich”, verkündete Clay. Er fühlte sich in der Nähe dieses Philippe unwohl. Seine Anwesenheit weckte eine Urangst in ihm. Und er roch auch nicht so, wie ein normaler Mensch riechen sollte. Trotzdem bot er sich freiwillig an.

Natürlich blieb auch Annemarie - immerhin war das Baby dort.

Das Quartett aus Aki, Henrik, Nebula und Toshiro folgte Philippe durch die Tür, aus der zuvor Reneé gekommen war. Sie führte in ein weiteres Tunnelsystem.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit in der stickigen, dunklen Passage sahen sie die Sonne durch einen von Geäst verdeckten Ausgang wieder. Nacheinander traten sie aus der Finsternis heraus. Zuerst Philippe, gefolgt von Nebula, Henrik und Toshiro. Aki schützte den Rücken ihres Schutzbefohlenen.

Sie entstiegen dem unscheinbaren Loch im felsigen Boden.

Sofort bedeckte Philippe den Zugang mit Steinen, Zweigen und Schnee.

Nun befanden sie sich ein gutes Stück von der Stadt entfernt.

Nebula sah sich um und konnte nichts von Relevanz entdecken. Misstrauisch machte sie sich kampfbereit. “Warum habt Ihr uns mitten ins Nirgendwo geführt?”, fragte sie.

“Es ist einfacher, es zu zeigen…”, meinte Philippe. Er entfernte sich von der Gruppe. Nach einigen Metern stoppte er und begann sich seiner Kleidung zu entledigen.

“W-Was macht der da?”, fragte Henrik verdutzt.

“Der macht sich nackig!”, kommentierte Toshiro belustigt das Offensichtliche.

“J-Ja, das s-sehe ich. Aber w-warum?”

Plötzlich breitete Philippe die Arme aus, als wolle er eine göttliche Macht anrufen. Seine Haut begann zu glühen und anschließend zu verbrennen. Sein Körper nahm an Größe und Masse zu. Philippes Schreie deuteten darauf hin, dass der Prozess sehr schmerzhaft für ihn war. Die Hitze schmolz den Schnee und versengte das Gras um ihn herum.

Nebula und die anderen konnten die Temperaturen fühlen.

Die glühende Gestalt verlor jegliche Ähnlichkeit zu der eines Menschen.

Flügel entstanden.

Der Hals verlängerte sich.

Ein Schwanz wuchs.

Aus dem Schreien wurde ein bestienhaftes Gebrüll.

Letztlich kühlte das Glühen ab und enthüllte die schuppige Haut eines Drachen. Mit einem mächtigen Schlag seiner Schwingen erhob sich Philippe in die Lüfte und zog seine Kreise um seine zutiefst verwunderten und schockierten Gäste.
 

Ein paar Runden drehte Philippe in Drachengestalt über den anderen, bevor er landete, seine menschliche Gestalt wieder annahm und die Darbietung beendete. Ohne ein Wort der Erklärung führte er seine sprachlosen Gäste zurück in das Hauptquartier von Scarlet Sword, nachdem er sich wieder bekleidet hatte. Inzwischen hatten alle wieder am großen, runden Tisch Platz genommen. Die Zurückgebliebenen erfuhren, was sich fernab von den Augen neugieriger Bürger abgespielt hatte und wollten es ebenfalls nicht glauben.

“Du kannst zu einem Drachen werden?”, staunte Annemarie. Eine Tatsache, die es vermochte, das Mädchen vom kleinen Kaji abzulenken.

“Also ist er ein Werdrache?”, entfleuchte es einem ungewöhnlich aufgeregten Clay. “Wundert Euch das überhaupt nicht?”, fragte er Cerise, deren Körpersprache die übliche Gleichgültigkeit verlauten ließ.

“Wieso?”, tat die Rothaarige, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, wenn sich jemand in einen Drachen verwandelte. “Ihr könnt zum Wolf werden. Wen überrascht es noch, wenn sich jemand in einen Drachen verwandelt?”

“Wie ist das m-mö-öglich?”, wollte Henrik wissen.

Philippe senkte sein Haupt. “Das ist eine lange Geschichte”, leitete er ein.

Gebannt warteten alle auf seine Erklärung.

“Damals war ich Soldat. Man brauchte Freiwillige, um eine neue Waffe zu testen. Ich habe mich für das Programm freiwillig gemeldet. Ich wurde mit anderen Testsubjekten in umfunktionierten Folterstühlen gefesselt und man machte Experimente mit uns. Wir bekamen regelmäßig eine Substanz gespritzt. Das Zeug hat in den Adern gebrannt wie flüssiges Feuer! Viele haben das nicht überlebt."

Was das wohl für eine Substanz war, grübelte Nebula. Vielleicht eine Droge? Aber welche Droge verleiht die Fähigkeit, ein Drache zu werden?

“Die anderen Versuchskaninchen sind der Reihe nach jämmerlich verreckt. Das Zeug ließ sie von innen heraus verbrennen! Viel mehr als eine verkohlte Leiche blieb nicht übrig.”

Henrik hielt sich die Hand vor den Mund, um den Brechreiz zu stoppen.

“Die wenigen ‘Patrioten des Reiches’, die das überlebten, hat man darin unterwiesen, ihre neuen Fähigkeiten zu nutzen.”

“Also Feuer spucken, Kinder fressen, Jungfrauen entführen und was ein Drache sonst noch so wissen muss?”, stichelte Cerise.

“Findet Ihr das etwa lustig?!”, echauffierte sich Philippe. “Aber ja, das beschreibt es ganz gut. Man machte uns zu Tötungsmaschinen und testete uns in einer Schlacht gegen die Armee eines kleinen Königreichs im Westen.”

Eine schockierende Erkenntnis drang in Nebulas Gedanken ein.

Sprach er etwa über die Schlacht von Wolfshofen?

“Also sind die Drachen in Wirklichkeit Menschen?”, fragte Clay.

"Nein! Schön wär’s… Die Drachen der Prinzessin sind nicht das Resultat eines Experiments. Gegen einen von denen hätte ich nicht den Hauch einer Chance.”

“Aber was verspricht man sich davon?”

“Weil die Drachen nur Prinzessin Lezabel unterstehen”, mutmaßte Cerise.

“Die Experimente werden nicht auf ihren Befehl geschehen”, teilte Philippe seine Vermutung. “Aber wissen kann ich es natürlich nicht...”

“U-Und was hat das mit dem Jungen z-zutun?”, fragte Henrik nach.

“Das ist die nächste Stufe des Experiments”, schlussfolgerte Toshiro.

“Ich habe sofort gespürt, dass mit diesem Kind etwas nicht stimmt. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, aber er ist wie ich.”

“Aber w-wenn ein Erwachsener es kaum ü-überlebt, wie kann es sein, dass ein-”

Begleitet von einem dumpfen Schlag, trafen zwei Handinnenflächen auf der Tischplatte auf. Die Beine ihrer Sitzgelegenheit kratzen auf dem Boden, als Nebula sich ruckartig erhob. “Jemand experimentiert an Menschen rum!”, sprudelte es aus ihr heraus. “Nicht genug! Sie schrecken nicht einmal davor zurück, Kinder für ihre Ziele zu missbrauchen!” Die Blondine ballte eine Faust. “Dafür werden sie büßen!”

“W-Wisst Ihr vielleicht etwas, dass uns h-helfen könnte?”, fragte Henrik.

“Angeblich verschwinden Leute in Arnage.”

“Ob da ein Zusammenhang besteht…”, dachte Aki laut.

“Wir wissen es nicht genau.” Philippe stand auf und kramte etwas in einem Schrank herum, bevor er mit einer Landkarte zurückkam. “Arnage ist ein gutes Stück entfernt.” Sein Finger zeigte auf einen Punkt auf der Karte. “Eure Antworten könnten dort sein.”

“Wir werden schon wieder einfach weitergeschickt?”, beschwerte sich Cerise.

“Ihr könnt gern hier bleiben!”, wurde die Rothaarige von Nebula zurechtgewiesen.

“Das ist gar keine schlechte Idee.” Kritik blieb an Cerise genauso wenig hängen wie Rührei an einer Teflonpfanne. “Einer muss sich um den Kleinen kümmern. Das können wir unseren Gastgebern schlecht dauerhaft aufhalsen.”

“Wenn das so ist, bleibe ich auch und passe auf, dass Ihr es richtig macht”, sprach Clay. Eigentlich war ihm dieser Drachenmann unheimlich, aber er wollte auch nicht, dass Cerise allein unter Fremden zurückblieb.

Sie ärgerte ihn, indem sie ihm die Zunge rausstreckte.

“Ich will auch hierbleiben!”, forderte Annemarie.

Nebula wusste nicht so recht, wie sie entscheiden sollte.

Die Prinzessin war keine Träumerin. Sie wusste, dass sie sich früher oder später von dem Kind trennen mussten. Auf ihren Reisen konnten sie auf Dauer keinen Säugling im Tross gebrauchen. Ein Baby mitzunehmen ging zu weit! Der kleine Rotschopf baute eine immer enger werdende Beziehung zu Kaji auf. Es wäre besser, wenn Annemarie nicht so viel Zeit mit ihm verbrächte. Dann wäre der Schmerz der Trennung, sobald sie eine Bleibe für den Jungen gefunden hätten, nicht ganz so schlimm für sie. Andererseits war es genauso unverantwortlich, ein kleines Mädchen auf eine potentiell gefährliche Reise mitzunehmen. Letztlich entschied sie sich, Annemaries freiwillige Meldung anzunehmen.

Tags darauf brachen sie auf. Clays Pferd leistete ihnen gute Dienste dabei, den Wagen mit ihren Habseligkeiten zu ziehen. Egal was die anderen dachten, Nebula wollte den Sarg stets bei ihr Wissen. Sein Inhalt war zu wichtig, als dass sie ihn zurücklassen könnte.
 

Viel zu lange schon hatte Alaric sich davor gedrückt, die Informationen über seine Geschwister zu lesen. Er hatte Angst davor, dass die Enthüllungen, die in den Schriftstücken festgehalten waren, sein Bild von seinen Geschwistern dauerhaft zum Schlechten hin verändern könnten.

Die ganze Zeit lagen die Schriftrollen auf seinem Arbeitstisch.

Ihre Wachssiegel schrien danach, gebrochen zu werden.

Bisher wurde Alaric von der Furcht vor dem Ungewissen zurückgehalten.

Es war ihm bewusst, wie feige das war.

Zum Teufel damit!

Er hatte es angefangen, jetzt musste er es zu Ende bringen.

Alaric streckte sich nach der ersten Schriftrolle. Er nahm sie an sich und berührte das Wachssiegel mit seinen Fingern. Einmal hielt er noch inne und überlegte, ob er es wirklich wissen wollte. Doch dann warf er alle Zweifel über Bord und brach das Siegel.

Nun gab es kein Zurück mehr.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Regina_Regenbogen
2023-08-20T13:52:59+00:00 20.08.2023 15:52
Die Unterhaltung zwischen Alaric und seiner Teufelswaffe war sehr interessant, wie überhaupt der Handlungsstrang um Alaric. Ich bin auf seine weitere Entwicklung gespannt.

Schön, dass es trotz all dem Ernst immer wieder kleine witzige Momente in der Gruppe gibt. Auch wenn ich mich immer noch an Aki und Toshiro im Team gewöhnen muss.

Ich hatte zwar noch gedacht, dass Lezabel ihren Mann nicht töten würde, sondern quälen, aber jetzt habe ich die Bestätigung. Interessanter Einblick in die Kultur der Schwarzelfen.

Die Wer-Drachen sind auch sehr interessant. Was wohl genau dahinter steckt?

Und dann noch ein paar lustige Tippfehler:
"Aki zuckte bereits der Finger. Er wollte einen Abzug betätigen." -> Hat Aki ihr Geschlecht gewechselt?
"Aber mit den Orangen wurde anders verfahren."
Ja, Orangen sollte man nicht verbrennen. 😂

Antwort von:  totalwarANGEL
20.08.2023 16:08
> Was wohl genau dahinter steckt?
Die Hauptstory dieses Bandes vielleicht? 😂

> Schön, dass es trotz all dem Ernst immer wieder kleine witzige Momente in der Gruppe gibt.
Muss eben sein.

Ja ja, diese Tippfehler. 🤣


Zurück