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Abseits der Wege

Eine kleine Vorweihnachtsgeschichte
von

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Inspiriert durch viele kleine Beobachtungen.

Alle Personen und deren Arbeits- und Wohnorte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten zu realen Personen rein zufällig (wirklich! Die Namen habe ich mir nach Gefühl ergoogelt). Sonstige Orte, Sehenwürdigkeiten und Ortschaften sind realen Vorbildern nachempfunden und/oder sind aus meinen persönlichen Erinnerungen wiedergegeben. Am Ende jedes Kapitels verlinke ich einige der genannten Orte/Merkmale, für alle, die sich gerne Fotos ansehen würden.

 

PS: Ich kann Eifeler Platt sprechen, solange ich mich aufrege und nicht nachdenke. Bewusst sprechen oder gar schreiben ist schwierig und nicht ganz akkurat. Man sehe es mir nach ;) Ganz korrekt müssten alle Personen Amir gegenüber sehr mundfaul oder gar mürrisch sein, um das Klischee zu erfüllen :P (ich hab euch lieb, ihr Ur-Monschauer, aber manchmal seid ihr echt 'Muffköppe')

 

 

~ 1 ~

 

„Scheiße!”

Frustriert trat Amir gegen den linken Vorderreifen seines Dienstwagens. Dieser hatte noch nicht einmal den Anstand, sich traurig im Kreis zu drehen, sondern blieb unbeeindruckt in seiner leicht vom Boden entfernten Position stehen. Amir hingegen bereute die Aktion im gleichen Moment, seine Lederslipper waren nun wirklich nicht dafür geeignet, Tritte gegen unbelebte Objekte auszuteilen. Belebte wohl auch nicht, doch den Drang, ein Lebewesen zu treten, hatte er zum Glück noch nie besessen. Wo er schon über seine Kleidung nachdachte: Anzughose und Jackett waren auch nicht für diese Witterung gemacht.

Warum um alles in der Welt hatte er auch dem Navi vertrauen müssen und sich auf seiner Rückfahrt von seiner potentiellen neuen Arbeitsstelle zum Hotel am Arsch von Timbuktu umleiten lassen? Ein bis zwei Stunden Stau wegen liegengebliebener LKWs erschienen ihm im Nachhinein deutlich verlockender, als seine aktuelle Situation. Gestrandet irgendwo im Nirgendwo. Allein auf weiter Flur, im wortwörtlichen Sinne. Bei seinem Glück befand er sich nicht einmal auf deutschem Boden, das rettende Schild seines Heimatlandes hatte er bislang nicht bewusst passiert. Er musste sich ja nicht einfach nur auf einen Umweg einlassen, nein, sein Umweg musste ihn über ein Land führen, das er nur wegen viereckigen Waffeln, teurer Schokolade und dicken Fritten kannte!

„Fuck!”, brüllte er seinen Frust in die licht bewaldete Fläche hinaus. Für einen Moment meinte er, immerhin ein Echo zu hören, doch das Geräusch wurde lauter, statt leiser. Er sah sich um. Da oben, an der Hügelkuppe, mit der gefühlt einzigen, dafür aber direkt rechtwinkligen Kurve auf dieser gottverdammten Straße im gottverlassenen Niemandsland, kam tatsächlich ein Fahrzeug angerauscht. Nicht irgendein Fahrzeug. Ein Monster von einem fahrbaren Untersatz!

Amir schluckte und machte respektvoll einige Schritte auf seinen Wagen zu, um dem riesigen Traktor Platz zu machen. Durften so Monster einfach so auf der Straße fahren? Noch dazu auf so schmalen?

Das bedrohliche Dröhnen wurde lauter, doch anstatt ihn zu umrunden und ihn seinem Schicksal zu überlassen, hielt der oder die Fahrer:in neben ihm. Etwas leiser, aber immer noch beeindruckend, ratterte der leistungsstarke Motor direkt vor ihm weiter. Wie viel PS der wohl hatte? Ach du Schande, der hintere Reifen war ja fast so groß, wie er selbst und das war mit 1,83m nicht wirklich klein. Dagegen sah sein BMW mit den Sportfelgen aus wie Kinderspielzeug. Gut, in seiner derzeitigen Position machte das Auto so oder so einen ziemlich lächerlichen Eindruck, wie es da leicht schief neben der Straße hing, einen Reifen in die Luft erhoben, als wolle es sich ergeben.

„Wat hamse'n da jemaaht?”, fragte eine brummige, tiefe Stimme.

Erschrocken riss Amir den Blick von dem grünen Ungetüm los und sah zu dem Mann, der um die Motorhaube herum auf ihn zugekommen war. Er hatte einen alten, mürrischen Bauern erwartet, nicht etwa einen Typen in seinem Alter, so Anfang, Mitte Dreißig. Dunkelblonde Strähnen schauten frech unter einer abgewetzten dunkelgrünen Kappe hervor, die mehr in den Sommer als in den tiefsten Winter gepasst hätte. Die Wangen unter dem Dreitagebart begannen sich in der Kälte rot zu verfärben, doch der Mann machte keine Anstalten, seine graue Jacke über der ebenfalls grünen Arbeitshose und dem kleinen Wohlstandsbauch zu schließen. Die dunklen Augen fixierten kurz fragend sein Gesicht, dann schwenkten sie wieder mit kritischem Blick zum BMW.

Amir riss seinen Blick los und betrachtete nun ebenfalls wieder sein Auto. Die Hinterreifen im Graben, die Schnauze leicht erhöht noch halb auf Straßenniveau, machte der protzige Wagen einen wirklich jämmerlichen Eindruck. Ein schwarzer Schandfleck inmitten von mehr oder weniger weißem Schnee.

„Dat soll wohl net janz richtig so sein, hm?” Der Fremde grinst ihn an. „Touri, wa?”

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er den letzten Schritt auf das Auto zu, besah sich dessen Position, blickte kurz unter den Wagen, soweit es möglich war und unterzog anschließend den verfluchten linken Vorderreifen einer eingehenden Untersuchung, ehe er seufzend den Kopf schüttelte.

„Allwetterreifen. Taugen nix, können se knicke.” Der Blonde sah wieder zu Amir. „Soll ich se rausziehn?”

„Äh... geht das denn?” Die ersten Worte, die er sprach, seit seinen hinausgebrüllten Flüchen.

„Sicher.” Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern als wäre das völlig normal und ging wieder um den Traktor herum. Neugierig folgte Amir ihm und sah zu, wie dieser im Inneren der Fahrerkabine etwa auf Kopfhöhe von ihm selbst nach massiven Ketten mit riesigen Haken kramte. „Ich kann Sie da hinten zu einem Parkplatz ziehen, dann sind Sie auch wieder auf deutscher Seite. Hier auf der belgischen ist blöd festzuhängen, für die paar hundert Meter Ausland berechnen die Schweine im Notfall direkt wieder richtig Kohle.”

Erleichtert registrierte Amir den Umschwung von regionalem Dialekt in klares Hochdeutsch. Hätte man ihn gefragt, er hätte nicht alles bisher Gesagte wiedergeben können.

„Das ist wirklich nett von Ihnen.” Er unterdrückte die aufkommende Hoffnung, noch war es zu früh zum Aufatmen. Sein Navi hatte vor seinem unfreiwilligen Abgang von der Straße zwar nur noch knapp zehn Minuten Fahrt vorausgesagt, doch zehn Minuten Autofahrt waren hier auf dem Land garantiert mehrere Stunden Fußweg.

„Passt scho'”, meinte der Fremde, ein ehrliches Lächeln auf den Lippen, welches sein ganzes Gesicht erhellte. Routiniert ging er wieder zum Wagen, pulte die kleine Kappe vorne rechts ab und schraubte eine kurze Metallstange mit einer Öse am Ende ein. Amir würde nicht zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie man ein Auto abschleppte und für diese Handgriffe wohl eine gute Viertelstunde gebraucht hätte. Und eine Anleitung. Die Kette wurde erst am Auto und dann einer mit Löchern versehenen Querstange zwischen den bedrohlichen Hinterreifen des Traktors eingehängt. Er hatte keinerlei Ahnung, wozu all diese Hebel, Kabel, Stecker und Haken gedacht waren, die sich ebenfalls dort befanden. Außer als Kind auf einem Erlebnisbauernhof beim Geburtstag eines Kindergartenfreundes war er überhaupt noch nie näher als mehrere hundert Meter an einen Traktor herangekommen und seiner persönlichen Meinung nach hätte das auch gerne so bleiben können. Mit Ausnahme der jetzigen Situation, dankbar war er jetzt schon, so war das nicht.

Der andere Mann wandte sich wieder an ihn. „Ich zieh das Auto erstmal auf die Straße hoch. Wenn es halbwegs heil ist, steigen Sie ein, starten den Motor und lassen sich bis zum Parkplatz ziehen. Okay?”

„Wunderbar.” Auch Amir versuchte sich an einem Lächeln, wusste aber, dass es schief geriet. Ob es wirklich so eine gute Idee war, diesem bäuerlichen Kerl sein Firmenauto anzuvertrauen? Ihm kamen plötzlich doch gehörige Zweifel, aber nun schien es zu spät für einen Einspruch.

Der Fremde stieg wieder über die kurze Treppe in sein Monstrum und begann langsam die Kette auf Spannung zu bringen. Amir hatte keine Lust zuzusehen und am Ende noch hysterisch zu werden. Der Fremde machte einen kompetenten Eindruck, das musste reichen. Stattdessen ließ er seine Umgebung auf sich wirken, weg von dem beunruhigendem Spektakel Eigentlich sehr friedlich, wäre er nicht durch ein unbedachtes Manöver von der schneebedeckten Fahrbahn abgekommen. Knorrige Bäume erhoben sich aus den welligen Schneemassen, aus denen hier und da noch lange Grashalme nach Freiheit strebten. Feuchte oder gar komplett dunkle Stellen zeigten die heimtückischen Stellen, an denen sich trügerisch stille Gewässer befanden. Eingeschneite Holzstege führten über diese Gebiete und schützten Wanderer vor dem sicheren Tod. Naja, zumindest war Amir davon überzeugt, dass das Betreten des Moores sofort und unwiederbringlich tödlich endete. Dass das hier der Beginn der Moorlandschaft im Naturschtzgebiet 'Hohes Venn' war, wusste er auch nur Dank einer Internetrecherche während einer langweiligen Konferenz. Wirklich naturbegeistert war er nicht, sein Großstadtleben gefiel ihm doch ganz gut.

Die Karosserie protestierte ächzend in seinem Rücken, es schabte und kratzte, dann nur noch das Knirschen der Reifen im Schnee. Mit einem unguten Gefühl drehte er sich zurück. Sein Auto stand wieder fest auf der Straße, es gab keine Ölspuren im dreckigen Weiß und es lagen keine Autoteile verstreut. Eine gute erste Bilanz und so ziemlich das Einzige, was er als Laie beurteilen konnte.

Der Blonde hüpfte behände aus seiner Kabine und kam nach hinten, zusammen umrundeten sie einmal das Unfallopfer.

„Bisschen Blechschaden hinten rechts. Sonst scheint's okay zu sein, oder was meinen Sie?” Fragend blickten ihn die grauen Augen unter dem Kappenschrim an.

Er zuckte zweifelnd die Achseln. „Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung von Autos.”

Sie sahen sich an und lachten. In was für eine skurrile Situation er sich jetzt schon wieder gebracht hatte. Es war befreiend. Der Fremde hatte ein schönes Lachen, es klang ehrlich, ungekünstelt, ein bisschen zu laut und bellend, um perfekt zu sein.

„Alles klar. Also, ab zum Parkplatz. Ist nicht weit, nur über die Kuppe da vorne. Dann schau'n wir weiter.”

Er erklärt mir netterweise noch, wie er sich zu verhalten habe – und wie nicht.

In etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit wurde er in seinem Wagen über die Straße gezogen, immer wieder geht ein Ruck durch ihn hindurch, wenn die Kette kurz an Spannung verlor. Es war ein beängstigendes Gefühl, so sehr der großen Maschine vor sich ausgeliefert zu sein, die ihn zog, ob er jetzt die Bremse trat oder nicht. Und ja, er hatte es aus Reflex versucht. Seine Reifen würden es ihm nicht danken, selbst wenn sie auf dem Schnee keinen Halt fanden.

Sie umrundeten eine mittige Verkehrsinsel, in dessen Zentrum eine vermutlich metallene Statue eines Mannes mit einem Sack über der Schulter und einer sehr stofflichen Weihnachtsmütze neben einem Felsen stand. Ein skurriler Anblick. Ein viel willkommenerer Anblick waren dagegen die Wohnhäuser, die jetzt vor ihm auftauchten. Sein netter Helfer setzte den Blinker und zog ihn rechts auf einen kleinen Parkplatz.

Ein paar Minuten später war sein Auto geparkt, was genau es jedoch hatte und ob er gefahrlos weiterfahren könnte, nicht. Gestrandet in der tiefsten Pampa, irgendwo im Nirgenwo. Er wünschte sich dringend in die Stadt zurück. Ausflüge aufs Land hatten noch nie auf seiner Prioritätenliste weit oben gestanden, Geschäftsreise hin oder her. Doch nun stand er hier, mit einem eventuell fahruntüchtigen Auto, in der Kälte, am Rande eines hinterwälderischen Dorfes und seine einzige Hilfe war ein Bauer.

Amir seufzte resigniert, die Hände in die Seiten gestemmt. „Bockmist.”

Der blonde Mann neben ihm brummte zustimmend. „Wohin woll'nse denn überhaupt?”

„Zum Glück nicht mehr weit. Ich wohne im Fuchs. Laut Navi knapp zehn Minuten.”

„Ah, der Fuchs. Ja, ist nicht weit, nur ein Dorf weiter. Immerhin.” Er schien zu überlegen. „Müssen Sie denn zu einer Markenwerkstatt?”

„Keine Ahnung. Ich denke aber nicht. Warum?”

„Hm. Hier im Ort gibt es eine freie Werkstatt. Die könnten sich den Wagen sicher holen und mal durchchecken. Und die haben Leihwagen, normalerweise. Bisschen kurzfristig jetzt, aber fragen könn' wir ja mal.”

„Das wäre wirklich super!” Erleichtert atmete Amir auf.

„Dann einmal einsteigen bitte.” Unerhört munter wurde ihm die Tür zum Traktor aufgehalten und sein ungläubiger Gesichtsausdruck mit einem leisen Lachen quittiert. „Sie können auch laufen, aber das ist ein gutes Stück. Und würde ich in Ihren Klamotten auch nicht empfehlen.” Vielsagend glitt sein Blick zu den wetteruntauglichen Lederschuhen und der schwarzen Anzughose, deren Saum sich bereits mit eisigem Wasser vollgesogen hatte.

Immer noch skeptisch trat Amir einen Schritt näher. Zwei Metallstufen führten nach oben und er ergriff tapfer den Haltegriff und zog sich hoch. Zunächst sah er nur den großen Sitz in der Mitte, doch der konnte es schlecht sein. Auf einen Hinweis hin erkannte er dann schräg dahinter eine weitere Sitzgelegenheit, die nicht annähernd so viel Komfort aufwies, aber er würde sich nicht beschweren. Er bekam einen Schal als provisorischen Staubschutz, machte es sich soweit möglich bequem und sah zu, wie sich sein Retter behände auf den stark federnden Sitz schwang und mit geübten Griffen die richtigen Knöpfe und Hebel auf dem Schaltpult bediente. Ein paar mehr und es hätte als Flugzeugcockpit durchgehen können. Als Bauer musste man mehr auf dem Kasten haben, als Amir vermutet hätte. Er zuckte unmerklich zusammen und könnte sich für seine eigenen blöden Gedanken schlagen. Völlig egal, ob sein Retter im Kopf eine Füllung hatte, die an seine strohblonden Haare heranreichte oder ob er ein verkannter Einstein war, der nie die Chance zum Aufstieg gehabt hatte: Er war und blieb seine einzige Hoffnung.

Die Tür schlug zu und der Motorenlärm wurde augenblicklich deutlich leiser. Sie setzten sich in Bewegung, begleitet von fröhlichem Weihnachtsgedudel aus dem Radio. Vorbei an eingeschneiten Häusern unterschiedlichster Baustile. Menschen mit Schneeschaufeln und Fräsen, die routiniert ihre Einfahrten räumten. Ein weiterer Traktor kam ihnen entgegen, die kleinen Fähnchen auf dem riesigen Schneepflug flatterten begeistert, während das weiße Zeug unter lautem Dröhnen in einer Fontäne auf die Seite geworfen wurde.

„Na super, den hätte ich früher gebrauchen können”, grummelte Amir in seinen nicht vorhandenen Bart.

„Der fährt eh nur bis zur Grenze”, gluckste sein Fahrer. „Ohnehin hat jeder so sein Gebiet.”

Er antwortete mit einem verstehenden Brummen, auch wenn er nicht wirklich verstand. War ihm auch egal.

Froh, dass der Traktor mit der ungeräumten Fahrbahn keinerlei Probleme zu haben schien, löste er langsam seinen verkrampften Griff um die kleine Haltestange und konzentrierte sich aus Mangel an Alternativen auf seine Umgebung. Hecke, Hecke, Schnee, Hecke, Zaun, Lebensmittelladen, Sparkasse, Hecke, Kirche mit bunter Fahne, Schnee- Moment! Er drehte ungläubig den Kopf zurück und konnte gerade noch einen zweiten Blick auf die stark ausgeblichene Regenbogenfahne erwischen, die ausgerechnet an den Mauern einer Kirche befestigt war. Was zum...? Das war nun wirklich unerwartet. Seine Erwartung wäre eher, dass die Bevölkerung hier mit Fackeln und Mistgabeln loszog, sollte sich einer der Anwohner erdreisten so ein Symbol an das eigene Haus zu hängen. Die waren hier noch verrückter, als er ohnehin befürchtet hatte. Ob auf gute oder schlechte Weise, wusste er noch nicht.

Sie fuhren ein paar Seitenstraßen entlang, dann bog sein Fahrer in eine Einfahrt voller Autos ein. Große Tore mit Fenstern gaben den Blick ins Innere einer Werkstatt mit mehreren Hebebühnen frei.

Der Motorenlärm erstarb. „Wir sind da”, verkündete der Blonde unnötigerweise.

Sie stiegen in umgekehrter Reihenfolge aus, Amir deutlich weniger elegant, aber froh, dem beständigen Vibrieren eine Weile zu entkommen. Traktoren waren nicht für Beifahrer gemacht, soviel wusste er jetzt.

Aus dem Gebäude kam ihnen ein weiterer Mann unbestimmten Alters entgegen. „Jakob, was verschlägt dich denn hier her?” Sein Dialekt war nur leicht hörbar. Die ölverschmierten Hände wischte er sich an einem Lappen ab, der anschließend in der Brusttasche seines Overalls verschwand.

„Für mich nicht viel”, antwortete der Mann neben ihm, der offensichtlich Jakob hieß. Dass Amir sich nicht längst vorgestellt hatte, war ihm jetzt doch etwas unangenehm. „Den Herrn hier hat's in den Graben verschlagen. Hab ihn rausgeholt und oben am Zoll abgestellt. Bisschen Blechschaden hadder, aber wir wissen nich' ob noch mehr dran is'.”

Amir wurde erneut kritisch gemustert. Der Mechatroniker zog vielsagend die Brauen hoch, verkniff sich aber was er wirklich zu denken schien. „Soll ich ihn mir mal ansehen?”

„Das wäre wirklich nett von Ihnen.” Amir lächelte möglichst freundlich-geschäftlich. Er war wirklich froh um jede Hilfe, die er grade bekam, wollte aber auch nicht weiter das hilflose Städterchen sein. Er war theoretisch auf dem besten Weg zum Abteilungsleiter eines mittelständischen Konzerns verdammt. Kein kleines Dummchen.

„Alles klar. Ich hol den Wagen, sobald die Straße frei ist. Brauchen Sie einen Ersatz? Ach, kommen Sie kurz rein, dann machen wir das richtig.”

 

Einige Minuten später standen Amir und Jakob wieder vor dem Traktor, an dessen Anwesenheit niemand etwas Besonderes zu finden schien, auch wenn er den kleinen Hof ziemlich blockierte. Was in Amirs Heimat Berlin eine riesige Attraktion wäre, gehörte hier vermutlich zum täglichen Anblick.

Er hatte noch keinen Ersatzwagen, der nächste würde erst am späten Nachmittag wieder frei werden. Einer der Angestellten würde ihn zu seinem Hotel bringen, wurde ihm versprochen. Mit seiner Firma hatte er den Vorfall ebenfalls bereits besprochen und der Werkstatt einen offiziellen Auftrag erteilen dürfen. Sicher war sicher.

Er atmete tief durch, dem Dampf seines kondensierten Atem nachsehend.

„Soll ich Sie zum Hotel bringen?”, riss Jakob ihn aus seinen Gedanken.

„Ich will Ihre Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren”, entgegnete Amir, doch an seiner Stimmlage konnten sie beide erkennen, dass er sicher nicht offen ablehnen würde. Was bliebe ihm auch übrig? Hier draußen gab es garantiert keine Taxis und nach Bussen traute er sich erst gar nicht zu fragen. Die Witze über dreimal am Tag fahrende Öffis kannte er schließlich selbst.

„Kein Ding.” Jakob zuckte mit den Schultern. „Muss eh in die ungefähre Richtung. Und hier stehen lassen will ich Sie auch nicht.” Bildete Amir sich das Zwinkern nur ein? Garantiert.

„Danke.” Sicherheitshalber klopfte er noch einmal seine Taschen ab. Handy und Geldbörse waren da, seine Aktentasche lag im Hotelzimmer. Für den heutigen Besuch seiner eventuellen neuen Abteilung hatte er sie nicht mitgenommen um ja nicht in Versuchung zu geraten, diesen informellen Besuch in ein geschäftliches Treffen zu verwandeln.

Sie stiegen wieder in das landwirtschaftliche Arbeitsgefährt. Eigentlich war es für seinen Verwendungszweck recht sauber und die enthaltenen Dinge aufgeräumt und in ordentliche Fächer und Kisten verstaut. Er hatte sich nie Gedanken darum gemacht, wie ein Traktor von innen aussah und war nach wie vor über den Komfort (für den Fahrer) und die erstaunliche Anzahl an Hebeln und Knöpfen verblüfft.

Schweigend fuhren sie über eine schmale Straße aus dem Ort hinaus, nicht ohne tatsächlich noch an einem Privathaus mit Regenbogenflagge vorbeizukommen. Amir hatte beschlossen, sich für den Rest des Tages einfach über gar nichts mehr zu wundern, dafür brach die Erschöpfung zu schlagartig über ihn herein. Die Straße, nur ein schmaler geteerter Weg, kaum breit genug für zwei Autos, wand sich durch einen kleinen Wald, in dem vereinzelt Gebäude und Gehöfte auftauchten. Kühe und Schafe grasten unbekümmert über die schneebedeckten Wiesen und sahen nicht selten selbst aus, wie wandelnde Schneehaufen. Ein paar Kurven später kamen sie in ein weiteres Dorf, das sich wieder ein gelbes Ortsschild verdient hatte. Die Hauptstraße erkannte Amir vom Vortag wieder, sie waren tatsächlich richtig und sein warmes Hotelzimmer mit Dusche und Bett nicht mehr fern.

„Sie waren wirklich meine Rettung”, bedankte er sich vor dem Gasthaus mit integriertem Hotel.

„Ach, kein Ding.” Jakob zuckte wieder auf diese nonchalante Art mit den Schultern.

„Ja klar”, antwortete Amir sarkastisch schnaubend. „Sie haben sicherlich besseres zu tun, als Autos aus Gräben zu ziehen und Reisende durch die Gegend zu fahren.” Verdammt, er könnte sich in den Hintern treten. Das hatte nicht sehr nett geklungen. „Entschuldigung.” Er fuhr sich mit der linken Hand durch die fingerlangen Haare.

„Schon okay, heute hatte ich wirklich nicht mehr viel vor. Nur Tiere füttern.” Der Blonde grinste schief, kleine Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen. „Außerdem hatte ich heute noch keine gute Tat erfüllt.”

„Die hatte ich heute auch noch nicht und ich glaube, so viel Zeit bleibt mir auch nicht mehr. Kann ich Ihnen irgendwie danken? Sie vielleicht auf einen Drink oder so einladen? Ein Essen?”, fragte Amir, einem Bauchgefühl folgend und deutete über die Schulter Richtung Restaurant. Den anderen einfach so fahren zu lassen, kam ihm nicht richtig vor. Natürlich nur, weil der ihm geholfen hatte.

Jakob schaute ihn perplex an und war über sein promptes „Gern” wohl ebenso überrascht, wie Amir über seine Einladung.

„Ähm... ja, gut. Dann... passt es heute Abend?”

„Ich- Ja. So um 20Uhr?”

„Super. Ach und: Ich bin übrigens Amir. Amir Kahveci.” Er streckte seinem Helfer die Hand hin und holte die längst überfällige Vorstellung nach.

„Jakob Theissen”, sagte er und ergriff seine Hand zu einem angenehm festen Händedruck. Seine Handflächen waren rau und man merkte ihnen die harte körperliche Arbeit an, die Amirs eigenen Fingern gänzlich unbekannt war. Es war nicht so unangenehm, wie er gedacht hatte.

 

 

~*~

 

- Nationalpark Eifel, Hohes Venn, Brackvenn an der N67 (BE) bzw. L214 (DE)

(Funfact: Die Straße hieß früher in der Gegen nur 'Highway to Hell'; es gab irgendwann sogar Schilder damit. Warum? Fahrt mal kilometerweit über eine ehemalige Panzerstraße aus defekten Betonplatten, Schlaglöchern und nahezu keiner Kurve ;) )

- 'Der Schmuggler' in Mützenich

- Und ja, an der Kirche hing tatsächlich eine Regenbogenfahne, mit dem Spruch „Bei uns sind alle willkommen” und kleinen Symbolen für diverse Partnerschaften, Trans* usw. Inzwischen gibt es sie leider nicht mehr, nach etwa 2 Jahren Dauereinsatz haben Sonne und Wetter ihren Tribut gefordert.

 

 

 



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