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Neon Genesis Evangelion - Die Nebenwelt

von

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Schritt um Schritt aus dem Tritt

Shinji war als einer der Wenigen noch längere Zeit wach. Eigentlich hatten sie ja geplant heute nacht den Himmel zu beobachten und mit ein bisschen Glück den einen oder Asteroiden zu finden, aber das fiel wohl aufgrund der allgemeinen Müdigkeit und Unlust aus. Allerdings hätte er auch keine Probleme damit, nur mit Rei zusammen zu schauen. Zugegebenermaßen war er in ihrer Gegenwart manchmal etwas nervös, aber nicht immer. Eigentlich nur, wenn sie auf bestimmte Themen zu sprechen kamen, zu denen er nicht sagen wollte oder konnte. Das ließ ihm eigentlich nur zwei Gesprächsthemen offen, bei denen er sich sicher war, mitreden zu können: Musik und Astronomie. Hoffentlich mochte sie zumindest eines davon!

Rei andererseits lag auf ihrem Futon und dachte nach. Sie hatte nicht gezählt, wie viel sie geschwommen war, aber rein überschlagen kam sie nur auf eine fast zweistellige Kilometerzahl. Und die Salztherme, so gut sie auch tat, hatte sie auch noch ausgelaugt. Mit einem Schmunzeln ob ihres Wortspiels kam sie auch auf ihr eigentliches Thema zurück: Shinji. Er verwirrte sie. Und sie konnte sich nicht darüber klar werden, ob das gut oder schlecht war. Sie wusste, was sie für ihn empfand. Zumindest glaubte sie es zu wissen, doch man konnte ja nie wissen. Außerdem vertraute sie nicht mehr wirklich darauf, was ihr ihre Instinkte sagten. Natürlich waren sie eine Entscheidungshilfe, aber keine ausschlaggebende. Mit einem Seufzer drehte sie um, musste aber sofort einen halben Meter zurück schrecken, um nicht von einem schwingenden Arm Asukas erschlagen zu werden. Der Rotschopf war definitiv ein kräftiger Schläfer und strahlte selbst im Land der Träume noch vor Tatendrang. Nach der Ablenkung fand sie nur träge zu ihrem ursprünglichen Gedanken zurück. Wollte er nicht heute noch was? Na egal, wenn es wichtig war, dann konnte er es ihr auch morgen sagen. Mit diesem Gedanken warf sie sich die Decke über und schlief kurz darauf ein.

Besagter Sternengucker schaute nun zum wiederholten Male auf seien Uhr. Er war wirklich als Einziger übrig geblieben und hatte trotzdem sein Fernrohr aufgebaut, um in den Himmel zu schauen. Leise murmelte er die Sternzeichen vor sich her, als er im Kopf seine Position überschlug. Er wusste, dass früher viele Seefahrer einen Sextanten dabei hatten, um ihre ungefähre Position zu bestimmen, aber den brauchte er nicht. Über die Winkel seines Teleskops konnte er auch die Sterne anpeilen, und die notwendigen Berechnungen konnte man nach ein bisschen Übung auch im Kopf machen. Nachdem er das getan hatte, visierte er diverse Planeten und deren Monde an. Mars - Phobos und Deimos, die Kartoffelmonde. Wenn er auf die Seite des Mondes schaute, die gerade im Erdschatten lag, dann blendete das Licht auch nicht zu sehr, so dass er die Krater sehr gut sehen konnte. Für die Mare hätte er ein viel schwächeres Teleskop nehmen müssen, die waren viel zu groß für seine Skala. Nach einem kurzen Blick in seinen Sternenatlas zoomte er in die Richtung der großen Planeten, Jupiter und Saturn, mir ihren Galileieschen Monden - Io, Europa, Ganymed, und Kallisto. Ein Blick auf seine Uhr bestätigte das Datum. In ein paar Monaten würden wieder die ersten Sonden zu den äußeren Planeten fliegen, um dort wissenschaftliche Bohrer und Fahrzeuge abzusetzen. Er freute sich schon auf die neuen Bilder. Schließlich hatte er sich ein Areal herausgesucht, dass er untersuchen wollte. Ihm war da ein Punkt aufgefallen, der dort eigentlich nicht hin passte, also schnappte er sich den Fotoapparat, legte den Film ein und belichtete anschließend mehrere Sekunden, ehe er ein Quäntchen nachkorrigierte, nachbelichtete und das ganze etwa eine Stunde lang wiederholte. Dadurch waren die Bilder zwar leicht unscharf, aber dafür von starker Helligkeit, so dass er Bewegungen leichter Erkennen konnte, wenn er mehrere Aufnahmen überlappte. Man konnte heutzutage kaum noch Asteroiden auf herkömmliche Weise finden: Starren, bis sich etwas bewegt. Mit gemischten Gefühlen hörte er nebenbei Musik über seinen SDAT. Eigentlich hatte er doch Rei angeboten mit ihm zu schauen, aber wahrscheinlich war sie genauso geschafft wie der Rest. Die Uhr bestätigte seinen Verdacht und er gähnte hinter vorgehaltener Hand. Nachdem die Stunde vorbei war, baute er den Fotoapparat vom Okular ab und schaute wieder zu den Sternen hoch. Es war hier wirklich überaus dunkel, das musste er ja der Gegend lassen. Und dadurch, dass sie einige Kilometer vom Meer weg waren, senkte sich auch die Streuung durch Wasserdampf auf ein annehmbares Maß, Nicht vernachlässigbar, aber doch annehmbar. Müde machte er sich an den Abbau des Teleskops und fiel nach vollbrachter Arbeit in den Futon. Kraftlos zerrte er sich aus den Klamotten und schlief bald darauf ein.
 

Verschlafen richtete sie sich auf und schaute sich um. Ach ja, der Ausflug, fiel es ihr nach einem Moment ein. Stirnrunzelnd schaute sie sich um. Hatte sie sich gestern nicht andersrum schlafen gelegt? Sie wischte den Gedanken mit einer Handbewegung beiseite und rappelte sich mühsam auf und streckte sich. Sie achtete mit einem Seitenblick darauf, nicht auf ihre kurzzeitige Zimmergenossin zu treten und taumelte anschließend in Richtung Bad. Dort füllte sie sich ein Glas mit warmen Wasser und leerte es in einem Zug. Mit einem wohlig kuriosen Gluckern im Bauch platschte sie wieder in ihr Zimmer und ließ sich in den Futon fallen. Ein Fluch kam ihr über die Lippen, dass das verdammte Ding nicht auf einem Bett lag, wie es sich gehörte, aber kurz darauf war sie wieder eingeschlafen. Asuka war wahrscheinlich die einzige Person auf der Welt, die im Schlaf verdursten könnte, weil sie sich zu viel bewegt. Rei hatte sich nicht ohne Grund im Schlaf an eine Wand gekauert und ihr den Rücken zugewendet.

Shinji, nach dem man in seinem Ordnungswahn eine Uhr stellen konnte, stand kurze Zeit später auch auf, wusch sich, und zog sich anschließend an. Wie immer war er einer der Ersten, die in der Küche waren, und definitiv der Erste, der fertig für den Tag war. Seelenruhig setzte er Kaffee auf, schob Milch in die Mikrowelle, Brötchen in den Backofen und war gerade dabei, den Tisch zu decken, als die Vermieter kamen und ihm die Arbeit abnahmen. Als sie nach dem Pling der Mikrowelle aus dieser die Milch heraus holten, schauten sie etwas befremdlich drein. Er stellte schnell klar, dass einige seiner Klassenkameraden Kakao mochten und schüttete die Milch in eine bereits vorbereitete Kanne, in der nach einigem Rühren eine blassbraune Flüssigkeit trieb. Klar, manche mochten ihren Kakao so dunkel wie Edelbitterschokolade, aber man konnte ja immer noch etwas Pulver nachkippen, während das Raussieben sich ein bisschen schwieriger gestaltete. Da er nichts besseres zu tun hatte, half er den Gastgebern noch weiter beim Aufdecken, ehe diese sich unter dem eindringlichen Hinweis verabschiedeten, dass sie selber nach dem Essen aufräumen würden. Shinji bedankte sich in alle Höflichkeit, ehe er sich seinen SDAT schnappte und dick angezogen auf die Dachterrasse stieg. Leise wählte er ein Klassikstück aus, setzte sich auf einen der Stühle, nachdem er ihn vom Schnee befreit hatte, befreite anschließend auch die restlichen Stühle und fegte die Terrasse, um sich dann doch wieder hinzusetzen und leise in Gedanken seine Cellogriffe für dieses Stück zu üben. Wie gesagt, Ordnungswahn an der Grenze zur Zwanghaftigkeit. Wahrscheinlich wich eher eine Armbanduhr von ihrer Zeit ab als Shinji von seiner täglichen Agenda.

Nachdem sich Rei ebenfalls fertig gemacht hatte, ein gutes Stück früher als der Rest - außer Shinji vielleicht - ging sie mit einem seltsamen Gefühl auf die Dachterrasse. Sie wusste, dass er dort oben war -sie konnte sein Summen hören - und doch zögerte sie. Zum Einen wollte sie ihn nicht in seiner Konzentration stören, und zum Anderen wahr ihr unwohl bei dem Gedanken, dass sie sich bei ihm entschuldigen wollte. Sie hatte sich früher schon oft, viel zu oft, für Dinge entschuldigen müssen, an denen sie gar keine Schuld hatte sondern die man ihr einfach in die Schuhe geschoben hatte. Und trotzdem war ihr jetzt mulmig. Sie fühlte sich schuldig und ihr Gewissen redete ihr immer wieder ein, dass sie sich entschuldigen müsse und ihm sagen, dass es ihr Leid täte. Und das Beunruhigende daran war, dass sie es aus freien Stücken wollte und nicht musste, weile es von ihr erwartet wurde. Ganz im Gegenteil, man hätte Verständnis gezeigt, dass sie einfach eingeschlafen war, bei dem Aktivitätspensum, dass sie alle gestern an den Tag gelegt hatten. Mühsam ging sie weiter. Für andere mag es bloß ausgesehen haben, als habe sie kurz gezögert, aber sie wusste es besser. Sie stemmte sich gegen jeden Schritt, und doch tat sie jeden, bis sie vor ihm stand. Offensichtlich hatte er sie nicht bemerkt, denn er summte nach wie vor leise vor sich hin und fuhr dabei mit der einen Hand durch die Luft, während die Finger der Anderen schnell hintereinander in verschiedene Positionen glitten.

"Shinji?" Erschrocken blickte dieser auf.

"Ja?" Offensichtlich hatte er sich wieder mal im Klang der Musik treiben lassen und dabei den Rest, sprich Welt, vergessen. Das blauhaarige Mädchen schaute ihn an und er glaubte, dass sie ihm etwas sagen wollte, konnte aber nicht sagen, woher dieses Gefühl kam. Zumindest auf ihrem Gesicht zeigte sich kein Grund, also fragte er einfach. "Was ist?"

Mit einem unterdrückten Seufzer rang sie sich durch. "Ich wollte mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich unser Treffen gestern Nacht vergessen habe." Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie einfach zu müde gewesen war, das hätte auch nur teilweise gestimmt gehabt. Sie hatte es vergessen gehabt, oder sie hatte Angst davor mit ihm alleine zu sein. Und wenn sie seinen Blick gerade richtig deutete, völlig unbegründete Angst.

"Kein Problem, du warst ja müde." Strahlte er sie an. "Ich bin es ja gewesen, der sich kaum verausgabt hatte, weil... du weißt ja. Danke noch mal, danke, danke, danke!"

Das kam unerwartet für sie. Sie versetzte ihn und er bedankte sich? Zugestanden, nicht direkt, aber man hätte es schon falsch verstehen können! "Das war doch selbstverständlich, schließlich ist es dazu gekommen, weil du mich retten wolltest. Und wenn man es so betrachtet, müsste ich mich bei dir entschuldigen, weil ich dir solche Sorgen bereitet haben..." Innerlich drehte sie bald durch. Der Junge brachte sie dazu Dinge zu sagen, an die sie nicht im Geringsten gedacht hatte!

"Nein!" Dementierte er geschockt. "Es war nicht deine Schuld! Ich sollte nicht immer das Schlimmste annehmen, die Schuld liegt bei mir! Es tut mir schrecklich leid!"

So ging es noch eine kurze Zeit weiter mit den gegenseitigen Entschuldigungen, bis eine allen wohlbekannte Stimme eine Shinji wohlbekannte Phrase auf deutsch brüllte: "FUDDERN!!" Das brachte sie aus ihrer Möbiusschleife und den Jungen auf eine Idee.

"Sagen wir einfach, wir sind quitt, okay?" Er stand auf und packte seine Kopfhörer weg, die er schon beim Anfang der Unterhaltung aus den Ohren gepult hatte. "Es ist alles vergeben und vergessen, ja?"

Sie schaute auf die ihr hingereichte Hand. Sie wusste zwar nicht, was Asuka da eben geschrieen hatte, aber wahrscheinlich hatte es etwas mit dem Duft von frischen Brötchen, Kaffe und Kakao zu tun, der gelegentlich in ihre Nase stieg. Sie griff nach der Hand und schüttelte sie. "Es ist alles vergeben, aber vergessen... sagen wir, als ob, ja?"

Er nickte ihr zu. "Komm, es gibt Essen." Und führte sie nach unten. Mit ihrer Hand in seiner. Glücklicherweis fiel Rei ein sie zu lösen, wer weiß was Asuka sonst wieder gesagt hätte nach der Sache mit dem Mistelzweig letztens.
 

Der Schreihals hatte sich offensichtlich zu früh gefreut, denn Katsuragi-sensei hatte darauf bestanden gehabt, dass der Großteil der Schüler am Frühstück teilnimmt, und die, die nicht gleich mit anfingen spätestens 5 Minuten später dazu stoßen würden. Und sehr zu Shinjis Leidwesen waren es gerade Aida und Suzuhara die noch fehlten, um den Teil zum Großteil werden zu lassen. Asuka hatte natürlich keinerlei Probleme damit die Schuld dafür auf ihn zu schieben. Offensichtlich Geschwisterliebe, die dazu führte dass er mit den beiden einen Schnellwaschgang durchführte, bloß um die Tigerin in Spe zu beruhigen. Kaum hatte sich das Idiotentrio also jeweils einen Stuhl geschnappt, da brüllte sie schon "Guten Appetit!" und fing an ihr Essen zu atmen. Ein normaler Mensch würde sich vielleicht wundern, wo sie das alles hin steckte bei ihrer Figur, aber ein normaler Mensch würde bei diesem Wildfang auch wahnsinnig werden. Shinji dankte und verfluchte Gott jeden Tag dafür, dass er anscheinend nicht normal war.

Nach dieser erholsamen Mahlzeit wollten sich ein paar Mitschüler ans Abräumen machen, aber Shinji sagte denen schnell, um was die Hausbesitzer gebeten hatten. Er erntete zwar bloß Kopfschütteln, aber es wurde immerhin nicht weiter abgeräumt.

Die folgenden Tage verliefen ähnlich, nur dass Shinji auch wieder in die Schwimmerbecken durfte. Nach dem ersten Tag im Schwimmbad hatte der Präsident des Schwimmclubs aber mal auf den Putz geklopft, so dass die meisten Schüler einen guten Teil ihrer Zeit mit Schwimmtraining verbrachten. Rei, unschlagbar in allen Disziplinen, wurde zwar halbwegs freigestellt, aber aus Kameradschaft machte sie trotzdem mit. Zumindest schien es so nach außen hin, aber zu einem gewissen Teil machte sie das auch, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, falls man sich wieder gegen sie wenden würde. Gute Planung ist bekanntlich die halbe Miete. Und zu einem gewissen Teil natürlich auch, um nicht ihre Schärfe als Schwimmerin zu verlieren. Außerdem hatte sie dadurch eine gute Ausrede, um nicht mit zum Planeten gucken zu kommen. Sie mochte Shinji zwar, da gab sie sich gar keinen Illusionen hin, aber sie war sich nicht sicher genug, um eventuell stundenlang neben ihm zu stehen. Worüber sollten sie reden? Sie konnte nur über Schule und Schwimmen reden, von sehr viel mehr hatte sie nicht wirklich viel Ahnung. Es ging ihr gewaltig auf die Nerven, dass alles so kompliziert war. Als sich nach kurzer Zeit dann auch noch Schuldgefühle hinzugesellten, weil sie nach wie vor nicht seiner Bitte nachkam, da war es um sie geschehen. Zumindest in der letzten Nacht würde sie mit dem Astronomieclub zu den Sternen schauen! Und da der Rest von seinen Mitgliedern auch dabei sein würde, könnte gar nicht viel passieren!

Doch das Leben spielt einem schon die seltsamsten Streiche. Der Schwimmclub absolvierte auch am letzten Tag sein Training, erst gegen Ende hin ließ der Präsident seine Schützlinge, denn er war zugleich ihr Trainer, in Ruhe und sich entspannen. Ausgleichenderweise hatte er sich zuvor aber noch härtere Übungen einfallen lassen als die Tage zuvor, so dass alle trotzdem nur noch ans Schlafen dachten. Rei andererseits hatte sich geschont gehabt, weil sie in dieser Nacht mit Shinji Sterne schauen wollte. Dessen Mitstreiter dachten aber mit dem Gedanken, dass es der letzte Tag war, gar nicht daran und verausgabten sich noch mehr als sonst. Schlussendlich standen also nur noch Shinji, Rei und Hikari auf dem Dach vor zwei Teleskopen, und die Klassensprecherin unterdrückte gerade ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand.

"'Tschuldigung." Sie beugte sich wieder über ihr Teleskop und schaute sich den Ausschnitt an, den sich Shinji ausgesucht hatte. Anschließend ließ sie Rei hindurchschauen, während sie zu ihrem Stellvertreter in der AG ging.

"Ich weiß nicht, wieso du dir gerade den Quadranten ausgesucht hast. Ich sehe da nichts besonderes oder abweichendes." Sie unterdrückte ein weiteres Gähnen. Dieser Suzuhara hatte es aber auch nicht sein lassen können, sie zu ärgern! Die ganze Zeit hin und herjagen, sowohl im Wasser wie auch an Land... Na ja, aber zugegebenermaßen, es hatte Spaß gemacht.

Er fuhr sich wieder verlegen durchs Haar. "Also in der ersten Nacht war da noch etwas gewesen..."

Sie zuckte mit den Schultern. "Dein Teleskop ist eh besser als mein Schulteleskop." Mit ihren zwei Schwestern hatte sie es nicht leicht. Ihre Mutter war von morgens bis abends auf Arbeit um Geld zu verdienen, während Hikari für Nozomi und Kodama immer Essen machte und den Haushalt schmiss. Sicher, ihre ältere Schwester Nozomi war selbst schon fast flügge, aber sie schaute doch noch ziemlich häufig vorbei. Und da sie noch nicht genug verdiente um komplett auf eigenen Beinen zu stehen, half ihr ihre Mutter natürlich finanziell unter die Arme. Da war es klar, dass sie sich im Gegensatz zu Shinji kein halbprofessionelles Teleskop leisten konnte.

"Galilei wäre vor Freude über dein Teleskop im Kreis gesprungen!" Schmunzelte er. Kurz darauf gesellte sich Rei zu ihnen.

"Ich sehe da auch nichts. Vielleicht solltest du mal schauen?"

Shinji stimmte dem Vorschlag mit einem Nicken zu und schaute durch Hikaris Fernrohr. Stirnrunzelnd überprüfte er die Ausrichtung, um anschließend sein Auge ein weiteres Mal ans Okular zu pressen. "Das ist komisch. Ihr habt Recht, da ist nichts mehr... Zumindest eine Unschärfe sollte zu sehen sein." Er justierte nach, während er weiterhin hindurchschaute. Rei und Hikari wechselten zweifelnde Blicke. Hatte er vielleicht die letzten Nächte über Dreck auf der Linse fotografiert? Summend nestelte er weiter an dem Gerät herum, kam aber zu keinem Ergebnis. Verwirrt richtete er sich auf und starrte auf sein Teleskop.

"Ich muss da mal was überprüfen..." Er ging rüber und schraubte den Fotoapparat vom Okular ab, um anschließend selber hineinzuschauen. Auch jetzt war nichts zu sehen, und das auch bei Hikari nichts zu sehen gewesen war musste bedeuten, dass sich das Ding definitiv bewegt hatte, und zwar über eine nicht unbedeutende Strecke. Er tauschte das Okular aus und stellte anschließend wieder scharf, führte winzigste Abweichungen an der Justierung durch, bis er den dunkelgrauen Punkt wieder entdeckt hatte. Müde rieb er sich die Augen. "Hab ihn. Er hat sich bewegt, ein ziemliches Stück. Entweder das Ding ist dichter als gedacht oder verdammt fix!" Beide Mädchen schauten durch und nach einigen Hinweisen, wo genau er liegen würde, fanden beide ihn.

"Bist du sicher, dass das kein Fleck ist?" Wieder unterdrückte sie ein Gähnen. Sie winkte schnell ab. "Tut mir leid, ich bin einfach zu müde. Ihr entschuldigt?" Auf Shinjis Nicken hin ging sie, blieb aber auf der Treppe noch mal stehen. "Packst du bitte nachher mein Teleskop mit ein?"

"Klar doch! Gute Nacht!"
 

Geschockt verfolgte Rei, wie ihr Puffer auf der Treppe verschwand. Was sollte sie nun tun? Schnell überschlug sie Asukas Kommentar. Das hier hatte etwas von einem Date! Das gefiel ihr nicht... Hatte Asuka nicht gesagt, dass nach dem zweiten oder dritten Date ein Kuss kommt? Das wäre also dann wohl bei der Bar! Aber, halt, beruhige dich. Niemand zwang sie dazu, alles lag bei ihr. Es musste zu keinem Date kommen, zu keinem Kuss, kein ABC solange sie nicht wollte.

Shinji hatte unterdessen von ihrem inneren Disput nichts bemerkt sondern sich einfach daran gemacht, das Teleskop nachzujustieren und für die nächste Aufnahme fertig zu machen. Das hieß aber noch lange nicht, dass ihm wohl dabei war. Auch er machte sich Gedanken. Ihm gefiel Reis Gegenwart, besonders ihre Balkongespräche mochte er. Und sie war auf jeden Fall leichter zu ertragen als Asuka! Gedanklich strafte er sich. Bei ihr ging es nicht um ertragen, sondern um... um was ging es bei ihr? Helfen? Verstehen? Er wusste, dass in ihrer Vergangenheit irgend etwas schlimmes passiert war. Seine Schwester hatte ihm zwar nichts gesagt gehabt, aber soviel hatte er doch noch durch Gesprächsfetzen und ihr Verhalten mitbekommen. Und tief in ihm drin verlangte etwas danach sie zu verstehen und besser kennen zu lernen. Und er wusste, dass das nicht einfach werden würde. Da fiel ihm etwas ein...

"Du hast mir noch nicht gesagt gehabt, welche Musiker du magst." Alles war besser als dieses angespannte Schweigen, und da konnte er genauso gut über etwas reden, wovon er immerhin ein bisschen verstand.

Ihre Entgegnung war fast bissig. "Keine Ahnung, ich habe mich mit Musik nicht wirklich beschäftigt!" Da war es wieder, sie sprach ohne nachzudenken, wie sie das hasste! Der Junge brachte sie noch um den Verstand, wenn er so weiter machte! Und wieder füllte sich die Luft mit angespanntem Schweigen.

Betreten schaute er zu Boden, und änderte auf Geheiß seiner inneren Uhr hin wieder die Justierung des Teleskops. Er fragte sich, ob sie ihn hasste. Wohl nicht, wenn sie nicht einfach ging, aber mögen schien sie ihn auch nicht so recht. Mit einem Seufzer raffte er sich zu seinem letzten Versuch auf. Wenn sie dann nicht würde reden wollen, oder sich zumindest die Atmosphäre änderte, würde er sie fragen, ob sie nicht lieber auch schlafen gehen wolle. "Welches Sternzeichen bist du?" Eigentlich interessierte er sich nicht für Astrologie, aber Mädchen taten das meist, und wenn es ihm einen Ansatz liefern sollte, dann war es ihm nur Recht.

"Löwe." Sie reffte sich die Jacke noch weiter zu, die Luft hatte sich für die Nacht wohl vorgenommen zu gefrieren. Nach einer Weile harkte sie nach. "Wieso?"

Er verstaute seine Finger wieder in den Taschen, schaute in den Himmel und versuchte die Sterne zu finden. Anschließend ging er zu ihr rüber und zeigte sie ihr. "Dort, siehst du diesen Stern? Er ist nicht besonders hell, aber weißt du welchen ich meine?"

"Diesen unter der kleinen Gruppe?" Sie wunderte sich, worauf er hinaus wollte.

"Genau, das ist die Schnauze des Löwen. Und wenn du diesen, diesen und diesen," er zeigte nacheinander auf naheliegende Sterne, "verbindest, dann hast du schon den Rücken. Dort ist der Schwanz, und das da sind die Beine."

Verblüfft schaute sie auf die Sterne, die er ihr gezeigt hatte. "Das sieht nicht sehr löwenartig aus..."

Er war wieder ans Nachstellen gegangen, während er ihr weiter erklärte. "Du darfst dir die Sterne nicht als Begrenzung vorstellen, sondern als Zentrum. Der Stern, der die Schnauze ist, ist nicht der Punkt an der seine Nase sitzt, sondern eher die Zähne. Das Gleiche gilt für den Kopf und so. Und dann brauchst du nur noch etwas Phantasie."

Sie kniff die Augen zusammen, um das Tier zu erkennen, dass es sein sollte. "Mit viel guten Willen kann man ihn erkennen, ja. Der Griechen war wohl langweilig, wenn sie die ganze Zeit in die Nacht gestarrt haben, bis sie da oben Tiere sahen."

Er schüttelte den Kopf. "Sie haben da oben ihre Götter gesehen. Da hinten ist Zeus, dort Ares, für Aphrodite ist es zu spät. Und nur die Götter waren die Planeten, die sich wie wild durch die Sterne pflügen konnten, während die Sterne selbst fest waren. Das da hinten ist Orion, und dort ist der große Wagen. Wenn du seine Vorderachse um drei, vier Längen nach oben ziehst, dann hast du den Polarstern."

Sie schaute mit neuem Respekt nach oben und versuchte die Gestalten zu erkennen, die Shinji ihr nebenbei immer beschrieb. Einige konnte sie nachvollziehen, bei anderen hatte sie aber keine Ahnung, wie man auf diese Figur gekommen war. Die gelegentliche Stille, die jetzt auftrat, war nicht mehr von Spannung erfüllt, sondern von Neugier.

"Magst du Delphine? Das dort ist nämlich ihr Sternbild."

Die Sterne, die er ihr zeigte, erinnerten sie zwar zuerst an eine Schlange, aber schließlich sah sie doch einen Meeressäuger darin. "Wie viele Sternenbilder gibt es denn?"

Da musste er den Mund verziehen. "Meinst du offiziell oder anders?"

"Gibt es denn etwas anderes als offiziell?"

Ein Schmunzeln schlich sich in sein Gesicht, welches er dadurch tarnte, dass er wieder nachjustierte. "Natürlich! Jedes Volk hatte seine eigenen Sternzeichen. Es gibt zwar eine offizielle Festlegung von 88, aber man kann die Sternbilder sehen, die man will." Nach kurzem Überlegen zeigte er auf eine Handvoll Sterne. "Die da könnten zum Beispiel ,Schneemann' heißen, wenn du einen Schneemann darin sehen willst, oder auch Pen². Die Wahl liegt ganz bei dir. Hier dürftest du grob zwei- bis dreitausend Sterne sehen können, du kannst du ja die Kombinationen ausrechnen."

"Zweitausend?! Das sind aber eine Menge... So viele sieht man doch nie in Neo Tokio 3!"

Das provozierte ihn zu einem Schnauben. "Kunststück. So hell erleuchtet wie die Stadt ist, kann man froh sein wenn man auf Ein- oder Zweihundert kommt. Aber meine Mutter hat gesagt, früher konnte man noch weniger sehen, im alten Tokio. Bloß ein paar Handvoll." Allein bei dem Gedanken jagte es ihm ein Schauer über den Rücken. Der Second Impact hatte großen Einfluss auf die weltweite Lichtverschmutzung gehabt, war ein Großteil davon doch in den riesigen Hafenstädten begründet gewesen. Damals konnte man froh sein, wenn man irgend etwas am Himmel gesehen hatte, das kein Flugzeug oder sonstiges künstliches Himmelsobjekt war. Heute gestaltete sich das, makaber wie es ist, einfacher. Es sei denn, man lebt in einer der Kuppelstädte, dann kann man keine Sterne sehen, zumindest nicht wirklich, aber dafür hat jede der Städte einen für sich einzigartigen Himmel.

Er entschied sich genug Fotos gemacht zu haben und begann sein Teleskop zusammenzubauen, ebenso wie Hikaris, wobei er nebenbei immer wieder auf ein paar Sternbilder zeigte und versuchte Rei zu erklären, warum sie bloß so zu sein schienen. Schon nach wenigen Minuten hatte sie es verstanden und half ihm ein bisschen beim Aufräumen. Als er sich anschließend gegen die Brüstung der Dachterrasse lehnte, folgte sie ihm nach kurzem Zögern zu seiner Linken.

"Ich könnte Stunden damit zubringen in den Himmel zu schauen." Seine Augen glitzerten vor Freude während sich seine Lippen mit einem leichten Lächeln kräuselten. Den Kopf im Nacken blickte er beständig in den Himmel zu Punkten, die Sterne zu sein schienen aber Galaxien waren, oder überschlug wo die Planeten in einigen Monaten stehen würden.

Sie stimmte mit einem leichten Murmeln zu. Als sie wieder aufschaute, hatte er immer noch dieses Glitzern in den Augen. Sie war nicht dumm, sie konnte mit dem Ausdruck etwas anfangen, aber betrübt fragte sie sich, ob sie auch schon Mal etwas so fasziniert und glücklich angeschaut hatte. Irgendwo in ihrem Unterbewusstsein wünschte sie sich vielleicht auch, dass er sie so ansehen würde, aber das konnte wohl kaum stimmen, oder?

"Shinji? Bist du glücklich?"

"Hm?" Er wandte seine Augen von den Sternen ab. "Ja, ich glaube schon. Und wenn nicht glücklich, dann doch ziemlich zufrieden." Er wunderte sich kurz, woher ihre Frage wohl kam. "Und bist du es?"

Sie schaute kurz betrübt zu Boden, ehe sie mit einem winzigen Leuchten in den Augen antwortete. "Ich war schon unglücklicher... Aber ich denke, dass es mir hier und jetzt doch recht gut geht." Leise fügte sie hinzu: "Sehr viel besser als früher..."

Durch diesen letzten Kommentar war die Stimmung leicht gekippt und er wusste nicht, wie er daran etwa ändern sollte. Ein scheinbar unauffälliger Seitenblick auf die Uhr ließ ihn zu einer Entscheidung kommen. "Es ist spät. Ich denke wir sollten zusammenbauen und Schluss machen, oder was meinst du?" Noch in Erinnerungen versunken nickte sie.



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