Zum Inhalt der Seite

Chuparrosa

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ein Feriencamp wäre billiger gewesen

"Den was?", rief Alvaro alarmiert und sah dem jungen Mann nach, der hektisch hinter sämtlichen Holzplatten und Blumentöpfen, die rund um das Haus herum verteilt standen, nachsah.

"Den verdammten Torso!", wiederholte Diego, ohne Alvaros Frage damit wirklich zu beantworten. "Wie ein Torso halt aussieht, Mann. Keine Beine, keine Arme und kein Kopf!", erklärte er atemlos und schob Alvaro beiseite, der ihm gefolgt war. "Schaust du keine True-Crime-Dokus? Gott, ich muss mich beeilen, bevor jemand was merkt!"

Alvaros Hals fühlte sich plötzlich so eng an, als wäre eine Dampfwalze darüber hinweg gefahren. Er war hier mitten in der Wüste, ohne Auto oder andere Nachbarn, zu denen er hätte flüchten können, gefangen mit einem Irren, den man in jeder dieser Dokus als den typischen netten jungen Mann von nebenan beschreiben würde, dem man so etwas niemals zugetraut hätte. Echt toll, gerade als er begonnen hatte, sich wohlzufühlen, entpuppte sich Diego scheinbar doch als Serienkiller und sein Telefon lag natürlich wie in jedem guten Horrorfilm außerhalb seiner Reichweite im Haus...

Mit respektvollem Abstand und starr vor Angst sah Alvaro Diego weiter zu, der wie im Wahn vor sich hin fluchend jetzt zu einer Gruppe alter Fässer eilte und hineinsah und seinen Gast wohl total vergessen hatte. Vielleicht lag er selbst als nächstes in einem der Fässer? Ohne Beine. Ohne Arme. Ohne Kopf...

So geräuschlos wie möglich schlich Alvaro in die entgegengesetzte Richtung von Diego davon. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nur noch ein paar Meter, dann war er um die Ecke herum und konnte ins Haus flüchten.

Noch ehe er seinen Fluchtplan allerdings verwirklichen konnte, fielen Alvaros Blicke auf etwas, das dem, was Diego suchte, am nächsten kam und es fühlte sich an, als fiele ihm ein ganzes Gebirge von den Schultern. Diego war wohl doch kein Serienkiller. Jedenfalls kein so offensichtlicher.

 

"Meintest du das hier?"

Diego drehte sich zu Alvaro herum, der hinter ihm stand und eine Schneiderpuppe ohne Ständer um die Taille hielt, als wäre sie ein Ball, den er Diego gleich zuwerfen würde. Ihr mit Blümchenstoff bezogener Körper war an manchen Stellen kohlrabenschwarz versengt und aus den brüchig gewordenen Nähten, die alles nur noch mäßig zusammenhielten, quoll hier und da die Füllung heraus.

"Oh danke ja!", schrie Diego erfreut auf und strahlte über das ganze Gesicht. Er riss Alvaro die Schneiderpuppe aus den Händen und marschierte damit zum Tor. "Du hast ja keine Ahnung, wie knapp das gerade war", rief er lachend und stellte den Torso neben das Tor an die Mauer.

Er hatte wirklich keine Ahnung, dachte Alvaro mit gemischten Gefühlen, während Diego seine Blicke hektisch über die Umgebung fliegen ließ und etwas zu suchen schien. Er hatte keine Ahnung, warum das hier gerade geschah und er hatte keine Ahnung, was als nächstes kommen würde.

"Wenn ich das Teil nicht rechtzeitig rausgestellt hätte, dann hätte es hier bald vor irgendwelchen Leute gewimmelt", erklärte Diego endlich das Geschehene, von dem Alvaro fünf Minuten lang gedacht hatte, dass jetzt seine letzte Stunde geschlagen hätte.

"Zur Abschreckung?", hakte Alvaro vorsichtig nach. Diegos fröhliches Lachen klang alles andere als das eines Mörders. Und sollte er doch einer sein, würde Alvaro bei jeder Befragung ehrlich antworten, dass er ihm das niemals zugetraut hätte. "Wie kam es dazu?"

"Ganz am Anfang kamen die Leute hier bis ans Haus, haben zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Fenster geschaut, geklopft oder nach mir gerufen und mich zu Tode erschreckt. Dann habe ich den Zaun hinter den Schrein versetzt, damit man ihn auch von außen betreten kann, das Tor repariert und ein funktionierendes Schloss eingebaut, weil ich auch mal meine Privatsphäre haben möchte, wenn du verstehst, was ich meine."

Diego grinste und Alvaro verstand direkt, was er meinte und das war ihm peinlicher, als wenn er nichts davon kapiert und wie ein naiver Trottel dagestanden hätte.

"Jedenfalls dachten die Leute, wenn ich das Teil rausstelle, dass ich nicht gestört werden darf, weil gerade irgendein Ritual stattfindet und sie hielten sich vom Haus fern. Und alles nur, weil es zufällig draußen stand, als der Schrein damals brannte."

"Als der Schrein brannte?", wiederholte Alvaro beeindruckt.

"Das waren jetzt zuviele Informationen auf einmal, oder?" Diego lächelte Alvaro mitleidig zu, der langsam Kopfschmerzen von den geballten Eindrücken von heute bekam.

Im Prinzip war die Geschichte vollkommen schlüssig, wie Diego sie erzählte. Er hatte das Haus seiner verstorbenen Großeltern ausgeräumt und alles kurzerhand nach draußen in den alten Hühnerstall verfrachtet, um es bei Gelegenheit zum Schrottplatz zu fahren. Darunter auch die Große Dame neben vielen weiteren Figuren, weil seine Großeltern offenbar genauso abergläubisch waren, wie der Rest der Einwohner hier. Und weil es dunkel wurde und er endlich fertig werden wollte, hatte er sich eine brennende Kerze in den Stall gestellt, um in ihrem Licht weiterarbeiten zu können. Die Kerze hatte wiederum einen knochentrockenen Stoff entzündet, der über der Schneiderpuppe hing, die er ebenfalls entsorgen wollte. Und weil er nichts zum Löschen da hatte, warf er den brennenden Torso nach draußen, trat das Feuer aus und stellte das Teil gegen die Mauer, damit es abkühlen und auslüften und er selbst endlich schlafen gehen konnte.

Als er am nächsten Tag weiterarbeiten wollte, sah er, dass jemand - vermutlich vom Feuerschein angelockt - den Stall aufgeräumt, die Figuren ordentlich platziert und eine neue Kerze im Stall entzündet hatte. Und seitdem kamen immer wieder irgendwelche Spinner vorbei, brachten alles mögliche an Krempel mit und stellten es in den Hühnerstall.

 

"Ich glaube, ich brauche noch ein Bier. Ich fühle mich viel zu nüchtern für solche Geschichten", raunte Alvaro, der bis jetzt schweigend zugehört hatte.

Diego beugte sich zum Kühlschrank hinab. "Der Altar kam erst später dazu. Genau wie die Elektrik. Und ich weiß bis heute nicht, wer das war." Er drückte Alvaro die eiskalte Dose in die Hand. "Einerseits ist es schon irgendwie gut, wegen des Kühlschranks, aber andererseits lockt die bekloppte Beleuchtung immer mehr Leute an. Die sind wie die Motten! Ich habe versucht, sie wegzuschicken, aber dieser Schrein hier hatte sich schneller herumgesprochen, als ich bis Drei zählen konnte. Und du siehst ja, was daraus wurde. Jeden Tag kommen hier Pilger her und wollen im Hühnerstall beten oder von Flüchen geheilt werden." Atemlos beendete Diego seinen Vortrag und nahm die Dose von Alvaro entgegen, die der ihm mitleidig lächelnd hinhielt. Er trank einen großen Schluck daraus und gab sie Alvaro zurück.

"Warum zur Hölle bleibst du dann?"

"Weil die mir verdammt viel Geld dafür geben, dass ich hier irgendeinen Scheiß verbrenne und einen beleuchteten Hühnerstall habe", lachte Diego und Alvaro stimmte in das Lachen ein.

"Das ist Eins zu Eins wie bei meinem Vater!", rief Alvaro, dem die Lachtränen die Wangen runterliefen.

"Weiß ich, der hat mir auch viel dafür bezahlt, damit sein Sohn mal ein Wochenende Ruhe vor seiner Familie hat. Ein richtiges Feriencamp wäre billiger gewesen."

"Hoffentlich lohnt es sich auch", witzelte Alvaro und stellte sich seinen Vater vor, wenn der diese Unterhaltung mitbekommen hätte. Nein, besser nicht...

"Ich denke schon." Diego wartete, bis Alvaro durch das Tor geschlüpft war und sperrte dann hinter ihnen ab. "Du bist ja jetzt schon praktisch ein anderer Mensch. Oder ein Mensch überhaupt, um mal klein anzufangen."

"Du machst richtig beschissene Komplimente." Gemächlich schlenderte Alvaro neben Diego zum Haus hinüber.

"Eins solltest du aber noch wissen: wenn es dunkel wird-", begann Diego in dem Moment, als sich die Haustür hinter ihnen schloss.

Alvaro, der jetzt eine Geschichte über menschenfressende Kreaturen erwartete, sah sein Gegenüber so schockiert an, dass dieser beinahe wieder in Lachen ausgebrochen wäre.

"Wenn es dunkel wird und du von schiefem Gesang und Gemurmel geweckt wirst, ist nur wieder jemand am Schrein. Ignorier es einfach und versuch weiterzuschlafen."

"Danke für die Warnung."

"Hungrig?" Diego wartete gar nicht erst auf Alvaros Antwort und verschwand in der Küche.

Nachdenklich sah Alvaro Diego zu, der den Kühlschrank öffnete und ein paar Behälter daraus auf die Arbeitsfläche stellte. "Die Sachen sind aber nicht aus dem Schrein, oder?"

"Selbstverständlich nicht", lachte Diego trocken auf. Natürlich waren die Sachen aus dem Schrein. Woher sonst?!

 

 

"Das hier ist mein altes Kinderzimmer, als ich mal für eine Zeit lang hier gewohnt hatte. Ich hoffe, es ist okay."

Alvaro warf einen schnellen Blick durch die offene Tür. Keine Spur von irgendwelchen Heiligenfiguren, Schädeln oder seltsamen Behältern mit noch seltsameren Inhalten. Stattdessen hellgrün gestrichene Wände, Filmposter und ein paar alte Stofftiere. Also ja, es war okay.

"Wenn nicht, kannst du auch mit mir tauschen und bekommst das Zimmer meiner Großeltern", fügte Diego hinzu, dem Alvaros erstes Zögern aufgefallen war.

"Nein, nein, das hier ist perfekt", lehnte Alvaro das Angebot schnell ab und ließ seinen Rucksack auf den Schreibtischstuhl fallen, damit Diego auch sah, dass es ihm ernst war. Er wollte auf gar keinen Fall in Omis Bett schlafen. Das war gruseliger, als alles hier zusammen gezählt.

"Das Bad ist direkt neben deinem Zimmer und wenn was ist, mein Zimmer ist am Ende des Flurs." Diego gab Alvaro eine neue Decke. "Weck mich bitte vorsichtig. Ich habe einen festen Schlaf, seit ich den Zirkus hier endlich eingedämmt habe."

"Geht klar."

"Dann sehen wir uns zum Frühstück wieder", verabschiedete sich Diego endgültig und ließ Alvaro alleine zurück.

 

Mitten in der Nacht fuhr Alvaro erschrocken auf. Er brauchte ein paar Augenblicke, um sich wieder daran zu erinnern, dass er nicht Zuhause war, sondern in Diegos Häuschen mitten in der Wüste. Er wusste auch nicht mehr, ob er nur schlecht geträumt hatte oder ob er wirklich Stimmen aus Richtung des Schreins gehört hatte, von denen Diego ihm noch gesagt hatte, er solle sie ignorieren, aber in seiner Erinnerung war da ein beunruhigender Singsang haften geblieben, der ihn während des Schlafs begleitet hatte, bis sich sein Unterbewusstsein endlich aus diesem befremdlich tiefen Schlummer befreien konnte, in dem er wie in einem Sumpf festgesteckt hatte. Und jetzt war sein Körper über und über mit kaltem Schweiß bedeckt und sein Herz klopfte, als hätte er einen Marathon hinter sich.

Alvaro tastete nach seinem Handy. Es war erst kurz vor Vier. In etwa einer Stunde würde sich der Himmel langsam von Tiefschwarz in ein dunkles Tintenblau wandeln, bis dann irgendwann die ersten Sonnenstrahlen über die Felsen stiegen. Es war genug Zeit, um sich nochmal umzudrehen und die Augen zu schließen, aber an Schlafen war nicht mehr zu denken. Sein rasender Puls war auf Flucht vorbereitet.

 

Sein Gast hatte wohl besser geschlafen, als angenommen, dachte Diego, der kurz nach Sonnenaufgang über den totenstillen Flur wankte. Oder er war mitten in der Nacht abgehauen, fiel es ihm gleich danach ein. Schnell warf Diego einen Blick in sein altes Zimmer und lächelte stumm. Das Bett war leer. Die Decke war zwar glatt gezogen, aber immerhin sah sie benutzt aus, was hieß, Alvaro hatte zumindest versucht, es hier auszuhalten.

"Das Geld gibt es trotzdem nicht zurück", erklärte Diego dem leeren Zimmer und verschwand dann im Bad.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück