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Iverion

von

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Kapitel 1
 

Hinter sich sah Ania das Dorf immer kleiner werden. Ania aus dem Norden würde Feuster aus dem Süden heiraten. Sie war gerade auf dem Weg zu ihm. Nie wieder würde sie die Auen und Sümpfe des Nordens sehen. Sie war auf dem Weg in die heißen Wüsten des Südens, zu einem der vielen Nomaden, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Es war eine politische Heirat. Nichts hätte sie dazu bringen können ihr Volk freiwillig zu verlassen. Aber sie musste, sie war ein Pfand, war der Preis, den ihr Volk zu zahlen hatte, um in Frieden weiterleben zu können.

Sie krallte sich in die Mähne ihres Pferdes. Der letzte Freund, der ihr noch aus ihrer alten Heimat geblieben war. Eine vereinsamte Träne lief ihre Wange hinab. Wütend wischte sie sie sich mit der Hand weg.

Keine Schwäche! Hier würde sie keine Schwäche zeigen! Nicht in Gegenwart ihrer Feinde!

Feinde, ja das waren diese Männer für sie. Diese Männer, die sie fortnahmen von allen und allem, was sie liebte. Diese Männer, die sie und ihr Pferd bis zum Zusammenbruch antrieben. Diese Männer, die das von ihr geliebte Land so fürchteten. Diese Männer, die alles dafür geben würden zurück in der Hitze der Wüste zu sein, unter der erbarmungslos brennenden Sonne.
 

Als sie zwei Monate später bei dem Lager ihres Mannes ankamen, hatte sie auch ihren letzten Freund verloren. Das Tier hatte den Anforderungen der Wüste nicht mehr standhalten können. Perfekt an das kühle Klima des Nordens angepasst, war es hier jämmerlich eingegangen. Die Männer hatten sie weggezogen, ihr ein anderes Pferd gegeben, sie weitegetrieben.

„Du bist also meine Frau!“

Ein abschätziger Blick musterte sie von oben bis unten. Sie fühlte wie der Blick an den Stellen haften blieb, wo die Kleidung ihre Blöße nur noch notdürftig bedeckte. Schnell schlang sie ihre Arme um sich, den trotz der Hitze lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

Die Mundwinkel des Mannes zuckten leicht nach oben als er ihre vergeblichen Versuche beobachtete. Sie würde ihm nicht entkommen.

Er brüllte ein paar Befehle, drehte sich um und ging, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.
 

Sie hatte sich an den feindlichen Lebensbedingungen gewöhnt. Während sie zwischen den Zelten umher wandelte, zog sie feindliche Blicke auf sich. Ihre Aufgabe war es Feuster Kinder zu bescheren. Auch wenn er schon ein gutes Dutzend von etlichen Nebenfrauen hatte, so barg sie doch große Kräfte in sich.

Das war der Grund warum sie vor drei Jahren ihr Volk hatte verlassen müssen. Zauberkräfte waren vererbbar und neues mächtiges Blut in die Linie aufzunehmen war wichtig.

Sie bog ab um den Blicken der anderen zu entkommen. Plötzlich schlang sich ein starker Arm um ihre Taille und sie wurde nah an den kräftigen Körper des Mannes gezogen.

„Telon!“

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Dann stieß sie ihn von sich weg.

„Was ist wenn uns jemand sieht?“

Er seufzte.

„Lass uns fliehen.“ Er hatte ihr das mindestens schon hundert mal vorgeschlagen, doch sie lehnte jedes mal ab.

„Ich kann nicht, dass weißt du.“

„Willst du dein ganzes Leben für dein Volk opfern?“

Sie sah ihn fest an und er wünschte, er hätte nichts gesagt.

„Entschuldige!“, murmelte er, „Ich gehe wohl besser.“

Doch als er sich umdrehte, hörten sie plötzlich Schritte und Stimmen. Ania erbleichte, als sie einen der Gesprächspartner als Feuster erkannte.

„Sie ist hier entlang, Herr. Ich wette der dreckige Hund, Telon, hat schon auf sie gewartet. Ihr werdet gleich selbst sehen.“
 

Als Ania wieder klar denken konnte, saß sie auf einem Pferd und galoppierte mit Telon neben ihr in die weite Wüste hinaus. Sie flohen. Noch schien keiner ihre Flucht bemerkt zu haben. Als sie sich umdrehte lag das Lager ruhig als Silhouette vor der untergehenden Abendsonne.

Aber sie werden es bald bemerken. Sie werden uns jagen. Sie werden uns finden. Sie werden uns töten. Oder aber noch schlimmer.

Als ihr der Gedanke kam stoppte Ania ihr Pferd.

„Sie werden mein Volk töten.“, rief sie gegen den Wind.

Telon wendete sein Pferd und kam zurück. Er würde ihr nicht erlauben umzukehren. Er würde es nicht zulassen.

„Du kannst es nicht mehr ändern. Wenn du jetzt umkehrst, werden sie deine Leute auf jeden Fall angreifen. Wenn wir Glück haben folgen sie uns und tun ihnen nichts.“

Er griff in ihre Zügel und zog daran. Das Pferd begann sich in Bewegung zu setzen. Es folgte. Wieder schneller werdend setzten sie ihre Flucht fort, als hinter ihnen ein wütender Schrei ertönte: „ANIA, KOMM ZURÜCK!!! ANIA!!!“
 

~ ~ ~
 

„Mama, erzähl weiter. Wie geht es weiter?“, bettelte der kleine Junge mit der sandfarbenen Haut. Seine schwarzen Augen waren auf seine Mutter geheftet.

„Bitte, bitte“, begann nun auch seine Schwester ihn zu unterstützen. Sie sah ihm sehr ähnlich, bis auf ihre Augen, welche, wie die ihrer Mutter, rehbraun waren.

„Morgen, meine Lieben. Ihr müsst jetzt schlafen.“, erwiderte ihre Mutter mit einen Lächeln.

„Ach bitte, nur noch ein bisschen.“

„Nein!“, der Blick ihrer Mutter wurde hart und sie entschieden sich, doch lieber bis morgen zu warten.
 

* * *
 

Der alte Mann sah sich seine Gesprächspartner an. Ihn mit eingerechnet waren sie zwölf. Von jeder der Inseln einer und er als der Älteste hatte den Vorsitz. Obwohl alle Inseln unterschiedlich groß waren und unterschiedlich viele Einwohner hatte, schickte jede Insel genau einen Gesandten. Es war Tradition, dass der Weise Rat aus genau zwölf Personen bestand. Ihren Legenden nach, die Zahl der Weisheit. Doch es gab so viele Legenden und es hatte sich nie jemand die Mühe gemacht sie aufzuschreiben. Inzwischen wusste niemand mehr was wahr war und was nicht. Die Geschichten hatten sich in den Jahrhunderten verändert, verfälscht. Nur eine einzige, die es Überall auf Iverion gab, von dieser waren sich alle sicher, dass sie stimmen musste. Zwar wurde sie überall ein bisschen anders erzählt, doch blieb die Handlung dieselbe.

Der Schrei eines Waldfalken riss ihn aus seinen Gedanken. Diese Tiere waren selten und hatten einen lauten, durchdringenden Ruf. Sie waren geschickte Jäger, lauerten ihren Opfern regelrecht auf und verfolgten sie nahe am Erdboden durch das Dickicht. Ihre Flugkünste waren nahezu perfekt. Da sie nur auf den Schwarzen Inseln vorkamen, waren sie ihr Wahrzeichen. Trotzdem galt das Erscheinen der Tiere als schlechtes Omen, als Zeichen von Gefahr.

Plötzlich realisierte er, dass die andern elf ihn erwartend ansahen. Da er den Vorsitz hatte, war es seine Aufgabe die Versammlung zu beginnen.

Er erhob sich. Seine weißen Roben raschelten. Die anderen trugen dieselbe traditionelle Kleidung wie er. Er erkannte eine der drei Frauen wieder. Sie war schon letztes mal dabei gewesen, doch das war schon lange her gewesen. Auch ihr Haar war, wie das Seine in der Zwischenzeit ergraut. Damals, während der letzten Versammlung, war er noch jung gewesen. Zu dieser Zeit hatte er seine Frau kennen gelernt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, doch es verschwand genauso schnell wie es gekommen war. Er nahm sich zusammen und konzentrierte sich kurz. Dann begann er die rituellen Worte zu sprechen, welche die Versammlung einleiteten.

Nach dem er den langen Spruch in der alten Sprache aufgesagt hatte, begann er in seinen eigenen Worten:

„Meine lieben Freunde, es ist lange her seit das letzte mal der Weise Rat – oh, wie er diesen Namen hasste, er war so albern – einberufen worden ist. Auch dieses Mal bedrohen unglückliche Umstände unser friedliches Leben.

Aracus König hat vor kurzem unsere Welt verlassen. Den Göttern sei Dank, gibt es einen Erben, doch damit beginnen unsere Probleme erst.“

Es war schwachsinnig ihnen die Situation zu erklären. Jeder kannte sie. Jeder hatte an den letzten Tagen an nichts anderes gedacht. Es hatte kein anderes Gesprächsthema gegeben. Jeder fürchtete die Konsequenzen. Trotzdem konnten sie es sich nicht leisten, wenn einer nicht Bescheid wusste. Er musste wohl oder übel alle Fakten wiederholen.

„Der Kronprinz besitzt keinerlei starke magische Fähigkeiten. Normalerweise wird sehr strikt darauf geachtet, dass der Regent sich mit einem mächtigen Magier vermählt, um das magische Blut in der Linie zu stärken. Auch dieses Mal war es der Fall, trotzdem hat es dieses eine Mal nicht funktioniert, was fatale Auswirkungen auf uns haben könnte.“

Musste er jetzt jede einzelne der Vermutungen, die er in den letzten Tagen gehört hatte, wiederholen. Manches was er gehört hatte war haarsträubend und unrealistisch. So bezweifelte er beispielsweise, dass eine Meerjungfrau auftauchen würde und dem Kronprinzen ihre Kräfte überlassen würde. Auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das alles nur ein Trick war, hielt er für ausgesprochen gering. Doch es gab reelle Bedrohungen und sie mussten nun überlegen, was zu tun war.

„Ein schwacher König kann weder sich, noch sein Land verteidigen.“

Warum sie alle so besorgt um Aracus wohlergehen waren, wusste keiner. Vielleicht lies es sich damit erklären, dass sie mit Aracu in Frieden lebten. Es war nicht so, dass sie Freunde oder auch nur Verbündete waren, doch Aracu war eine Grenze. Eine Barriere zwischen ihnen und der unruhigen Welt dort draußen. Natürlich wussten sie, was vor sich ging. Überall waren ihre Kundschafter stationiert, doch sie zogen die Ruhe vor. Sie liebten ihre Heimat, die schwarzen Inseln, und würden niemals zulassen, dass jemand diese Ruhe störte. Einzig und allein die Vorstellung der Fuß eines Fremden könne ihre Inseln betreten, seine Hand ihre Bäume berühren, ihre Luft atmen, jagte ihnen Schauer über den Rücken.

„Auch wir wären nicht mehr gegen eine feindliche Invasion geschützt, sollte Aracu angegriffen werden und fallen.

Wir haben also zwei Möglichkeiten: Entweder wir hoffen das Beste und beten, oder wir verteidigen Aracu.“

Ohne das ihre Nachbarn auch nur die geringste Ahnung gehabt hätten, entschied sich auf den Schwarzen Inseln nun ihr Schicksal.
 

„Das Ergebnis ist einstimmig. Wir werden Aracu helfen. Ich bitte nun um Vorschläge.“

Manches, was er nun zu hören bekam, war kompletter Unsinn und nicht durchführbar. So wies er beispielsweise den Vorschlag eine Mauer um Aracu zu bauen ab, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Auch die Idee selbst eine Armee aufzustellen, machte nicht viel Sinn, da sie dann erstens gleich offen in den Krieg gegen all ihre Feinde, welche auch immer das waren, denn die meisten Menschen wussten nichts von ihrer Existenz, ziehen konnten und zweitens niemals rechtzeitig an Ort und Stelle sein würden.

„Wir sollten den König direkt schützen.“, äußerte die Frau, die er vorhin wiedererkannt hatte bedächtig.

Das machte Sinn. Vielleicht könnte ein starker Verbündeter die Schwäche des Königs ausgleichen.

„Einer von uns geht. Wir werden dem König erklären in welcher Gefahr er schwebt und nicht mehr von seiner Seite weichen.“, rief einer der Jüngeren aus.

„Warum sollte er uns trauen? Es wäre ausgesprochen unvorsichtig einen Fremden, der auch noch über mächtige Zauberkräfte verfügt, zu nahe an sich heran zu lassen. Insbesondere in diesem speziellem Fall. Unser König kann weder überprüfen, wie mächtig der Fremde wirklich ist, noch könnte er sich im Falle eines Angriffs selbst verteidigen.

Die Idee, ihm jemandem zu schicken ist gut, doch wie bringen wir ihn dazu der Person zu vertrauen.“

„Und es gäbe da noch ein weiteres Problem“, meldete sich die alte Frau zu Wort, „Können wir wirklich von jemandem verlangen dem König treu zu sein, nur um ihn zu verraten, wenn es nötig ist. Wir könnten uns somit einen mächtigen Feind erschaffen.“

Betretenes Schweigen beherrschte die nächsten Momente. War es überhaupt möglich von jemanden zu verlangen die Inseln, ihre Heimat, zu verlassen. Wäre derjenige noch einer von ihnen oder ein Fremder. Was für Werte konnte solch ein Mensch überhaupt noch haben.

„Ich werde gehen.“, entschied er plötzlich. „Doch wie wir mich am Hof einschleusen und den König davon überzeugen mir zu vertrauen, dass besprechen mir morgen. Es wird schon dunkel und ich vermute, jeder von uns hat seine Familie dabei, mit der er gerne den Abend verbringen würde.“

Es machte nicht viel Sinn, wenn er ging. Er war alt, aber vielleicht würde es ihnen etwas Zeit geben, um sich eine bessere Lösung auszudenken. Er hatte sein Leben gelebt und er könnte seinen Lebensabend genauso gut dazu verwenden seiner Familie ein ruhiges Leben zu bescheren. Hoffentlich wollte ihn morgen keiner von seinem Entschluss abbringen, er wusste nicht, ob er dieser Versuchung widerstehen konnte, aber wer würde ansonsten freiwillig gehen?
 

~ ~ ~
 

Er wurde schon von den anderen erwartet, als er auf den Versammlungsplatz zu ging. Erstaunen machte sich in ihren Gesichtern breit als sie erkannten, dass hinter ihm noch eine weitere Gestalt lief.

Die junge Frau war in etwa 17 Jahre alt. Ihre roten Haare hatte sie mit einem Band im Nacken zusammengebunden. Sie war hübsch. Keine absolute Schönheit, der alle zu Füßen gelegen hätten, nur einfach natürlich hübsch. Ihr junges Gesicht war vom Leben im Wald gezeichnet. Eine kleine feine Narbe zog sich über ihre rechte Augenbraue. Aber das auffälligste waren ihre Augen. Sie waren von einem dunklen smaragdgrün.

„Meine Enkelin.“, begann der alte Mann, der den Vorsitz hatte, zu erklären. „Sie würde...“

Er stoppte und sah sie fragend an. Sie nickte.

„Sie würde für uns nach Aracu gehen, um den König zu beschützen.“

Er seufzte, gestern hatte er den ganzen Abend auf sie eingeredet. Ihm wäre es lieber, sie würde hier bleiben, er würde gehen, irgendwann würde sie heiraten und eine Familie gründen. Sie wäre glücklich. Wie ihr Leben verlaufen würde, wenn der Rat ihrem Vorschlag zustimmte, war nicht abzusehen. Er verstand nicht warum sie unbedingt gehen wollte.

Niemals würde sie zulassen, dass ihr Großvater eine solch gefährliche Mission auf sich nehmen würde. Er hatte sie großgezogen, seit ihre Eltern vor acht Jahren ums Leben gekommen waren und er hatte ihr eine Menge beigebracht. Sie liebte ihre Großeltern, beide waren immer gut zu ihr gewesen und das würde sie ihnen jetzt zurückzahlen.

„Wer weiß, ob sie überhaupt mächtig genug ist, um den König zu beschützen.“, warf ein Mann ein. „Es wird nicht leicht werden.“

„Das weiß sie. Aber ich kann euch versichern, dass sie der Aufgabe gewachsen sein wird, sollte es überhaupt jemand sein.“, unterstützte nun auch der Vorsitzende den Antrag seiner Enkelin.

Warum hatte er das gesagt? Er wollte doch nicht, dass sie ging. Wahrscheinlich lag es daran, dass er ihr sein Leben lang schon keinen Wunsch hatte abschlagen können. Und wenn sie es wollte, würde er sie unterstützen, ob es ihm jetzt gefiel oder nicht.

„Es hat außerdem noch einen weiteren Vorteil, schicken wir sie. Eine uralte Tradition besagt, dass, wenn ein König verstirbt und ihm sein Kind auf den Thron folgt, jeder sich zum Wettbewerb melden kann.“

Es war eine grausame Tradition. Selbst ein mächtiger König brauchte Gefolgsleute, denen er vertrauen konnte. Starb nun der alte König versammelten sich viele Junge, um ihm zu dienen, doch half eine schwache Leibwache, dem König nicht sonderlich. Also wurde Jahrhunderte zuvor eine Art Spiel erfunden. Alle Anwärter wurden getrennt in den Wald geschickt. Ihre Aufgabe war es zu überleben, denn sie sollten sich gegenseitig umbringen. Meistens waren es junge Männer die gingen, doch auch Frauen waren von dem Wettbewerb nicht ausgeschlossen. Nach einer halben Stunde läutete ein Gong und sie hatten noch ungefähr zehn Minuten Zeit, um zu diesem zurück zukehren. Wer nach Ablauf dieser Frist nicht zurück war, war gescheitert und konnte, soweit er noch lebte, nach Hause zurückkehren.

Die zweite Prüfung war das Gedankenlesen. Der König las die Gedanken der neuen Gefolgsleute und entschied dann, wer seine Leibwache werden würde und damit viele Privilegien genoss.

„Sie ist gut darin Menschen das lesen zu lassen, was sie will. Und da der König schwach ist sollte es ihr nicht sonderlich schwer fallen ihn zu täuschen.“

„Ihr wollt eure Enkelin wirklich solch einer Gefahr aussetzen?“

„Ich weiß, dass sie es schaffen kann, denn ich habe sie trainiert. Wenn es ihr Wunsch ist und der Weise Rat damit einverstanden, so würde ich sie ziehen lassen.“

„Ich bezweifle, dass sie, wie ihr es sagt, mächtig genug ist, um jemanden zu täuschen.“

„Versucht es!“

Die Aufforderung war nicht laut ausgesprochen, trotzdem wandten sich alle Köpfe sofort zu ihr um. Es hatte auch nicht frech oder trotzig geklungen. Es war nur eine Möglichkeit, um ihre Fähigkeiten zu beweisen.

Zweifelnde Blicke trafen erst sie, um dann schnell zu ihrem Großvater zu huschen.

„Okay! Ich werde es versuchen. Beweise mir, dass du dem König treu bist.“, sagte der Mann, der vorher ihre Kräfte bezweifelt hatte. Langsam kam er auf sie zu und blieb dann vor ihr stehen.

Es gab zwei Arten von Gedanken lesen. Die eine, die gewöhnlich benutzt wurde, war eher eine Art Kommunikation, in der man nicht lügen konnte. Man sandte dem Gesprächspartner Emotionen. Deshalb waren die Rollen in solch einem Gespräch klar verteilt. Einer fragte, einer antwortete. Das war das, was sie nun vorhatten.

Es existierte noch eine zweite Art von Gedankenlesen, welche allerdings um einiges schwieriger war. In diesem Fall konnte man es fast als eine Vergewaltigung bezeichnen, denn das Opfer hatte keine Chance sich zu wehren. Man lass alle Gedanken komplett gegen den Willen seines Opfers. Deshalb war es auch so schwierig. Verfügte das Opfer selbst über starke magische Kräfte und war nicht geschwächt, so war es nahe zu unmöglich.

Diese zweite Art des Gedankenlesens war verboten, im Gegensatz zur ersten, welche allgemein anerkannt war.

Seine riesigen Hände berührten ihre Schläfen und sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können.

Er würde ihr Bilder oder Worte schicken und sie würde unwillkürlich Emotionen zurücksenden. Aber sie hatte, seit ihre Eltern gestorben waren, viel gelernt. Eines davon war ihre Gefühle zu kontrollieren und ihre Großeltern, welche ihre Enkelin nicht auch noch verlieren wollten, hatten ihr alles beigebracht, was sie konnten und sie waren weise Magier.

Aber diesen Trick, den sie jetzt anwenden würde kannte keiner außer ihr. Diesen Trick hatte sie sich ausgedacht.

Sie spürte die Hände an ihren Schläfen. Sie lies das Bild der Hände und des Mannes vor ihr los, lies es verschwimmen. Langsam zog sich alles zusammen bis sie das Gefühl hatte ein Energieball würde vor ihr schweben, seine Aura.

Sie wartete auf die erste Kontaktaufnahme. Das Bild eines Baumes oder des Himmels. Es war eine Einleitung, genau wie man in einem Gespräch auch erst höflich ein paar belanglose Fragen stellte.

Es kam nichts. Sie war fast schon versucht die Augen zu öffnen um zu sehen, warum nichts passierte, als ein Wort kam. Aracu!

Sie war so überrascht über diesen unhöflichen Anfang, dass sie fast Wut und Gleichgültigkeit geschickt hätte. Wut über den abrupten Anfang und Gleichgültigkeit gegenüber Aracu. Dann besann sie sich jedoch eines besseren und dachte an die Schwarzen Inseln. Sie dachte an die Hütte ihrer Großeltern und wie sieh abends am Lagerfeuer saßen. Sie liebte dieses Land.

Er hatte schon laut auflachen wollen, als er ihre Überraschung spürte. Das hatte sie nicht erwartet. Er war sich sicher, dass er nun einen Schwall von ungewollten Emotionen überschwemmt werden würde. Aber es kam nichts.

Plötzlich kam die Antwort sehr intensiv. Er spürte eine Liebe zu diesem Land, zu jedem einzelnen Tier, zu jeder Pflanze, zu der Luft und zum Wasser. Sie schien alles an diesem Land zu lieben.

Was war schief gegangen?! Er war sich sicher gewesen, dass sie ihre wahren Gefühle senden würde, doch das konnte nicht sein.

Ein weiterer Begriff: Agnem, König von Aracu!

Doch dieses Mal war sie darauf vorbereitet. Sie dachte an ihren Großvater und an ihre Großmutter. Daran, dass diese beiden sie großgezogen hatten und sie ihr Leben für sie opfern würde.

Auch dieses Mal traf ihn die Antwort unerwartet heftig. Ein tiefes Gefühl von Loyalität erfüllte ihn und er war sich sicher, dass er für diesen Mann sein Leben lassen würde. Dann wich die Intensität und er bekam wieder einen klaren Kopf. Er musste zugeben, dass sie entweder das fremde Land über alles liebte und dem König loyal war, oder dass sie einen Weg gefunden hatte, zu lügen. Aber das war unmöglich. Sie war nur ein kleines Mädchen. Es konnte nicht sein, dass sie schaffte woran andere, Große, scheiterten. Er entschied sich also dafür, dass sie Aracu liebte und dann war sie für die Aufgabe wahrlich geeignet.

Er öffnete die Augen, sie sah ihn fest an und er spürte, dass er sie mit seinem abrupten Anfang vorhin ernstlich beleidigt hatte. Schnell nahm er seine Hände von ihren Schläfen und trat einen Schritt zurück.

Sie wandte sich um und sah ihren Großvater fragend an. Dieser verstand und begann zu sprechen: „Nun, was meint ihr, ist meine Enkelin für den Auftrag geeignet?“

„Ja!“

„Schreiten wir also zur Abstimmung. Seid ihr dafür, dass meine Enkelin, Kythra, nach Aracu an den Königshof geht, um dort Agnem, den König, zu schützen? Allerdings setzte ich eine Bedingung hinzu: Sollte es einmal zu Unstimmigkeiten zwischen den Schwarzen Inseln und Aracu kommen, darf sie sich frei entscheiden auf welcher Seite sie steht.

Wer dafür ist hebe bitte die Hand.“

Als erstes hob der Mann, der ihre Gedanken gelesen hatte die Hand, dann ein sehr junger. Nach und nach bezeugten alle ihr Einverständnis. Der letzte, der seine Hand hob war ihr Großvater.

Nun war es einstimmig entschieden. Sie spürte Angst ihn sich hochkommen, unterdrückte das Gefühl jedoch. Sie würde es schaffen.
 

~ ~ ~
 

Ein Schiff hatte sie und ihren Gefährten, einem jungen Mann aus der Versammlung, am gestrigen Abend auf das Festland gebracht. Ein seltsames Gefühl. Sie hatte ihr Leben lang auf den

Schwarzen Inseln gelebt und war noch nie irgendwo anders gewesen.

Die Nacht hatten sie unter freiem Himmel verbracht und als sie am nächsten Morgen erwachten, waren an einem Baum in ihrer Nähe zwei Pferde angebunden.

Ihr Begleiter hatte ihr mitgeteilt, dass einige Verbündete hier lebten und sie weitest gehend unterstützen würden. Allerdings zogen sie es vor unerkannt zu bleiben.

Sie genoss es zu reiten, auch wenn sie anfänglich große Schwierigkeiten gehabt hatte. Aber daran würde sie sich wohl gewöhnen müssen.

Es stimmte sie traurig ihre Heimat, die Schwarzen Inseln, am Horizont verschwinden zu sehen, aber es war ihre Wahl gewesen und sie wusste für wen sie es tat. Zwar sah es von außen so aus als wäre es für die Schwarzen Inseln, doch war ihr Hauptgrund ihre Großeltern. Auch wenn sie ihre Heimat liebte, machte es überhaupt Sinn, seine Heimat zu verlassen, um sie zu schützen?

„Wir müssen uns beeilen, der Wettbewerb ist in zehn Tagen. Das schaffen wir nur, wenn wir uns auf kurze Pausen beschränken.“, sagte eine Stimme neben ihr.

Versuchte er schon wieder ein Gespräch anzufangen? Es war ihr lästig. Denn eigentlich wollte sie ihre Ruhe haben und ihren eigenen Gedanken nachhängen. Konnte dieser Trottel das nicht verstehen? War es wirklich so was von abwegig, dass sie, die wahrscheinlich gerade ihre Heimat für immer verließ, ein bisschen nachdenken wollte.

„Hmmm.“

Das musste ihm als Antwort genügen. Was sollte dieser Blick von der Seite. Sie hatte kein Interesse an ihm. Leider kannte sie den Weg nicht und brauchte jemand, der ihr den Weg zeigte, aber sobald sie die Stadt sehen würden wäre sie weg. Natürlich war es unfair ihm gegenüber, aber was erhoffte er sich? Ihm war doch wohl klar, dass er sie nach dieser Reise nie wieder sehen würde. Oder wollte er nur eine kurze „Bekanntschaft“. Bloß nicht, dachte sie.

„Wir haben Glück mit dem Wetter, normalerweise ist es hier sehr regnerisch.“

Okay, sie gab auf. Vielleicht würde er, wenn sie mit ihm sprach, erkennen, dass sie eine ausgesprochen langweilige Gesprächspartnerin war. Sie musste grinsen. Jetzt fing sie schon an sich selbst zu beleidigen.

„Warst du schon öfter hier?“, fragte sie, um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Ja, ich bin gerne als Kundschafter unterwegs. Und kenne mich auf dem Festland deshalb ziemlich gut aus.“ Er grinste.

Eigentlich sah er ja ganz gut aus. Aber für so etwas hatte sie jetzt keine Zeit. Sie bemerkte, dass sie seinen Namen schon wieder vergessen hatte. Mist! Das war peinlich.

„Ist es interessant?“

„Ohh, ich liebe es. Es ist toll auch die anderen Teile von Iverion zu sehen. Bisher war ich aber abgesehen von Aracu nur in den Grenzgebieten. Ich würde zu gerne einmal die Hauptstädte sehen. Vor allem Feuster.“

Die Wüste also. Sie war froh, dass sie im feuchten Aracu bleiben konnte. Die Auen und Sümpfe gefielen ihr besser als die sengende Sonne.

„Was machst du so als Kundschafter?“

„Vor allem überprüfen, wie viel die Leute über uns wissen. Außerdem noch...“

„Und wie viel wissen sie?“, unterbrach sie ihn.

„Nicht viel. Für die meisten sind wir nur eine Legende. Andere sagen, dass die Schwarzen Inseln zwar real exestieren, doch auf ihnen keine menschlichen Wesen anzutreffen sind, denn dort würden Drachen leben. Ach ja, meine persönliche Lieblingsversion ist ja, dass dort die Götter leben. Ich habe zwar bei uns noch keine gesehen, aber wenn du mal einen triffst, dann Grüß ihn von mir.“

Sie lachte.

Es freute ihn, dass sie lachte. Seit er sie zum ersten mal gesehen hatte, war sie ziemlich ernst gewesen. Sie war hübsch. Dass sie ihm gefiel, war auch ein Grund, dass er sich als Begleitung angeboten hatte. Aber natürlich war er auch froh, einen Grund zu haben, das Festland betreten zu dürfen. Er liebte zwar seine „kleinen Ausflüge“, wie seine Freunde immer sagten, doch er würde die Schwarzen Inseln niemals verlassen. Er bewunderte das Mädchen neben ihm dafür. Andererseits bedauerte er es auch, aber vielleicht würde er ja ab und zu die Möglichkeit bekommen, sie zu besuchen. Ob ihm das reichte, war eine andere Frage.
 

„Wir werden in etwa einer Stunde Aracu erreichen. Bist du die sicher, dass du gehen willst?“

Sie hatten sich in den letzten Tagen angefreundet Myrriel und sie. Es war Schade ihn verlassen zu müssen und wahrscheinlich nie wieder zu sehen. Wäre sie auf den Schwarzen Inseln geblieben, wer weiß.

„Du weißt, dass ich, selbst wenn ich wollte, keine andere Wahl hätte.“

Hörte er etwa etwas Bedauern in ihrer Stimme? Nein, er musste sich getäuscht haben.

„Dann lass es uns wenigstens noch einmal durchgehen.“

„Okay. Ich werde also in etwa einer Stunde, zur Mittagszeit, Aracu erreichen.“

„Genau. Du wirst dich beim Schloss anmelden und sie werden dir eine Unterkunft anbieten, welche du annimmst. Normalerweise kommen Leute von außerhalb schon etwas früher. Sie verbringen die restliche Zeit in der Unterkunft, die speziel für die Kandidaten ist. Dort solltest du dann mit essen und trinken versorgt werden. Ich hoffe blos, sie setzen dir keine gegrillte Sumpfnatter vor. Eine hießige Spezialität. Allerdings sehr gewöhnungsbedürftig im Geschmack.“

Er grinste sie an. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr. Sumpfnatter! Das war doch nicht sein Ernst. Als sie sich einen Moment später wieder gefangen hatte und ihre Gesichtszüge wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, vervollständigte sie seine Ausführungen:

„Morgen wird dann der Wettbewerb sein, den ich hoffentlich...“

„Nur nicht so unsicher, sonst schaffstes nicht! Ich glaub an dich.“, schimpfte er.

Sie lachte.

„..., den ich bestehe. Danach werde ich nur noch selten Kontakt aufnehmen, um das Vertrauen, welches der König, wie hieß er noch mal?“

„Mein Gott, dass solltest du nun wirklich wissen. Agnem, König von Aracu.“

„Okay. Also wenig Kontakt, damit ich nicht sofort des Verrats bezichtigt werde.“

Er stoppte sein Pferd. Auch sie stoppte und wandte sich fragend zu ihm um.

„Ich komme nicht weiter mit. Du brauchst nur noch dem Pfad folgen. Aracu wird bald vor dir erscheinen. Hier ist etwas Geld, es schadet nie etwas Geld dabei zu haben.“

Er reichte ihr einen kleinen Beutel, den sie an ihrem Gürtel festmachte. Der Beutel war schwer.

„Also dann, machs gut. Ich bin mir sicher, dass wir uns irgendwann mal wiedersehen.“

„Ja.“ Sie zögerte, doch dann entschied sie sich und sagte: „Du ...vielen Dank, dass du mich begleitet hast. Ich werd deine Gesellschaft vermissen.“

Er lächelte sanft, winkte, wendete sein Pferd und gallopierte davon. Sein schwarzerbrauner Umhang wehte ihm nach. Es war der selbe, wie sie ihn auch trug. Trotz der wärmenden Mittagssonne fröstelte es sie. Am liebsten hätte sie sich zusammen gerollt und geweint. Sie fühlte sich auf einmal so verlassen. Durch Myrriels Gesellschaft war ihr vorher nicht klar gewesen, wie es wäre auf sich allein gestellt zu sein. Sie schluckte die Tränen hinunter und trieb ihr Pferd an.

Nach etwa zehn Minuten erblickte sie Aracu und es war wunderschön. Aracu, die Wasserstadt, ihre neue Heimat. Die Menschen die in diesem Land lebten, beherrschten das Wasser nahezu perfekt. Die Stadt war in fünf Stockwerke untergliedert, jedes von ihnen mit einer eigenen Mauer umgeben. Myrriel hatte ihr auf der Reise erzählt, dass umso weiter oben man wohnte, umso angesehener war man. Unten lebten kleine Händler und Handwerker. Außerdem wurde dort Markt gehalten. Dann kamen die Großhändler und die reicheren Familien. Das Militär, war noch eine Stadtmauer weiter entfernt. Nahe des Palastes kamen dann die Mächtigen. Ob durch Geld, Einfluss oder magische Kraft machte kaum Unterschied. Und zum Schluß der Palast. Wasserfälle rauschten an den Wänden hinab, es glitzerte in der Sonne wie Diamanten. Das Gebäude war aus weißem Marmor und ausgesprochen eindrucksvoll. Myrriel hatte ihr erzählt, dass im Palast alles aus Wasser bestand. Doch nicht nur dort war Wasser keine Mangelware. An jedem Haus und jeder Mauer lief Wasser hinab. Sie verließ nun also ihre Heimat, die Schwarzen Inseln, um in diese glitzernde, weiße Stadt zu ziehen. Der funkelnde Berg, der aussah als wäre er aus nichts anderem als aus weißem Marmor und Wasser.
 

Kurz nach Mittag saß sie in einem spartanisch eingerichtetem Zimmer. Und obwohl sich in dem Zimmer nichts anderes als eine Bett, ein Stuhl und ein Tisch befand, war es ausgesprochen gemütlich. Als sie sich auf das Bett setzte versank sie fast darin. Das Gebäude in dem sie sich befand, stand unterhalb des Palastes innerhalb der Mauer, wo das Militär untergebracht war. Also so zu sagen zwei Etagen tiefer. Da sie sich nicht aus ihrem Zimmer traute, den sie würde unter den Aracunern auffalen, wie ein bunter Hund, blieb sie dort, bis der Gong sie zum Abendessen rief.

Es war ein großes Buffett aufgebaut worden. Außer ihr befanden sich noch etwa ein Dutzend Jungen in dem großen Saal. Ob das ihre Gegner waren, die sie morgen töten sollte? Einer sah aus als wäre er gerade einmal 13 Jahre alt, andere wiederum waren bestimmt schon weit über 20. Doch die meisten waren in etwa in ihrem Alter. Sie konnte sie doch nicht morgen einfach töten. Egal was man ihr sagte, sie beschloß, dass sie sich zwar verteidigen würde, aber nicht töten. Vielleicht konnte sie es ja so einrichten, dass sie sie nur betäubte ohne sie ernstlich zu verletzen. Wenn ihr das überhaupt möglich war, denn auch ihre Gegner waren gut ausgebildet und sie spürte die ein oder andere mächtige Aura. Trotzdem traute sie sich zu, diese verwöhnten Bengel zu schlagen. Denn sie konnte an ihrer Kleidung und an ihren Händen erkennen, dass keiner von ihnen je hatte hart arbeiten müssen.

Sie ging am Buffett entlang. Mehrere dunkelbraune Stöcker, die auf einem Teller lagen eregten ihre Aufmerksamkeit. Hatte Myrriel sie vorhin doch nicht nur aufziehen wollen? Vorsichtshalber beschloss sie nur das zu essen, was sie auch eindeutig identifizieren konnte.

Mit ihrem gefüllten Teller setzte sie sich an den langen Tisch, an dem eindeutig mehr als nur ein gutes Dutzend Personen Platz hatten.

Ein Junge, vielleicht ein, zwei Jahre älter als sie setzte sich neben sie. Sie beschloss ihn zu ignorieren. Trotzdem beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkeln. Er hatte die typisch blasse, bläulich schimmernde Hautfarbe der Aracuner und die großen Augen. Natürlich auch die ausgefallenen Ohren, welche die Einwohner von Aracu eindeutig identifizierbar machten. Ihre Ohren sahen aus, wie kleine Flügel, mit einem kleinen Stachel am oberen Ende. Dahinter, so munkelte man auf den Schwarzen Inseln, befanden sich Kiemen. Der Junge war kräftig und sie vermutete, dass er von der hießigen Damenwelt alles andere als verschmäht wurde. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr essen, da sie spürte, wie sich ihr Magen vor Hunger zusammenzog.

Sie wollte sich gerade ein Stück Brot in den Mund schieben, als sie nur noch eine schnelle Bewegung neben sich registrierte. Plötzlich spürte sie eine Hand an ihrer Hüfte.

„Na Süße, wollen wir heut noch n bissel Spaß haben?! Wenn du gut bist überleg ich mir noch mal, ob ich dich morgen umbring oder nicht. Du gefällst mir irgendwie. Hier hab ich langsam alle durch und dein exotisches Aussehen törnt mich an.“

Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals. Bisher hatte sie da gesessen wie erstarrt. Das konnte doch nicht sein ernst sein. Das konnte ihr nicht wirklich passieren. So eine Unverschähmtheit.

Sie riss sich los und purzelte fast nach hinten von der Bank runter. Als sie sich im Raum umsah, erkannte sie, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Doch keiner sah so aus, als ob er ihr helfen wollte. Sie leckten sich lüsternd die Lippen und pfiffen ihr nach, als sie aus dem Raum flüchtete. Der Junge, der sie belästigt hatte, lachte ihr schallend hinterher.

Noch die ganze Nacht über hörte sie ihn ihren Träumen sein Lachen.
 

Ein schüchternes Klopfen an ihrer Tür weckte sie am nächsten morgen. Bevor sie aus dem Bett springen konnte öffnete sich die Tür und ein trat ein junges Mädchen, welches eine große Schüssel trug. Über ihrem Arm hing ein Handtuch. Sie stellte beides auf dem Tisch ab.

„Ihr werdet in einer Stunde am östlichen Stadttor erwartet.“

Das Mädchen verließ das Zimmer genauso schnell, wie es gekommen war.

Aracu hatte zwei Stadttore: das Östliche und das Südliche oder Große genannt. Durch das Östliche war sie am Tag zuvor hereingekommen.

Während sie sich wusch und anzog beschloss sie, nach ihren gestrigen Erfahrungen, das Frühstück heute lieber ausfallen zu lassen und den Hunger zu unterdrücken. Sie würde etwas früher am Versammlungsort erscheinen, in Erwartung dort vielleicht, dank Anwesenheit hochrangiger Militärs etwas Schutz zu finden.
 

~ ~ ~
 

„Ihr werdet nun alle im Abstand einiger Minuten in den Wald gehen. Wenn alle drin sind werdet ihr die Glocke hören. Nach einer halben Stunde werdet Ihr ihren Klang zum zweiten Mal vernehmen, dann ist es nur noch Eure Aufgabe euch hierhin zurück zu begeben, um den Anforderungen zu genügen.“

Der junge König, der neben dem Offizier stand, welcher die Anweisungen gegeben hatte, wirkte sehr sanft. Nicht das er schwach gewesen wäre, er schien seinen Mangel an magischer Kraft durch hartes körperliches Training wettmachen zu wollen. Laut Myrriel gab es niemanden in den Reihen der Soldaten Aracus der Agnem hätte im Schwertkampf schlagen können. Trotzdem wirkte sein Blick fast traurig als er ihn über die Kandidaten schweifen ließ. Wahrscheinlich überlegte er sich, wen von ihnen er noch einmal wiedersehen würde. Zwar hatte sich in den letzten Jahrzehnten eingebürgert, dass man die Gegener nur außer Gefecht setzte, doch gab es immer wieder Tote. An ihr blieb sein Blick etwas länger hängen. Nicht begehrend, wie sie es am gestrigen Abend von den anderen Kandidaten erlebt hatte, sondern mitleidig. Er glaubte wohl, dass sie keine Chance hatte. Aber sie sah noch etwas anderes in seinem Blick: Neugier! Natürlich, jemand, der aussah wie sie, würde er bisher wohl kaum zu Gesicht bekommen haben.
 

Sie ging als letzte in den Wald. Sobald sie ihn betretten hatte, hörte sie den hellen Ton der Glocke hinter sich. Eine halbe Stunde. Sie beschloß dem Pfad noch etwas zu folgen und sich dann in die Büsche zu schlagen, da sie vermutete, dass viele am Rand des Waldes geblieben waren. Trotzdem würde keiner nah am Weg bleiben, da sie alle nach und nach dort entlang kommen würden. Wer dem Weg nahe war, lief Gefahr entdeckt zu werden und das konnte unter Umständen tödlich sein.

Der Weg macht einen Knick, schlängelte sich zwischen ein paar Bäumen hindurch auf eine Lichtung zu an deren Rand weitere Pfade in verschiedene Richtungen weiterführten. Sie ging weiter bis sie mitten auf der Lichtung stand. Wohin jetzt?

Sie hatte keine Angst, dass einer ihrer Gegner sie sehen würde. Mit einem würde sie locker fertig werden. Sie hatte viel trainiert seit damals...

Plötzlich hörte sie eine Bewegung hinter sich. Sie fuhr herum. Der Junge, der sie gestern belästigt hatte, tratt mit einem selbstsicherem Grinsen aus dem Schatten der Bäume.

„Na Süße, haste's dir noch mal überlegt?“ Er leckte sich die Lippen.

Na gut, wenn das ihr erster Gegner war. Bei ihm würde es ihr Spaß machen gegen ihn zu gewinnen. Sie wollte sich gerade kampfbereit machen, als sie spürte, wie weitere Menschen die Lichtung betraten. Sie war von zwölf jungen Männern umzingelt. Wollten sie sie etwa gemeinsam angreifen? Zwölf gegen einen? Nein, das konnte nicht wahr sein. Selbst diese ekelhaften Kerle mussten noch ein Fünkchen Ehre besitzten. Als sie jedoch in ihre Augen sah, wusste sie, dass sie sie gemeinsam angreifen würden. Sie hatten sich zusammen geschlossen, um den fremden Feind zu besiegen. Trotzdem musste sie es irgendwie schaffen zu fliehen. Sie wusste, dass sie stärker war als jeder einzelne von ihnen. Doch gegen sie alle zusammen, würde sie keine Chance haben.

Sie überlegte sich gerade, was sie tun könnte, um zu entkommen, als sie etwas hart in den Rücken traf, so dass sie bäuchlings auf den nassen Untergrund fiel. Ohne Vorwarnung war sie von hinten attackiert worden. Wie feige! Sie standen nun gefährlich nah um sie herum.

Der Junge von gestern trat hervor. Er kniete sich zu ihr nieder. Sie wollte aufspringen und wegrennen. Irgendwohin, nur weg. Doch sie konnte sich nicht einmal mehr bewegen. Das einzige Körperteil, welches sich noch unter ihrer Kontrolle befand, waren ihre Augen. Nicht einmal mehr ihren Kopf konnte sie drehen. Sie hielten sie mit vereinter Kraft am Boden. Die magische Kraft, die sie zusammen aufbrachten war stark. Stärker als sie erwartet hatte, dass sie, selbst gemeinsam, hätten sein können.

Der junge Mann, der neben ihr hockte, fasste sie an den Schultern und drehte sie um, so dass sie nun mit dem Rücken auf dem Boden lag. Sie war steif wie ein Brett.

Wolken zogen am Himmel vorbei. Was hatten sie nur mit ihr vor. Wenn einer von ihnen nun ein Messer herausholen würde, könnten sie sie töten ohne dass sie auch nur die geringste Chance hatte Widerstand zu leisten. Ihre Mission war gescheitert bevor sie überhaupt angefangen hatte. Doch sie wusste, dass sie, um sie zu töten nicht einmal ein Messer nötig hatten.

Plötzlich spürte sie eine Hand an ihrem Unterschenkel, die langsam nach oben wanderte.

Wie konnten sie es wagen. Hatten sie nie so etwas wie Anstand gelernt? Dass sie sie angriffen, lag es vielleicht gar nicht daran, dass sie fremd war, sondern, dass sie ein Mädchen war?!

Nun hatte die Hand den Stoff ihres beim Fallen hochgerutschten Gewandes erreicht. Sie sah ein Gesicht in ihrem Blickfeld auftauchen.

„Na Süße, ich wusste doch, dass es dir gefallen würde. Hmmm, keine Reaktion. Lass ich dich so kalt? Lächle doch mal für mich. Ach, wie rüde von mir, ich vergas, du kannst dich ja gar nicht bewegen.“

Sie hörte Lachen, um sich herum. Nein. Sie wollte hier weg. Sie wollte nach Hause.

MYRRIEL!!

Der mentale Schrei verhallte, ohne das ein Ohr ihn vernohmen hätte. Doch alle hatten ihn gehört.

„Ach deshalb biste so widerspenstig. Unsere Süße hier hat 'nen Freund. Wie unachtsam von ihm, dich allein zu lassen.“

Wieder das fiese Lachen.

„Aber keine Sorge, wir werden ihn bestimmt finden und ihm sagen ...hmmm, was sollen wir ihm denn erzählen... ...aber vielleicht ist das unwichtig, weil er unseren Besuch nicht überlebt. Wir werden auch ein bisschen Spaß mit ihm haben.“

Warum waren sie so gemein zu ihr? Was hatte sie ihnen getan? Sie verstand es nicht. Aber war es nicht genau das, was sie hatte verhindern wollen, dass ihre Leute in Schwierigkeiten geraten würden? Sie konnte nicht zulassen, dass sie ihrer Familie, ihren Freunden, ihren Inseln etwas antaten. Ärger stieg in ihr hoch. Unermessliche Wut.

Seine Hand war jetzt unter ihrem Gewand an der Innenseite ihres Oberschenkels. Das Mädchen würde ihm schmecken. Plötzlich merkte er, wie es dunkler wurde. Der Mond schob sich vor die Sonne. Eine Sonnenfinsternis, gerade jetzt. Aber was soll's, dachte er, im Dunkeln ist es schließlich auch romantisch.

Etwas war anders. Der Mond schien sich schneller als sonst zu bewegen. Nur wenige Sekunden später, war nur noch ein heller Streifen der Sonne zu sehen. Dann war es soweit, es war total dunkel. Genau in diesem Moment spürrte er, dass dort wo gerade eben noch ihr Körper gewesen war, sich nur noch Luft und Dunkelheit befand. Das Gewand sank zur Erde. Er spürrte die Verwirrung der anderen. Auch sie spürrten, dass das Mädchen nicht mehr da war. bis gerade eben hatten sie ihre Muskeln an jeglicher Bewegung gehindert, doch nun war sie weg.
 

~ ~ ~
 

Myrriel fuhr zusammen. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Nein, nicht jemand. Kythra. Er hatte ihre Stimme, wenn man dass so sagen konnte, sofort erkannt. Es hatte verzweifelt geklungen. Und obwohl er sein Pferd im selben Augenblick wendete und zurück ritt, wusste er, dass er niemals rechtzeitig kommen würde. Seit sie sich vor fast ein einhalb Tagen verabschiedet hatten, war er stetig nach Osten geritten und selbst, wenn er nun sein Pferd in entgegengesetzte Richtung trieb, so würde er doch mindestens einen Tag brauchen bis er Aracu erreichte. Er trieb sein Pferd noch schneller, so dass in einen unruhigen Gallop verfiel.

Als er noch darüber grübelte, was passiert sein könnte, begann sich plötzlich der Mond vor die Sonne zu schieben. Eine Sonnenfinsternis? Unerwartet. Trotzdem war gegen eine Sonnenfinsternis, aus Sicht der Einwohner der Schwarzen Inseln nie etwas einzuwenden. Aber etwas an dieser Sonnenfinsternis war seltsam...
 

~ ~ ~
 

In ganz Iverion sahen die Menschen zum Himmel. Eine Sonnenfinsternis war nichts ungewöhnliches, aber diese? So schnell hatte sich der Mond noch nie vor die Sonne geschoben. Es dauerte weniger als eine Minute, bis es komplett schwarz war. Man sah die Hand vor Augen nicht. Man sah überhaupt nichts. Es war als hätte jemand das Licht der Himmelskörper, nicht nur der Sonne, einfach ausgeschaltet.
 

~ ~ ~
 

Eine Sonnenfinsternis? Unmöglich! Sie hatten die Bewegungen der Sterne, des Mondes und ihrer Erde sehr genau beobachtet. Es konnte nicht sein. Sie wussten, wann ein außergewöhnliches, kosmisches Ereignis bevorstand. Und nichts hatte diese totale Schwärze angekündigt. Das konnte nicht sein. Das war einfach nicht logisch.
 

~ ~ ~
 

Er zuckte zusammen. Wieder eine Aura weniger, wieder einer gestorben. Ihn mit gezählt waren sie nun noch drei. Und das Wesen das in der Schwärze umher schlich, schien seine Arbeit vollenden zu wollen. Er wusste, dass es das Mädchen war, doch war sie überhaupt ein Mensch? Wer oder was hatte die Macht solch eine Dunkelheit hervorzurufen?

Er spürte nicht, wie sich etwas nährte, erst als sich kalte Finger um seine Kehle schlossen, merkte er, dass sie sich ihm genährt haben musste. In diesem Moment hörte er den Todesschrei eines weiteren Kameraden. Dann waren die Finger verschwunden und die Schwärze, die jedes Licht und jedes mentale Geräusch schluckte umgab ihn wieder vollkommen.

Als er, nachdem es dunkel geworden war, seine Gedanken wieder gesammelt hatte, war sein erster Reflex gewesen, Licht zu erschaffen. Und er hatte über seinen Händen eine kleine Flamme erschaffen. Doch obwohl er ihre Wärme spürte, hatte er sie nicht sehen können. Er hatte gewusst, dass dort Zentimeter von seinen Augen entfernt ein Feuer brannte, doch er hatte es nicht gesehen. Die perfekte Dunkelheit hatte das Licht regelrecht absorbiert.

Er hatte versucht seine Freunde anzusprechen. Mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Doch jede Art von mentaler Kommunikation war nicht mehr möglich. Und es war ihm unmöglich zu sprechen. Es war, als hätte er vergessen, wie man sprach. Er spürte keine magische Kraft, die ihn am Sprechen hinderte, sondern er wusste nicht mehr, was er tun musste, um zu sprechen.

Wieder ein Schrei. Scheinbar hatten die anderen noch Töne von sich geben können, aber das war jetzt nicht mehr so wichtig. Er wusste, dass er allein war. Er hatte mitgezählt. Elf verzweifelte Schreie. Elf Tote. Und er war der letzte. Sie würde ihn nicht überleben lassen. Auch er würde sterben. Doch es erfasste ihn nicht, wie er erwartet hatte, Panik. Er wusste, dass er sterben würde. Tot sein würde und trotzdem wirkte es nicht real. Er konnte nicht sterben. Das war einfach unmöglich. Seine Gedanken rasten und kamen trotzdem zu keinem Ergebnis. Er drehte sich im Kreis.

Plötzlich hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Keine Fremde, sondern seine Eigene: „Na 'Süßer', war es das, was du wolltest.“

„Wie macht sie das? Wie beherrscht sie mich? Wie beherrscht sie die Dunkelheit? Wie beherrscht sie die Nacht?“

„Ich beherrsche die Nacht nicht.“, hörte er seine Stimme in seinem Kopf, „Ich bin die Nacht!“
 

Langsam zog der Mond in normalem Tempo weiter und Licht fiel auf die schaurige Szenerie. Sie stand splitter faser nackt auf der Lichtung und überall um sie herum lagen Leichen. Keiner der Jungen sah tot aus. Sie lagen auf dem Boden und schienen zu schlafen, denn keine Wunde oder andere Verletzungen waren zu sehen.

Doch man sah, dass sie nicht schliefen. Ihre Augen waren weit geöffnet und in ihren Gesichtern lag das nackte Entsetzen. Das letzte Gefühl, dass sie noch vor ihrem Tod gehabt hatten, war Angst. Nichts als pure Angst.

Sie waren tot. Kein Herz schlug mehr. Alle waren sie nacheinander an Herzstillstand gestorben.

Wie betäubt stieg sie über die Leichen zu ihren Gewändern und hob diese auf.

Was hatte sie getan? Das würde man ihr nie verzeihen. Sie war in den Köpfen, den Gedanken jedes einzelnen gewesen. Sie kannte sie besser als sie sich selbst je gekannt hatten. Sie wusste welchen Rang sie genossen. Welchen Status ihre Familien hatten.

Sie werden mich töten. Auch wenn es die Aufgabe war. Sie würden niemals zu lassen, dass ein Mädchen, eine Fremde, die Erben ihre Familie besiegt hat. Es waren die Begabtesten jeder Familie gewesen und nun waren sie tot.

Nein, niemals würden sie es ihr verzeihen. Nicht ihr.

Plötzlich kam ihr ein absurder Gedanke. Nicht ihr. Aber vielleicht... Sie sah sich um, sah sich jeden der Toten noch einmal genau an. Ging im Kopf ihre Lebensgeschichten durch. Und blieb dann vor Quareak, der sie angegriffen hatte, stehen. Es widerstrebte ihr, doch er war am geeignetesten. Seine ihm nahestehende Familie lebte weit entfernt und hatte trotzdem sehr großen Einfluss. Hier, in Aracu, hatte er kaum Verwandtschaft. Zumindest keine nähere. Allerdings hatte diese Verwandtschaft trotzdem großen Einfluss. Sie waren sogar weitläufig mit der Königsfamilie verwandt.

Sie hatte sich entschieden. Um ihre Mission auszuführen, würde sie zu ihm werden. Sie würde seine Identität annehmen und den König beschützen.

Langsam ging sie auf Quareaks Leiche zu. und zog ihm seine Kleidung aus. Sie besah ihn sich sehr genau, drehte ihn auf den Rücken. Sie analysierte jeden einzelnen Teil des nackten Körpers vor ihr.

Ein Zittern durchfuhr ihre Muskeln. Ihre Knochen wuchsen. Sie wurde größer. Die Haut spannte, rieß auf, nur um darunter neue blass-bläuliche Haut zu gebähren. Ihre Ohren wuchsen, ein Stachel trat daraus hervor, und sie spürte, wie sich dahinter etwas bildete. Kiemen.

Nach ein paar quälenden Minuten war es vorbei. Noch einmal besah sie sich die Leiche überprüfte jeden einzelnen Leberfleck die Größe jedes Fingers. Verglich und prägte sich sein Gesicht ein.

Als sie alles noch einmal überprüft hatte, dann nahm sie seine Kleider vom Boden auf, lies ihre eigenen, die sie bis jetzt wie einen Rettungsanker an sich gepresst hatte, fallen und kleidete sich im Stil einer ihr fast vollkommen fremden Kultur an.

Allerdings brauchte sie etwas um herauszufinden, wie man das Ding zwischen ihren Beinen am besten verstaute. Denn sie hatte schon schmerzlich erfahren müssen, dass es sehr empfindlich war. Im Endeffekt beschloss sie, aus praktischen Erwägungen hinaus, es etwas zu schrumpfen.
 

Als sie die Glocke hörte begann sie sich zu beeilen, die Leichen mussten verschwinden. Ein toter und ein lebender Quareak würden Aufsehen erregen. Auch wusste sie nicht, ob man vielleicht sogar ihre Leiche vermissen würde. Sie beschloß die Körper zu verbrennen. Keiner würde ihre Leiche vermissen, wenn nur noch Asche übrigblieb.

Am Körper des Jüngsten hielt sie kurz inne. Er war fast noch ein Kind. Doch sie musste sich beeilen. Es war schon fast fünf Minuten vergangen, seit die Glocke geläutet hatte.

Als letztes verbrannte sie ihre alten Gewänder. So etwas würde sie wohl nie wieder tragen können. Sie wandte sich um. Und während das Feuer hinter ihr alle Beweise vernichtete, machte sie sich auf, um ihr neues Leben zu beginnen.
 

~ ~ ~
 

Die Sonne stand hoch am Himmel als Myrriel Aracu erreichte. Gestern um diese Zeit war die Sonnenfinsternis eingetreten. Doch nun zeigte sich der Himmel von seiner besten Seite. Nur ein paar Schäfchen Wolken zogen vorbei.

In der Stadt herrschte munteres Treiben, doch er achtete nicht darauf. All seine Sinne suchten Kythra, doch er spürte nicht einmal ihre Aura. Seit ihrem Hilferuf hatte er mehrfach versucht sie mental zu erreichen, doch sie hatte nie reagiert. Nur beim fünften Mal hatte er jemandem gespürt, doch die Person hatte nicht geantwortet, sondern sich nur schnell wieder zurück gezogen.

Zielstrebig lenkte er sein Pferd in Richtung des Palastes. Wenn er etwas über ihren Verbleib in Erfahrung bringen konnte, dann wohl dort.

An der Mauer, die das Militärsviertel umgab, hatte er als Fremder sein Pferd zurücklassen müssen. Er hatte am Palast gebeten ihn zur neuen Leibwache des Königs zu bringen. Doch die diensthabenden Soldaten hatten ihm erklärt, dass diese erst in etwa drei bis sechs Monaten in den Palast ziehen würde und bis dahin im Stockwerk des Militärs zu finden war. Trotzdem genossen ihre Mitglieder jetzt schon einen hohen Status. Bis sie in einem zeremoniellen Ritus in den Palast aufgenohmen wurden, lebten und trainierten sie mit den anderen Soldaten. Wie lange sie dort blieben, war stark von Begabung und Fleiß des Einzelnen abhängig.

Als er das Militärsviertel erreichte, fand er auch schnell jemanden, der bereit war ihn zu führen. Der Soldat leitete ihn durch verwinkelte Gassen und über große Plätze. Und obwohl hier alles sehr übersichtlich organisiert war, hatte Myrriel schon bald die Orientierung verloren. Dann waren sie vor einem prächtigen Haus stehen geblieben, das an einer der Hauptstraßen lag. Ohne zu zögern betätigte der junge Mann, der ihn geführt hatte, den Türklopfer.

Es dauerte eine Weile, dann hörten sie Schritte hinter der Tür. Plötzlich war es kurz still und Myrriel spürte wie ein Geist den Seinigen berührte. Kurz darauf setzten die Geräusche einer Person, die die Treppe hinunter kam, wieder ein.

Langsam öffnete sich die knarrende Tür. Der junge Mann der in der Tür stand, war eindeutig aus Aracu. Wie alle hier besaß auch er die typische blass-blaue Haut und die großen Ohren. Sein silbrig-weißes Haar trug er offen. Es reichte ihm bis zu den Schultern. Einige Stränen fielen ihm ins Gesicht. Er war groß gewachsen und trug die elegante Kleidung der Leibwache.

„Guten Tag. Mein Name ist Myrriel. Ich suche eine Freundin von mir, die am gestrigen Wettbewerb teilgenohmen hat. Ihr Name ist Kythra.“, begann Myrriel das Gespräch als der junge Mann in nur ansah.

„Es tut mir Leid“, antwortete der Aracuner ohne dass sich sein Gesichtsausdruck veränderte, „aber ich bin der einzige Überlebende.“

Das konnte nicht sein. Myrriel musste sich am Türrahmen festhalten, damit seine Beine nicht nachgaben. Kythra tot? Es war unmöglich. Sie musste noch leben. Sie konnte nicht tot sein. Er hatte sie auf der ganzen Reise mehr und mehr lieb gewonnen. Er hatte noch so viel vorgehabt. Er hatte sie besuchen wollen und soe trösten, wenn sie das Heimweh packte. Doch ihm war bis jetzt nicht klar gewesen, was sie ihm wirklich bedeutete.

Plötzlich berührte ihn etwas. Etwas schien ihn zu trösten. Die Aura berührte seine Seele. Es war angenehm, warm, sicher. Doch dann verging der Augenblick und er war wieder in Gegenwart der zwei jungen Aracuner, die ihn ansahen.

Er wollte nur noch weg. All seine Muskeln waren auf Flucht programmiert. Es war als wartete er nur noch auf das Startzeichen.

Plötzlich berührte eine Hand mit langen Fingern seine Schultern. Myrriel sah auf und genau in die Augen des Leibwächters. Das dunkle blau strahlte eine tiefe Ruhe aus, so dass auch er sich langsam wieder unter Kontrolle bekam. Er musste nun daran denken, was die Schwarzen Inseln nun tuen konnten. Denn Kythra war noch vor Beginn ihrer Mission gescheitert. Der Gedanke an sie schmerzte.

„Ich denke ihr seit wegen unserem König, Agnem so besorgt.“ Myrriel sah aus den Augenwinkeln den verständnislosen Blick des Soldaten, wie konnte jemand so wenig Einfühlungsvermögen besitzen, schien er zu fragen. „Aber ich werde den König von nun an beschützen. Mein Name ist Quareak. Merkt ihn euch. Denn solang ich an des Königs Seite bin, wird niemand es wagen ihrer Majestät auch nur ein Haar zu krümmen.“

Etwas an der Sicherheit mit der Quareak sprach beruhigte Myrriel. Er wusste nicht wieso, aber er vertraute diesem ihm volkommen Fremdem Mann. War es nur die Sicherheit mit der er sprach oder war da mehr? Etwas an ihm kam ihm bekannt vor. Und obwohl er sich sicher war, dass er diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte, so war es doch, als ob er ihn schon eine ganze Weile kannte.
 

Myrriel dachte auf seiner Heimreise noch lange über den Fremden nach. Er war sich sicher, dass er ihm die Bewachung des Königs bedenkenlos anvertrauen konnte ohne dass er hätte sagen können wieso. Er wusste noch nicht, was er tun würde, wenn er zu Hause angekommen war. Was würde er den anderen erzählen? Sollte er ihnen sagen, dass Kythra tot war, auch wenn er es selbst nicht glauben konnte oder sollte er lieber gar nichts sagen. Lange wägte er alle Argumente in seinem Kopf ab.

Doch als er dem Weisen Rat gegenüber trat, hatte er sich entschieden: Quareak würde seine Chance bekommen. Sollte er ihn falsch eingeschätzt haben, so bedeutete das, das Ende ihrer so vertrauten Weltordnung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2007-02-19T18:24:54+00:00 19.02.2007 19:24
*schäm* Ich hab doch tatsächlich immernoch nicht das 2.Pitel vollständig gelesen *selbst hau aber ganz feste*
Naja du weißt ja das ich tierisch begeistert bin von der Story .Ansonsten kann ich Svenü nur zustimen, Ausdruck ist klasse und das ganze Drumherum mit Namen etc. hast du dir auch richtig supergeilomati ausgedacht *knuffz*
Von: abgemeldet
2006-12-27T11:03:47+00:00 27.12.2006 12:03
Die Story ist klasse!
Für deinen Ausdruck kriegst du von mir eine glatte 1++* verpasst!
Personen- und Städtenamen, die Beschreibungen - alles top!
Dem roten Faden konnte ich bis jetzt auch gut folgen und das will was heißen. (ich bin doch immer so verwirrt...)
Das Einzige, was ich zu bemängeln habe, sind einige Tipp - und Kommafehler, aber die beeinträchtigen das Leseverständnis nicht! (Sind nur Schönheitsfehler... bin nun mal ein verdammter Ästhet, sorry!)
Lass die Kapitel einfach vorm Hochladen nochmal von jemandem durchgehen.

Ich freu mich schon aufs nächste Kapitel!
Von: abgemeldet
2006-12-21T21:51:52+00:00 21.12.2006 22:51
Ich find die story toll!
Die kommt gleich mal in meine favs!

*knuffel*
Clau-chan


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