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Die Kinder von Captain Waylon

Die Geschichte von Sabrina und Berthold
von

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Der Untergang der Golden Whale

„Alle über Bord! Dies ist ein Befehl!“
 

Der Ozean glich einem Flammenmehr. Das Feuer loderte und fraß sich satt am Holz des Schiffes, welches es wild züngelnd erobert hatte. Die salzige Meeresluft vermischte sich mit dem Geruch von Asche.

Der Captain des Schiffes wusste, dass es für sein geliebtes Schiff Golden Whale keine Hoffnung mehr gab. Seine Zeit war gekommen. Der mittlere Mast gab ein erschreckendes Geräusch von sich, er knackte und knirschte. Bald würde er nicht mehr stand halten können. Kanonen wurden immer noch abgefeuert, die Schüsse pfiffen scharf durch die Nacht und trafen direkt in die Mitte. Der dicke Mast brach. Krachend fiel er auf die Reling und hinterließ einen gewaltigen Schaden. Der Captain konnte gerade noch seine beiden Kinder, einen Jungen mit einem kleinen Mädchen, aus der Schusslinie werfen, indem er sich auf den Boden schmiss und die beiden Piratensprösslinge mit voller Kraft von sich wegschubste. Dabei verfehlte ihn der gewaltige Balken nur knapp.

„Vater, Vater! Vater, geht es dir gut?“

Der alte Mann mit den grauen Haaren und dem schwarzen Mantel, welcher nun von Sägespänen bedeckt und von oben bis unten klitschnass war, kroch unter dem Balken hervor und schrie seinen Sohn an.

„Berthold! Geh aus der Schusslinie, verdammt!“

Der Junge, Berthold war sein Name, dachte aber nicht daran. Er eilte zurück und zog seinen Vater mit aller Kraft unter dem Balken hervor. Doch er war zu klein, seine Kraft reichte nicht aus, seinen Vater auf die Beine zu bekommen. Der Captain raffte sich selbst mit all seiner letzten Kragt auf, ehe er sich wieder ducken musste und seinen Sohn an sich drückte, um ihn vor einer weiteren Kugel zu schützen.

"Diese verdammte Royal Navy“, knurrte er. "Sie machen Ihrem Ruf wirklich alle Ehre."

Die Männer der restlichen Crew waren bereits alle von Bord gekommen, nur der Captain und seine Kinder waren noch hier. Als Captain würde er an Bord bleiben, so verlangte es der Kodex. Das galt aber nicht für seine beiden Kinder. Das Weinen des kleinen Mädchens lies des Vaters Herz schwer werden, denn auch ein Pirat hatte Angst um seine eigenen Kinder und würde alles tuen, um sie zu beschützen. Er sah sich um und entdeckte, was er suchte. Eine riesige schwere Truhe. Schnell hastete er darauf zu, öffnete sie und leerte den gesamten Inhalt in wenigen Sekunden aus. Goldmünzen, silberne Kelche, Ketten, Ringe, edle Seide, alles was sie erbeutet hatten flog von dannen. Der Schatz war jetzt unwichtig, er sollte auf dem Meeresboden landen. Doch seine Kinder, die würde der Ozean nicht bekommen. Nicht, solange er noch lebte.

„Vater, was machst du denn da?“, protestierte Berthold, der in seinen jungen Jahren nichts davon verstand. Sein Vater stand auf und nahm seinen Sohn fest bei den Schultern.

„Mein Junge, du musst jetzt tuen, was ich dir sage. Hast du mich verstanden?“

„Aber Vater, ich-„

"Hast du mich verstanden, Berthold?!“

Er wurde ungehalten. Berthold nickte schnell, denn er erkannte, wie ernst die  Lage war. Sein Vater machte keinen Spaß.

„Du musst deine Schwester nehmen und von hier verschwinden, so schnell es geht. Schau nicht zurück, komm auch nicht zurück. Nur ihr zählt jetzt, pass auf sie auf, dass ihr nichts passiert. Und pass auf dich auf. Du bist jetzt für euch verantwortlich. Versprichst du mir das?“

Berthold ballte seinen kleinen Fäuste und nickte fest entschlossen.

"Aye, Vater."

Die Flammen loderten immer wilder und gieriger und das Schiff machte einen gefährlichen Ton. In wenigen Minuten würde das leichte Wiegen in den Wellen dafür sorgen, dass sie in Schieflage gerieten. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Blieben sie weiter an Bord, würde entweder das Feuer sie erfassen oder sie würden sinken und das Monstrum würde sie mit auf den Meeresgrund ziehen. Berthold und sein Vater nahmen das kleine weinende Mädchen an die Hand und steckten sie in die Kiste. Der Vater nahm noch ein letztes Mal die kleine zierliche Hand in seine große. Mühevoll hielt er seine Tränen zurück.

„Mein kleiner Meeresteufel“, begann er zärtlich und strich dem Mädchen das rote Haar aus dem Gesicht, damit sie sich ein wenig beruhigte. „Du musst mir versprechen, dass du ab jetzt auf alles hörst, was dein Bruder dir sagt.“

Das kleine Mädchen nickte und zog die Lippen zusammen.Er nahm ein letztes Mal ihren Kopf zwischen seine großen Hände und küsste ihren Scheitel.

„Ich liebe euch beide. Und jetzt rasch.“

"Bleib unten, ich schließe jetzt den Deckel“, sagte Berthold zu seiner Schwester.

Er schloss den Deckel der Kiste. Leise hörte er es noch wimmern und es brach ihm das Herz. Zusammen mit seinem Vater schmiss er die Kiste ins Wasser. Sie landete mit einem gewalteschen PLATSCH und schwamm dann ruhig auf der Oderfläche.

„Jetzt bist du an der Reihe, Berthold. Spring hinterher“, befahl sein Vater. „Haltet euch versteckt, kommt der Navy nicht zu nahe. Und geht nicht in Port Royal an Land.“

„Aye, Vater“, sagte Bertold. „Aber du kommst hinterher?“

Der Captain schwieg, unmöglich konnte er seinem Sohn sagen, dass er vorhatte, mit seinem Schiff gemeinsam unterzugehen. Stattdessen lächelte er. Es war kein ermutigendes Lächeln. Es war eines, was deutlich sagte: Ich wünschte ich könnte es.

„Geh jetzt, mein Junge.“

„Aber Vater…“

Der Captain schubste seinen Sohn von der Reling. Berthold fiel ins Wasser. Er schloss die Augen, als er merkte, dass er untertauchen würde, um seine Augen vor dem Salz zu schützen. Instinktiv breitete der Junge seine Arme aus, als es platschte und er am Druck an den Ohren spürte, wie er unter Wasser sank. Er kämpfte sich an die Oberfläche, schnappte Luft und sah sich zu allen Seiten um. Viele Überreste des Schiffs, Holzplanken, seidene Stoffe, ein Dreispitz. Berthold nahm sich den Dreispitz, setzte ihn sich auf den Kopf und schwamm dann zur Kiste, wo seine Schwester drin war.

„Alles ist gut“, flüsterte er. „Jetzt bin ich da. Ich bin bei dir. Ich lass dich nicht alleine.“

Er kletterte auf die Kiste und ließ sich mit ihr treiben. Hilflos sah er mit an, wie die Golden Whale in der Mitte auseinanderbrach und langsam im Ozean versank. Brennend, mit zerrissenen Segeln, ein einst so majestätisches Schiff, nun war es nur noch ein weiteres Wrack. Im dichten Nebel erkannte er die Silhouette der Interceptor. Wie ein dunkles Gespenst verschwand es dort im Nebel. Erschöpft klammerte er sich an der Kiste fest. Die Wellen trieben sie hinaus auf den weiten Ozean.
 

Berthold musste auf dem Weg eingeschlafen sein, denn als er erwachte, befand er sich nicht mehr im Ozean. Er lag an einem weißen Strand. Die Sonne weckte ihn sanft und überall an seinem nassen Körper klebten unzählige kleine Sandkörner und Algen. Langsam kam er wieder zu sich, schreckte aber auf. Er tastete nach der Kiste. Die Kiste! Seine Schwester! Er musste sie verloren haben.

„NEIIIIN!!!!!“, schrie er.

Er hechtete noch etwas benommen durch den Sand. Palmen wuchsen hier, rechts waren riesige Gebäude, sowie ein Steg. Er war an eine Stadt angespült worden, so wie es aussah. Doch das war Berthold gerade egal. Wo war die Kiste? Eine Menschentraube befand sich nicht weit von ihm. Da waren Männer in lauter roten und blauen Uniformen, alle hatten sie weißblonde Perücken und trugen Dreispitze, so wie Berthold. Er brauchte nicht lange, um 1 und 1 zusammenzuzählen. Er war in Port Royal. Genau dort, wo sie nicht hinsollten. Flink versteckte er sich hinter einer Kiste und beobachtete das Geschehen. Die Soldaten trugen ihre Waffen bei sich, große Gewehre und an ihren Gürteln steckten selbstverständlich Schwerter. Sie waren bestens ausgerüstet.

„Was soll denn dieser Aufruhr?“

Lieutenant James Norrington kam mit seinen Gefolgsleuten und seiner Schwester Sarah nur schwer durch die Menschenansammlung hindurch. Die Soldaten mussten eingreifen und ihrem Befehlsgeber einen Weg bahnen, was gar nicht so einfach war. Die Bürger von Port Royal waren schaulustig, wenn etwas seltsames passierte. Und ein kleines Kind in einer Kiste war mehr als seltsam. Berthold zitterte. Nein, sie würden seine Schwester töten. Er musste etwas unternehmen. Er konnte nicht hier sitzen und nur zuschauen.

„In dieser Kiste ist ein Mädchen.“

„Sie ist bewusstlos.“

„Sie ist ganz alleine.“

Norrington hockte sich zu der bewusstlosen Kleinen. Sarah stand dicht hinter ihm, dicht hinter ihr zwei andere Frauen in edlen Kleidern.

„Sie lebt?“, fragte Sarah voller Sorge.

„Scheint so“, entgegnete Norrington und legte seinen Finger an ihr kleines Ärmchen, um den Puls zu erfühlen. Es schlug, Gott sei Dank! Doch da war noch etwas anderes, was Norringtons Aufmerksamkeit erregte. Er krempelte den nassen Ärmel hoch und entdeckte ein Tattoo auf der Innenseite des Arms.

„Die Mondsichel“, knurrte er ungehalten. „Dachte ich es mir doch, Pirat.“

Ein Raunen ging durch die Menge. Alle begannen, leise zu tuscheln.

Was würde Norrington jetzt tuen?

Jeder, der ein Pirat war oder in Verbindung zu einem Stand, auf den wartete in Port Royal der Galgen. Aber galt das auch für ein kleines unschuldiges Mädchen, welches vielleicht gerade mal drei Jahre zählte? Berthold juckte es in den Fingerspitzen. Er suchte nach einem geeigneten Gegenstand, den er als Waffe benutzen konnte. Er war gerade mal junge neun, große Chancen hatte er nicht, er wie sollte er auch mit ausgewachsenen Soldaten alleine fertig werden? Gerade, als er sich entschied, loszustürmen, da erhob die edle Frau mit den schwarzen Haaren das Wort.

„Bruderherz, sie ist noch ein Kind.“

"Du kennst das Gesetz, Sarah. Egal, wie alt oder welches Geschlecht, jeder der mit der Piraterie in Verbindung steht, muss seine gerechte Strafe erhalten.“

„Das werde ich nicht zulassen, James."

Die Frau stellte sich gegen ihren Bruder, oder eher gesagt, gegen das Gesetz.

„Wenn du sie in diesem Alter in den Kerker steckst, bedeutet das für sie lebenslänglich. Sieh sie dir doch an, sie ist unschuldig. Was hat sie in ihrem Alter schon so schreckliches getan? Sie verdient eine Chance.“

„Auch der winzigste Hai hat ein scharfes Gebiss“, kam es nur von James. „Geh beiseite, ich wiederhole mich nicht noch einmal.“

"Nein“, kam es von Sarah. Sie wich nicht von der Stelle, sie blieb standhaft. Sie starrte ihren Bruder an, der starrte ebenso zurück. So standen sie da, Berthold verglich sie mit zwei Hunden, die sich nicht einigen konnten, wer der Boss ist. Schließlich, zu aller Überraschung, gab James auf.

„Nun gut, tu was du nicht lassen kannst. Aber sollte sie auch nur den winzigsten Ärger machen, dann bringst du sie zum Galgen. Eigenhändig.“

Damit war die Sache geritzt. Die Soldaten verschwanden und Sarah blieb mit zwei weiteren Frauen am Strand sitzen. Sarah stützte das kleine Mädchen und richtete sie auf. Eine der Bediensteten fasste Sarah behutsam am Arm, während ein Soldat herbeigerufen wurde, der erste Hilfe leisten sollte. Er gab sachte eine Massage am Brustkorb. Gerade, als er die allbekannte Mund-zu-Mund-Beatmung anwenden wollte, gab es ein erleichtertes Raunen bei den Frauen. Das Mädchen begann zu husten und spuckte Wasser. Sarah reagierte sofort und legte ihr eine ihrer warmen Hände an die verkühlten Wangen. Liebevoll lächelte sie das Mädchen an.

„Keine Angst, du bist in Sicherheit. Niemand wird dir etwas tuen, du stehst ab sofort unter meinem Schutz.“

„Mrs. Groves, was werden Sie jetzt tuen? Werden sie sich dem Mädchen annehmen?“

Sarahs liebevoller Blick wurde nun besorgter. Nachdenklich betrachtete sie das kleine Mädchen, welches immer noch sehr benommen aussah. Sie schien ihre Umgebung noch gar nicht richtig zu erfassen, beinahe träumerisch blickte sie am Strand umher. Konnte so etwas unschuldiges wirklich eine waschechte Piratin sein?

"Ich kenne ein Ehepaar hier in Port Royal, welches sich schon ewig ein Kind wünscht“, sagte sie voller Liebe und strich dem Mädchen über das Haar. „Dort soll sie wohlgehütet aufwachsen und eine gute Erziehung genießen. Ich werde sie Sabrina nennen.“

Sie gingen mit dem Mädchen davon. Berthold saß noch eine Weile so da, unsicher, ob er ihnen folgen sollte oder nicht. Er hatte ihrem Vater versprochen, dass er seine Schwester in Sicherheit bringen würde. Nur war es für sie nicht so viel sicherer, in der Obhut der Navy? War das nicht ein Leben, was ihr vielleicht eine Zukunft bringen würde?

Würde er jetzt hinterher eilen, könnte er für sie beide das Leben riskieren. Und er würde ihr die große Chance nehmen, ein vielleicht unbesorgteres ruhigeres Leben zu haben. Besser, er hielt sich im Hintergrund. Wenn sie alt genug war, dann konnte sie selbst entscheiden, ob sie ein Pirat werden wollte oder nicht. Seine Aufgabe war es gewesen, seine Schwester in Sicherheit zu bringen. Berthold hatte seine Pflicht erfüllt.

„Mach es gut, kleine Schwester. Wir sehen uns wieder. Ich verspreche es.“

Eines Tages würde er wiederkommen. Doch jetzt würde er erst einmal ein Schiff stehlen. Es gab noch viel zu erledigen und das Meer rief nach seinem Namen.

Auf den Straßen Port Royals ist es niemals still

„Sabrina, es ist Zeit. Zeit aufzustehen.“

Catherine kam in das Zimmer und lichtete die langen Vorhänge. Die Sonne schien herein und erhellte das möblierte kleine bescheidene Zimmer der Ziehtochter der Stuarts. Sabrina streckte sich zu allen Seiten und gähnte beherzt und ausgiebig.

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Ich bin hundemüüüüüde.“

„Schau mal aus dem Fenster, die Sonne wandert bereits in den Süden und ich habe dir schon oft genug gesagt, bleib nicht immer so lange auf, um mit dem Hund zu spielen.“

Der besagte weiße Schäferhund am Bettende murrte nur tief als Antwort und machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Bertholds kleine Schwester, die nun den Namen Sabrina trug, richtete sich auf und kraulte verschlafen dem Hund verschlafen hinter den weichen Ohren.

„Guten Morgen, Ava“, lächelte sie liebevoll ihren vierbeinigen Freund an.

Ava grummelte nur als Antwort.

„Sabrina, du musst nun wirklich aus den Federn. Dein Vater wartet unten auf dich. Er muss die Waren auf den Markt bringen und braucht deine Hilfe.“

Sabrina schlug ihre weißen Beine über die Bettkante. Viele blaue Flecken und schrammen zierten die weiche Haut. Grinsend erinnerte sie sich daran, wie sie gestern wieder die Bäume hochgeklettert war, um das Treiben der Stadt von oben zu betrachten, ganz zum Leidwesen ihrer Mutter Catherine Stuart. Sie hatte ihre Tochter schon oft genug ermahnt, dass dies viel zu gefährlich sei. Aber das war ihr Wesen, sie liebte das Risiko. Frei tuen und lasen können, was sie wollte. Grenzen zu überschreiten, die andere nicht wagten. Sabrina wollte wissen, wozu sie und ihr Körper fähig waren. Was es noch so alles gab, was nicht getan wurde aus Zweifel oder Furcht. Sie war ein ausgesprochen mutiges Mädchen.

Sabrina griff sich ihren grünen Morgenmantel, warf ihn sich über die Schultern und stapfte ins angrenzende Badezimmer, um sich frisch zu machen. Im Spiegel sah sie das Gesicht einer bereits jungen Frau, welches gerade mal ihn ein paar Tagen ihre zarten achtzehn Jahre erreichen würde. Rotblondes Haar fiel ihr weich über den Rücken, ein kleiner frecher Pony lag fransig über ihren Augenbrauen und machten ihr Gesicht noch jünger und jugendlicher. Haut war im Gegensatz zu vielen anderen in der Gegend eher blass, was sie deutlich von den einheimischen unterschied. Mit ihren zierlichen Fingern strich sie sich über die Narben am Hals. Striemen zierten sie, rote Furchen, die schon von Klein auf in ihre Haut eingebrannt waren. Narben, die eine Geschichte erzählten, an welche sie sich selbst nicht erinnern konnte. Nicht selten wurde sie von anderen Kindern dafür verspottet, denn doch jedem war bekannt, dass ihre eigentliche Herkunft nicht edler Abstammung war.

Sabrinas Eltern waren Piraten.

Kaperer, Freibeuter, Korsar, Verbrecher. Sie plünderten, mordeten, lebten auf der See unter ihren eigenen Gesetzen, eigenen Werten. Unzivilisierte Wilde, so nannten ihre Eltern sie.

Sarah Groves, die Schwester von James Norrington, einem hoch angesehenen Mann hier in Port Royal, hatte Sabrina eines Tages an Land gefunden und sie unter ihren Schutz gestellt. Wäre Sarahs Güte und unbändiger Entschluss nicht gewesen, dann wäre Sabrina wie alle anderen am Galgen gelandet. Oder sie wäre in die tiefsten Kerker gekommen, wo sie ihr gesamtes Dasein gefristet hätte, bis sie alt und krank wurde und irgendwo in einer Ecke im Dreck dahinsiechte und ihr toter Körper von Ratten zerfressen wurde. Stattdessen war sie nun die Ziehtochter von zwei sehr netten geschätzten und klugen Kaufleuten, die sie aufgenommen hatten wie ihr eigenes Kind.

Catherine und Richard Stuart kümmerte es nicht, dass Sabrina von Piraten abstammte. Eltern verboten ihren Kindern, mit Sabrina zu spielen, befürchteten sie doch ihren schlechten Einfluss auf sie. Jungen verspotteten sie und Mädchen sahen sie abschätzend an, wenn sie nur die Straße betrat. Ständig spürte sie die Blicke, man könnte meinen, Sabrina hätte sich bereits daran gewöhnen sollen wie ein Zootier betrachtet zu werden, doch nach all den Jahren war ihr das Starren und Glotzen immer noch unangenehm. Sie war scheu, verspürte immer noch den Drang, zu fliehen wie ein junges Reh. Wäre da nicht William Turner, der Sohn des Schmieds, der es immer wieder schaffte, Sabrina aus diesen ausweglosen Situationen zu befreien.

William, von meisten nur Will genannt, lebte neben den Stuarts in John Browns Schmiede und war, wie auch Sabrina, nicht bei seinen leiblichen Eltern aufgewachsen. Er hatte das Schmiedehandwerk bei seinem Meister gelernt und sie waren dafür bekannt, für die Navy die edelsten und schärfsten Schwerter herzustellen. Will war eine Augenweide, egal, wo er hinging, schmolzen die Augen der Frauen dahin. Mütter tuschelten mit ihren Nachbarn darüber, dass sie sich genau so einen Jungen als Schwiegersohn wünschten und gab es Anlässe, dann konnte jeder Bursche sich sicher sein, dass die meisten Mädchen doch lieber mit Will tanzen wollten. William Turner war aber nicht nur gut aussehend, er war auch talentiert, bescheiden, stets höflich und vor allem sehr einfühlsam. Sabrina konnte sich immer auf ihren Freund aus Kindertagen verlassen.

Wenn es ihr zu viel wurde, Will war da. Wenn sie geärgert wurde, Will war da. Wenn sie mit Steinen beworfen wurde oder man sie in Pferdemist schubste, Will war da. Er erkannte ihre großen ängstlichen Augen, ihre zittrigen Hände, ihren schnellen hektischen Atem, wenn ihr alles zu viel wurde und sie drohte, zusammenzubrechen. Dann nahm er vorsichtig ihren Arm und zog sie in eine eher unbelebtere Ecke, damit sie sich von den ganzen Reizen und der ganzen sozialen Überforderung erholen konnte. Ja, William war Sabrinas bester Freund, den sie hier in Port Royal und neben Ava auch der einzige menschliche Kumpane. Aber sie wusste, dass seine Treue und sein Interesse jemandem anderen galt. Der Tochter des Gouverneurs, Elisabeth Swann. Eines Tages, da war sich Sabrina sicher, würde William nicht mehr bei den einfachen Kaufleuten sein Dasein fristen. Er würde aufsteigen und für die edleren Leute in Port Royal arbeiten. Dort war er hoch geschätzt und sie gönnte ihm das auch, er arbeitete hart und so konnte er auch Elisabeth öfter sehen. Sie wusste als einzige Vertraute, was er für Elisabeth empfand und ein Teufel konnte jeder tuen, sie deswegen auszufragen. Alles, was Will Sabrina anvertraute, war bei ihr sicher. Sie schwieg darüber, wie ein Grab. Behütete Geheimnisse wie wertvolle Schätze. Und das wusste auch Will und schätzte diese Eigenschaft sehr an seiner besten Freundin aus Kindertagen.

Sabrina seufzte und band sich gedanklich abwesend die roten Haare zu einem Zopf. Dieser Tag war hoffentlich noch weit entfernt, denn wenn Will nicht mehr hier war, dann würden sie sich nicht mehr sehen. Und sie hatte niemanden mehr, dem sie sich anvertrauen konnte, geschweige denn auf sie aufpassen würde.

In diesem Moment kam Ava ins Bad getapst und wedelte mit dem Schwanz. Sabrina lächelte.

„Hast du etwa schon wieder meine Gedanken ausspioniert, Seelenhund?“

Ava wedelte noch doller mit dem Schwanz und leckte sich über die Nase. Sabrina hockte sich runter zu ihm und kraulte ihm das weiche schneeweiße Fell. Er war da. Ava war auch für sie da. Ava würde da sein, wenn alle Kerzen erstickten und die Welt dunkler wurde. Ava würde ihr den Weg weisen.
 

Es war bereits volles Leben in Port Royal. Überall tummelten sich die Menschen. Kinder spielten auf den Straßen mit Stöcken und kämpften gegeneinander, einige Marktschreier boten ihre Waren an und Reisende von weit her vertraten sich die Beine und tauschten ihre erschöpften und viel zu übermüdeten Pferde an der Kutsche aus. Eigentlich ein ganz gewöhnlicher Morgen, wären da nicht die Soldaten, die patrouillierten. Mit ihren auffälligen roten roten Uniformen und ihren Hüten. Sabrina trug gerade eine schwere Kiste heraus, dabei schritt sie vorbei an Whale and Waterspout, eine Taverne, welche von Sir Garrett 1704 eröffnet wurde und nicht nur Matrosen eine Unterkunft gab, und bekam einen starken Alkoholgeruch in die Nase. Dumpf hallte leise Musik aus dem Inneren des Gebäude.

„Wahnsinn, man könnte meinen, sie ersetzen ihren Schlaf mit sinnloser Trinkerei“, murmelte Sabrina zu sich selbst.

Langsam taten ihre Finger weh und ihre Muskeln ließen nach. Tief atmete sie aus, als sie in die Hocke ging und die Kiste abstellte. Noch 16, sie musste sich ranhalten. Gerade wollte sie sich umdrehen, da lief sie in einen fremden Mann hinein.

„Oh Entschuldigung“, stotterte sie und wollte sich gerade wieder aus dem Staub machen, als der Mann ihr Handgelenk festhielt. Sabrina wurde panisch.

Es war der Ehegatte von Winnifred, der Nachbarin. Sabrina wusste bis heute seinen Namen nicht, sie nannte ihn still und heimlich immer den Karpfen, weil er so große Lippen wie ein Fisch hatte. Mit ihren Nachbarn aus der Weberei Sheep’n’cotton hatte die Familie Stuart nie eine gute Beziehung gehabt. Immer gab es irgendetwas, weswegen sie sich in die Haare bekamen, deswegen zog Sabrina es vor ihnen aus dem Weg zu gehen. Dass sie gerade in ihn hineingelaufen war, das war das gefundene Fressen für eine neue Streiterei. Au Backe!

„Dieser Mantel hat ein Vermögen gekostet“, knurrte das „Fischmaul“ Sabrina von oben herab an. Sie konnte die Wulst unter dem engen Kragen an seinem Hals erkennen, ein großes Doppelkinn hatte er und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sabrina mochte seinen Geruch nicht und wich ihm aus.

„Mach verdammt nochmal deine Augen auf, dummes Mädchen.“

Er schubste Sabrina von sich. Sie stolperte und fing sich gerade noch so auf den Beinen. In ihrem Magen machte sich ein Knoten bemerkbar.

„Bloß nicht zu Herzen nehmen, Sabrina. Tief atmen. Er hat nur einen schlechten Tag“, wiederholte sie leise ihr Mantra und konzentrierte sich wieder auf ihre Tätigkeiten.

„Sabrina beeil dich“, rief Richard von weit her seine Ziehtochter. Sabrina legte einen Zahn zu, doch ihre Wahrnehmung war durch diese ungeplante Situation immer noch ein wenig verschwommen. So lief sie erneut in eine Person hinein. Diesmal war es nur Sir Nelson, der um einiges netter war, aber die plötzliche Berührung brachte Sabrina aus der Ruhe, sie wurde hektisch und ehe sie sich versah, tänzelte sie auf die Straße. Lautes Wiehern, eine Kutsche, sie lief direkt vor ein Pferd.

„Aus dem Weg, Fräulein!“, brüllte jemand, vermutlich der Kutscher. Sabrina konnte es nicht mehr ausmachen. Alles um sie herum war zu viel. Die Geräusche prasselten auf sie ein, Stimmen, Schritte, Quietschen von Rädern, Klirren von Geschirr, nichts konnte sie herausfiltern. Sie zitterte und verfiel in Panik, verlor ihre motorischen Fähigkeiten und fiel auf die Knie. Das Pferd stieg wiehernd, auf der anderen Seite kam eine andere Kutsche zum halten. Sie hielt sich die Ohren zu.
 

„VORSICHT!“

„AUS DEM WEG!“
 

In diesem Moment lief ein Soldat auf die Straße, der den Vorfall mitbekam, ein Lieutenant der Royal Navy. Ein Mann mit einer blauen Uniform, einer weißblonden Perücke und einem Hut. Er hatte eigentlich gerade mit einem Schankwirt gesprochen und ihm ein Pergament gezeigt, doch als er aus dem Augenwinkel das rothaarige Mädchen vor die Kutsche stürzen sah, eilte er ohne nachzudenken los. Der Soldat machte eine Handgeste und positionierte sich mit gehobenen Armen direkt neben Sabrina, um die Kutschen und anderen Gefährten davon abzuhalten, das Mädchen anzufahren. Es gab Empörung und Notbremsungen, die mit viel aufgewühltem Staub und Sand endeten. Der Soldat aber schaffte es. Als die Situation nicht mehr so gefährlich war, hockte er sich zu Boden.

„Miss, sind sie verletzt? Geht es Ihnen gut?“, erkundigte er sich lautstark und fasste sie an den Schultern. Als Sabrina nicht reagierte, half er ihr auf und brachte sie zur anderen Straßenseite. Mit wackeligen Beinen hatte sie Mühe, sich auf dem Bordstein hinzusetzen. Die anderen Soldaten kamen hinterher, einer nach dem anderen. Auch Richard eilte herbei, voller Sorge um seine Tochter.

„Was ist passiert? Sabrina? Oh mein Gott, nicht schon wieder.“

„Sie hat wohl einen Schock erlitten aber sonst fehlt ihr nichts“, gab der Lieutenant zur Antwort. Sabrina reagierte jedoch immer noch nicht, sie war noch immer wie gelähmt durch den Vorfall und schämte sich, dass sie ohne Will wieder die Fassung verloren hatte. In Schockstarre saß sie da. War sie denn für gar nichts zu gebrauchen? Dieses Leben in Port Royal war zu viel für sie. Diese Stadt, diese vielen Menschen, der Lärm, die Hektik, das bunte Treiben. Nur ein ungeplantes Ereignis brachte sie durcheinander

„Miss, schauen Sie auf meinen Finger“, befahl ihr der Lieutenant. Sabrina tat es. Es fiel ihr erst schwer, dem Finger mit dem Auge zu folgen, aber dann gelang es ihr. Es brachte ihr den Fokus zurück, allmählich kam sie wieder an im hier und jetzt. Sie sah alles wieder klarer, der Schleier lichtete sich und vor ihr war das Gesicht des Lieutenants deutlich erkennbar.

„Da haben Sie aber nochmal wirklich Glück gehabt, Miss“, meinte er diesmal ein wenig ruhiger. „Sie müssen auf den Straßen besser aufpassen.“

Sabrina war zu überrumpelt.

„Haben Sie großen Dank, Lieutenant Groves“, bedankte sich Richard bei dem Retter seiner Ziehtochter. „Sie hat das leider öfter diese Zusammenbrüche. Aber wir arbeiten daran.“

Gemeinsam halfen sie Sabrina auf. Sabrinas Beine waren noch ein wenig wackelig, aber mit der Zeit ging es.

„Was machen Sie hier eigentlich auf den Straßen, Lieutenant Groves? Ist etwas vorgefallen?“, fragte Richard neugierig.

„In Port Royal wurde ein gesuchter Piratenjunge gesichtet, den wir finden müssen. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?“

Er holte ein Stück Pergament aus seiner Uniformtasche heraus. Es zeigte einen jüngeren Kerl mit einem schiefen Kiefer und einer ebenso leicht schiefen Nase. Er hatte eine Glatze, dafür aber einen gepflegten leichten Drei-Tage-Part. Darunter stand der Name Berthold.

„Nicht das ich wüsste, was soll er denn hier in Port Royal suchen?“, fragte Richard und kratzte sich am Kinn.

„Nun, das fragen wir uns auch“, gab Theodore Groves nur sachlich zurück. „Wenn Sie ihn sehen, geben Sie uns unverzüglich Bescheid. Dieser Mann ist ein schwerer Verbrecher. Jeder, der mit ihm in Verbindung steht oder verdächtigt wird, ihm geholfen zu haben, wird ebenfalls mit dem Tode bestraft. Anordnung von Sir Lieutenant Norrington.“

„Das werde ich tuen, Sir“, versicherte Richard.

„Gut. Soldaten?“

Die Soldaten formatierten sich gehorsam vor Groves. Er gab ihnen ein Zeichen und sie stolzierten davon. Groves drehte sich noch einmal um, sah zu Sabrina und Richard, tippte höflich auf seinen Hut und marschierte dann mit den Händen hinter den Rücken hinterher.

„Ich habe den Lieutenant noch nie so aufgebracht erlebt“, murmelte Richard.

Sabrina hatte noch nie viel zutun gehabt mit der Royal Navy, geschweige denn mit dem Sohn von Sarah Groves. Der hatte bestimmt auch viele Verehrerinnen, so wie William. Wie er wohl mit Vornamen hieß? „Ach Sabrina, hör auf zu träumen“, schellte Sabrina sich selbst in ihren Gedanken.

„Komm Sabrina“, sagte Richard. „Wir müssen weiter machen.“
 

Sabrinas Retterin von damals, Sarah Groves, war zu ihrer Zeit nicht nur eine hoch angesehene Frau in Port Royal, sie war auch vor allem für ihre Gutherzigkeit bekannt und dass sie Kinder über alles liebte. Mit ihrem Mann Terence Groves hatte sie nur einen Sohn, aber diesen liebte sie über alles. Vater und Mutter waren sehr stolz darauf, was Theodore Groves in so kurzer Zeit in seinem Alter alles erreicht hatte. Schon als kleiner Junge war Theodore sich sicher gewesen, dass er unbedingt der Royal Navy dienen wollte. Sarah machte sich immer noch Sorgen. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Nicht wegen Theodores Fähigkeiten, der Junge war überaus intelligent, konnte schon mit fünf Jahren lesen und schreiben, sein Gedächtnis und Erinnerungsvermögen war überaus hervorragend und im Schwertkampf stellte er sich überaus geschickt an. Man könnte meinen, er wäre perfekt für die Navy, aber da gab es ein kleines Problem. James Norrington war der Meinung, Theodore war für einen Soldaten zu freundlich und zu vorkommend.

„Wenn du Soldat werden willst, musst du auch Leben nehmen. Du kannst nicht zögern. Denn ehe du dich versiehst, hast du selbst ein Schwert im Rücken.“ Das hatte James Norrington zu seinem Neffen gesagt.

In seiner harten Ausbildung war Theodore das Gespött der anderen Jungs. Theodore, der nicht den Mumm dazu hatte, zu töten. Theodore, der Gefangene entwischen ließ. Theodore der Feigling, der sich vor einem Kampf scheute und die Auseinandersetzungen lieber diplomatisch beenden wollte. All das machte ihn anders, unterschied ihn stark von all den anderen Jungen. Sarah hatte ihm immer wieder tröstend über das Haar gestrichen, wenn Theodore nach Hause kam und seine Gedanken kundtat, was er alles nicht richtig fand und dass er, wenn er könnte, das Gesetz ändern würde. Durch harte Arbeit war es ihm gelungen, heute zum Lieutenant aufzusteigen. Ab da hatte sich das Blatt gewendet. Die anderen jungen Männer, die ihn damals gehänselt hatten, sahen nun zu ihm auf und nahmen seine Befehle entgegen. Bis jetzt war Theodore derjenige, der noch nie getötet hatte. Und er wünschte sich auch, dass dies eine Weile so bleiben würde. Doch natürlich war er nicht dumm. Er wusste, eines Tages würde es dazu kommen. Dann war er gezwungen die Waffen zu benutzen, und sei es nur, um jemanden zu beschützen, den er liebte. Die Welt da draußen war hart und gnadenlos.

„Sir, wir haben den gesamten Anleger abgesucht, dort ist keine Spur von Berthold.“

Groves nickte als Bestätigung, dass er verstanden hatte.

„Gute Arbeit, stellt Wachen an jeden Steg und jede Planke. Er darf auf keinen Fall entkommen. Um von hier wegzukommen, brauch er ein Schiff oder ein Boot. Sobald ihr jemanden Verdächtigen am Wasser seht, möchten ich und Lieutenant Norrington umgehend davon erfahren.“

Die Soldaten verteilten sich am ganzen Hafen. Es wurden stetig mehr, denn sie hatten es immerhin mit einem gefährlichen Mann zutun.

„Was sollen wir tuen, Sir, wenn wir ihm begegnen?“

„Wir brauchen ihn lebend, schießt nur auf seinen Oberschenkel. Wenn er nicht laufen kann, ist er hoffentlich nur halb so gefährlich. Trotzdem ist höchste Vorsicht geboten. Die Piraten der Mondsenate sind bekannt für ihre rabiate und brutale Vorgehensweise. Sie sind weniger klug, dafür gefährlicher.“

Die ganze Nacht würde die Wache hier stehen, doch ohne Berthold zu Gesicht zu bekommen.
 

Nicht weit vom Hafen entfernt, geschützt im Schatten, auf einem Gebäude hoch oben unter einem Sims, da versteckte sich Berthold. Er trug einen schwarzen Mantel und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Lediglich die Pfeife, die er rauchte, erhellte kurz seine Augen durch die Flamme. Zwei graublaue Augen, die so wachsam waren wie die Späher eines Seeadlers und die Ohren gespitzt, so wie die Lauscher eines Luchses. Jede noch so kleine Regung, noch so kleines Geräusch, Berthold nahm alles genauestens wahr. Ihm entging nichts, er war ein sehr guter Beobachter, der die Risiken genauestens abschätzte und sich alternative Szenarien bereits ausmalte, sollte etwas nicht nach Plan funktionieren. Das machte ihn auch gerade so gefährlich. Doch auch Berthold hatte eine Schwäche, so wie jeder Mensch irgendwo eine hatte, sei er noch so ein erfahrener Freibeuter. Spontanität.

Er hockte sich instinktiv hin, als Theodore mit einigen Gefolgsleuten dicht unter ihm durch die Gasse marschierten.

„Sir, was meinen Sie? Warum ist dieser Piratenjunge gerade jetzt, zu dieser Zeit, hier in Port Royal? Was mag er hier suchen?“

„Die Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten, Gilette. Da müssen Sie ihn bei Gelegenheit schon selbst fragen.“

Bertholds schiefer Kiefer verzog sich zu einem hinterhältigen Grinsen.

„Theodore, da bist du ja endlich. Mein Augenstern.“
 

Sarah eilte in ihren Abendgewändern die Treppe hinunter, um ihren Sohn in der riesigen Eingangshalle in Empfang zu nehmen. Die Dienstmädchen senkten ihr Haupt, so wie es sich gehörte und eine von ihnen war dabei, Theodore den Mantel abnehmen zu wollen.

„Alles gut, Hannah. Ich schaffe das schon, mach lieber Feierabend, es ist schon spät“, redete er der Bediensteten gut zu.

„Wie Sie wünschen, Lieutenant.“

Hannah knickste und zog sich zurück. Sarah Groves hatte ihren Sohn nun erreicht und schloss ihn freudig in die Arme. Dabei gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ich bekomme dich nur noch so selten zu sehen. Man könnte meinen du bist mit deiner Arbeit verheiratet“, witzelte sie und strich Theodore über die Wange.

Darauf konnte Theodore nur mit den Schultern zucken und verlegen seufzen.  Er dachte sich schon, worauf diese Anmerkung bezogen war.

„Hast du Mary bereits getroffen und ihr unsere Einladung zum Essen übergeben?“

„Noch nicht, ich bin noch nicht dazu gekommen, sie einzuladen“, gab Theodore zu und wurde ein wenig rot um die Nase.

Frauen anzusprechen, wenn sie ihm gefielen, fiel ihm nicht so leicht. Mary Beckett war aus gutem Hause, eine wirkliche Augenweide und sie hatte offensichtlich großes Interesse an Theodore. Schon eine ganze Weile machte er ihr den Hof. Er könnte sich gut vorstellen, sich mit ihr zu vermählen, sollte es so weit kommen. Wenn sich Familie Groves, Norrington und Beckett zu einer Einheit bildeten, konnte das sehr gut für die Politik und ihren Stand sein. Doch zurzeit bereiteten Theodore andere Geschehnisse Kopfschmerzen. Er legte seine Waffen ab und begab sich mit Sarah in Richtung des Wohnzimmers, welches rechts lag.

Ging man links ab, erreichte man das Arbeitszimmer und die Bibliothek. Oben in der ersten Etage waren die Gemächer und ein paar Badezimmer, ging man die Treppe hinunter, fand man Küche, die Vorratskammer, die Abstellräume und die Gemächer der Bediensteten.

Im Wohnzimmer, wo Theodore und seine Mutter jetzt waren, war ein großer Kamin, ein roter Perserteppich, zwei Tische, ein Schaukelstuhl, ein Sessel und ein Sofa mit edlen Stickereien. Die Wände waren in einem cremefarbenen weiß bestrichen und dort hingen einige Portraits der Familie, sowie diverse Landkarten. Einige davon hatte Theodore selbst angefertigt.

Sarah nahm Platz im Sessel und nahm ihr Strickzeug in die Hand, während Theodore sich auf dem Sofa niederließ. Der Mutter entging nicht die nachdenkliche Mimik ihres Sohnes.

„Beschäftigt dich etwas, mein Lieber?“

Theodore überlegte eine Weile. Sollte er wirklich aussprechen, was er gerade dachte?

„Das Mädchen, welches bei den Stuarts wohnt, sie hat doch dasselbe Tattoo wie die Piraten der Mondsenate“, begann er zögerlich und sah dabei angespannt ins Feuer. „Berthold ist ebenfalls ein Teil dieser berüchtigten Bande. Könnte es sein, dass er hier ist wegen dem Mädchen?“

Sarah fiel das Strickzeug aus der Hand. Hektisch sammelte sie es wieder auf.

„Du meinst, dass er hinter ihr her sein könnte?“

„Nicht direkt, vielleicht sind sie auch Verbündete. Piraten sind ja äußerst gerissen.“

Dabei blitzte etwas in seinen Augen auf, was seiner Mutter überhaupt nicht gefiel.

„Theodore, ich weiß deine Begeisterung über die Welt da draußen zu schätzen. Aber deine Bewunderung gegenüber der Piraterie bereitet nicht nur meinem Bruder sorgen.“

„Ja Mutter“, gab er kleinlaut bei. Ja, Theodore konnte seine Anerkennung und seinen Respekt gegenüber den Piraten nicht so gut verbergen und gerade James Norrington ging das ziemlich auf den Keks.

„Du solltest dich etwas hinlegen und schlafen, das war sicher ein harter Tag für dich. Geh nach oben“, lächelte Sarah und gab ihrem Sohn die Erlaubnis, zu gehen. Als ihr Sohn aufstand, konnte sie sich allerdings kein „und lade morgen endlich deine Freundin ein, du gefährlicher Soldat“ verkneifen.

Theodore machte sich gleich auf. Er merkte erst jetzt, wie müde er bereits war und wie sehr seine Glieder an Erschöpfung litten. Gähnend schritt er die Treppen hinauf.

Als ihr Sohn weg war, wurde Sarahs Gesicht wieder ernst. Sie legte ihr Strickzeug beiseite, legte sich einen Mantel um und ging aus dem Haus, ohne das einer der Bediensteten etwas davon bemerkten.

Sie musste unbedingt zu den Stuarts und es war besser, niemand würde etwas davon mitbekommen.

Oh Schwesterchen!

Sarahs viel zu überstürztes Handeln war von Emotionen gelenkt und beinahe wäre ihr genau das zum Verhängnis geworden.

Draußen im dunklen Vorgarten des Anwesens konnte sie nicht sehen, dass jemand Im Dunkeln auf dem Schuppen stand und sie genauestens beobachtete. Alles, was Berthold hatte, war einen Namen. Groves. Eine Frau, die den Namen Groves trägt, war für das Schicksal für seine Schwester verantwortlich gewesen. So war er Theodore, der von seinen Soldaten mit „Groves“ angesprochen wurde, zum Anwesen gefolgt und siehe da, er konnte seinen Augen kaum trauen, dass sich die gesuchte Person ohne Schutzpersonal nach draußen begeben würde, direkt vor seine Stiefel. Etwas, was Berthold definitiv nicht in seine Pläne mit einkalkuliert hatte. Trotzdem sagte ihm der Instinkt, dass er jetzt zuschlagen musste und nicht lange Zeit hatte, um ausgiebig zu planen. Schnell und leise wie eine Katze im Mondschein schlich er auf der Mauer entlang bis zum Haupttor, wo Sarah jeden Moment hindurchlaufen würde. Um die Wachen jedoch vorher wegzulocken, nahm er einen riesigen alten Eimer vom Schuppendach und warf ihn im hohen Bogen in eine naheliegende Böschung. Es gab ein lautes Geräusch, welches Sarah zwar nicht wahrnahm, dafür aber das Wachpersonal, die den Köder schluckten. Beide sahen sie alarmiert in genau die Richtung, aus der das Geräusch kam.

„Was war das?“, sagte der größere schmalere Soldat zum anderen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete der andere kleinere ratlos, der um seine Mitte auch ein wenig kräftiger war.

„Ja dann sieh nach!“

„Das ist aber nicht der Befehl, wir müssen hier stehen bleiben und das Tor bewachen“, entgegnete der kleinere.

„Nein, Lieutenant Groves hat ausdrücklich gesagt, wir sollen das Anwesen schützen und alles Bedrohliche fern halten. Und was auch immer da in der Böschung ist, es könnte sehr bedrohlich sein.“

Berthold hatte sich hinter einem Mauervorsprung versteckt und wartete ungeduldig darauf, dass sie sich endlich vom Tor entfernen würden. Aber sie bewegten sich nicht und Sarah Groves kam immer näher. Er wurde hektisch. Verdammt! Heilige Makrele! Sie mussten da weg.

„Geh du.“

„Nein, wenn dann gehen wir zusammen.“

„Gut, aber du …du gehst vor“, sagte der größere schmalere Soldat und deutete ängstlich in die Richtung.

Sie bewegten sich. Gott sei Dank, dachte Berthold. Es dauerte nicht einmal 30 Sekunden, bis Sarah Groves das Tor passierte. Verwundert blickte sie sich um und suchte die Wachen, welche nicht an ihrer Position standen. Diesen Moment der Verwirrung nutzte Berthold. Er sprang lautlos von oben herunter hinter Sarah, griff sich die Frau, hielt ihr mit der einen Hand den Mund zu und zerrte sie in den Garten zurück hinter eine große Eiche. Die Frau wehrte sich natürlich und schlug um sich aber Bertholds Griff war fest. So fest, wie man es eben von einem Piraten erwartete. Die harte und raue Arbeit auf der See hatten ihn stark und kräftig gemacht.  

„So sieht man sich wieder, wunderschönes Fräulein“, spöttelte er und kam ihrem Ohr ganz gefährlich nahe. Sein Atem streifte ihren Hals und ihre Wangen. Da Sarah immer noch kämpfte, blieb ihm nichts anderes übrig als auch sein Messer zu ziehen und ihr es gefährlich jedoch auch harmlos unter das Kinn zu halten. Er hatte nicht vor, Sarah wirklich zu verletzen.

„Beruhigen Sie sich und machen Sie keinen Mucks, sonst schneide ich Ihnen die Kehle durch“, drohte er ihr.

Er ließ die Hand langsam von ihrem Mund und drückte stattdessen ihren Oberkörper an sich heran.

„Elender Pirat“, zischte Sarah ungehalten und atmete schwer unter der Klinge.

„Sie riechen gut, Madame. Was benutzen Sie da für ein vornehmes Parfüm?“, provozierte Berthold die adelige Frau des Anwesens und roch an ihrem Haar. „Oder ist es das Rosenwasser, in welchem Ihr euer tägliches Bad einnehmt?“

„Wenn du mir was tust, wird die Rache meines Bruders dich treffen“, giftete sie zurück. „Schon alleine, dass du gewagt hast, hier nach Port Royal zu kommen war ganz schön dumm von dir. Du hättest auf dem verfluchten Meer bleiben sollen, wo du hingehörst.“

„Ihr Bruder? Oh ja, ich erinnere mich“, flüsterte Berthold. „Der Mann, der unser Schiff zerstörte und meinen Vater auf den Grund des Meeres sinken lies.“

Um seine Wut zu unterstreichen, drückte er Sarah noch fester an sich. Die Frau keuchte überrascht auf. Aber sie wagte es nicht, zu schreien, denn immer noch berührte die scharfe Seite der Klinge ihre weiche Haut direkt an ihrem langen Hals. Jeder Atemzug, den sie tat, kam ihr schwer vor.

„James Norrington hat mir alles genommen. Sie leben nur noch, weil ich dabei war, als Sie meiner Schwester das Leben gerettet haben und ich auf Sie angewiesen bin. Ich bin ein Pirat, es liegt nicht in meiner Natur, Gnade walten zu lassen. Doch ich bin trotzdem kein Mörder, solange mein Gegner sich kooperativ zeigt und verhandelt. Ich bin nicht hier, um Ihnen wehzutun, Mrs. Groves, ich bin nur hier, um meine Schwester zurückzuholen. Sagen Sie mir, wo sie ist und ich verlasse Port Royal auf der Stelle.“

„Ich kenne deine Schwester nicht und weiß auch von keinem Schiff, welches mein Bruder zerstört haben sollte. Und jetzt nehm die dreckigen Finger von mir, du Scheusal.“

„Sie scheinen mutig zu sein, nur nicht mutig genug. Ich war dabei, als Sie sie vor Norrington und seinem elenden Gesetzeshütern gerettet haben. Erinnern Sie sich nicht? Die Kiste und das kleine rothaarigen Mädchen mit dem Tattoo der Piraten der Mondsenate.“

Eine kleine Pause entstand.

„Gut, gut, du hast gewonnen, ich führe dich zu ihr. Aber zuerst musst du mich zum Schuppen führen.“

„Zum Schuppen?“ Berthold verstand nicht. „Meine Schwester lebt im Schuppen?“

Sarah pustete ihre Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Was hast du denn gedacht? Wir würden doch niemals einen Piraten in unsere vier Wände lassen.“

Berthold dachte nach. Da war was dran.

„Nun gut, ich bringe Sie hin. Aber keine Tricks.“

Gemeinsam im Schutz der Bäume brachte Berthold sie zum Schuppen. Durch seine Erkundungstour wusste er, wo genau im riesigen Garten dieser sich befand. Unter dem zweiten Balkon von oben. Er ließ Sarah los, hielt ihr aber eine Pistole an die Schläfen.

„Aufmachen.“

Sarah kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Berthold wartete, aber seine Ohren waren gespitzt. Er musste aufpassen, dass sie nicht entdeckt wurden. Seine Aufmerksamkeit war überall. Ein paar Stimmen weckten sein Interesse. Das waren die Wachen hinter der Mauer, die Berthold vorhin weggelockt hatte.

„Was macht denn der Eimer hier?…“

„Warum ist dort eine tote Ratte drin?“

Berthold grinste schief und war kurz unaufmerksam, was nun ihm zum Verhängnis wurde. Bertholds Arm wurde voller Wucht von Sarah weggeschlagen, die aus ihrer Manteltasche eine Pistole zog. Der Schlag veranlasste, dass Berthold entwaffnet wurde und seine eigene Pistole tief in den dunklen Garten geschleudert wurde. Sarah hatte einen sehr kräftigen Schlag drauf, der es in sich hatte. Nun wendete sich das Blatt und Berthold wurde von der gefährlichen Katze wieder zur kleinen Maus. Er hob die Arme in die Luft. Sarah sah ihn feindselig an.

„Gerissenes Frauenzimmer“, gab Berthold nur anerkennend von sich.

Sarah aber verfolgte ihren Plan, den sie von Anfang an verfolgt hatte. Dieser Schuppen stand direkt unter dem Balkon ihres Sohnes Theodore. Sie war nicht alleine.

„PIRAT IM GARTEN!!!!“, brüllte sie aus Leibeskräften.

Berthold hörte Schritte von überall, Fenster wurden geöffnet, Lichter gingen an. Die Türen im Anwesen öffneten sich, hinter den Mauern hörte er die beiden Wachen und über ihnen öffnete sich die Balkontür. Theodore hechtete zum Geländer und sah hinunter.

„SOLDATEN!!!!!“, rief er über die Mauern.

Berthold bewegte sich langsam und ruhig einen Schritt nach hinten. Ein Schritt nach dem anderen, denn wenn er nur einen gewissen Abstand hatte, konnte er sich zu Boden fallen lassen und der Kugel ausweichen, sollte Sarah schießen.

„War mir erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Groves. Doch nun muss ich los, eine Familienangelegenheit klären.“

Er machte eine schnelle Bewegung, um Sarahs Reaktion zu testen. Sarah schoss nicht, so wie er es sich gedacht hatte und Berthold warf sich so zu Boden, machte eine Rolle nach vorne zum Schuppen, sprang zum großen Ast, schwang sich auf das Dach und kam zurück auf die Mauer, wo er noch vor einem kurzen Moment gestanden hatte. Doch er hatte nicht die Rechnung mit Theodore Groves gemacht, der sich bewaffnet vom Balkon mit einem Seil herunterließ und ihn nun mit seinem Degen bedrohte.

„Du bist umstellt, gib auf!“, sagte er zielsicher und schritt auf Berthold zu. „Auf den Boden, Pirat.“

Berthold drehte sich um und ein Grinsen erschien auf seinem schiefen Kiefer.

„Ich werde niemals aufgeben, Lieutenant. Ich kam in vollkommen friedlichen Absichten“, dabei zog er seinen Säbel, „aber das war der Plan, bevor Sie mich mit Ihrer Waffe bedrohten.“

Sie gingen aufeinander los und die Klingen kreuzten sich. Es entstand ein Duell zwischen dem Piratenjungen und dem erst kürzlich ernannten Lieutenant. Bertholds scharfem Auge entging nicht das leichte Zittern in Theodores Hand, was ihm sagte, dass er noch nicht lange im Dienst der Royal Navy war. Interessant, dass er trotzdem schon zum Lieutenant ernannt worden war. Vielleicht konnte er ihn mit ein wenig Spott und Hohn ablenken, das dachte Berthold, während er Theodore immer weiter nach hinten drängte im Kampf. Doch was war, wenn er sich täuschte. Er bewegte sich weiter, immer weiter nach vorne, bis sie genau neben der Böschung waren, wo Berthold zuvor den Eimer hineingeworfen hatte. Immer wieder knallten die Waffen aufeinander, klirrten gefährlich. Berthold sah in die Augen von Groves, die konzentriert bei der Sache waren. Als der richtige Moment gekommen war, sprang Berthold in die Böschung hinein. Groves reagierte sofort, zog seine Waffe und dachte an die Worte seines Onkels.

„Du kannst nicht zögern. Denn ehe du dich versiehst, hast du selbst ein Schwert im Rücken.“

Theodore drückte ab und es erklang ein lauter Knall. Eine Schar aufgeschreckter Vögel flog aus den naheliegenden Bäumen laut piepend und schnatternd. Von unten erklang ein dumpfes aufkommen und ein schmerzerfüllter Laut. Theodore hatte getroffen. Noch ein wenig erschrocken darüber, dass er gerade einen Piraten angeschossen hatte, blickte Theodore auf seine Waffe. Die Soldaten waren indessen im Garten angekommen. Groves sah noch einmal nach unten, konnte aber nichts vom Piraten sehen, sondern nur Büsche. Er nahm denselben Weg, wie auch Berthold, um vom Schuppen hinunterzugelangen (wen auch nicht ganz so elegant) und eilte auf seine Mutter zu. Die stand dort, immer noch etwas unter Schock.

„Liebling!“

„Bist du verletzt?“

„Nein, mein Sohn.“

Sarah sah besorgt aus. Sie griff in Theodores Mantel, den er um seinen Leib trug, und grub ihr Gesicht hinein. Theodore hatte nicht die Zeit gehabt, sich umzuziehen, weswegen er nur in Hemd und leichter Hose bekleidet war. Das Hemd hatte einen großen Ausschnitt und legte die Sicht auf seine gut trainierte Brust frei. Theodore umarmte seine Mutter fest und tröstete sie.

„Sei unbesorgt, du bist in Sicherheit.“

„Sabrina“, flüsterte sie heiser. „Sabrina Stuart ist in Gefahr, er will sie sich holen. Ihr müsst sie beschützen.“

„Er wird niemanden mehr holen, Mutter. Ich habe ihn erwischt."

„Du hast was?“

Theodore legte seine Hand auf ihre Schultern und löste so die Umarmung.

„Soldaten, eilt schnell an die linke Seite. Dort müsste er liegen, er wird verletzt oder sogar tot sein“, befahl er, ohne den Blick von seiner geliebten Mutter abzuwenden.

Die Soldaten machten sich gleich auf den Weg. Theodore machte Anstalten, ihnen zu folgen, doch er wollte Sarah nicht allein lassen in diesem Zustand. Erst, als James Norrington eintraf und sich um seine Schwester kümmerte, eilte er den anderen Soldaten hinterher. Dort, wo Berthold gestürzt war, war niemand mehr zu sehen. Stattdessen lag dort eine riesige Blutlache. Sie folgten der Schleifspur, die sich irgendwann jedoch auflöste.

„Durchsucht die Gegend, er muss irgendwo sein. Verletzt wird er nicht weit kommen“ gab Theodore den Soldaten den Befehl. Sie teilten sich auf und liefen in Grüppchen sortiert in die Stadt hinein.
 

Port Royal am späten Abend war für Sabrina viel angenehmer. Wenig Menschen waren auf den Straßen, nur vereinzelte Personen, meistens allerdings auch zwielichtige Gestalten. Sabrina aber wusste, wie sie sich fernzuhalten hatte. In Whale and Waterspout, der Taverne, die gegenüber ihres Hauses lag, war wieder eine heitere Geräuschkulisse wahrzunehmen. Lachen, Musik, klirrende Gläser, all das, was auf einen „lustigen“ Abend deutete. Viele von den jungen Mädchen in Port Royal waren einmal in ihrem Leben dort, heimlich, da es die Eltern nicht erlaubten. Sie schlichen sich spät aus dem Haus, um sich dort die Zeit mit anderen Männern zu vertreiben. Man hörte aber auch immer wieder unschöne Gesichten und Gerüchte über diese verruchte Taverne. Zum Beispiel, dass auch Piraten diese immer wieder aufsuchten. Sabrina war noch nie darin gewesen und sie hatte es auch nicht vor, wobei sie sich trotzdem schon oft ertappte, wie sie darüber nachdachte. Sie war neugierig auf die lebhafte Stimmung und wollte schon immer einmal mit anderen gemeinsam tanzen. Nur das Trinken und die vielen Menschen, der Gestank von Alkohol, das war einfach nicht ihr Ding.

„Komm, Ava“, sagte sie zu ihrem Hund und ging in eine kleine Gasse hinein. Ava trottete flink hinterher, blieb aber dicht hinter Sabrina. Sie konnte das vertraute Tapsen seiner Pfoten auf dem Asphalt hören und das hecheln.

Die Gasse führte sie zur Stadtgrenze, hier fing das naheliegende Wäldchen an und die Waldstraße, die nach Portmore führte. Eine Handelsrute, wo regelmäßig imposante Kutschen hin und her fuhren. Hier konnte Sabrina ein wenig Ruhe finden. Sie musste über den ereignisreichen Tag nachdenken und dabei erwischte sie sich immer wieder, wie sie an den Lieutenant dachte, der sie vor der Kutsche heute Vormittag gerettet hatte. Groves. Lieutenant Groves. Wie er wohl mit Vornamen hieß? Verträumt lächelte sie. In dieser Uniform sah er schon ein wenig verführerisch aus und er war noch so jung, viel jünger, als die anderen Soldaten. Doch irgendwas in seiner Ausstrahlung unterschied ihn von den anderen. Vielleicht war es sein Alter? seine noch nicht so reiche Erfahrung? Er war Lieutenant, er musste gut in dem sein, was er tat, das zweifelte sie nicht an, auch nicht, ohne ihn zu kennen. Die britische Armee war sehr streng. Jeder Soldat musste gehorchen, immer, egal wann, egal wo, egal was. Sie wurden gedrillt und wenn sie nicht gehorchten, wurden sie schwer bestraft. Eingerissene Ärmel deuteten auf Hochverrat und Hochverrat endete am Galgen. Schockschwere Not, der schnelle Tod. Doch warum dachte sie darüber nach? Sie dachte nie über die Soldaten der Royal Navy nach. Sie hatte Ehrfurcht vor Ihnen, ja, aber trotzdem. Theodore Groves hoffe sie irgendwie, wiederzusehen. Er würde nicht mehr als ein Bekannter bleiben, das war ihr bewusst. Sabrina war die Tochter eines Pärchens, welches kaufmännische Handlungen betrieb, wohnte in einem Viertel, wo die Mittelschicht hauste und war auch sonst nicht „besonders“. Lieutenant Groves gehörte zum obigen Rang, befolgte direkte Befehle der Obersten der Obersten, war vielleicht sogar direkt aus königlichem Hause. Ihr Lächeln erstarb. Nur ein Traum, so etwas würde nur ein Traum sein. Es war besser, sie blieb fern von ihm, bevor sie sich noch in etwas aussichtsloses verrannte. Vielleicht war er ja auch bereits schon verheiratet.

Er hatte Sabrina gerettet, weil es für einen Soldaten üblich war, die Schutzlosen zu beschützen. Sabrina seufzte ein wenig theatralisch und bis sich auf die Mundwinkel. Wo sollte ihr Schicksal hingehen? Was würde ihre Zukunft sein? Würde sie je herausfinden, wer sie wirklich war? Genauer betrachtet übernahmen Kinder die Tätigkeiten ihrer Eltern. Sie würde Kauffrau werden, das Geschäft ihres Vaters weiterführen, vielleicht heiraten und ein oder zwei Kinder bekommen. Aber irgendetwas in ihr sträubte sich hartnäckig dagegen.

Ein Knacken im Gebüsch holte sie aus den Gedanken. Da war etwas. Ein…Tier vielleicht? Ava hatte es ebenfalls bemerkt, denn er stellte sich stocksteif mit horizontaler Rute in Angriffsstellung und begann, zu knurren.

„Ava, was hast du?“

Ava kläffte nur als Antwort. Dann sprintete der Hund plötzlich los und sprang voran mit seinen Vorderpfoten ins Geäst und verschwand.

„Ava!“, rief Sabrina ihrem vierbeinigen Freund hinterher und eilte ihm nach. Tief, abseits von den Straßen, führte Ava sein Frauchen hin. Hier zwischen zwei Bäumen lag etwas, oder eher gesagt, ein jemand. Ein junger Mann. Er hatte eine Glatze, einen Drei-Tage-Bart, trug einen grauen Mantel und ein durchlöcherten schwarzen Umhang. Die Stiefel waren abgenutzt und die Sohle löste sich, die Hose war zerfetzt und Blut durchtränkt. Eine klaffende Wunde war am Oberschenkel zu sehen. Sie blutete stark. Sabrina hielt sich die Hand vor den Mund. Sie fackelte nicht lange und ließ sich neben dem reglosen Körper nieder. Zwei Finger legte sie an den Hals, um den Puls zu spüren. Ein Glück! Er atmete noch! Sabrina riss sich ein Teil ihres Rockes ab und verband das Bein, um die Blutung stoppen zu können. In diesem Moment regte sich der Mann. Voller Schmerzen stöhnte er mit geschlossenen Augen.

„Haben Sie keine Angst, Sir. Ich helfe Ihnen!“

Plötzlich hatte sie ein Messer am Hals. Sie stoppte augenblicklich in ihrer Handlung und entfernte sich augenblicklich. Der Mann sah sie aus graublauen Augen an. An seinem Hals war eine goldene Kette mit einem Totenkopf. Sabrinas Augen wurden groß.

„Sie sind ein….Pirat."

„Fürchtest du dich?“, hauchte der Verletzte.

Sabrina nickte. Ja, sie fürchtete sich vor dem, was man über Piraten erzählte. Sie war zuvor noch niemals einem begegnet, aber sie wusste, dass sie von Piraten abstammte.

„Sie sind der, den Sie suchen. Sie sind Berthold, Captain der Mondsenate.“

Sie zog ihren Ärmel ihres Mantels hoch und zeigte ihm ihr Tattoo.

„Meine Eltern stammen von denselben Piraten ab. Ich habe sie nie kennengelernt, aber ich hörte Geschichten und Legenden über diese Piraten. Deswegen haben Sie keine Sorge, ich werde Ihnen nichts tuen.“

Die Augen von Berthold wurden groß, als er das Tattoo sah.

„Du bist es“, säuselte seine Stimme so leise und zart wie der Wind. „Wie oft habe ich mir den Moment ausgemalt, an dem ich dich finden würde. Nie habe ich die Hoffnung aufgegeben, das zu tuen. Mein geliebter Meeresteufel, meine Schwester.“

Er ließ das Messer sinken und lächelte. Dann begann er zu husten und wurde bewusstlos. Der Sturz von der Mauer und der Blutverlust hatten ihm stark zugesetzt. Sabrina schlug ihm ein paar mal sachte gegen die Wange, um ihn bei Bewusstsein halten zu können, aber es gelang ihr nicht. Hektisch setzte sie ihr vorheriges Werk fort, bis sie schließlich das Bein verbunden hatte und kein Blut mehr herausrinnen konnte. Dann nahm sie sich Bertholds Körper und versuchte, ihn zu schleppen.Sie legte seinen Arm um ihre Schultern und schliff ihn ein paar Zentimeter über den Boden. Er roch stark nach Alkohol, Eisen, Schweiß und Dreck. Sein Körper war noch warm. Wo sollte sie mit ihm hin? Irgendwo, wo die Soldaten ihn nicht finden konnten. Sie entschied sich für eine alte kaputte Hütte. Sie musste nicht weit von hier sein. Sie war zwar räudig und absolut brüchig, doch dort konnte er Schutz finden, denn kaum einer wusste davon. Und die, die davon wussten, denen war diese Hütte vollkommen gleichgültig. Dort kam nie jemand freiwillig hin.

„Ava, lauf voraus“, befahl sie ihrem Hund.

Ava sprintete los und Sabrina ging mit Berthold hinterher. Dabei war sie ziemlich langsam und musste immer wieder eine Pause machen.
 

Unterdessen waren Groves, mittlerweile wieder in Uniform gekleidet, und ein paar seiner Soldaten bei Richard und Catherine Stuart angekommen. Sarah war ebenfalls dort mit Norrington. Sie erzählten ihnen, was sich zugetragen hatte. William Turner, der nebenan in der Schmiede wohnte, bekam den Trouble mit und spähte aus dem Fenster. Er lauschte dem Gespräch und beobachtete alles ganz genau. War etwas mit Sabrina passiert?

„Er konnte fliehen, ist aber schwer verletzt“, teilte Norrington mit.

„Aber er treibt sich noch rum in Port Royal, sagen Sie?“, kam es ängstlich von Catherine, die in den Armen ihres Mannes lag.

„Seien Sie unbesorgt, Mrs. Stuart, die Soldaten suchen jede Ecke und jeden Winkel ab. Er wird hier irgendwo sein und seine Wunden lecken. Jetzt ist er leichte Beute und das wird er wissen. Er wird es nicht wagen, genau jetzt Hand an Ihrer Tochter anzulegen.“

Wer war verletzt? Und wer wollte Sabrina etwas antuen? Wills Griff um den Hammer in seiner Hand verstärkte sich.

„Und Sabrina? Wo ist Sabrina? Sie müssen sie finden, Sir. Bitte!“

Catherines zitternde und klagende Stimme schmerzte William im Innern. Ihre Sorge und ihren Schmerz konnte er spüren. Würde etwas mit Elisabeth sein, dann würde er denselben Schmerz fühlen. Aber was genau war denn jetzt passiert?

„Sir da ist sie. Sie und ihr Hund“, rief ein aufgeregter Soldat.

William stürmte aus der Tür und folgte den anderen, die sich zu Sabrina begaben. Sabrina, scheinbar nichts ahnend, was hier vor sich ging, schritt etwas schüchtern und zögerlich zum Elternhaus. Für sie war dies ein seltsames Bild: da standen ihre Eltern sich in den Armen, und um sie herum die Royal Navy samt Lieutenant und zukünftigem Commodore. Und William.

„Sabrina!!!“, rief William und erreichte seine Freundin vor den Soldaten, um sie in die Arme zu schließen. „Was ist passiert? Du bist ja voller Blut. Und dein Rock, er ist…“

Der Rock reichte Sabrina nur noch kurz bis über ihre kritischen Zonen.

„Ich habe mich beim Klettern bloß an einem Ast verhakt“, log Sabrina und erwiderte Wills Umarmung zögerlich. „Aber was ist denn hier los? Ihr seid doch nicht etwa alle hier, weil ich ein paar Stunden weggewesen bin?“

„Also, das weiß ich auch nicht aber…“

„Sabrina, heilige Mutter Maria“, brach es aus Catherines Mund. Sie begann, erleichtert zu weinen. Auch sie und ihr Mann liefen auf ihre Tochter zu, um sie erleichtert in die Arme zu schließen. William ging ein paar Schritte zurück, um ihnen Platz zu lassen

„Wir dachten schon, er hätte dich erwischt.“

„Wer denn?“, fragte Sabrina irritiert. „Kann mich jetzt endlich mal jemand aufklären?“

„Berthold. Der Pirat ist hinter dir her. Er hat Sarah Groves angegriffen, um an dich heranzukommen“, sagte Catherine ganz aufgebracht und nahm das Gesicht ihrer Tochter in die Hand. „Zum Glück hat Lieutenant Groves ihn mit einer Kugel erwischt. Aber er konnte fliehen.“

Lieutenant Groves hatte auf ihn geschossen? So schnell sah man sich also wieder, wenn auch nicht im Guten. Sabrina blickte auf den jungen Lieutenant, der alles andere als stolz aussah. Sein Gesicht deutete eher auf Überrumpelung und Ratlosigkeit hin. James Norrington war der einzige in der Runde, der noch alle Nerven beisammen zu sein schien.

„Haben Sie den Piraten gesehen, Miss? Hat er Ihnen etwas angetan? Er ist sehr gefährlich, wir müssen ihn unbedingt finden.“

Er bedrängte Sabrina mit einer fordernden Art, die ihr ein wenig Angst machte. Dieser Norrington meinte es ernst. Wenn sie ihn finden würden, dann würden sie ihn hängen.

„Ich habe niemanden gesehen….ich war…ich war nur ein bisschen spazieren“, log Sabrina und betete, dass man ihr diese Lüge abkaufen würde.

Die Runde schwieg und starrte sie an. Ihr Herz rutschte ihr in die Hose, aus Angst, man würde ihr die Lüge nicht abnehmen. Norringtons strenge Blicke waren wie Messerstiche. Vielleicht konnte er ja heimlich Gedanken lesen, dann war sie sicherlich die nächste für den Galgen, dachte Sabrina und verbannte diesen unsinnigen Gedanken gleich wieder. Sie sah zu ihrer Mutter.

„Ich will ins Bett, ich bin müde“, bat sie Catherine mit weinerlich flehenden Augen und hoffte, man würde ihr das abnehmen und sie aus dieser Situation herausbringen.

Catherine nahm Sabrina in den Arm und führte sie Richtung Haus zurück.

„Entschuldigen Sie, Sir, aber ich glaube der Tag war zu viel für sie. Sie muss dringend ins Bett.“

Sie strich ihrer Tochter behutsam über die Haare. Sabrina erwartete tadelnde Worte wegen des Kletterns, aber sie bekam nichts davon zu hören. Anscheinend waren wirklich alle so stark in Sorge gewesen, dass sie einfach erleichtert waren, dass sie noch lebte und unversehrt war. William ging auf der anderen Seite und legte eine Hand auf Sabrinas Rücken. Auf der rechten Seite gingen sie an Sarah und Theodore Groves vorbei. Sabrina erhaschte ein Blick und stellte fest, dass auch der Lieutenant sie ansah, tief blickten sie sich in die Augen und Sabrina klopfte das Herz bis zum Hals.

„Guten Abend, Sir“, stammelte sie verlegen und hätte sich dafür selbst ohrfeigen können.

Als sie drinnen waren, kam Norrington zu seinem Neffen. Abseits der anderen flüsterte er ihm ins Ohr:

"Hab ein Auge auf die kleine, ich habe das wage Gefühl, dass sie uns etwas verschweigt."

Und Theodore nickte gehorsam.

Die Kluft zwischen "Arm" und "Reich"

„Sabrina, du musst endlich aufhören mit deinen lächerlichen Kindereien. Es ist gefährlich und du wirst bald 18 Jahre alt. Du musst dich endlich verhalten, wie eine erwachsene Frau.“

Richard Stuart hatte sich mit verschränkten Armen vor der Brust aufgebaut direkt vor seiner Ziehtochter. Das tat er immer dann, wenn er sie maßregelte. Sabrina kannte diese Haltung von ihrem Vater, die undurchdringbare Kälte und Strenge, wie eine eiserne Mauer. Nichts brachte diese Mauer zum Einstürzen, deswegen vermied sie es normalerweise seine Wut auf sich zu ziehen.  

Es war der nächste Tag nach dem großen Aufruhr. Eigentlich war Sabrina direkt mit Ava nach Berthold schauen gegangen. Nun war sie zurück, um sich mit einigen Schillingen auf dem Weg zur Apotheke zu machen. Doch sie wurde von ihrem Vater abgefangen, da ihr Verschwinden nicht unbemerkt geblieben war. Mit hängendem Kopf stand sie an der Eingangstür und hörte sich die Standpauke ihres Vaters an. Am besten, sie leistete keine Widerworte, sonst würde sich seine Wut nur ins unermessliche steigern. Nur das Problem war, dass in ihrem Inneren in diesem Moment pures Chaos war.

„Deine Mutter ist gestern fast umgekommen vor Sorge“, wetterte Richard weiter und ging vor ihr auf und ab. „Das muss endlich ein Ende haben. Deine Ausflüge in die Wildnis, das Klettern auf Bäumen und jetzt rennt auch noch ein Mörder frei herum, der auf der Suche nach dir ist. Du benimmst dich wie ein-„

„Pirat?“, entkam es Sabrina leise.

Der Blick ihres Vaters wurde finster. Er hatte es genau gehört und blieb stehen. Seine Augen funkelten. Die Ruhe vor dem Sturm.

„Sabrina, du begibst dich gerade auf ganz dünnes Eis“, kam es leise, beinahe bedrohlich von ihm.

„Aber das ist doch, was alle von mir denken“, platzte es aus ihr heraus. „Die Mütter verbieten ihren Kindern, mit mir zu spielen, auf der Straße bekomme ich abfällige Blicke, die anderen Mädchen spotten über mich. Sie werden mich nie als Menschen sehen, für die anderen bin ich nur jemand, der in Ungnade gefallen ist. Jemand, mit dem niemand etwas zutun haben will. Es ist viel schlimmer, als zu sterben. Du weißt nicht, wie sich das anfühlt.“

Sabrina konnte nicht mehr an sich halten, die angestauten Emotionen preschten herunter wie ein unbändiger Wasserfall. Ihr Körper zitterte vor Nervosität, Wut und vielen anderen ihr unbekannten Gefühlen. Richard, selbst überrascht über den Ausbruch seiner Tochter, ging tatsächlich ein Schritt zurück. Doch seine Haltung war immer noch aufrecht. Abwehrend hob er die Hände, um Sabrina zu besänftigen.

„Ich weiß, dass du eine schwere Zeit hattest, aber-„

„Jetzt komm mir nicht wieder mit ‚später lachen wir alle darüber‘. Das ist überhaupt nicht lustig. Und überhaupt, glaubst du wirklich dass es ein später geben wird? Ich denke nämlich nicht. Ich denke, dass ich mir eine Kugel gebe, wenn ich mein ganzes Leben lang hier in Port Royal verbringen muss unter diesen Leuten, die meinen, ein Leben vor dem Gesetz bewerten zu können. Die nur danach lechzen, den nächsten am Galgen baumeln zu sehen, weil ihr eigenes Leben so armselig und ächzend ist und das Leid anderer für sie pure Unterhaltung ist.“

Sabrina war so wütend, so unglaublich wütend. Sie liebte ihre Eltern, und sie mochte auch Port Royal. Aber sie war nur geduldet. Sie war keiner von den Menschen hier und würde auch nie wirklich zu ihnen gehören. So oft führten sie diese Gespräche und nichts kam dabei rum außer dass ihre Mutter weinte und ihr Vater schimpfte. Es hieß immer, später würde alles besser werden. Es hieß: Sabrina, stell dich nicht so an! Sabrina, benimm dich wie ein Mädchen in deinem Alter! Sabrina, sei doch einfach mal vernünftig und normal! So oft versuchte sie sich, anzupassen. So oft scheiterten alle Bemühungen. Manchmal fragte sie sich, warum sie überhaupt existierte. Mit ihrem Ausbruch hatte Richard nicht gerechnet, Sabrina widersprach nie. Und vor allem nicht in dieser Wut.

„Würdest du Gibbs jetzt seine Bestellung bringen?“, lenkte Richard daher vom Thema ab. Er war immer noch wütend aber auch ein kluger Mann. Hier kam er nicht weiter. Wenn zwei wütende Menschen wie zwei Wellen aufeinander trafen, war es niemals möglich, ein gutes und effektives Gespräch zu führen. Er sollte es auf heute Abend verschieben.

„War ja wieder klar. Sobald das Gespräch unangenehm wird und dir die Argumente ausgehen, ziehst du den -„

„Sabrina, ich kann auch anders!“, brüllte Richard seine Tochter diesmal so laut an, dass sie zusammenzuckte.

Sie warf ihrem Vater noch einmal einen erbosten Blick zu, dann nahm sie die Kiste, stapfte sie die verstaubte Straße entlang Richtung Hafen, wo Gibbs arbeitete. Richard massierte sich die Schläfen und lehnte sich an die Küchenzeile. Catherine, die von all dem mitbekommen hatte, strich behutsam über den Arm ihres Mannes.

„Sei nicht so streng mit ihr, Liebling. Sie braucht etwas mehr Zeit, als andere. Alles wird sich fügen, wenn es soweit ist.“

„Oh Catherine…sie war noch nie so unvernünftig. Ich mache mir langsam wirklich Sorgen, dass sie etwas Dummes anstellt. Du weißt, was auf dem Spiel steht.“

„Ich weiß, Liebster. Ich weiß…doch du kannst sie nicht vor allem beschützen. Eines Tages müssen wir sie gehen lassen. Sabrina ist nun alt genug, um ihre eigene Entscheidungen zu treffen. Mir tut es genau so weh, wenn ich daran denke, dass das auch bedeuten könnte, dass sie sich am Ende ein Todesurteil einhandelt. Und doch habe ich Vertrauen in meine Tochter. Wir haben sie gut erzogen und sie hat ein reines Herz. Ich habe vertrauen in sie, dass sie das richtige tun wird.“
 

Sabrinas rotes Kleid wehte um ihre Knöchel. Ihr ebenso rotes Haar wurde am Hafen vom Wind herumgewirbelt. Frische salzige Seeluft kam ihr entgegen, die sie tief einatmete und in sich aufsog. Möwen flogen über ihrem Kopf hin und her und schnatterten mit ihren Schnäbeln die schrägsten Töne. Sabrina vernahm auch das Wasser, was am Hafen an den unzähligen Schiffen und Booten leckte. Das Rauschen der Wellen, ein wundervoller Klang. Ihre Schuhe klapperten auf dem hölzernen Steg, als sie ihn betrat um Gibbs am Hafen zu suchen. Sabrina presste die große hölzerne Kiste fest an sich, als würde sie Halt suchen. Bestellungen, die eigentlich schon letzte Woche hätten da sein müssen. Zum Glück war Gibbs jemand, der sehr geduldig war. Andere Kunden hätten Richard Stuart bereits die Leviten gelesen, doch gerade Handelsabkommen mit weiter entfernten Städten nahmen Zeit in Anspruch und so konnte es dauern, bis eine Kutsche mit den gewünschten Waren eintraf.

Der Hafen war nicht nur der Mittelpunkt sondern auch der "Kern der Wahrheit" von Port Royal, so nannte ihn Sabrina, denn hier sah man deutlich die Kluft zwischen arm und reich. Da gab es die ärmeren Matrosen, die in der Sonne mit zerrissener Kleidung und nach Schweiß riechend körperlich harte Arbeit verrichteten, nur um ihre Familie irgendwie über die Runden zu bekommen. Ungepflegt waren sie, meistens voller Dreck, und dennoch voller Leben und Zuversicht.

Und dann gab es da die edlen feinen Leute, die in schönen Kleidern am Pier spazieren gingen, das Gesicht hinter einem Fächer versteckt und welche auch ab und zu im Schutz der Soldaten eine Bootstour unternahmen. Auf den großen Gefährten, die zur britischen Marine gehörten, dort waren immer die uniformierten Männer anwesend. Instinktiv suchten Sabrinas Augen auch nach Lieutenant Theodore Groves, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Etwas hatte sie schon früh dazu bewegt, all dieses Treiben durch andere Augen zu sehen. Nur heute war es anders. Die dunkle Wahrheit unter den Palmen von Port Royal waren ihr noch nie so bewusst wie heute.

Sie dachte an den Morgen, als sie Berthold in der Hütte besucht hatte. Der Junge hatte über Nacht hohes Fieber bekommen und sie hatte eigentlich für diesen Botengang, den sie hier verrichtete, keine Zeit. Die Weidenrinde würde nur für kurze Zeit helfen, sie brauchte bessere Arznei. Aber da war nicht nur die Sorge um ihren Bruder, die sie beschäftigte, es war auch das Gespräch welches sie am Morgen geführt hatten.
 

Einige Stunden zuvor:
 

Unbeobachtet suchte Sabrina alle wichtigen Utensilien im Haus zusammen. Sie packte geschwind einen Korb mit hart gewordenem Brot, gedörrtem Fleisch und einem leicht weich gewordenem Apfel. Dazu schnappte sie sich noch einen Eimer mit Wasser, eine Flasche Alkohol und saubere Tücher. Um nicht ganz verdächtig zu wirken packte sie all das auf einen Holzwagen, welchen Richard für Ware benutzte, und legte eine Decke darüber. Würde sie jemand auf der Straße damit sehen, dann würde derjenige vermuten, dass sie Bestellungen ausfuhr.

„Auffallend unauffällig“, flüsterte sie Ava zu und schickte ihren Hund voraus.

Der Trubel draußen war trotzdem eine Herausforderung und Sabrina musste sich wirklich zusammenreißen, sich nicht durch einen ungünstige Körperhaltung oder einem Gesichtsausdruck selbst zu verraten. Deswegen summte sie eine Melodie, um sich lockerer zu machen und abzulenken.

Je näher die dem Wald kam, desto weniger Menschen wurden es. Unbemerkt lenkte sie die Karre zwischen die Böschungen. Es wurde immer schwerer, das hölzerne Gefährt voran zu schieben. Sabrina musste große Kraft aufwenden. Schließlich passierte das, was passieren musste. Sie fuhr über einen großen spitzen Stein, den sie übersehen hatte, der Wagen blieb stecken und als sie dagegen drückte, brach er unter einem lauten Bersten auseinander.

„Verflixt!!!“, knurrte sie und versuchte, es irgendwie noch zu retten.

Doch das Gefährt war nicht mehr zu gebrauchen. Der Stein hatte sich genau in der Mitte zwischen die Räder durch das Holz gebohrt. Der Eimer mit dem Wasser lag in der Schräge und der Inhalt hatte sich beinahe komplett entleert.

Das war der einzige Wagen, den sie hatten. Wie sollte sie das ihrem Vater erklären? Fluchend trug sie alles den restlichen Weg, sehr vorsichtig um nicht noch mehr von dem kostbaren Wasser zu verlieren.
 

In der alten Hütte lag der verletzte Berthold genau dort, wo Sabrina ihn am gestrigen späten Abend zurückgelassen hatte. Auf dem eingestürzten Holzbett, auf der mottenzerfressenen und vergilbten Matratze. Der junge Pirat hatte die Augen zu. Seine Brust hob und senkte sich langsam. Berthold war sehr schwach. Sabrina stellte den Korb leise auf dem runden Holztisch, welcher in der Mitte des Raumes stand.

„Du bist zurück“, flüsterte er heiser und konnte kaum seine trockenen Lippen bewegen. Seine Augen öffneten sich nur einen kleinen Spalt.

Sabrina sah in sein aschfahles Gesicht. Er war so weiß wie Elfenbein, Schweißtropfen hatten sich auf Stirn und Kopf gebildet. Sie schleppte den halbdollen Eimer Wasser zum Bett und wrang wortlos den Lappen aus. Dann band sie Bertholds Wunde auf. Sie musste sich die Nase zuhalten. Aus der Wunde kam ein strenger Geruch entgegen. Das Blut war zwar getrocknet, doch stattdessen tropfte eine gelbliche Flüssigkeit aus der Öffnung. Mit dem feuchten Lappen begann sie, die Wunde sauber zu wischen. Berthold zuckte unter der Bewegung stark zusammen und knurrte vor Schmerz. Reflexartig griff seine Hand an den Gürtel, wo er normalerweise eine Waffe trug.

„Tut mir leid, aber ich muss das machen. Die Wunde hat sich entzündet“, erklärte Sabrina einfühlsam.

Sie schaffte es, das getrocknete Blut und den Eiter abzuwaschen. Doch jetzt kam erst der schwierige Teil. Mit der Pinzette musste sie nun in der Wunde herumstochern, um die Kugel herauszuziehen. Wenn sie das nicht tat, Gott bewahre, dann würde er sich bei der Entzündung im schlimmsten Falle noch eine Blutvergiftung oder schlimmeres zuziehen.

„Das wird jetzt noch einmal ein bisschen wehtuen“, warnte sie ihren Bruder.

„Ich hab schon schlimmeres durchgemacht. Sei schnell und nicht so zaghaft, reiß ihn in einem raus“, befahl er ihr keuchend.

Sabrina musste sich erst einmal zusammennehmen. Das hatte sie noch nie gemacht, so etwas. Hoffentlich machte sie alles richtig. Sie beträufelte die Pinzette mit Alkohol, dann legte sie das Instrument vorsichtig in die Wunde. Es war ein ekelhaftes Gefühl und sie hatte kein Gefallen daran, das Instrument in das Fleisch einzuführen. In ihrem Magen machte sich mit jeder Bewegung die Übelkeit bemerkbar. Berthold ächzte und stöhnte. Sabrina befürchtete, dass er am Ende das ganze Haus zusammen brüllte. Schließlich fand sie die Kugel und zog sie beherzt und zügig aus seinem Bein. Berthold schrie, bäumte sich auf und ließ sich dann keuchend und schwer atmend zurück auf die Matratze sinken. Sabrina hatte es geschafft. Sie sah sich die Kugel in der Pinzette genauestens an.

„Da hab ich dich, du kleiner Übeltäter“, triumphierte sie leise vor sich hin.

Der Alkohol, den Sabrina anschließend über die Wunde goss, war gegen den Schmerz davor deutlich besser zu ertragen. Mit sauberen Tüchern verband sie sein Bein sorgfältig. Es war alles getan, was sie tuen musste. Was sie tuen KONNTE. Berthold war versorgt.

„So habe ich mir unsere erste Begegnung auch nicht vorgestellt“, grinste der junge Piratenkapitän schief. „Da stehe ich wohl in deiner Schuld…Sabrina.“

Ihren Namen sprach er mit etwas Hohn aus. Der Unterton, den nahm Sabrina deutlich wahr. Aber sie machte sich nichts daraus.

„Ich habe dir ein bisschen Nahrung mit gebracht. Du musst was Essen, damit du wieder Kraft bekommst.“

„Ich habe keinen Hunger“, sagte Berthold. „Gib mir lieber etwas von dem Gebräu da. Das beruhigt meine Nerven.“

Er wollte nach dem Alkohol greifen, aber Sabrina entzog ihm die Flasche.

„Nein, nichts da! Der war teuer.“

„Frauen“, höhnte er und verdrehte die Augen.

Sabrina wechselte gleich das Thema.

„Warum hast du nach mir gesucht? Was willst du von mir?“

Sie war forsch und direkt. Sie wollte es wissen, warum jetzt. Warum. All die Jahre hatte sie ein friedliches Leben in Port Royal gelebt. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie einen Bruder hatte.

„Weil du ein Pirat bist, Schwesterchen. Und ein Pirat gehört auf ein Schiff auf den Ozean, mit einem Kompass in der rechten Hand und mit einer Landkarte in der linken. Mit dem Wind im Rücken und den Augen gen’ Horizont gerichtet.“

„Irrtum, ich bin eine Kaufmannstochter und das bleibt auch so“, sagte Sabrina entschlossen.

Berthold setzte sich mit Mühe auf, brach sich nun doch etwas vom Brot ab und kaute darauf herum.

„Du kannst dein Blut nicht ändern. Als unser Vater in die Tiefe gezogen wurde, gab ich ihm mein Versprechen dich zu beschützen. Das tat ich. Es war zwar nicht geplant, dich nach Port Royal zu bringen, dies war eher das Schicksal des Meeres. Ich konnte für dich nicht alleine Sorgen und musste eine neue Mannschaft anheuern, ein Schiff kapern und da wärest du mir zu Last gefallen. Also ließ ich dich in einem fremden Nest bei diesen Hennen und Gockeln dieser hochnäsigen Marine zurück, damit sie dich aufziehen und nähren konnten. Jetzt bist du erwachsen und bereit, mit mir in See zu stechen. Und deswegen bin ich hier.“

„Und da dachtest du, du stolzierst hier einfach nach Port Royal, bedrohst die hoch angesehene Familie Groves und erwartest, dass ich dir freudig in die Arme springe, mit dir und deiner Crew in den Sonnenuntergang segle und einfach mein ganzes Leben und die Menschen, die mir etwas bedeuten, hinter mir lasse?“

„Ja, so war der Plan“, grinste Berthold voller Überzeugung und schluckte den Bissen des Brotes hinunter. "Immerhin bist du meine Schwester."

„Falls es dir aufgefallen ist, Berthold, die Frau welche du gestern beinahe getötet hättest, hat mir mein Leben gerettet. Und ihr Sohn vor ein paar Tagen ebenfalls. Du bist der Familie Groves zu Dank verpflichtet.“

„Ich bin niemandem zu Dank verpflichtet“, zischte Berthold ungehalten. „Es war immerhin Norrington, ihr Bruder, der unser Schiff zerstörte und unseren Vater tötete. Gäbe es diese elenden Hunde nicht, hätte ich dich niemals hier lassen müssen.“

Er wurde so wütend, dass er das restliche Brot in seiner Hand zerdrückte.

„Norrington tat seine Pflicht.“

„Er hätte sich dagegen entscheiden können“, protestierte Berthold.

„Die Soldaten der britischen Marine sind jedem Befehl verpflichtet“, verteidigte Sabrina sie weiter. „Wenn auch nur einer verweigert wird, dann warten harte Strafen auf sie oder im schlimmsten Falle sogar der Galgen.“

„Und einige Menschen haben aufgrund ihrer Blutlinien nicht mal eine Wahl und hängen auf der Stelle, obwohl sie nichts taten, selbst Kinder. Wie rechtfertigst du das, Ki- oh Pardon, entschuldige- …Sa-bri-na!!!“

Dagegen konnte Sabrina nichts erwidern. Bertholds Worte waren wahr. Die Regeln in Port Royal waren streng. Jeder, der in Verbindung mit einer Person stand, die mit der Piraterie beschuldigt wurde, war dem Tode geweiht. Das Gesetz unterschied nicht bei Alter oder Geschlecht. Von dem Gesetz her dürfte auch sie nicht mehr leben. Sie lebte nur, weil Sarah es so wollte und sie unter ihrem Schutz stand. Und trotzdem hatte sie es auch nicht leicht gehabt. Denn jeder wusste, woher sie stammte. Sabrina ließ den Kopf hängen und sah zu Boden.

Plötzlich hörte sie, wie Berthold nach Luft röchelte, er hustete und krümmte sich. Sabrina reagierte sofort und gab ihm einen Metallbecher mit Wasser aus dem Eimer. Doch Berthold schaffte es nicht selbst, ihn in die Hand zu nehmen. Seine letzte Kraft verließ die Glieder in seinem Körper. Sabrina erkannte, dass der Körper ums Überleben kämpfte. Sie stützte ihren Bruder und mit der freien Hand legte sie ihm den Becher an den Mund und versuchte mit aller Müh, die Flüssigkeit trotz des Hustens in seinen Rachen zu befördern. Berthold schluckte und ließ sich dann zurück auf die Matratze sinken. Sabrina legte eine Hand auf seine Stirn. Sie war heiß und feucht.

„Du hast Fieber, Berthold!“, stellte sie mit Erschrecken fest. Sie hatte es befürchtet. Ein Klos breitete sich in ihrer Brust aus.

„Ja, dank dieser Pfeife Groves“, knurrte er.

„Ich muss dir Medikamente aus der Stadt holen“, dachte sie laut und begann, die Sachen zusammen zu räumen.

„Ich lasse dir den Eimer mit dem Wasser hier und den Rest vom Essen. Am besten machst du dir den Lappen immer wieder nass und packst ihn auf deine Stirn, ich werde so schnell ich kann wieder zurück sein.“

Sie wollte gerade zu Tür hinausstürmen, als sie innehielt.

Sie blieb im Türrahmen stehen und drehte sich noch einmal zu Berthold. Ein Blick reichte, um ihr klarzumachen, dass der Junge keine weitere Nacht überleben würde. Die Wunde war zwar gesäubert, der Fremdkörper entfernt und alles hatte sie mit Alkohol desinfiziert, dennoch…Sabrinas Magen zog sich zusammen. Sie hatte ihren Bruder gefunden, sie würde ihn nicht wieder so schnell gehen lassen.

Es gab doch dieses eine Mittel, mit welcher man Fieber senken konnte. Wie hieß sie noch gleich? Denk nach, Sabrina, denk nach…Catherine hatte es immer im Wald gesammelt, wenn sie kein Geld hatten für Medikamente. Es wuchs nicht weit von hier, es…natürlich, sie hatte es! Weidenrinde! Sabrina musste Weidenrinde finden.

„Ava“, rief sie ihren Hund. „Komm."

Der Hund gehorchte und lief aus der Hütte.

Sabrina zögerte, sah hinaus, wieder zu ihrem kranken Bruder zurück, hinaus, zu Bethold. Er lag dort, hatte die Augen geschlossen und seine Brust senkte und hob sich hektisch, als wäre er eine sehr lange Strecke gelaufen. Der kalte Schweiß lief ihm den kahlem Kopf hinab. Sie wollte ihn nicht alleine lassen, aber sie musste, sie hatte doch keine andere Wahl.

„Ich komme wieder“, sagte sie entschlossen und wusste nicht, ob Berthold es hören würde. „Ich komme wieder, ich verspreche es.“

Sabrina lief mit Ava noch tiefer in den Wald hinein. Eine Weide, sie mussten eine Weide finden. Nicht weit von hier, da gab es einen See, und am Ufer stand eine alte Trauerweide. Sie mussten sich beeilen, denn das Leben ihres Bruders stand auf dem Spiel.
 

Sabrina erinnerte sich, wie Berthold nach der Behandlung tief eingeschlafen war. Er sah so friedlich aus. Eine Weile, bevor sie zurückkehrte, saß sie nur so da und beobachtete ihn, streichelte über seinen kahlen Kopf. Dabei dachte sie immer wieder über seine Worte nach. Das alles beschäftigte sie sehr, selbst jetzt noch nach dem Streit mit ihrem Vater.

Sie musste dringend in die Apotheke. Doch dafür brauchte sie Zeit und das Geld. Das hatte sie aber nicht. Sollte sie etwa?…Nein, sie war kein Pirat. Sie würde nicht stehlen! Dennoch war Berthold doch ihr Bruder und er brauchte dringend Medikamente.

Sabrina entdeckte endlich Gibbs.

Joshamee Gibbs war ein älterer kleinerer Mann mit Backenbart, Kotletten und einer strengen Miene. Seine langen Haare hatte er immer zu einem Zopf im Nacken gebunden. Obwohl er streng aussah, so war er doch eher ein väterlich warmer Typ Mensch, wofür ihn Sabrina sehr schätzte. Was Gibbs ausmachte war sein umfangreiches Wissen über die Mythen der See, aber auch sein fotografisches Gedächtnis welches ihm erlaubte, jede Karte in seinem Kopf abzuspeichern. Er war der Navigator der Royal Navy und ein sehr wertvoller Bestandteil von Norringtons Crew. Und ja….er war ein wenig abergläubisch. Aber das nur als Randinformation, viel wichtiger war die Tatsache, dass Sabrina ihn endlich gefunden hatte, um ihm seine Bestellung zu übergeben.

Und vielleicht, ganz vielleicht konnte sie sich Gibbs anvertrauen.

„Sabrina Stuart“, begrüßte sie der ältere Herr mit seiner rauen Stimme und öffnete seine Arme einladend mit einem warmen breiten Lächeln. „Deine lebensfrohe und strahlende Erscheinung zu sehen ist doch immer wieder ein Geschenk des Himmels.“

Von dieser lebensfrohen Energie war gerade jedoch nichts vorhanden. Sabrinas Inneres brodelte immer noch vor Wut und Besorgnis. Gibbs besann sich und murmelte nur leise ein „das Gesicht gleicht heute eher dem eines Karpfens als meiner geliebten Sonne.“

„Master Gibbs“, erwiderte Sabrina, die seine Worte in der Tat gehört hatte, ihnen jedoch keine Beachtung schenkte.

Tatsächlich hellte sich ihr Gesicht aber etwas auf, als sie den alten Mann da so entspannt sitzen sah. Sie gab ihm eine Umarmung und Gibbs gab ihr einen kräftigen Kuss auf die Wange. Er roch nach Salz, Schweiß und harter Arbeit, dachte Sabrina. Sein Bart kitzelte sie auf ihrer zarten Haut. Sie lösten sich wieder voneinander.

„Darf ich?“, fragte Sabrina und zeigte auf den Platz auf der Kiste neben Gibbs.

„Aber sicher doch.“

Sabrina nahm neben ihm Platz und sah ihm interessiert bei der Arbeit über die Schultern.

„Was genau ist das, was du da machst?“

„Das ist ein Achtknoten“, erklärte Gibbs. „Der Achtknoten wird benutzt, um ein durchrutschen von Seilen durch einen Block oder Öse zu vermeiden. Sehr wichtig und gehört zum großen Schiffs-Ein-Mal-Eins.“

Sabrina nickte anerkennend.

Gibbs unterbrach seine Arbeit, um die Kiste mit seinem Hab und Gut zu öffnen. Seine Augen leuchteten wie die eines Kindes, welches gerade seinen Geburtstag feierte.

„Ahhhhhhhh das ist ja wunderbar“, summte er vollkommen zufrieden. „Gutes Material, diese Uhr, und man sehe sich erst die Verarbeitung dieses Fernglases an.“

Sabrina war mit ihren Gedanken allerdings ganz wo anders. Nachdenklich beobachtete sie ein paar lachende Soldaten auf der Interceptor, dem schnellten Schiff der Royal Navy und dachte darüber nach, wie sie am besten ein Gespräch anfangen konnte.

„Gibbs, wie heißt eigentlich Lieutenant Groves mit Vornamen?“, fragte sie ihn direkt wie eh und je.

Gibbs, erst ein wenig überrascht, drehte sich zu ihr um und hob seine Augenbrauen.

„Warum willst du das denn wissen, mein Kind?“, fragte er sie argwöhnisch und hob eine Augenbraue.

„Nur so“, druckte Sabrina verlegen, sah nach unten und knetete ihre Hände. „Er hat mich vor kurzem auf der Straße vor einer Kutsche gerettet, ich wollte mich bei ihm nochmal persönlich bedanken und …ich war neugierig.“

„Sabrina Stuart, du warst schon immer eine schlechte Lügnerin“, tadelte Gibbs mit erhobenem Finger. „Das rot auf deinen Wangen, was fast die gleiche Farbe wie dein Haar hat, verrät es. Aber schlag dir den Jungen gleich aus dem Kopf, der ist nichts für dich.“

Ein Schmerz durchzog Sabrinas Inneres. Ja, Gibbs hatte Recht. Sie waren nicht aus denselben Schichten. Er, ein hoch angesehener Lieutenant, und sie, ein Waisenkind, was durch ein Mal auf ihrem Arm als einer der gefährlichsten Piraten gekennzeichnet war. Sie seufzte tief und etwas niedergeschlagen. Träume. Nichts weiter, als Träume. Aber über so etwas wollte sie sich keine Gedanken machen. Sie suchte den Übergang zu dem, was sie Gibbs eigentlich anvertrauen wollte.

„Weißt du, Gibbs…ohne Familie Groves wäre ich gar nicht mehr am Leben“, begann sie zögerlich. „Ich verdanke dies der Gutmütigkeit seiner Mutter. Sie ist eine hoch angesehene Frau, das unterscheidet sie von mir. Doch nun benötigt jemand anderes Hilfe und ich habe nicht die Möglichkeit dazu. Deswegen wollte ich dich fragen, ob du mir ein paar …Schilling leihen könntest.“

Es war Sabrina so unangenehm, dies zu fragen. Aber sie hatte doch keine andere Wahl. Als sich eine Pause des unangenehmen Schweigens einschlich, setzte sie noch ein hastiges „ich zahle es dir auf jeden Fall zurück!“, dran.

„Sabrina, was heckst du da aus?“

Gibbs Worte waren scharf und eindringend wie die Klinge eines Messers. Ihm und seinem klugen Kopf konnte man nichts vormachen.

„Kannst du etwas für dich behalten?“, fragte Sabrina und sah ihm flehend in die Augen.

Es dauerte einige Zeit, doch dann nickte Gibbs. Ihm blieb nichts anderes übrig, er konnte Sabrina nicht so einfach im Stich lassen.

"Sprich es aus, was auch immer dich bedrückt, Sonnenschein."
 

Sabrina erzählte Gibbs alles. Der alte Mann hörte aufmerksam zu und nickte. Erst war er nicht begeistert davon, aber dann willigte er letztendlich ein, gab Sabrina das Geld und bot ihr an, selbst am Abend mit ihr vorbeizuschauen.

Sabrina dankte dem Himmel dafür. Nie hatte sie solch eine Hilfsbereitschaft erwartet. Es war so erleichternd, dass da jemand war, mit dem sie dieses Geheimnis teilen konnte. Das machte ihr Herz nicht mehr so schwer.

Dies änderte sich jedoch, als sie vorbei an Gibbs zum Ufer sah.

Da stand ein Mann in blauer Uniform, mit einem großen schwarzen Hut und einer blonden Perücke. Er sprach gerade mit einem Aufseher, ehe er schnellen Schrittes weiterstolzierte…zielgerade in die Richtung von Sabrina und Gibbs. Sabrina rutschte das Herz in die Hose.

„Mrs. Sabrina Stuart.“

„Lieutenant Groves?“

Sabrina war sich unsicher, wie sie am höflichsten und normalsten reagierte, so wurde ihre Begrüßung zu einer seltsamen Mischung aus einem hektischen Aufstehen, einem verkorksten Knicksen, halbem Verbeugen und verwirrten Gehampel. Gibbs, der noch an seinem Achtknoten herumwerkelte, beobachtete dieses seltsame Schauspiel und konnte sich ein schräges Grinsen nicht verkneifen.

Wie es sich für die britischen Soldaten gehörte verzog Groves keine Miene. Er stand stocksteif da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sein Gesicht klar und undurchsichtig.

„Ich wollte mich nur bei Ihnen erkundigen, wie es Ihnen erging seit dem gestrigen Vorfall. Man berichtete mir, dass Ihr von einem Baum gefallen seid.“

Sabrina war erst ein wenig perplex. Das hatte sie erzählt, ja, aber nicht der gesamten Royal Navy. Bei dem Stolz der britischen Marine! Höchstwahrscheinlich wurden ihre Eltern und Will befragt. Sie waren also doch misstrauisch und glaubten ihr ihre Geschichte nicht, die sie ihnen gestern aufgetischt hatte.

„Seien sie versichert, Sir. Es benötigt noch etwas mehr als einen Baum um mich ernsthaft außer Gefecht zu setzen.“

Dabei grinste sie breit. Dieses Grinsen wurde nur sehr schwach und leicht vom Lieutenant erwidert, der all dies mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. Da kam die Erinnerung an die Kutsche wieder hoch und Sabrinas Grinsen erstarb. Was schwafelte sie hier bloß?

„Da….kann ich dann ja beruhigt sein. Bei der Royal Navy war das Wohlergehen der Bürger von Port Royal nämlich schon immer eine hohe Priorität.“

Was für eine Lüge, dachte sich Sabrina. Die Soldaten kümmerten sich um vieles, aber Sabrina erinnerte sich an damals. Kinder auf den Straßen starben an Hunger und Krankheiten zwischen Ratten und Dreck. Und die britische Royal Navy hat damals nichts unternommen, nicht einmal, als die weinenden Mütter darum bettelten, dass man wenigstens ihren Kindern half. Natürlich konnte man nicht jedes Leid verhindern und der Zustand in Port Royal hatte sich über die Zeit auch gebessert, das wusste Sabrina, dennoch tat ihr das weh die Kluft zwischen den Adelsständen zu sehen. Waren sie nicht alle Menschen? Hatten sie nicht alle ein Recht auf ein Leben ohne Sorgen? Hatten sie nicht ein Anrecht auf Freiheit? Bertholds Worte hatten sich so tief in ihre Gedanken gebrannt. Sie sah den Schmerz in seinen Augen, die Wut, den unbändigen Hass.

Sabrina blickte Theodore in die Augen, konzentrierte sich, aber trotzdem musste sie immer wieder an ihren Bruder denken. An die Angst und die Sorge. Daran, dass dieser Mann, der sich hier nach ihrem Wohl erkundigte, gestern beinahe ihren Bruder getötet hätte. Der dafür hätte sorgen können, dass Sabrina ihn vielleicht nie kennengelernt hätte. Es war Lieutenant Theodore Groves, der dafür verantwortlich war. Und dieser Mann, für welchen sie schwärmte, würde im späten Abendrot derjenige sein, der mit seiner Flinte auf sie schießen würde, wenn er heraus bekam, dass sie nicht weit von ihr in einer Hütte einen der berüchtigtsten Gauner der Karibik gesund pflegte.

Aber sie verlor sich dennoch in diesen Augen, die so neugierig und einfühlsam auf sie herabsahen. Da war etwas anderes dahinter, oder täuschte sie sich? War das alles nur eine Fassade?  Sabrina fragte sich, was wirklich in dem Kopf des Soldaten vor sich ging. Was er tatsächlich dachte, wenn er mal kein Soldat war. Was Theodore dachte, wer Theodore war und was ihn als Menschen ausmachte.

Groves geübte Haltung verriet es nicht, aber im Inneren wurde er ein wenig nervös. Nicht zuletzt, da Norrington ihn darauf angesetzt hatte, Sabrina nicht aus den Augen zu lassen, da er ihr nicht vertraute. Das durfte sie jedoch nicht wissen und er könnte sich womöglich mit einer dummen Handlung selbst verraten.

Die Szenerie wurde unterbrochen, als ein  fremder Soldat über den Steg angelaufen kam. Er war so schnell unterwegs, dass er seinen Hut mit der freien Hand festhalten musste.

„Lieutenant Norrington, Sir...er“, keuchte er. „Er möchte Sie sehen, Sir.“

„ICH muss dann auch weiter“, entkam es in diesem Moment von Sabrina. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte dabei über den Steg vorbei am Soldat, sah dabei aber nicht das Tau, welches Gibbs immer noch knotete und stolperte. Groves und der Soldat zuckten zusammen und wollten reagieren, als Sabrina auf alle Viere fiel.

„Nichts passiert“, sagte sie jedoch und hob die Hände. Peinlich berührt stand sie schneller auf, als sie gestürzt war und trat sich dabei auf den Saum ihres Kleides, welches ein lautes RATSCH von sich gab. Unten am Saum hing jetzt ein Fetzen. Sabrina fluchte, riss sich den Fetzen einfach vom Stoff und taumelte dann peinlich berührt den Steg hinab. Ihr Gesicht war so rot wie eine Tomate, aber das konnten die anderen Gott sei Dank nicht sehen, da sie ihnen den Rücken zugedreht hatte. Verflucht sei ihre Tollpatschigkeit, verflucht seien ihre motorischen Fähigkeiten. Sie hatte sich gerade nicht nur vor der Navy, sondern auch noch vor dem Lieutenant lächerlich gemacht. Peinlich, einfach nur peinlich! Sie wollte weit weit weg von hier.

Die Männer sahen ihr alle vier hinterher. Gibbs war der erste, der seinen Blick abwendete und mit hochgezogenen Augenbrauen zu Theodore hochsah. Er hatte alles beobachtet, ihm war es nicht entgangen, was da zwischen dem Lieutenant und Sabrina war. Und er war auch nicht derjenige, der sein Mundwerk hielt.

„Was für eine Ironie des Schicksals“, murmelte er verheißungsvoll. „Hat da etwa der Lieutenant etwa ein Auge auf die verhöhnte Piratenbraut von Port Royal geworfen?“

Der nachfolgende Laut von Groves sollte eigentlich ein abwehrendes Raunen oder Räuspern werden, stattdessen war Theodores Stimme verheißungsvoll hoch und glockenhell, es war eher ein fiepsiges, schrilles ersticktes Geräusch, was aus seiner Kehle fast klagend entwich. Selbst erschrocken über sich selbst verstummte Groves und er wurde unruhig.

Gibbs begann, lauthals und dreckig darüber zu lachen. Peinlich berührt stolzierte auch Theodore davon, dicht gefolgt vom Soldaten, der selbst nicht wusste, wie er reagieren sollte, denn er fürchtete für eine nicht angemessene Bemerkung die Verärgerung seines Lieutenants auf sich zu ziehen und dies riskierte er lieber nicht.

Auch Theodore fragte sich, was genau da gerade passiert war. Was konnte der alte Mann sich nur erlauben? Er hatte kein Auge auf Sabrina...er. Nein er doch nicht. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er Mary immer noch nicht die Einladung zum Essen übergeben hatte.



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