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Amaltheas Tochter

Das letzte Einhorn - Alternatives Ende und Fortsetzung
von

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Missliche Lage

Mary konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie Lucien, den mächtigen Dämonen, ausgeknockt auf dem Boden gefunden hatte. Auch wenn sie zunächst nicht gewusst hatte, was genau passiert war, so befand sie, dass es diesem arroganten Kerl recht geschah. Sie hasste Lucien wie die Pest. Er konnte sie mühelos um den Finger wickeln, verführen, bis sie alles um sich herum vergaß, selbst ihren Abscheu ihm gegenüber. Es war zum verrückt werden. Denn danach fühlte sie sich jedes Mal furchtbar. Veräppelt und gedemütigt.

Als Mary danach erfahren hatte, dass dieses komische Einhornmädchen den Dämonen so zugerichtet hatte, gönnte sie es ihm nur noch mehr. Bestimmt hatte er versucht, ihr ebenfalls Honig ums Mäulchen zu schmieren. Warum sonst hatte er sie selbst entführt und sie in seinem Zimmer eingesperrt? Was sie auch immer war, ob Einhorn oder nicht – auf jeden Fall hatte sie die Gestalt einer sehr hübschen jungen Frau. Das hatte er nun davon, dass er seine trieb gesteuerten Finger nicht von ihr hatte lassen wollen.
 

Lucien selber war recht erzürnt. Ihn konnte selten etwas aus der Fassung bringen, doch dass das Mädchen, das er einfach nirgendwo einordnen konnte, ihn so übel erwischt hatte, brachte ihn in Rage. Vor allem, weil er dachte, sie in seinen Besitz gebracht zu haben.

Sie musste tatsächlich magische Kräfte haben – wie sonst hätte sie sich aus ihrer Lage befreien können? Der Dämon wusste nicht einmal genau, was passiert war. Nur dass sie wie am Spieß geschrien und gestrampelt hatte, und dann war plötzlich alles hell gewesen... blendend hell. Weißes Licht, überall wohin er geschaut hatte. Sekunden später hatte Lucien gespürt, wie ihn eine unsichtbare starke Kraft gegen die nächste Wand geschleudert hatte. Danach muss er ohnmächtig geworden sein.

Obwohl der äußerliche Schein keinen anderen Schluss zuließ, war das junge Fräulein definitiv kein gewöhnlicher Mensch. Schon gar nicht, wenn sie es schaffte, ihm Schaden zuzufügen.

Irgendetwas verband sie mit den Einhörnern... deshalb würde er nicht ruhen, bis er sie hatte.
 

„Wir brauchen einen neue Idee, Mary“, meinte Lucien nachdenklich; seine Mitstreiterin zuckte erschrocken zusammen, denn sie hatte allein auf einem Balkon des Jägerquartiers gestanden und gedankenverloren in die Ferne geblickt. Seine Fähigkeit, einfach wie aus dem Nichts auftauchen zu können, nervte sie ziemlich. Daher schnaubte sie extra laut: „Du störst. Kannst du nicht woanders hingehen?“

Lucien ließ sich natürlich nicht abwimmeln. „Mary, Mary. Du solltest nicht vergessen, wer den ganzen Laden hier schmeißt: Einzig allein ich. Und du... bist meine tüchtige rechte Hand. Die ganzen Anderen, die sonst noch hier herumlaufen, sind doch bloß Wasserträger. Mit wem soll ich mich sonst besprechen?“ Mary wurde ungehalten: „Diese Wasserträger, wie du sie nennst, haben mir immerhin dabei geholfen, das Versteck dieser Zaubereridioten zu stürmen.“ „Hm... ja, es lief überraschend glatt.“ Der Dämon lächelte sein typisches überlegenes Grinsen. „Jetzt haben wir diese ach so mutigen und hilfsbereiten Zauberer endgültig in der Tasche. Schließlich habe ich mithilfe dieser hübschen kleinen Magierin – Arianne hieß sie, glaube ich – nicht nur den Standort des Verstecks erfahren, sondern auch die anderen Menschen, die sich Magier nennen und zu dieser schwachsinnigen Vereinigung gehören, aufgespürt. Sie waren keine große Herausforderung für mich. Zu dem Zeitpunkt, als ich die arme Arianne in der Gewalt hatte, war es aus mit ihnen. Sie sind nun einmal nicht mehr als normale Sterbliche, die ein bisschen zaubern können. Ich habe sie alle getötet.“ Er sprach besonders den letzten Satz mit Genuss aus und bemerkte amüsiert aus den Augenwinkeln, dass Marys Augen sich entsetzt ein wenig weiteten, obwohl sie es sich nicht anmerken lassen wollte.

„Damit blieben nur noch zwei. Ich nehme mal an, dass du den kleinen Hellseher, der die junge Lady ja anscheinend von hier weggeholt hat, nicht dort angetroffen hast?“ „Nein... da war bloß noch Henry, der Kopf dieser verfluchten Einhornsamariter. Da er mit unserem Auftauchen nicht gerechnet hat, haben die Wölfe ihn ziemlich schwer verwundet. Wir haben den Laden angezündet, ich vermute stark, er ist im Feuer umgekommen.“ „Henry ist - oder war - für einen Menschen ein äußerst mächtiger Magier. Aber Mensch bleibt Mensch. Eigentlich schade um ihn... oder eher um seine großartigen Zauberkräfte. Nun... dann bleibt ja nur noch Balian übrig. Ich denke, die kleine Lady Kisara und er sind irgendwo auf der Flucht. Aber wir werden sie früher oder später finden.“

Wütend biss Mary die Zähne zusammen; Luciens abfällige Bemerkungen über menschliche Schwäche passten ihr überhaupt nicht. Und mal wieder konnte sie ihre Zunge nicht im Zaum halten: „Du aufgeblasener Angeber... ich an deiner Stelle wäre nicht mehr so großspurig, schließlich hat dir diese Göre ganz ordentlich den Wind aus den Segeln genommen!“

Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs zeigte Luciens Gesicht eine Spur von Ärgernis.

So schnell konnte Mary gar nicht gucken, da hatte der Unsterbliche sie auch schon an die Wand gedrängt und seine Arme links und rechts von ihr abgestützt. In seiner tiefen dunklen Stimme lag eine leise Drohung: „Ich schätze dich überaus, Mary. Aber reiz mich nicht zu sehr... es könnte dir nicht gut bekommen.“ Mary schluckte, doch ansonsten verzog sie keine Miene. „Mistkerl...“, zischte sie. Lucien grinste unbeeindruckt und wandte sich dann ab.

„Du bist gewarnt, Teuerste.“
 

„Ist er... tot...?“ Kisara zitterte am ganzen Leib, während Balian zu seinem Lehrer lief und einen Puls suchte. Henry hatte viel Blut verloren und rührte nicht – doch er lebte noch: Balian fand einen regelmäßigen Herzschlag. Erleichtert entspannte sich sein Körper und er atmete tief durch.

„Nein, Kisara... er ist nicht tot. Gott sei Dank...“

Auch Kisara fiel nun ob der Gewissheit, dass der weise, gutmütige Mann lebte, ein Stein vom Herzen. Dennoch schien es mit ihm nicht zum Besten zu stehen:

„Komm her, Kisara. Du musst mir helfen, wir müssen uns schleunigst um seine Verletzungen kümmern. Und dafür sorgen, dass er nicht noch mehr Blut verliert...“ „O-Ok.“
 

Während die beiden jungen Leute Henry notdürftig verarzteten – nachdem sie ihn erst einmal aus den Trümmern gezogen und sich an einem ruhigen Platz an einer Waldlichtung niedergelassen hatten – kam Balian ein Gedanke: „Ich frage mich... kannst du uns nicht helfen?“ Seine Augen trafen auf die des kleinen Einhorns, welches ihnen die ganze Zeit gefolgt war, und blickten fragend drein. Das schöne Fabelwesen schien nicht zu verstehen – Kisara ebenso wenig: „Wovon redest du?“ „Nun ja... man sagt Einhörnern nach, dass das Heilen Teil ihrer magischen Kraft ist, weißt du?“ Mal wieder war das Gesicht der 16-jährigen voller Skepsis. „Heilen? Im Ernst?? Aber... kannst du... das nicht??“ „Leider nein. Der Magie sind Grenzen gesetzt. Ich bin gut in der Levitation – also die Überwindung der Schwerkraft, fliegen – aber heilen ist nichts, was jeder Zauberer lernen kann, das ist genauso wie mit dem Sehen.“ Kisara fühlte sich, als verknotete sich ihr Gehirn. „Also... hab ich das richtig verstanden, das... Einhorn... kann Henry heilen?“ „Das Problem ist... es scheint noch zu jung zu sein. Seine Kräfte scheinen noch nicht entwickelt... sonst hätte es wahrscheinlich schon längst von sich aus etwas getan. Denn sie sind von Natur aus gut und stets hilfsbereit. Ich weiß auch, dass... Einhörner sprechen können. Das kann unser kleines Exemplar wohl auch noch nicht...“ Gedankenverloren streichelte er den Kopf des Fohlens, welches auf irgendeine seltsame Art und Weise so wirkte, als sorge es sich auch um den ohnmächtigen Mann. Kein Pferd der Welt würde so eindringlich gucken, schoss es Kisara durch den Kopf.

Doch dann fiel ihr etwas anderes ein: „Das waren diese Jäger, stimmts? Sie haben euer Quartier zerstört...“ „Ja. Definitiv. Seit dieser böse Dämon in unserem Versteck aufgetaucht war, war es nur eine Frage der Zeit... jedoch bin ich nicht darauf gekommen.... verdammter Mist!“, fluchte Balian und ballte die Fäuste.

„Du... warst damit beschäftigt, mich zu retten...“, murmelte Kisara schuldbewusst. „Red keinen Unsinn“, erwiderte der junge Zauberer und seine Stimmlage wurde wieder sanfter, „Henry hat mich damit betraut, dich zu beschützen und ich habe diese Aufgabe angenommen, weil ich es wollte. Dich trifft überhaupt keine Schuld, Kisara.“ „Dich genauso wenig, Balian! Seit dieser... dieser Lucien in Erscheinung getreten ist, scheint nichts mehr zu funktionieren...“ „Ja, das ist wahr. Mit Mary und ihren Handlangern sind wir immer fertig geworden. Und jetzt haben wir es mit einem schwarzmagischen Unsterblichen zu tun. Es entwickelt sich zu einer Katastrophe. Fragt sich nur, was nun zu machen ist...“ Balian lehnte sich an einen Baum und ließ seufzend den Kopf auf die Knie sinken. Er war sichtbar erschöpft.

Ein Anflug von Mitleid überkam Kisara. Dieser Junge war wirklich unglaublich tüchtig und mutig, hatte Nerven aus Stahl und beklagte sich nie. Wann hatte er sich zuletzt richtig ausgeruht? Seine Schutzbefohlene gönnte ihm eine Verschnaufpause von Herzen.

Das Einhorn gesellte sich zu ihm und schmiegte seinen Kopf an seiner Hand. Kisara setzte sich an Henrys Seite, dessen Brust sich ruhig und gleichmäßig hob und senkte, und beobachtete das seltsame weiße Tier, das Einhorn ohne Horn. Sie begriff es einfach nicht...
 

„Ich werde einen Schutzzauber auf die Lichtung legen, dann können wir eine Weile gefahrlos hier bleiben“, sagte Balian kurze Zeit später. Kisara wollte antworten, doch stattdessen meldete sich auf einmal laut ihr Magen. Verlegen senkte sie den Kopf. „Oh je...“

Balian nahm seinen Umhängebeutel, den er ständig bei sich trug, und warf ihn ihr zu. „Bedien dich, ich hab noch genug Vorräte.“ Das Mädchen wusste schon gar nicht mehr, wann es zum letzten Mal etwas zu sich genommen hatte. Ihr Leben war seit Kurzem so abenteuerlich und gefährlich geworden, da schienen solche elementaren Dinge wie Essen und Trinken Nebensache zu sein...

Henry gab ein schwaches Ächzen von sich. Balian und Kisara stürmten sofort zu ihm hin. Wenn er jetzt wieder zu sich kam, war das ein gutes Zeichen.

„W-Warum... machst du... das...?“, stammelte der Magier; seine Augen waren immer noch geschlossen. Die beiden Beobachter sahen sich mit großen Fragezeichen auf den Gesichtern an. Wovon sprach Henry?

„Was ist mit ihm, Balian? Träumt er etwa?“ „Hört sich ganz danach an...“ Doch im nächsten Augenblick schlug Henry langsam die Augen auf. Noch sehr orientierungslos schaute er sich um. Als er Kisara und Balian über ihn gebeugt erblickte, trat ein leichtes Lächeln auf seine Lippen.

„Schön zu sehen... dass es euch Zweien gut geht...“, brachte er hervor, dann aber schnappte er keuchend nach Luft. Sicher hatte er Schmerzen...

„Das können wir von Euch erst recht behaupten, Henry“, sagte Balian, „Zuerst dachten wir, wir hätten Euch... verloren.“ Kisara nickte zustimmend und musste mit den Tränen kämpfen. „Henry, Sie... wirken so unerschütterlich. Als ob Ihnen so etwas niemals passieren könnte...“ „Oh... weit gefehlt, Milady. Jeder Mensch ist verwundbar...“, antwortete er in einem sanftmütigen Tonfall.

„Was ist geschehen, Henry?“, erkundigte sich sein Lehrling. „Dass es die Einhornjäger waren, müsst Ihr mir nicht erst sagen, aber... wie kommt es, dass unser Quartier und vor allem Ihr in so einen Zustand geraten seid?“

Henry atmete einmal kräftig durch. Ihm war klar, dass er nicht imstande war, sich aufzusetzen geschweige denn aufzustehen, obwohl er eine Sekunde lang den Impuls verspürte, es zu versuchen. Jedoch brauchte er seine ganzen angeschlagenen Kräfte zum Sprechen, das wusste er: „I-Ich... habe es nicht kommen sehen. Dabei war ich gewarnt... schließlich... ist Lucien in unser V-Versteck eingedrungen... d-dennoch... Mary... hat es sehr geschickt angestellt... i-ich vergesse wohl manchmal... dass die Magie nicht vor allem bewahren k-kann...-“ Seine Stimme brach wieder ab und er brachte nur noch ein schmerzerfülltes Keuchen heraus. Balian bereute schon, dass er gefragt hatte, was genau passiert war; es strengte seinen Lehrmeister zu sehr an. Besorgt legte er seine Hand auf die Henrys.

Plötzlich durchfuhr es ihn wieder wie ein Gewitterblitz... die Umgebung verschwamm augenblicklich vor seinen Augen. Er fühlte noch, wie sein Körper, der ihm nicht mehr gehorchte, einsank, und wie Kisara ängstlich seinen Namen rief, danach schwanden ihm die Sinne... zumindest für das, was in der wirklichen Welt passierte...
 

Tiefes, unheimliches Knurren... vier riesenhafte Wölfe... eine Frau, die geschickt mit der Hilfe von zwei Ästen ein kleines Feuer entfachte. Mary. Eine winzige Flamme, die schon bald ein gewaltiges Inferno war...

Henry, dem der Schweiß von der Stirn perlte, versuchte, das Feuer mit einem Zauber zu löschen... etwas, das er nicht kommen sah. Die Wölfe, die ihn umzingelten und gleichzeitig auf ihn sprangen. Ihn umwarfen. Blut spritzte.

Ein Flehen...

„Warum... machst du... das...?“
 

Balian sah wieder das Gegenwärtige. Grüne Bäume, leicht von pudrigem Schnee bedeckt. Ein paar weiche Sonnenstrahlen drangen durch die Baumkronen.

Kisaras hübsches Gesicht mit den großen blauen Augen, die ihn sorgenvoll musterten.

Er rang nach Luft und musste auf einmal heftig husten; ihm war, als wäre er selbst mit dem Feuer konfrontiert gewesen, als wäre der dicke graue Rauch ihm in die Lungen gedrungen.

„Balian... hey, was hast du denn? Beruhige dich... ruhig atmen... b-bitte...“ Kisaras Stimme war zwar eine Spur Unsicherheit anzumerken, trotzdem half es Balian sehr, dass sein Kopf auf ihrem Schoß lag, sie seine Hand in ihre nahm und ihn fest umarmte. Eine Wärme drang auf ihn ein, die das kalte Unbehagen wegfegte. Er machte ein paar tiefe Atemzüge und beruhigte sich langsam. Kisaras unmittelbare Nähe war wohltuend, irgendwie heilsam, ohne dass Balian sich plausibel erklären konnte, warum.

„Gehts wieder?“, fragte Kisara, immer noch mit Sorgenfalten zwischen den Augenbrauen, nachdem sie ihren Oberkörper wieder aufgerichtet hatte. „Ja“, murmelte Balian und lächelte anschließend, „Ich danke dir, Kisara.“ „Wofür? U-Unsinn, dafür musst du dich doch nicht bedanken...“ Die 16-jährige wurde ein wenig rosa im Gesicht und senkte verlegen den Kopf. „Wie geht es Henry?“, fragte der Erschöpfte nach und schaffte es, sich aufzusetzen.

„Er ist wieder eingeschlafen... aber vorher hat er mir noch einmal gesagt, ich solle mir keine Sorgen um dich machen.“ Kisara klang beschämt. „Was ich trotzdem gemacht habe.“

„Musst du nicht. Meine Visionen sind nichts Beängstigendes. Und keine dauert je länger als ein paar Minuten. Trotzdem, sehr lieb von dir, dass du dir Sorgen um mich machst.“ Der Hauch rot auf ihren Wangen wurde noch ein kleines bisschen leuchtender.

„Du bist mir ein einziges Rätsel, weißt du das?“

Der durchdringende Blick aus diesen hellbraunen Augen machte Kisara ganz nervös. Dass sie in der letzten Zeit von jedem, der ihr begegnete, behandelt wurde, als wäre sie von einem besonderen, gar magischen Geheimnis umgeben, war ihr unangenehm und passte nicht in ihr Weltbild. Es war zum Verrückt werden... doch es änderte nichts daran, dass sie sich in der Gegenwart dieses Jungen sicher fühlte...

Um sich von ihren Gedanken abzulenken, erkundigte sie sich: „Was... hast du eigentlich... gesehen?“ „Nun... es war diesmal ein Blick in die Vergangenheit. Ich brauche den Meister jetzt nicht mehr fragen, was vorgefallen ist. Ich habe es gesehen.“ Kisara bekam ziemlich große Augen. „Du hast es gesehen?? Du... siehst auch, was schon vergangen ist...?“ „Ja, das kommt schon mal vor. Es war Mary mit ihren Rüpeln und mit den abgerichteten Wölfen. Sie hat das Versteck in Brand gesetzt und ihre Viecher sind alle auf einmal auf Henry losgegangen. Am Ende hab ich nur noch Flammen und Rauch gesehen... das war echt grauenvoll.“ Gegen ihren Willen wurde die stolze Realistin auf einmal recht neugierig. Da war eine Stimme in ihrem Kopf, die brüllte „Glaub es nicht, das ist Humbug!“, aber sie würgte sie zum ersten Mal einfach ab: „Sag mal... wie siehst du es? Läuft da... ein Film vor deinen Augen ab oder so?“ „Nein... ich sehe meistens nur einzelne Bruchstücke. Manchmal hat es nicht einmal eine zeitlich zusammenhängende Abfolge, in diesem Fall zum Glück schon, das macht das Nachvollziehen einfacher. Es kann auch sein, dass ich nicht mal weiß, ob ich das Vergangene oder Zukünftige sehe. Ich sehe auch nicht immer konkrete Geschehnisse. Sehr oft sind meine Visionen auch von symbolischer Art... Symbole, die ich erst mal deuten muss...“

Die Vorsehung mit dem weißen Mädchen in dem immergrünen Wald... das war von symbolischer Natur, dessen war Balian sich fast sicher. Inzwischen hatte er diesen Traum schon dreimal gehabt, und mit jedem Mal waren die Bilder zusammenhängender und deutlicher geworden. Nur die Bedeutung verstand er nach wie vor nicht...

Seine Arme, mit denen er den oberen Teil seines Körpers abstützte, wollten diesen plötzlich nicht mehr tragen; sowieso fühlte er sich müde und schwerfällig. Ergeben sank er in Kisaras Armen zusammen.

„Balian...“ „Keine Panik... nur ein Schwächeanfall...“ „Ich versteh das nicht... warum bist du immer so kaputt nach deinen... komischen... Träumen?“ „Ich habe keine Ahnung... aber Henry hat dazu eine Theorie... er meint, dass die Magie ihren eigenen Willen hat... und dass Zauber, die sich ganz unserer Kontrolle entziehen, die Mächtigsten sind. Und meine Gabe... ist eine solche Magie. Ich kann sie nicht steuern... das scheint mir eine logische Erklärung dafür zu sein, dass so starke Zauberkräfte mich so heftig erschöpfen...“ Und nach diesen Worten fielen ihm endgültig die Augen zu.

Bekümmert musterte Kisara den Tiefschlafenden. Balian hatte dunkle Schatten unter den Augen und sicherlich eine Menge an Schlaf nachzuholen – und redlich verdient.
 

Kisara wollte Balian erst neben Henry legen, hatte dann aber auf einmal keine große Lust mehr dazu. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht ganz verstand, wollte sie Balians Kopf gerne auf ihrem Schoß ruhen lassen. Sie wusste nur, dass sie ihn inzwischen sehr mochte und dass er ihr wichtig war. Sie sorgte sich um ihn. Er war so ein liebenswürdiger Mensch und hatte soviel für sie getan...

Als ihr das Wort liebenswürdig durch den Kopf schoss, wurde ihr bewusst, dass es Liebe beinhaltete, und erneut wurde sie rot. Hatte ihr ein Junge jemals vorher soviel bedeutet? Nein. War sie etwa doch verliebt? In Balian?

Kisara schüttelte sich heftig ob ihrer Gedankengänge. Es irritierte sie sehr... und unmöglich konnte sie momentan noch mehr Verwirrung gebrauchen.

Verstohlen betrachtete sie Balians Gesicht und konnte nicht an sich halten, ihm die eine Locke, die ihm ständig in die Stirn fiel, zur Seite zu streichen.

Henry kam wieder zu sich. Er blickte auf und das Erste, was er sah, ließ ihn glauben, er halluziniere.

„G-Grund-gütiger...“ Er schaffte es in die Sitzhaltung und starrte das Wesen an, welches ihn unverhohlen neugierig musterte.

Es war wahrhaftig ein Einhorn.

Kisara horchte auf. „Henry... geht es Ihnen besser?“ „B-Blendend, Milady... nur... wo kommt dieses Einhorn her?“ Kisara hatte Henry bislang nie so fassungslos gesehen.

„Also, wir, Balian und ich... haben es zufällig entdeckt.“ „Ich... habe noch nie eines so aus der Nähe gesehen... doch so ein junges Exemplar wäre ein leichtes Opfer für die Jäger...“ Henry streckte dem Fohlen vorsichtig eine Hand hin; es beschnupperte diese zaghaft. Der Zauberer tätschelte dem Einhorn den Kopf und lächelte, dann wandte er sich Kisara zu: „Wie mir scheint, hat der junge Balian ein gutes Schlafplätzchen gefunden“, meinte er schmunzelnd, woraufhin Kisara erneut die Röte ins Gesicht stieg. Danach lachte Henry amüsiert, wurde allerdings schnell von seinen Schmerzen abgewürgt. „Argh... verdammt nochmal... aber ich sehe, ihr habt euch um meine Verletzungen gekümmert... danke dafür.“

Als Henry sich auf die Füße stellen wollte, wollte das Mädchen erst protestieren, jedoch half das Babyeinhorn ihm und bewahrte ihn vor dem Fallen, indem es ihn stütze.

Kisara klappten die Kinnläden herunter.

„Oh, ich danke dir, kleines Einhorn.“ So gelang es ihm, sich an Kisaras Seite zu begeben. Schnaubend ließ er sich neben ihr nieder.

„Sag mal, Milady. Kannst du eigentlich sein Horn sehen?“ Die Angesprochene verzog leicht die Mundwinkel. Plötzlich hatte sie wieder das Gefühl, Distanz schaffen zu wollen. „Ich... sehe nichts, was es nicht gibt“, antwortete sie trotzig und versuchte, nicht ganz so unhöflich zu klingen. Zu ihrer Überraschung jedoch schien der weise Zauberer nicht beleidigt zu sein; das Lächeln wich nicht von seinen Lippen.

„Ich werde dich nicht belehren, Fräulein Kisara. Ich bin guter Hoffnung, dass du auf dem richtigen Weg bist.“ Kisara machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch schließlich ließ sie es bleiben. Bringen würde es sowieso nichts... sie hatte immer noch das Gefühl, dass sie und die Leute, denen sie in der letzten Zeit begegnet war, ständig aneinander vorbeiredeten.

Das Einhorn ließ sich neben ihnen nieder, gähnte einmal und machte die Augen zu.

„Es ist wirklich bildhübsch“, sagte Henry und lächelte. „Weißt du, ich bin einem Einhorn noch nie so nah gekommen. Wir haben zwar schon einige vor den Jägern gerettet, aber das lief dann so ab, dass Balian den ungefähren Standort der Einhörner in seinen Vorahnungen gesehen hat und wir Mary an diesen Plätzen dann zuvorgekommen sind, sodass die Einhörner fliehen konnten. Ich habe vielleicht mal einen Schweif gesehen oder ein silbriges Glitzern... aber mehr nicht. Hier erfüllt sich ein lang geträumter Traum... ich habe als kleiner Junge ein Einhorn von fern gesehen und war so fasziniert, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte.“ Ohne dass sie es wollte, nahm bei Kisara erneut die Wissbegierde die Oberhand: „Möchten Sie sie deshalb beschützen?“ „Hm... irgendwie schon... ich meine... sie sind friedliebend und wollen niemandem etwas Böses.“ „Warum... jagen diese Typen eigentlich die... Einhörner?“ „Zu allen Zeiten wurden sie vor allem wegen ihres Horns gejagt. Es enthält ihre Magie, musst du wissen. So ist es auch in diesem Fall. Ein weiterer Grund ist ihr Blut. Es hat starke Heilkräfte.“ Das Mädchen musste unwillkürlich schlucken. „Deshalb wollen sie sie meucheln?“ Sie dachte an den unheimlichen Dämon Lucien und an die grausame Mary, die den armen Chico ohne mit der Wimper zu zucken umbringen ließ. Die Bilder kamen ihr nach längerer Zeit wieder in den Sinn und ein Schauer ging durch ihren Körper. Sie schüttelte sich heftig. „Das... ist grauenhaft...“

Henry legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Alles wird gut, Milady. Wir werden das schaffen. Aufgeben hab ich noch nie gemocht.“ Da die Erschütterte nicht antwortete, beschloss Henry, sie ein wenig abzulenken:

„Du magst den jungen Balian sehr, nicht wahr?“ Kisaras Kopf fuhr augenblicklich in die Höhe. „W-Wie kommen Sie denn da drauf??“ „Nun, weil du ihn auf deinem Schoß schlafen lässt. Das gibt ein sehr inniges Bild.“

„I-Ich... weiß es nicht... irgendwie schon... er... hat mich die ganze Zeit beschützt.“ „Oh ja. Er ist ein guter Junge. Ich habe gerade gemerkt, dass uns ein Schutzzauber umgibt. Wirklich... er ist auch ein exzellenter Schüler.“

Henry ließ seinen Blick eine Weile über die leicht verschneiten Bäume schweifen.
 

„Kisara. Soll ich dir erzählen, wie ich Balian kennengelernt habe? Glaub mir, es ist eine überaus spannende Geschichte.“

Interessiert war sie in der Tat, auch wenn es ihr schwerfiel, das zuzugeben. Doch dann nickte sie.



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