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Balance Defenders

von

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Geheime Bekanntschaft


 

Geheime Bekanntschaft
 

„Weiche dem Unheil nicht,

sondern mutiger geh ihm entgegen.“

(Vergil, röm. Dichter)
 

Grauen. Pures Grauen. Merkwürdige Stimmen.

Warum ließen die Stimmen sie nicht in Ruhe?

Aufhören!

Ariane bäumte sich auf, der Brechreiz übermannte sie. Die Masse tropfte auf einen Boden, den sie erst im nächsten Augenblick wahrnahm. Sie zitterte. Ein weiterer Würgereiz ermächtigte sich ihres Körpers. Dann kippte sie zur Seite, doch wurde sie im letzten Moment von jemandem aufgefangen.

„Sie ist ganz kalt!“ Die Person nahm sie fest in die Arme. Es tat gut. So schön warm. Wieder fielen Arianes Augen zu.

„Wir müssen weiter.“

„Hey. Ich trag niemanden mehr!“

Zwei Jungenstimmen.

Sie öffnete die Augen. Zuerst sah sie nur verschwommen, dann erkannte sie das blasse Mädchen mit den langen dunklen Haaren vor sich. Sie lag in den Armen des Mädchens mit dem schulterlangen orangefarbenen Haar.

Blaue Flammen züngelten in der Luft neben einer steinernen Mauer und tauchten die Umgebung in ein gespenstisches Licht.

Nicht weit entfernt standen die beiden Jungen, einer lang und schmal, der andere etwas kleiner, mit breiteren Schultern.

Mühsam setzte sie sich auf und versuchte, auf die Beine zu kommen.

Vivien stützte sie und gab Serena zu verstehen, dass sie dasselbe von der anderen Seite tun sollte.

„Wo ist –“, setzte Ariane an.

„Über uns.“, sagte Vivien. „Es wird gleich hier sein.“

Justin hatte derweil etwas am Boden entdeckt. „Blutspuren.“, stellte er fest. „Vielleicht Menschenblut.“

„Wir müssen schnell weg von hier!“, forderte Serena gereizt und sah hinauf zur Decke.

„Die Blutspur geht den Weg entlang.“, informierte Justin die anderen.

Sofort drehten sie die Köpfe in die entgegengesetzte Richtung, doch dort ging es nicht weiter.

„Soll das heißen, wir müssen einem menschenfressenden Ungetüm entgegenrennen, das gerade seine letzte Mahlzeit mit sich rumgeschleift hat?“, stieß Serena aus.

„Vielleicht ist das Monster dann fürs erste satt.“, meinte Vivien.

Justin versuchte zu beschwichtigen. „Vielleicht ist es auch gar kein Toter gewesen.“ Er hielt inne. „So viel Blut ist es ja nicht...“

Plötzlich rannte Vitali los.

„Warte!“, schrie Justin, ohne jeglichen Erfolg, und rannte schließlich hinterher. Wie egoistisch dieser Junge doch war!

Justin beschleunigte nochmals, packte Vitali am Arm und zwang ihn stehen zu bleiben. „Was soll das?“, fuhr er ihn an.

„Mann! Wenn da wirklich ein Monster ist, dann lenk ich es ab, damit ihr vorbei könnt.“, gab Vitali zurück.

Justin stockte. Das war nicht egoistisch. Bescheuert, ja! Aber nicht egoistisch. Wahrscheinlich genauso bescheuert wie seine eigene Aktion im Treibsand.

„Wenn du allein vorgehst, bist du leichte Beute.“, widersprach er Vitalis Plan. „Zusammen können wir das Monster wenigstens durcheinander bringen.“

Unter Anstrengung erreichten die Mädchen sie.

„Wie wär’s, wenn ihr sie stützen würdet, wenn es euch nicht schnell genug geht!“, keifte Serena, ließ von Ariane ab und schnappte dann gierig nach Luft. Im gleichen Atemzug fing sie an, heftig zu husten.

„Mit der Luft stimmt etwas nicht.“, vermutete Ariane, denn auch sie spürte einen Reiz in der Kehle.

Ein ohrenbetäubendes Brüllen kam von oberhalb, das etwas erstickt klang.

„Schnell!“, befahl Justin und löste Serena als Stütze von Ariane ab. Ein Blick von ihm genügte, schon übernahm Vitali Viviens Aufgabe auf der anderen Seite.
 

Ihre Schritte hallten von den steinernen Mauern wider. Das Echo dröhnte so laut, dass das Monster es unmöglich überhören konnte. Um mehrere Ecken ohne Abzweigung rannten sie, immer dem Weg folgend. Zumindest war der Weg dieses Mal nicht unendlich. Allerdings brachte sein Ende nicht das Gewünschte.

Eine Sackgasse.

„Das kann nicht sein.“, sagte Justin atemlos. „Die Blutspuren enden genau vor dieser Wand.“

Wieder war das grausige Gebrüll ihres Verfolgers hörbar.

Vivien sprach hastig. „Das ist nur ein Psychotrick, damit wir aufgeben.“

„Bei mir funktioniert es ganz gut.“, sagte Serena.

Ariane löste sich von den beiden Jungen. „Vielleicht ist hier eine Geheimtür.“ Sie wollte die Wand abtasten, doch bereits beim ersten Kontakt zuckte sie zusammen. Die Berührung mit den Fingerspitzen hatte auf der Oberfläche winzige Wellen ausgelöst, daraufhin wurde für den Bruchteil einer Sekunde hinter der Illusion der steinernen Wand ein anderer Raum sichtbar.

„Es ist nur ein Trugbild!“, verkündete sie.

„Nichts wie durch!“, rief Vitali.

Justin schrie: „Es kommt!

Ariane war bereits hindurchgesprungen, Vivien zog Serena mit sich. Im gleichen Moment glitt der langgezogene Schatten des Ungeheuers um die Ecke.

Justin stieß Vitali unsanft durch die Öffnung und warf sich hinterher.

Nur Sekunden später wären sie in die Fänge des zähnefletschend um die Ecke jagenden Scheusals geraten, das nun, verwirrt und wutschnaubend, nur noch den Geruch der Beute in der vermeintlichen Sackgasse vorfand.
 

Justin und Vitali landeten bäuchlings auf sandigem Boden.

„Erinnre mich, die Mädchen nie wieder zuerst gehen zu lassen.“, gab Vitali von sich, während er sich aufrappelte und versuchte, sein Kinn wieder einzurenken.

Umgeben waren die fünf von zwei schmalen glatten Mauern. Das gesamte Territorium war von meterhohen Wällen eingegrenzt.

Einige Meter vor ihnen erstreckte sich ein durch dotterfarben gestrichene Wände abgetrennter Bereich, dessen Eingang nur wenig davon offenbarte, was sich in seiner Mitte befand.

„Hier ist es heller.“, meinte Vivien, als gäbe das Grund zur Freude.

Eine finstere Stimme ertönte. „Wer seid ihr?“

Ein schwarzhaariger Junge war hinter der linken Mauer hervorgetreten.

Seine grünblauen Augen waren kalt und abweisend. Auf eine merkwürdige Weise wirkten sie entseelt.

Doch seine Kleidung war das erste in dieser Welt, das die fünf ein wenig an zu Hause erinnerte: eine dunkelgraue Jeans und Markenschuhe.

Zum Zweck eines notdürftigen Verbands hatte der Fremde sein Oberteil offenbar zerrissen, denn er trug nur noch ein weißes Unterhemd und sein linker Oberarm war mit einem dunkelgrauen Stofffetzen abgebunden. Dass der Junge durchtrainiert war, war dadurch deutlich zu erkennen.

Vitali war davon genervt. „Angeber.“, grummelte er.

Vivien wandte sich lächelnd an Justin. „Du hattest Recht. Es war Menschenblut!“

„Nun was ist?“, forderte der Unbekannte nachdrücklich zu wissen.

Vitali setzte zu einer Antwort an: „Mann, wonach sieht’s denn aus? Wir machen hier Ferien! Abenteuerurlaub ist derzeit total in und auch noch gut für die Figur! Schließlich wollen wir doch alle solche Muckis wie du!“

„Können wir diese Unterhaltung auf später verschieben?“, bat Ariane.

„Wenn wir nicht mehr in Todesgefahr schweben!“, ergänzte Serena:

„Probleme mit Schatthen?“, fragte der Schwarzhaarige kühl.

„Nee, mit dem Ding, das uns verfolgt.“, entgegnete Vitali.

„Ein Vieh, das wie eine vergammelnde Leiche aussieht und auch so riecht?“

Vivien klatschte in die Hände. „Genau!“

Die abgeklärte Antwort lautete: „Das ist ein Schatthen."

Die Augen des Jungen wanderten hinter die fünf. „Er kommt.“ Seine Stimme war weiterhin ruhig und fest. „Versteckt euch hier hinten.“, forderte er sie auf.

Serena wandte sich an die anderen: „Seid ihr sicher, dass man dem trauen kann?“

„Willst du warten, bis du den Schatthen nach seiner Meinung fragen kannst!“, warf Vitali ein.

„Beeilt euch.“, drängte der Unbekannte in unaufgeregtem Tonfall.

Eilig versteckten sich die fünf hinter der Betonmauer.

Das Knurren des Schatthens erklang nur Sekunden später.

Sie hielten den Atem an. Das Versteck würde ihnen nicht lange Schutz bieten.

Der Junge neben ihnen griff nach einem am Boden liegenden Stein, von denen es an diesem Ort genug gab, holte weit aus und schleuderte ihn in den Bereich jenseits der dotterfarbenen Mauern. Aus dem Inneren drang sogleich ein blecherner Knall.

Der Schatthen, von dem Geräusch aufgeschreckt, rannte augenblicklich zu dem Eingang und hinein. Seine Schritte hallten bis zu ihnen.

Weitere Atemzüge fürchteten sie, die Bestie könne den Trick durchschauen und wieder herausgestürmt kommen. Dann ertönte ein nervenzerfetzender Schmerzensschrei. Anschließend herrschte Stille.

„Was war das?“, fragte Ariane besorgt.

„Sagen wir so: Euer Problem ist gelöst.“, eröffnete ihnen der Fremde ungerührt. „Die Schatthen sollten eure geringste Sorge sein. Sie sind dumm.“

„Wer braucht Intelligenz, wenn er solche Muskeln hat!“, bemerkte Vitali mit einem vielsagenden Blick auf den Fremden.

Serena beäugte den Schwarzhaarigen misstrauisch. „Woher weißt du so viel über diese Monster?“

Vitali schürzte die Lippen. „Was heißt so viel? Er wusste doch bloß, dass sie Schatten heißen!“

„Schatthen.“, verbesserte der Junge.

„Das ist mehr als wir wussten!“, schimpfte Serena.

Justin ergriff das Wort. „War es dein Blut, das wir in dem anderen Raum gefunden haben?“

Der Fremde wandte seinen Blick ab. Offenbar wollte er nicht darauf antworten.

„Was ist passiert?“, wollte Ariane wissen.

„Ich weiß nicht.“, sagte er.

„Woran erinnerst du dich?“, fragte sie.

Er gab ein tiefes Stöhnen von sich. „Ich bin dort aufgewacht.“

„Netter Ort für ein Schläfchen!“, spottete Vitali.

Ariane wandte sich dem Fremden zu. „Was meinst du mit, du bist dort aufgewacht?“

Der Junge sah sie einen Moment unergründlich an, dann wich er erneut ihren Blicken aus. „Ich weiß es nicht.“

„Was weißt du eigentlich?“, schimpfte Serena.

Als der Unbekannte sich dieses Mal zu ihnen drehte, wirkte sein Gesichtsausdruck bedrohlich. „Hört zu. Ich habe keine Ahnung, wo ich vorher war, und keine Erinnerung daran, was passiert ist, bevor ich in diesem Raum aufgewacht bin, oder wer ich eigentlich bin.“ Sein düsterer Tonfall ließ die seltsame Erklärung geradezu glaubhaft wirken.

„Gedächtnisverlust.“, vermutete Justin.

„Achja? Und woher kennt er dann den Namen der Monster?“, warf Serena argwöhnisch ein.

„Keine Ahnung.“, entgegnete der Namenlose. „Als ich aufgewacht bin, wusste ich Dinge über die Schatthen und diesen Ort.“

Vitali klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Ach was! Das ist doch total normal! Ich wach manchmal auch in einem finsteren Kerker auf und erinnre mich nicht, wer ich bin, weiß aber, wie die Monster dort heißen!“

Ariane wandte sich hoffnungsvoll an den Fremden. „Wenn du über diesen Ort Bescheid weißt, dann kannst du uns vielleicht helfen, hier herauszufinden!“

Die Augen des Jungen wanderten zu dem Bereich, in den er den Schatthen gelockt hatte.

„Der einzige Weg hier raus führt durch das Labyrinth und genau da liegt das Problem. Wenn ihr da rein geht, seid ihr so gut wie tot. Es wird als Trainingsplatz für die Schatthen benutzt. Dort sind so viele Fallen, dass ihr es gleich vergessen könnt.“

Die Zuversicht wich aus Arianes Zügen. „Gibt es keine andere Möglichkeit?“

„Dann wäre ich nicht mehr hier.“, entgegnete der Junge kaltschnäuzig.

„Schaffen es manche Schatthen hindurchzukommen?“, wollte Justin wissen.

Der Fremde drehte sich zu ihm um. „Ich denke schon.“

Vivien schlussfolgerte fröhlich: „Du hast gesagt, sie sind dumm, dann wird es für uns doch nicht so schwer sein, auf die andere Seite zu gelangen!“

„Sie mögen dumm sein, aber ihre Kräfte sind immens und dieses Labyrinth ist dazu ausgelegt, ihre Kräfte an die Grenzen zu bringen. Was dich umbringt, würde einen Schatthen gerade mal kitzeln. Ihr würdet keine Minute darin überleben.“

„Mit jemandem an unserer Seite, der den Weg kennt, würden unsere Chancen steigen.“, sagte Ariane.

Der Junge blockte ab. „Ich kenne nicht alle Einzelheiten. Ich will nicht für euren Tod verantwortlich sein.“

Serena sah ihn finster an: „Wir sterben wohl so oder so.“

Der Unbekannte wandte seinen Blick gen Labyrinth. „Ihr habt keine Ahnung, worauf ihr euch da einlasst.“

„Dann erklär's uns!“, forderte Vivien ihn auf.

Der abweisende Ausdruck erschien erneut auf dem erstaunlich makellosen Gesicht des Namenlosen. „Erst mal will ich wissen, wer ihr seid.“
 

Die Lichter der Blickfenster vor ihm spielten über die missgestimmten Gesichtszüge Grauen-Eminenz‘. Eines davon zeigte das dotterfarbene Labyrinth. Doch der Blick des Schatthenmeisters war auf das Bild der sechs Jugendlichen fixiert. Diese lehnten sich erschöpft an eine Mauer und hielten offenbar eine Lagebesprechung ab.

Der Gesichtsausdruck von Grauen-Eminenz verfinsterte sich zusehends.

Zu dumm, um fünf Kinder zu kidnappen! Was dachten sich diese vergammelten Nichtsnutze denn? Dass er alle paar Wochen mal eine komplette Stadt lahmlegen konnte? Gar nichts dachten sie!

Und von wegen Kadavergehorsam! Hatte er nicht die klare Anweisung gegeben, sie sollten sie einzeln herbringen? Einzeln!

Aber nein! Wieso sie nicht einfach in ein und dieselbe Transportkugel stecken?!!!

Ein Knall ertönte und Grauen-Eminenz musste feststellen, dass seine Wut mal wieder versehentlich einen Teil der Zimmereinrichtung in die Luft gesprengt hatte. Äußerst lästig diese Eigenschaft.

Er seufzte.

Der kerkerähnliche Gehirnwäscheraum hatte keinerlei Wirkung auf seine Auserwählten gehabt. Der verdammte Schatthen hätte sie ja auch nicht jagen brauchen! So waren sie dem Einfluss der Kammer nicht lange genug ausgesetzt gewesen. Aber daran allein lag es nicht. Warum zum Beispiel waren die Giftpfeile nicht aktiviert worden?

Denkfalten erschienen auf Grauen-Eminenz‘ Stirn. Die seltsame Verwandlung seiner Auserwählten war ein unvorhergesehener Störfaktor, den er nicht einkalkuliert hatte. So sinnlos er den Kleidungswechsel auch einschätzte, das Energiepotential war zugegebenermaßen nicht alltäglich gewesen.

Eine solche Form der Energiebeschwörung war ihm bisher nicht untergekommen und ließ ihn kurz überlegen, ob er die Sache nicht zu locker angegangen war.

Auch dass die Problemkinder nun ausgerechnet auf sein Testexemplar gestoßen waren, gefiel ihm nicht.

Angesichts seiner Entscheidung, sie kurzerhand in denselben Manipulationstrakt wie den Schwarzhaarigen zu befördern, war das natürlich unumgänglich gewesen. Aber die Unendliche Ebene, in der die Ausreißer gelandet waren, ließ sich nun einmal am leichtesten mit diesem Gehirnwäscheraum verknüpfen. Die Verlinkung der einzelnen Räume konnte er zwar willentlich steuern, aber der Schwierigkeitsgrad davon war unterschiedlich hoch.

Der Schatthenmeister schnaubte. Er wusste nicht einmal, warum sein Versuchskaninchen schon erwacht war.

Unwichtig! Jetzt galt es zunächst zu testen, welche Kräfte die Gefangenen an den Tag legen würden. Und das Labyrinth war dafür der perfekte Schauplatz.

Hm. Ein paar Änderungen waren vielleicht angebracht. Schließlich handelte es sich hierbei um ein einmaliges Ereignis! Mal etwas anderes als diesen unterbelichteten Schatthen zuzusehen.

Für seine Auserwählten war etwas Delikateres angebracht, etwas, bei dem man auch mal seine Gehirnzellen arbeiten lassen musste.
 

Vitali gab ein genervtes Stöhnen von sich. Warum mussten sie ihre kostbare Zeit damit verplempern, diesem Typen ihre ganzen Erlebnisse auf die Nase zu binden? Ungeduldig wippte er mit seinem rechten Bein. Die Schatthen konnten schließlich jederzeit wieder auftauchen.

Ariane hatte dem Jungen mittlerweile erzählt, wie sie hier hergekommen waren und gemeint, bei ihm habe es sich wohl ähnlich zugetragen. Als Vivien von der Verwandlung hatte erzählen wollen, war sie von den anderen unterbrochen worden und Justin hatte fortgesetzt. Merkwürdigerweise fragte der Junge nicht einmal nach ihrer seltsamen Kleidung. Aber wer eine ungewisse Zeitspanne in dieser Welt verbracht hatte, den wunderte wohl nichts mehr.

„Wir haben uns noch nicht vorgestellt!“, rief Vivien.

„Willst du wissen, was du auf den Grabstein schreiben sollst?“, stichelte Serena.

Justin unterstützte den Vorschlag. „Es wäre hilfreich, wenn wir uns beim Namen nennen könnten.“

Sie nickte. „Also ich bin Vivien!“

Nun mussten alle der Reihe nach ihren Namen nennen, bis nur noch der Fremde übrig war.

„Und du erinnerst dich nicht an deinen Namen.“, sagte Ariane halb fragend.

Er antwortete trocken: „Mein Name ist geheim. So geheim, dass ich ihn selbst nicht kenne.“

Freudig strahlte Vivien ihn an. „Das ist es doch! Dein Name ist Geheim! So nennen wir dich ab jetzt! Geheim!“, schlug sie überzeugt vor.

Vitali mischte sich ein: „Wenn, dann auf Englisch! Also Secret.“, forderte er.

„Toll, du kannst die Grundbegriffe.“, spottete Serena.

„Wie ihr meint.“, entgegnete der Schwarzhaarige kurz.

„Wir könnten ihn auch Muskelprotz nennen.“, überlegte Vitali laut weiter.

Secret ging nicht auf seinen Kommentar ein. „Wir sollten uns wichtigeren Dingen zuwenden. Oder wollt ihr einfach auf gut Glück in das Labyrinth laufen und hoffen, dass ihr überlebt?“

Vivien lachte. „Bisher hat das ganz gut geklappt.“

Die anderen warfen ihr weniger überzeugte Blicke zu.

Justin wandte sich an Secret. „Was erwartet uns?“

„Wie gesagt, ich erinnere mich nur an Bruchstücke des Plans. Von Falltüren über aus der Wand schießende Spieße bis zu Steinkugeln, die einen bis zur nächsten Sackgasse verfolgen und zerquetschen, wird wohl alles dabei sein.“, informierte Secret sie.

„Ey, der Bau-Futzi hat sich wohl zu viele alte Filme reingezogen.“, spottete Vitali.

„Dass es nur einen Weg nach draußen gibt, wird die Sache nicht gerade erleichtern.“, war Justins Meinung.

„Und du bist sicher, dass das der einzige Weg nach draußen ist?“, erkundigte sich Ariane nochmals.

„Sagen wir so: Es ist der einzige, der von diesem Platz wegführt. Ob er nach draußen führt, was auch immer du darunter verstehst, ist nicht gesagt.“, antwortete Secret abgestumpft.

Serena wurde laut. „Kurz gesagt, setzen wir unser Leben aufs Spiel, um danach vielleicht sofort wieder den Schatthen in die Arme zu laufen?“

„Was haben wir denn für eine andere Wahl?“, hielt Ariane entgegen. „Wir können nicht für immer hier sitzen bleiben.“

Serena biss die Zähne zusammen. Sie wusste, dass Ariane Recht hatte, aber das machte die Sache nicht leichter.

„Es ist unsere einzige Chance.“, bekräftigte Justin.

„Und wenn wir sterben?“, rief Serena aufgebracht.

Vivien lächelte sie heiter an. „Das werden wir nicht.“

„Bist du total bescheuert? Es hätte eben schon nicht viel gefehlt! Wir laufen dem sicheren Tod entgegen! Du bist doch nicht mehr ganz richtig im Kopf!“, schrie Serena.

„Hör auf, sie zu beleidigen!“, ermahnte Justin sie. „Sie ist sich der Gefahren genauso bewusst wie du.“

Serenas eben noch zorniger Gesichtsausdruck wandelte sich jäh zu Verzweiflung. „Ich will nicht.“ Sie schluckte und kauerte sich zusammen. „Ich will einfach nur nach Hause.“ Tränen schimmerten in ihren Augen. „Ich will nicht sterben.“

„Du blöde Kuh!“, schrie Vitali plötzlich lautstark und sprang auf die Beine, das Gesicht abgewandt.

Ariane sah von einem zum anderen und wusste für einen Moment nicht, wie sie reagieren sollte. „He, ihr beiden –“

„Klappe!“, rief Vitali. „Sie führt sich immer auf, als wäre sie die einzige, die hier drin gefangen ist!“

Serenas Stimme wurde laut und schließlich schrill. „Entschuldige, dass ich nicht so toll und perfekt den Helden spielen kann wie du! Tut mir leid, dass ich sage, was ich fühle! Ich bitte um Verzeihung, dass du mich nicht ausstehen kannst!“

Vitali wirbelte zu ihr herum. „Halt die Luft an!“

Zorn schlug ihm aus ihrem Gesicht entgegen.

Plötzlich hielt Vitali ihr mit einem geradezu trotzigen Gesichtsausdruck die Hand hin. „Wir sind alle hier drin gefangen. Wir kommen alle hier raus!“

Serena starrte ihn an. Und reagierte nicht.

Vitali stand weiter da, ihr die Hand entgegenstreckend. Er spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen. Doch langsam wurde es peinlich. Serena machte nicht die geringsten Anstalten, nach seiner Hand zu greifen oder irgendetwas zu entgegnen. Diese …!

Auf einmal gesellte sich eine Hand zu seiner, allerdings nicht die von Serena.

Strahlend war Vivien aufgesprungen und hatte ihre Hand auf die seine gelegt.

„Alle für einen!“, rief sie euphorisch und lud mit ihren Blicken die anderen dazu ein, es ihr gleichzutun.

Ariane und Justin folgten ihrem Beispiel. Aus einem ihm unerfindlichen Grund ließ sogar Secret sich darauf ein. Nur noch Serenas Hand fehlte.

Sie stieß die Luft aus, als würde sie eine schwere Last loslassen, stand schließlich ebenfalls auf und legte ihre Hand auf die der anderen.

„Und einer für alle.“, beendete sie den berühmten Spruch.

Vivien verkündete feierlich: „Wir sind jetzt für immer die allerbesten besten Freunde und das heißt, dass uns gar nichts mehr passieren kann!“

„Du schließt ziemlich schnell Freundschaften.“, merkte Secret nüchtern an.

Serena spürte auf Viviens Worte hin ein kurzes Zusammenziehen in ihrer Brust, als wolle sich ihr Herz davor schützen. Aber dahinter war etwas anderes. Etwas, das sie nicht geglaubt hatte, wieder zulassen zu können.

„Los geht’s!“, grölte Vivien, als würden sie sich auf den Weg zu einem Fußballspiel machen, anstatt in ihr Verderben zu rennen.

Sie zogen ihre Hände zurück und machten sich mit langsamen Schritten auf zum Labyrinth.

Plötzlich wurde Secret schwarz vor Augen. Fast wäre er in sich zusammengeklappt. Schwer atmend ging er auf die Knie und schloss die Augen.

Was hatte das zu bedeuten?

Instinktiv fasste er sich an die Verletzung an seinem Oberarm.

Aber so viel Blut hatte er doch gar nicht verloren.

Arianes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Tut es sehr weh?“, fragte sie. Sie war neben ihm auf die Knie gegangen. Als sie sachte seinen Oberarm berührte, um die Wunde zu betrachten, zuckte Secret wie unter Hieben zusammen und riss seinen Arm schnell weg.

„Es ist nichts!“, rief er und fügte in ruhigerer Stimmlage hinzu „Lasst uns gehen.“ Dann stand er wieder auf und lief weiter.

Ariane stockte kurz. Sie baute sich wieder zu voller Größe auf und ging Secret hinterher. „Warte!“

Genervt blieb Secret stehen und drehte sich zu ihr um. „Was ist?“, fragte er abweisend. Statt eine Antwort zu geben, riss sie ihm kurzerhand die notdürftige Binde vom Arm.

„Hast du sie noch alle?!!“

Ariane reagierte nicht auf seinen tobsüchtigen Schrei, zu sehr war sie auf Secrets Wunde fixiert. Auch den übrigen blieb die Sicht darauf nicht erspart.

Die Verletzung an sich bestand nur aus zwei roten Kratzern, die nicht sehr tief waren. Jedoch sah der Bereich rundum so aus, als würde das Fleisch langsam faulen, was ihm eine fahle aschgraue Farbe verlieh. Unzählige pechschwarze Adern, die ihren Anfang ebenfalls bei den beiden Schnitten nahmen und die beängstigenderweise pulsierten, überwucherten seinen Oberarm und vervollständigten den erschreckenden Anblick.

„Was ist das!“, rief Vitali angeekelt.

„Es breitet sich immer weiter aus.“, äußerte Justin seine Befürchtung.

„Das ist nur eine Wunde.“, sagte Secret und entriss sich Arianes Griff.

Ariane ließ sich allerdings nicht so schnell abschütteln. „Nur eine Wunde?“

„Das geht euch nichts an.“

„Tut es sehr wohl!“, widersprach Ariane.

„Was willst du tun?“, fragte Secret herausfordernd.

Ariane atmete aus. Es gab hier keinen Arzt. Sie hatten kein Verbandszeug. Was also konnten sie tun?

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn wir hier raus sind, wirst du verarztet.“

Ob mit Wunde oder ohne, wenn sie sich jetzt nicht voll auf die ihnen bevorstehende Aufgabe konzentrierten, waren sie dem Untergang geweiht.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, auch wenn die fünf weiterhin ziemlich planlos durch die Gegend rennen müssen. Das haben sie eben von mir. ;D Erinnert mich einfach ans echte Leben. Da weiß ich meistens auch nicht, wo es lang geht und wieso und warum. Auch wenn es aus einer anderen, übergeordneten Perspektive oder rückblickend schließlich doch Sinn ergibt, hat man meist keine Ahnung, solange man noch mitten drin steckt.

In vielen Geschichten oder Filmen finden die Hauptcharaktere eigentlich ziemlich zu Anfang heraus, was ihre wahre Berufung ist, schließlich geht es dann darum, dementsprechend zu handeln, was dann der spannende Teil der Story ist. Meist wird ihnen das sogar von irgendwem anders mitgeteilt. Sie müssen also nicht mal selbst darauf kommen.
Im echten Leben muss man sich das dagegen selbst sagen. Und auch wenn man in manchen Momenten zu erahnen glaubt, was einen besonders macht und was man der Welt zu geben hat, ist da doch fast immer auch der Zweifel, ob man sich da nicht nur was vormacht.

Ich wünsche allen meinen Lesern den Mut, an sich selbst zu glauben. Besonders wenn ihr euch die meiste Zeit vorkommt, als würdet ihr nur hirnlos durch die Gegend rennen, ohne dass ihr wüsstet wieso. In Wirklichkeit wisst ihr, ihr seid besonders. Auch wenn es das Schwerste ist, daran zu glauben und sich nicht davor zu verstecken. Schlussendlich ist es das Lohnendste, wofür man sich im Leben entscheiden kann. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  CMH
2022-06-18T20:22:30+00:00 18.06.2022 22:22
Nun sind sie zu sechst, doch keinen Deut schlauer. 💚
Antwort von:  Regina_Regenbogen
18.06.2022 23:10
😂😂😂 Tja, Quantität ist nicht gleich Qualität.
Antwort von:  CMH
19.06.2022 21:40
Das stimmt! 🌞
Von:  totalwarANGEL
2020-06-05T23:04:01+00:00 06.06.2020 01:04
Secret gefällt mir. Ein Typ ohne Erinnerung mit böser Infektion und knappen, gleichgültigen Aussagen. Ich werde ihn aber nicht zu sehr mögen, denn der fällt bestimmt bald tot um...
Antwort von:  Regina_Regenbogen
06.06.2020 09:04
😂 Das freut mich.
Also tot umfallen, das wäre ja langweilig. Und ich finde, leben ist viel schwerer als sterben. 😉
Antwort von:  totalwarANGEL
06.06.2020 12:54
Na der hat eine ausgewachsene Sepsis. Ich glaube erst, dass die den wieder hinbekommen, wenn ich es lese. ;)


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