Ein Windstoß fegt über den Weg am Alsterufer und erzeugt einen kleinen Wirbel aus Schneeflocken.
Mitte Februar und es hat tatsächlich noch einmal geschneit, wenn auch nicht viel. Aber seit heute
Morgen fallen stetig kleine Flöckchen nach unten und haben inzwischen ganz Hamburg unter einer
feinen weißen Puderschicht begraben. Auf den Straßen herrscht jetzt schon Chaos und mein Bus
nach Hause ist ausgefallen. Aber ich mag Schnee, trotzdem, die Welt wirkt dann wie im Schlaf und
ruhiger. Und Ruhe kann ich gerade echt gebrauchen.
Ich greife in meine Manteltasche, ziehe den Briefumschlag heraus und öffne ihn. Ist gar nicht so
leicht mit steifgefrorenen Fingern, lange sollte ich hier wohl nicht mehr sitzen bleiben.
Wie konnte das nur passieren? Ich sehe auf die Karte in meiner Hand und fühle mich immer noch
vollkommen überfordert. Ein großes rotes Herz prangt in der Mitte, mit glitzernder Schrift. Be my
Valentine. Ich schließe die Augen, vor mir sehe ich immer noch Lara vor mir stehen, die mir nach der
Schule vor der ganzen Klasse die Karte überreicht und mich fragt, ob ich mit ihr gehen möchte. Weil
sie sich in mich verliebt hat. Und ich starre sie einfach nur entsetzt an, unfähig, darauf zu reagieren,
eine gefühlte Ewigkeit lang. Bis ich ihr letztendlich panisch die Karte aus der Hand nehme, ihr sage,
dass wir da später drüber reden und dann fluchtartig die Schule verlasse. Und dieses Später schiebe
ich jetzt vor mir her, sitze im Alsterpark und warte auf nichts, weil ich da eigentlich nicht drüber
reden möchte.
Ich meine, ich mag Lara, wirklich, wir sind Freunde, wir sind zusammen in der Theater-AG und
verstehen uns gut, aber verliebt? Nein, ich denke nicht… Ich war zwar noch nie verliebt, aber das
stelle ich mir anders vor, besser, mit Schmetterlingen im Bauch und Herzklopfen. Wenn ich an Lara
denke, habe ich kein Herzklopfen, wirklich nicht. Und die Vorstellung, sie küssen zu müssen,
verursacht bei mir eigentlich nur Übelkeit.
Ich hebe den Kopf, als ich ein Fahrrad näher kommen höre, es sind gerade eigentlich nicht viele Leute
hier unterwegs, nur ein paar Spaziergänger in der Ferne, die sich wie ich auch von Schnee und Wind
nicht aufhalten lassen. Das Fahrrad hält vor der Bank, auf der ich sitze und der Junge, der darauf sitzt,
sieht mich fragend an.
„Hey, alles okay bei dir?“ Er ist ungefähr mein Alter, vielleicht ein Jahr älter. Seine schwarzen Haare
fallen ihm ins Gesicht, sie sind ein bisschen zu lang, vielleicht sollte er sie zusammen binden. Und er
hat blaue Augen, was, wie ich finde, eine ziemlich interessante Kombination ist.
„Ja, wieso fragst du?“
„Hm, weiß nicht, du sitzt hier in der Kälte am Valentinstag und starrst auf dieses kitschige Teil in
deiner Hand. Ich dachte, vielleicht hast du einen Korb gekriegt.“ Er schmeißt sein Fahrrad auf den
Boden und kommt zu mir rüber.
„Das ist nicht kitschig, das ist höchstens romantisch!“, fahre ich ihn beleidigt an und stecke die Karte
wieder ein. „Außerdem ist die von einer Freundin.“
Der Junge zieht eine Augenbraue nach oben. Fasziniert gucke ich ihn an, wieso kann der das? „Eine
Freundin also?“
„Ja, eine Freundin.“, seufze ich.
„Aha.“. Er lässt sich neben mir auf die Bank fallen. „Wenn die von einer Freundin ist, warum freust du
dich dann nicht darüber? Stattdessen siehst du aus, als müsstest du dich gleich übergeben.“
Ist das jetzt seine Art, mir zu sagen, dass ich scheiße aussehe. Danke. Für wen hält der sich
eigentlich? Aber sein Blick ist nicht unfreundlich dabei, vielleicht will er wirklich nur nett sein.
„Weil sie mich gefragt hat, ob ich ihr Freund sein möchte. Ihr fester Freund.“ Nervös knete ich auf
meinen Fingern rum. Keine Ahnung, warum ich ihm das erzähle, ich kenne ihn ja gar nicht. Aber
vielleicht macht es gerade das leichter…
„Und du willst das nicht.“
„Oh Gott, nein!“, entfährt es mir entsetzt und der Junge guckt mich überrascht an. Vielleicht hätte
ich nicht so heftig darauf reagieren sollen…
„O-kay? Ist sie so hässlich?“ Er lehnt sich auf der Bank nach hinten und streckt seine langen Beine
aus.
„Nein… ich denke nicht. Da habe ich ehrlich gesagt noch nie drüber nachgedacht. Ich will das aber
einfach nicht.“ Will ich wirklich nicht… Ein Thema, mit dem ich mich schon seit Monaten beschäftige
und auf das ich noch immer keine Antwort habe.
„Na, dann halt nicht.“, stellt er entspannt fest. „Gibt bestimmt ein anderes nettes Mädchen, das dir
gefällt.“ Ich blicke ihn mit großen Augen an, nicht in der Lage, zu verstecken, was ich davon halte.
Denn auch die Vorstellung von anderen Mädchen ist nicht besser. Und sein Gesichtsausdruck
verändert sich langsam, als würde er verstehen, was ich meine. „Oder ein netter Junge?“
Er lächelt mich an, als er das sagt, trotzdem weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll und vergrabe
mein Gesicht in meinen Händen. Gott, ist mir das unangenehm!
„Ich… weiß es einfach nicht... Aber wenn ich mir vorstelle, ein Mädchen zu küssen, wird mir ganz
anders.“, gebe ich kleinlaut zu.
„Du hast also noch nie ein Mädchen geküsst?“, schlussfolgert er richtig aus meiner Aussage. Ich nicke
einmal kurz und bin mir immer noch nicht sicher, warum ich das ausgerechnet einem Fremden
erzähle. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es ihn stört. „Und würdest du es auch schlimm finden,
einen Jungen zu küssen?“
„Ich… keine Ahnung, ich weiß es nicht…“ Was soll denn diese Frage jetzt?
„Hm, du weißt eine ganze Menge nicht.“ Er setzt sich wieder gerade hin, dreht sich zu mir und guckt
mir direkt in die Augen. „Möchtest du es ausprobieren?“
„Was?!“ Mein Herz macht einen Satz. Damit habe ich nicht gerechnet…
Er grinst mich amüsiert an. „Du hast mich schon verstanden. Möchtest du mal einen Jungen küssen?“
Ich sehe ihn völlig entgeistert an. „Ich meine, vielleicht verschafft dir das ein bisschen Klarheit.“
„Und deswegen soll ich dich jetzt küssen?“
„In Ermangelung anderer Jungen hier – ja. Außerdem, wir kennen uns nicht und werden uns
wahrscheinlich auch nie wieder sehen. Es ist also auch vollkommen egal, wenn es dir am Ende nicht
gefällt. Was hast du also zu verlieren?“
Gut, da hat er natürlich schon recht. Und es würde mir vielleicht wirklich helfen, endlich Antworten
zu finden. Der erste Kuss sollte zwar irgendwie was Besonderes sein, aber wenn man nicht einmal
weiß, wen man küssen möchte, wird das ganz schön schwierig. Warum also nicht?
„Okay.“, stimme ich nach kurzer Überlegung zu und er sieht mich freudig überrascht an.
„Wirklich?“
„Ja, wirklich. Du hast doch gefragt.“
In seinem Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus. „Gut, dann werde ich dich jetzt küssen.“ Er
hebt seine rechte Hand, legt sie mir auf die Wange und beugt sich zu mir rüber. Seine Finger sind
warm, obwohl wir jetzt schon eine Weile in der Kälte sitzen und ich fühle seinen Atem in meinem Gesicht, als sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Mein Gesicht fühlt sich unglaublich heiß an und
mein Puls rast. Passiert das hier gerade wirklich?
Ich schließe die Augen, als er seine Lippen auf meine legt und in diesem Moment fühlt es sich an, als
würde etwas in mir explodieren, ein Feuerwerk, das durch meinen Körper rauscht und jede Faser in
mir in Brand setzt. Und ich weiß ohne Zweifel, so muss sich das anfühlen.
Es dauert nicht lange und er löst sich schon wieder von mir. Ich sehe ihn einfach nur ungläubig an, ich
kann immer noch nicht ganz fassen, was gerade passiert ist. Aber eins weiß ich jetzt ganz sicher.
„Ja, ich steh auf Jungs.“
Er grinst und steht dann von der Bank auf. „Na dann, freut mich, dass ich helfen konnte.“ Mit langen
Schritten geht er zu seinem Fahrrad und hebt es vom Boden auf.
„Dann wünsche ich dir jetzt noch einen schönen restlichen Valentinstag!“ Er steigt auf das Rad, winkt
mir noch einmal kurz zu und fährt los. Ich schaue ihm noch eine Weile hinterher, sehe die Spur im
Schnee, die sein Fahrrad hinterlassen hat, bevor ein weiter Windstoß sie durcheinander wirbelt.
Ja, ich stehe auf Jungs. Auf welche mit schwarzen Haaren und blauen Augen…