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Dunkler Honig

Eine Gangrel. Eine Stadt. Eine Menge Probleme.
von

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Die Hütte der Blair Witch

Prolog: Die Hütte der Blair Witch
 

Das Leben jedes Menschen ist ein Haus.

Manche dieser Häuser sind groß und weitläufig, andere klein und heruntergekommen. Wieder andere sind nicht mehr als eine kleine Wohnung.

Sie sind von Wiesen oder von Dreck umgeben, liegen an belebten Einkaufsstraßen oder im Nirgendwo eines kleinen Dorfes. Der Eingang kann versteckt an der Seite liegen oder vorn, mit einer prunkvollen, baumbestandenen Auffahrt, und nur zu oft gibt es mehr als einen.

Diese Häuser haben keine Schlüssel, aber Schlüssellöcher. Und nur zu oft öffnet sich eine der Zimmertüren nicht, wenn man ein zweites Mal wiederkommt.

Sie sind eingerichtet mit einem Sammelsurium von Dingen, um deren Existenz der rechtmäßige Besitzer oft selbst nicht wirklich weiß. Keines dieser Dinge ist zufällig dort, und jedes liegt an genau dem Platz, für den es bestimmt ist.

Und in jedem dieser Häuser gibt es mindestens einen Raum, den man niemals betreten sollte - gerade, wenn er offen steht, denn was dort zu sehen ist, wird man nie wieder vergessen. Das Wissen um diesen Raum wird es für alle Zeiten unmöglich machen, das Haus, den Besitzer und sich selbst so zu sehen wie zuvor.
 

Ein dichter, unwegsamer Wald; umgestürzte Baumstämme versperren den Weg. Man kämpft sich durch Gestrüpp und Schnee, erreicht einen Pfad, der in verschlungenen Windungen weiterführt. Froh über den einfacheren Weg stolpert man weiter durch die Nacht, halbtot vor Kälte. Die dicke Daunenjacke, die Stiefel scheinen nutzlos geworden zu sein. Durch die Baumkronen blitzt in unregelmäßigen Abständen das kalte Licht von Suchscheinwerfern; die Rotoren der Helikopter bilden einen gleichförmig surrenden Geräuschhintergrund, der die Umgebung noch unwirklicher erscheinen lässt. Man wandert weiter, der verharschte Schnee knirscht unter den Sohlen.

Weit entfernt, am Wegrand, erkennt man einen riesigen, unförmigen Klumpen, der sich wie ein Tier zu Boden duckt und auf Beute zu lauern scheint. Beim Weitergehen verharrt er bewegungslos; ein Scheinwerfer streift ihn und pickt eine Hütte aus dem Dunkel, ein gedrungenes Gebäude aus Holz und Stein, mit vom Alter blinden, spinnwebverhangenen Fenstern.

Eine mögliche Unterkunft? Ein Schutz vor Kälte und Beobachtern?

Man geht weiter, erreicht die Hütte; die Tür aus dicken Holzbohlen ist nur angelehnt. Sie quietscht leise in den Angeln.

Die aus der Tasche gezogene Taschenlampe funzelt vor sich hin, geht an und wieder aus. Eine Miniaturausgabe der Scheinwerfer von draußen. Man schiebt die Tür hinter sich zu, ruft mit den paar ukrainischen Brocken, die man beherrscht, einen Gruß in den Raum, der nicht erwidert wird. Man versucht es auf Russisch.

Nichts. Die Datscha ist wohl seit längerem verlassen.

Eine Bewegung vor den Füßen, ein Huschen, ein Piepsen. Die Hand beleuchtet erschrocken eine in einem Loch in der Wand verschwindende Maus.

Die MagLite streift die Wände entlang, findet einige Schals und Tücher, Mäntel, Jacken, dicke altmodische Stiefel, wie sie heute keiner mehr trägt. Drei Flinten, Vorderlader mit Steinschlössern, die Patronentaschen hängen daneben an der Wand.

Der Holzboden knarrt unter den eigenen Schritten, als man sich langsam weiterwagt. Die Lampe pickt Weiteres aus dem Dunkel, blitzt auf und verlöscht, blitzt auf und verlöscht.

Ein gusseiserner Ofen mit Kochplatte und Wasserschaff daneben. Eine hölzerne Waschschüssel, ein emaillierter Krug.

Ein weiterer Schal. Ein roh gezimmerter Tisch, Felle auf dem Boden, ein Messer mit Hirschhorngriff, ein halb zu Ende geschnitzter Löffel.
 

Eine Fotografie, sepiafarben. Sie zeigt ein Paar im Hochzeitsstaat, er ein schnurrbärtiges Dutzendgesicht in Gehrock, Zylinder und gestreifter Hose, die er nicht gewohnt zu sein scheint. Ihr Kleid ist hochgeschlossen, aus praktischem, dunklen Stoff; das einzige Zugeständnis an den festlichen Anlass ist das kunstvoll geflochtene und aufgesteckte Haar, das sich an manchen Stellen schon wieder löst. Sie schauen ernst drein; die breiten Schultern und Wangenknochen der Braut, ihr resoluter Blick verraten eine an schwere Arbeit gewohnte Frau. Sie wirkt leicht verärgert, diesen Mummenschanz aufführen zu müssen. Sein Blick ist abwesend, er scheint ganz woanders zu sein.
 

Am anderen Ende des Raumes führt eine Treppe nach oben. Die Stufen knarren laut, als man sie vorsichtig emporsteigt. Man betritt eine Kammer mit niedriger Decke. Bis auf ein Bett, zwei Truhen und einen Frisiertisch scheint sie leer zu sein.

Man setzt sich an den Frisiertisch, blickt in den halbblinden Spiegel. Auf der Tischfläche liegt eine silberne Bürste, ein passender Kamm, einige goldbraune, gelockte Haare haben sich darin verfangen.

Woher kommt ein so gutes Stück in einem so schlichten Haus?

Die Taschenlampe beleuchtet in genau dem Augenblick den Spiegel, in dem ein Strahl der Suchscheinwerfer durch das kleine Fenster fällt. Für einen kurzen Augenblick ist der Raum vom reflektierten Licht hell erleuchtet, man ist geblendet, die Lampe fällt aus der Hand und auf den Frisiertisch, wo sie wie wild zu blinken beginnt.

Das Blitzen des Lichtes im Spiegel ruft die wildesten Schlagschatten aus ihren Ecken, das Surren der Rotoren scheint sich zu verstärken. Man blickt ins immer wieder grell erleuchtete Dunkel, unfähig, sich zu bewegen, vermeint, in den Schatten Bilder, Bewegungen zu erkennen.

Die Frau auf der Fotografie, jünger und weniger ernst, umarmt einen Mann mit einer Flinte über der Schulter. Es ist nicht der Bräutigam auf dem Bild.

Dunkel. Hell. Dunkel.

Sie streift durch einen Wald, älter diesmal, ihr Blick ist verbittert, die Schürze beschmutzt, die langen Locken quellen unter der Mütze hervor. Hinter ihr scheint ein großer Schatten entlangzuschleichen, sich hinter Baumstämmen zu verstecken, er kommt näher, sie bemerkt ihn nicht.

Hell. Dunkel. Hell.

Sie hockt zusammengekauert in einem Stall, es ist Neumond, ihr Blick ist gehetzt, der Mund blutverschmiert.

Dunkel. Hell. Dunkel.

Eine Stadt, eine Frau mit kurzen, schwarzen Stachelhaaren und schweren Hornknöpfen in den Ohrläppchen schmiegt sich in die Arme der Frau von der Fotografie. Sie wirkt keinen Tag älter. Rings um sie wimmeln Menschen, hängen Bilder von Tätowierungen aus. Die Menschen tragen die Kleidung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sie auch.

Die Lampe verlischt. Das Surren der Rotoren verstärkt sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Man vermeint, Regen prasseln zu hören, eilige Schritte, die näher kommen und sich entfernen.

Leise, fast unhörbar tappen weiche Schritte die Treppe hinauf, kommen direkt hinter einem zum Stehen.

Heißer Atem im Nacken, ein einziger Atemzug nur, dann Stille.
 

Nicht nur das Leben jedes Menschen ist ein Haus.



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