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Dunkler Honig

Eine Gangrel. Eine Stadt. Eine Menge Probleme.
von

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Morgen. Rot.

Sie deutete hinter ihn, auf den östlichen Himmel.

"Spät. Geh." Der Stolz, der in ihr aufflammte, als sie seinen immer noch nicht nutzbaren, gebrochenen Arm an der zerfleischten Schulter hin- und herpendeln sah, wurde nur noch von ihrer Freude darüber, endlich ernstgenommen zu werden, übertroffen.

Sie schüttelte sich, spuckte aus. "Wir sind doch krank, Mar, das ist abartig. Warum machen wir das?"

Ja, Mar, warum kämpfen wir jede Nacht gegen den Rest der Welt um unsere Leben? Warum versuchen wir uns im Widerspruch dazu gegenseitig umzubringen, und wenn der andere zu lange keinen Mordversuch startet, dann spüren wir ihn auf und fallen ihn an oder versuchen ihn zu provozieren? Weißt du noch, wie das Ganze angefangen hat? Wir können uns beide an jede einzelne Runde erinnern, aber wenn wir ehrlich sind, will doch keiner von uns wissen, warum wir nie aufgehört haben oder warum wir so süchtig danach sind, ausgerechnet uns gegenseitig zu zerlegen.

"Wollen wir sterben? Das könnten wir nämlich echt billiger und schneller haben. Ich zumindest, ich müsste bloß irgendeinen Kanaldeckel aufmachen, runterspringen und warten, bis die Nosferatu mich erkennen. Dürfte so an die zwanzig Sekunden dauern."

Er lachte schnaubend. "Immer noch wegen Gizmo? Mein Gott, das war echt Pech."

"Du bist nicht ganz unschuldig daran, dass ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt habe."

Jetzt lachte er nicht mehr. "Stimmt irgendwie. Schließlich hast du ihn wegen mir als lebenden Schild benutzt. Aber 'auf dem falschen Fuß erwischt' ... irgendwie glaube ich, dass da der andere auch nicht der richtige gewesen wäre. Mein Gott - du bist wahrscheinlich die einzige Person der Welt, die das so nennen würde. Er hat ein Bein verloren, und einen ziemlich großen Brocken aus der Hüfte."

"Wie gesagt, Mar - woher hätte ich wissen sollen, dass du es ihm abfetzt und ausgerechnet der arme Gizmo das Problem hat, dass keine seiner Wunden je wieder heilen wird? Und es deshalb nicht nachwächst?" Wider Willen kicherte sie, und Mar lachte sein heiseres Wolfsgelächter. "Was für ein übler Fehlgriff der Kleine war! Ausgerechnet den Liebling vom Obermufti und einen seiner besten Kundschafter berufsunfähig zu machen!"

"Wenn ich nicht dabeigewesen wäre, würde ich glauben, irgendwer hätte das erfunden. Oder eingefädelt, um dich aus dem Weg zu räumen."

Sie sah ihn scharf an. "Keine dritte Partei zum eigenen Vorteil einspannen. Du weißt das."

Er nickte ernst. "Das gehört zum Pakt. Ich weiß das. Und ich werde nicht derjenige sein, der ihn bricht. Wir haben geschworen, und ich halte mein Wort."

"Impliziert das, dass ich es nicht tun würde?" Mel kannte dieses Spielchen nur zu gut, das Ritual am Ende jedes ihrer Treffen. Sie sprach weiter, wusste, dass jedes Wort, jede Veränderung im Tonfall schon von vornherein als gespielt erkannt war. "Willst du mich beleidigen? Ich fordere..."

"...Satisfaktion, und ich gewähre sie. Wann und wo ich will." Mar streckte eine Hand aus, Mel schlug ein.

Er drehte sich um und ging. "Ich finde dich, Meliško, du Hauskatze. Und die nächste Runde geht an mich."

"Das glaubst du!", schrie sie ihm hinterher. "Ich reiß dich in Stücke, bevor du meine Spur auch nur ansatzweise erschnüffelt hast, Drecksköter!"

Sie sah ihm nach. Der letzte Satz hing schwer und unangenehm in der Luft, und sie hätte ihn gern zurückgenommen.

Es war inzwischen nur zu wahrscheinlich geworden, dass die nächste Runde tatsächlich mit einem Haufen Asche enden würde.
 

Angst presste ihr Herz zusammen wie eine riesige Faust.

Mit diesem Knie, diesen Wunden würde sie es nie nach Hause schaffen. Und die Sonne würde bald aufgehen.

Sie starrte zitternd zum Horizont. Sie hatte nur eine einzige Möglichkeit.

Ihre Hand grub sich durch den Inhalt ihrer Jackentaschen, fand das kleine schwarze Klapphandy. Sie schnippte es auf.

Es war so glitschig vor Vitae, dass es ihr zweimal aus der Hand rutschte. Sie wischte ihre Hand und den Handybildschirm an ihrer Hose ab und drückte auf einen Knopf.

Bitte, bitte, bitte. Funktionier! Und bitte, oh, bitte, sei da und fähig zu kommen!

Durch die Blutschlieren leuchtete das Display auf. Kurzwahlnummer drei. Ein kurzer Moment der Verzweiflung - es geht nicht, ich komm hier nicht weg, Kain, hilf mir - dann das Freizeichen und Frantos Stimme.

"Mel? Was ist? Bist du nicht zuhause?"

Erleichterung und abgrundtiefe Scham überfluteten sie gleichermaßen. Sie wollte nicht, dass er sie so sah, wollte nicht, dass er wusste, was schon wieder passiert war - und wusste, dass es ihm bereits klar war.

"Wie gehts dir? Hast du Zeit?"

"Mel, es ist - "

"Ich weiß, es ist kein Zeitpunkt dafür, aber ich brauch dringend Hilfe. Ich bin im Zetkin-Park und schaff es nicht nach Hause. Kannst du mich aufsammeln? Bitte! Kannst bei mir bleiben über den Tag, ich hab auch noch Vorräte!"

Stille.

"Ja, es war Mar, ja, ich hab ihn wieder getroffen, ich gebs zu, es tut mir leid, aber ich konnte nichts dafür..."

Er seufzte. "Sag mir einfach, wo du bist. Ich will das alles gar nicht wissen."

"Claras Denkmal, das Ganzkörperding. Danke, Franto, vielen Dank!"

Er legte auf.
 

Eine Viertelstunde später - sie hatte panisch abwechselnd ihre Uhr und den Horizont angestarrt- raschelte es in den Büschen, und Frantos roter Schopf tauchte zwischen den Blättern auf. Mel fand, sie habe noch nie etwas Schöneres gesehen.

"Na komm! Schnell!" Er winkte sie hektisch heran.

"Kann nicht." Sie deutete auf ihr Knie. "Das ist Mus."

Er stöhnte und kam näher.

Im Gehen fiel ihm der Kiefer herunter; die letzten Meter rannte er.

"Bei Crazy Jane und allen Irrenhäusern, was ist denn mit dir passiert?! Und wieso hältst du den Kopf so komisch, das muss doch unbequem ... Oh."

"Genau. Darum. Falsch zusammengewachsen. Hilfst du mir hoch?"

Sie stützte sich auf den schlaksigen jungen Mann, der sie mit erstaunlicher Kraft durch das Unterholz schleifte.

Die Straße war menschenleer, zum Glück. Sie machte in Gedanken drei Kreuze, während Franto die hintere Tür seines Wagens aufriss und sie hineinschubste.

"Zumachen kannst du das selber!", rief er, während er außen um das Auto herumrannte, beim Öffnen fast gegen die Fahrertür lief und im Auto mit seinen langen Gliedmaßen wild durch die Gegend fuhrwerkte, während er gleichzeitig den Motor startete, seine Tür mit einem Knall zuzog, anfuhr und Mel ohrfeigte. Sie konnte gerade noch rechtzeitig am Türgriff ziehen, um die Tür zu schließen, aber die Ohrfeige kassierte sie ohne Gegenwehr.

"Das nächste Mal verreck", grummelte Franto. "Blutest mir die Sitze voll und ich darf die nächste Woche deine Schichten mit übernehmen und nach dir gucken kommen. Kennen wir ja alles schon. Und das alles bloß, weil du ein verdammter schmerzgeiler Junkie bist."

Hinter den schwarz getönten Scheiben fühlte Mel sich fast sofort sicherer. Franto raste durch die Stadt, als wolle er die letzte Möglichkeit dazu auskosten, bevor morgen das physikalische Phänomen der Beschleunigung abgeschafft werden würde.

"Danke, Franto", murmelte sie.

"Danke, danke, danke, was für eine gequirlte Kacke. Weißt du, womit du dich bedanken könntest? Indem du deinen Killerstecher, und das ist er im wahrsten Sinne des Wortes, du weißt es, endlich zu Papa Kain in die tiefste Hölle schickst. Kannst mir ne Prise Asche mitbringen, das wär mal ein Dankeschön, mit dem ich was anfangen könnte. Komm raus, wir sind da."

Er zerrte sie vom Sitz, die Treppen hoch, klaubte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Jacke und schubste sie hinein. Die Tür zuknallen, absperren, die mit Teichfolie abgeklebten Fenster überprüfen und zwei Konserven aus dem Kühlschrank krallen - auch das passierte scheinbar alles gleichzeitig.

Er warf ihr eine Konserve an den Kopf, ließ sich auf ihr Bett fallen und schlürfte den anderen Plastikbeutel in zwei Zügen halbleer.

"Da. Trinken, und wenn es aus deinem Sieb von Bauch wieder auf den Boden klatscht. Ist mir egal. Aber deinen Ausraster morgen früh, wenn dus nicht tust, den will ich nicht erleben. Crazy Jane - Bauchdecke durchsiebt, Knie zerbröselt, Fuß zersägt und wahrscheinlich nur noch die halbe Menge Rippen ganz, und das ist erst der Anfang. Und mich nennen sie verrückt."

Mel wankte ins Bad und legte sich in die Wanne.

"Was machste da, Mel?"

"Ich schlaf hier. Ist morgen leichter wegzuputzen."

"Oh, ein Profi. Melja?"

Sie drehte verwundert den Kopf, so gut sie konnte; so nannte er sie nur, wenn es wirklich ernst war.

"Franto?"

"Ich komm nicht auf dein Begräbnis, du blödes Miststück. Aber wenn er dich umbringt, dann bestech ich die Giovanni, bis sie dich wieder holen. Und dann kauf ich Baum-aus-Menschen-Bill für Mar."

"Baum-aus-Menschen..?"

" -Bill. Kleine Gedächtnisstütze? Schnitzeljagd. Mit echten Organen. Das ist dieser Typ, den die Sabbatis im alten Bunker an die Wand gekettet haben und nur rauslassen, wenn sie wirklich Schaden arichten wollen. Der ist sogar denen zu abartig."

"Woher kennst du denn den? Baum gibts doch gar nicht. Der ist ein demoralisierendes Gerücht, mehr nicht."

"Ja, das hast du auch von den Pharaonenraupen geglaubt. Und von dem Nossitunnel im Hinterhof in Connewitz. Und von der Theorie, dass die Leute außen vor dem Laden alle mit der Kaffeemaschine im Laden verdrahtet sind und immer dann extra viel Kaffee wollen, wenn sie gerade spinnt. Und davon, dass dein Ruhrpole dich nochmal umbringt."

"Mar ist kein Ruhrpole, und das ist doch alles..."

"Mir nicht glauben, aber den Tunnel benutzen, hm? Wo bist du denn durchgegangen heute, wenn ich mir den bloß ausgedacht hab? Ja, jetzt guckst du. Und du glaubst mir immer noch nicht, dass ich Gedanken lesen kann und in Baums Kopf war."

"Du warst..."

"Ja."

"Mal angenommen, dass ich diesen Quatsch glaube - wie war es in seinem Kopf?"

"War nur kurz drin. Und nicht weit. Das sind keine Gedanken - das ist eine Gruselgeschichte." Franto schüttelte sich. "Hey, wenn ich mir den Tunnel wirklich nur ausgedacht hab, und du heute trotzdem ohne mich drin warst - das würde heißen, dass ich mit meinen Gedanken die Realität verändern kann. Und dass die Realität meine Gedanken manipuliert, weiß ich eh schon lang, die ändern sich nämlich ständig und immer wegen Sachen, die ich sehe."

Mel machte die Badezimmertür zu. "Du machst mich noch verrückt mit deinem Gelaber."

"Schön! Vielleicht wirst du dann endlich vernünftig!"

Mel legte sich in die Badewanne und rollte sich zusammen. Sie war schon fast eingeschlafen, als sie Frantos Stimme wieder hörte.

"Mel?"

"Was denn noch?"

"Weißt du, worauf ich mich freue, morgen?"

"Nein. Worauf?"

"Dir morgen den Kopf wieder einzurichten. Weißt du, wieso? Dann kann ich dir endlich den Hals brechen. Guten Tag, du suizidales Katzenvieh."

Mel lächelte. "Ich hoffe, die Teichfolie hat ein Loch. Dann kann ich deine Asche morgen nacht als Koks an die Ventrue verticken und zuschauen, wie sie ausflippen. Tag, Franto."



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Kommentare zu diesem Kapitel (0)

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Von:  vanilla_quicksand
2010-11-10T20:51:45+00:00 10.11.2010 21:51
Das wundervolle Wort "Killerstecher" ist nicht meine Schöpfung.
Exquisite courtesy of Spamdesu. Guckt euch mal seine Geschichten an, die rocken =)


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