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Dunkler Honig

Eine Gangrel. Eine Stadt. Eine Menge Probleme.
von

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Die Hütte der Blair Witch

Prolog: Die Hütte der Blair Witch
 

Das Leben jedes Menschen ist ein Haus.

Manche dieser Häuser sind groß und weitläufig, andere klein und heruntergekommen. Wieder andere sind nicht mehr als eine kleine Wohnung.

Sie sind von Wiesen oder von Dreck umgeben, liegen an belebten Einkaufsstraßen oder im Nirgendwo eines kleinen Dorfes. Der Eingang kann versteckt an der Seite liegen oder vorn, mit einer prunkvollen, baumbestandenen Auffahrt, und nur zu oft gibt es mehr als einen.

Diese Häuser haben keine Schlüssel, aber Schlüssellöcher. Und nur zu oft öffnet sich eine der Zimmertüren nicht, wenn man ein zweites Mal wiederkommt.

Sie sind eingerichtet mit einem Sammelsurium von Dingen, um deren Existenz der rechtmäßige Besitzer oft selbst nicht wirklich weiß. Keines dieser Dinge ist zufällig dort, und jedes liegt an genau dem Platz, für den es bestimmt ist.

Und in jedem dieser Häuser gibt es mindestens einen Raum, den man niemals betreten sollte - gerade, wenn er offen steht, denn was dort zu sehen ist, wird man nie wieder vergessen. Das Wissen um diesen Raum wird es für alle Zeiten unmöglich machen, das Haus, den Besitzer und sich selbst so zu sehen wie zuvor.
 

Ein dichter, unwegsamer Wald; umgestürzte Baumstämme versperren den Weg. Man kämpft sich durch Gestrüpp und Schnee, erreicht einen Pfad, der in verschlungenen Windungen weiterführt. Froh über den einfacheren Weg stolpert man weiter durch die Nacht, halbtot vor Kälte. Die dicke Daunenjacke, die Stiefel scheinen nutzlos geworden zu sein. Durch die Baumkronen blitzt in unregelmäßigen Abständen das kalte Licht von Suchscheinwerfern; die Rotoren der Helikopter bilden einen gleichförmig surrenden Geräuschhintergrund, der die Umgebung noch unwirklicher erscheinen lässt. Man wandert weiter, der verharschte Schnee knirscht unter den Sohlen.

Weit entfernt, am Wegrand, erkennt man einen riesigen, unförmigen Klumpen, der sich wie ein Tier zu Boden duckt und auf Beute zu lauern scheint. Beim Weitergehen verharrt er bewegungslos; ein Scheinwerfer streift ihn und pickt eine Hütte aus dem Dunkel, ein gedrungenes Gebäude aus Holz und Stein, mit vom Alter blinden, spinnwebverhangenen Fenstern.

Eine mögliche Unterkunft? Ein Schutz vor Kälte und Beobachtern?

Man geht weiter, erreicht die Hütte; die Tür aus dicken Holzbohlen ist nur angelehnt. Sie quietscht leise in den Angeln.

Die aus der Tasche gezogene Taschenlampe funzelt vor sich hin, geht an und wieder aus. Eine Miniaturausgabe der Scheinwerfer von draußen. Man schiebt die Tür hinter sich zu, ruft mit den paar ukrainischen Brocken, die man beherrscht, einen Gruß in den Raum, der nicht erwidert wird. Man versucht es auf Russisch.

Nichts. Die Datscha ist wohl seit längerem verlassen.

Eine Bewegung vor den Füßen, ein Huschen, ein Piepsen. Die Hand beleuchtet erschrocken eine in einem Loch in der Wand verschwindende Maus.

Die MagLite streift die Wände entlang, findet einige Schals und Tücher, Mäntel, Jacken, dicke altmodische Stiefel, wie sie heute keiner mehr trägt. Drei Flinten, Vorderlader mit Steinschlössern, die Patronentaschen hängen daneben an der Wand.

Der Holzboden knarrt unter den eigenen Schritten, als man sich langsam weiterwagt. Die Lampe pickt Weiteres aus dem Dunkel, blitzt auf und verlöscht, blitzt auf und verlöscht.

Ein gusseiserner Ofen mit Kochplatte und Wasserschaff daneben. Eine hölzerne Waschschüssel, ein emaillierter Krug.

Ein weiterer Schal. Ein roh gezimmerter Tisch, Felle auf dem Boden, ein Messer mit Hirschhorngriff, ein halb zu Ende geschnitzter Löffel.
 

Eine Fotografie, sepiafarben. Sie zeigt ein Paar im Hochzeitsstaat, er ein schnurrbärtiges Dutzendgesicht in Gehrock, Zylinder und gestreifter Hose, die er nicht gewohnt zu sein scheint. Ihr Kleid ist hochgeschlossen, aus praktischem, dunklen Stoff; das einzige Zugeständnis an den festlichen Anlass ist das kunstvoll geflochtene und aufgesteckte Haar, das sich an manchen Stellen schon wieder löst. Sie schauen ernst drein; die breiten Schultern und Wangenknochen der Braut, ihr resoluter Blick verraten eine an schwere Arbeit gewohnte Frau. Sie wirkt leicht verärgert, diesen Mummenschanz aufführen zu müssen. Sein Blick ist abwesend, er scheint ganz woanders zu sein.
 

Am anderen Ende des Raumes führt eine Treppe nach oben. Die Stufen knarren laut, als man sie vorsichtig emporsteigt. Man betritt eine Kammer mit niedriger Decke. Bis auf ein Bett, zwei Truhen und einen Frisiertisch scheint sie leer zu sein.

Man setzt sich an den Frisiertisch, blickt in den halbblinden Spiegel. Auf der Tischfläche liegt eine silberne Bürste, ein passender Kamm, einige goldbraune, gelockte Haare haben sich darin verfangen.

Woher kommt ein so gutes Stück in einem so schlichten Haus?

Die Taschenlampe beleuchtet in genau dem Augenblick den Spiegel, in dem ein Strahl der Suchscheinwerfer durch das kleine Fenster fällt. Für einen kurzen Augenblick ist der Raum vom reflektierten Licht hell erleuchtet, man ist geblendet, die Lampe fällt aus der Hand und auf den Frisiertisch, wo sie wie wild zu blinken beginnt.

Das Blitzen des Lichtes im Spiegel ruft die wildesten Schlagschatten aus ihren Ecken, das Surren der Rotoren scheint sich zu verstärken. Man blickt ins immer wieder grell erleuchtete Dunkel, unfähig, sich zu bewegen, vermeint, in den Schatten Bilder, Bewegungen zu erkennen.

Die Frau auf der Fotografie, jünger und weniger ernst, umarmt einen Mann mit einer Flinte über der Schulter. Es ist nicht der Bräutigam auf dem Bild.

Dunkel. Hell. Dunkel.

Sie streift durch einen Wald, älter diesmal, ihr Blick ist verbittert, die Schürze beschmutzt, die langen Locken quellen unter der Mütze hervor. Hinter ihr scheint ein großer Schatten entlangzuschleichen, sich hinter Baumstämmen zu verstecken, er kommt näher, sie bemerkt ihn nicht.

Hell. Dunkel. Hell.

Sie hockt zusammengekauert in einem Stall, es ist Neumond, ihr Blick ist gehetzt, der Mund blutverschmiert.

Dunkel. Hell. Dunkel.

Eine Stadt, eine Frau mit kurzen, schwarzen Stachelhaaren und schweren Hornknöpfen in den Ohrläppchen schmiegt sich in die Arme der Frau von der Fotografie. Sie wirkt keinen Tag älter. Rings um sie wimmeln Menschen, hängen Bilder von Tätowierungen aus. Die Menschen tragen die Kleidung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sie auch.

Die Lampe verlischt. Das Surren der Rotoren verstärkt sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Man vermeint, Regen prasseln zu hören, eilige Schritte, die näher kommen und sich entfernen.

Leise, fast unhörbar tappen weiche Schritte die Treppe hinauf, kommen direkt hinter einem zum Stehen.

Heißer Atem im Nacken, ein einziger Atemzug nur, dann Stille.
 

Nicht nur das Leben jedes Menschen ist ein Haus.

Schattenlauf (1)

Mel rannte.

Ihr linker Fuß war völlig durchnässt, der Stiefel suppte so langsam durch, die langen Haare waren verklebt und strähnig, und die Jacke schien dort, wo sie auf der Haut auflag, ein Loch in ihren Rücken zu brennen, nein, vier Löcher, vier lange Striemen. Etwas triefte von ihrem Haaransatz in ihre Augen und tränkte ihr Halstuch. Sie maß all dem keine Bedeutung bei, nahm es sowieso nur am Rand ihres Bewusstseins wahr. Die Sohlen aus vulkanisiertem Gummi klatschten ein irrsinniges, nasses Stakkato die menschenleere Straße entlang; Wasser spritzte hoch und vermischte sich mit dem Regen, der herabstürzte, als hätte er die Sintflut verpasst und jetzt einiges nachzuholen.

Sie schnitt eine Kurve, bog scharf nach rechts ab und rannte bergauf. Das Katzenkopfpflaster war rutschig, der Berg steil, aber die Laternen wurden hier immer weniger und die Dunkelheit und die schmaleren Straßen boten ihr Deckung.

Sie rutschte weg, fing sich wieder und war zehn Meter weiter, bevor sie überhaupt wahrgenommen hatte, dass sie rechts keinen Halt gehabt hatte. Wenn ihr Herz noch schlagen würde, wäre es ihr längst aus der Brust gesprungen unter dem Druck ihres unbarmherzig gesammelten Geistes, der in diesem Zustand fünfzig potentiell lebenswichtige Details während eines Wimpernschlags registrierte, es hätte den Dienst quittiert im Angesicht des absoluten Willens zu LAUFEN, der statt Vitae jede einzelne ihrer Adern bis hin zu den kleinsten Kapillargefäßen füllte.

Ihr Gewahrsein, ihre Konzentration war so groß, dass sie den kompletten bewussten Teil ihres Geistes, ohne es zu merken, schlicht rausgeschmissen hatte.

Sie dachte nicht. Sie lief, sie rannte, schneller, als es möglich hätte sein sollen, weiter, als sie in diesem Stadtteil je unterwegs gewesen war, und es war ihr egal, alles war egal, bis auf den nächsten Schritt auf dem nassen Pflaster, die lückenlose Deckung beim Sprung durch die Schatten, das stete Lauschen auf das halb gefürchtete, halb ersehnte Geräusch der Schritte ihres Verfolgers.

Ein Eindruck bahnte sich seinen Weg durch die Barrieren ihrer Konzentration. Nässe am linken Fuß, das Gefühl beim Auftreten war anders … Unwillig gab sie einen Teil ihrer Sammlung auf und keuchte, als die zuvor unterdrückten Schmerzen plötzlich wieder zuschlugen. Sie biss sich auf die Lippe und schrie trotzdem fast auf, als sie sich vom Boden abstieß, um ein geparktes Auto zu überspringen. Links.

Links tat WEH. Sie wusste, was passiert war, bevor sie hinsah.

Das Stiefelleder hing in Fetzen, tiefe Schnitte in der Sohle, und neben dem Fuß darin sah Freddy Krugers Gesicht direkt intakt aus. Bei jedem Schritt schmatzte eine der tieferen Wunden ihre Bestätigung.

Ihre Konzentration verabschiedete sich völlig. Die Welt drehte sich und schwankte; sie versuchte einen Fluch zu murmeln und bemerkte, dass sie sich vor Schmerz fast bis zur halben Länge ihrer Schneidezähne in die eigene Unterlippe verbissen hatte.

Sie sog an der Wunde, schluckte Vitae - hirnrissig, aber ein kurzzeitiger Energiestoß - und schaffte es wie durch ein Wunder, noch einmal den Zustand der Sammlung zu erreichen, in der der Schmerz zumindest unwichtig wurde. Das nasse Halstuch abnehmen und das Bein notdürftig abbinden war eins, und erledigt, ohne stehenzubleiben, und jetzt bloß noch -

Die Erkenntnis traf sie heftiger als ein Hammerschlag in den Magen. Ihre Beine versagten den Dienst, die Knie knickten ein.

Sie hatte mit traumwandlerischer Sicherheit eine Spur gelegt, der selbst ein nasenloser Caitiff problemlos folgen könnte.

Ihr Vitae. Durch den Regen über die ganze Straße verteilt. Kain weiß, seit wo schon.

Jeder, der auch nur einen rudimentären Geruchssinn besaß, würde wissen, wo sie war, und dass sie jetzt, erschöpft, verletzt, leichte Beute darstellte.

All die Abkürzungen für nichts. Ihre geheimen Pfade mit Leuchtfarbe für alle markiert.

Was BIST du doch gerissen, Mädchen. Und was für eine Ironie, dass dich dein ganzer Stolz, deine verdammte Clanstärke ins Grab bringen wird. Toll gemacht, Mel.

Sie glaubte, Augen links und rechts der Straße funkeln zu sehen. Bringen wir es doch jetzt hinter uns, Leute… ich hab mir Schande gemacht, und ich kann sowieso nicht mehr weiter.

Mel sackte zusammen und schloss die Augen. Der Regen prasselte auf sie herunter, wusch ihr mit einer Art unbeteiligten Zärtlichkeit das Blut aus den Haaren und vom Gesicht, linderte die Schmerzen an ihrer Stirn, dort, wo sich weich Schwellungen abzeichneten und der gezackte Rand einer Platzwunde. Das Kopfsteinpflaster kühlte ihren Rücken und die tiefen Risse, die die Klauen hinterlassen hatten.

Es war unendlich angenehm, so dazuliegen. Eine Henkersmahlzeit an Eindrücken.

Irgendwo über ihr flüsterte Laub.

Schattenlauf (2)

Sie verzog das Gesicht zu einem schwachen Lächeln, als sie sich die weichen Blätter vorstellte. Grün und zart. Vitae rann ihre Wangen hinunter, ein stetiger Fluss. Von den Mundwinkeln aus über den Hals zu Boden.

“Komm doch.”

Ein heiseres Flüstern, das vom Regen fast übertönt wurde.

“Hier bin ich.” Ihr Mund füllte sich mit ihrem eigenen Blut.

Hinter ihren Lidern sah Mel ihren Verfolger vor sich. Er würde sich diese Situation nicht entgehen lassen wollen, er wäre der Erste hier, sie war sich sicher. Und sie konnte ihn fast schon riechen.

Wo war er? Über ihr in der wispernden Linde? Schlich er noch die Spur entlang oder wartete er schon im nahen Schatten und beobachtete sie?
 

Das gelbe Licht einer einsamen Straßenlaterne färbte die Blutlache, in der sie lag, schwarz; ihre blasse Haut bernsteinfarben. Ihr zerfetzter Fuß hatte aufgehört zu bluten; die Schnitte klafften wie gierige Mäuler.

Knochenperlmutt schimmerte sanft am Grund des tiefsten, innen am Spann.

Dann trübte eine dünne Haut das Leuchten. Die hungrigen Münder schienen das Warten müde zu sein und nun weniger enthusiastisch zu betteln.

Mel spürte, wie sich in ihr langsam, langsam ein winziges bisschen neue Kraft sammelte. Ein Tropfen nur. Ein leuchtender, warmer Tropfen in ihrer Mitte. Nicht genug, um aufzustehen, nicht einmal genug, um sich zu bewegen, weg vom Katzenkopfpflaster und dem Regen auf ihrem Gesicht. Aber wenn das so weiterging, würde sie dem, der sie fand, vielleicht doch noch eine Überraschung bereiten können - zumindest wehrlos würde sie nicht sein.

Sie lauschte, angespannt, erwartungsvoll, doch die Nacht blieb leer. Jetzt, da ihre Sinne nicht mehr von Todesangst hochgepeitscht waren, sie sich auf eine seltsam abgeklärte Weise damit abgefunden hatte, dass die Jagd hier und jetzt ihr Ende hatte, erkannte sie, dass sie allein war.

Der Tropfen Kraft schwoll unmerklich an.

Die Ränder ihrer Kopfwunde krochen aufeinander zu. Die Schnitte wurden langsam flacher. Dünne Fäden bildeten sich dort, wo Sehnen zertrennt worden waren.

Die Stücke ihrer zerbissenen Lippe fanden sich wieder zusammen; das Blut sickerte nur noch tropfenweise ihre Wangen entlang, in den vitaestarrenden Pelz an ihrem Hals. Es erreichte nicht einmal mehr die Straße.

Mel öffnete die Augen, setzte sich auf.

Ich warte, Mar. Komm.

Hier bin ich. Am Ende der Fährte.
 

Am Ende - der Fährte -

Sie sprang auf. Eine Erinnerung schoss ihr durch den Kopf.

Die weißrussischen Wälder; tagelang war sie auf der Jagd nach dem Hirsch gewesen, tagelang hatte sie diese eine Spur verfolgt. War ihrem Opfer näher und näher gekommen, sie hatte es gewusst, die Spur war immer frischer geworden und sie selbst - alle Sinne angespannt - immer feinfühliger, immer zielbewusster; sie war irgendwann nur noch bis ins Unerträgliche gestraffte Bogensehne gewesen und hatte den Augenblick ersehnt, da sie sich endlich selbst als Pfeil ins Ziel schicken konnte.

Sie hatte den Moment des Schusses fast schon schmecken können, als sie das Ende der Fährte erreichte und zutiefst ernüchtert feststellen musste, dass -

Sie wischte sich unsanft über den Mund und begann wieder zu rennen, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Wenn sie Glück hatte, hatter der Regen ihre Spur noch nicht weggewaschen; und die nicht unbeträchtliche Lache unter der Laterne würde ein Übriges tun.

Bei deinem Fleisch, das ich dann irgendwann doch zerrissen habe - ich werde genauso eine falsche Fährte legen wie du.

Das Klatschen ihrer Sohlen auf dem nassen Boden war langsamer als zuvor; ihre Bewegungen vorsichtiger, bedachter.

Doch diesmal lief Mel mit dem siegessicheren Grinsen derjenigen, die weiß, dass sie das Spiel kennt - und in der Hand hat.

Schattenlauf (3)

Mel huschte die Straße entlang, immer in den Schatten. Sie drückte sich an Hauswände, duckte sich hinter Müllcontainer, legte ein Stück des Weges sogar von Alleebaum zu Alleebaum zurück. Von Zeit zu Zeit lief sie in die Mitte der Straße, biss sich in den Handballen und verteilte ein paar Tropfen auf ihrer alten Spur.

Sie erreichte die Weggabelung, an der sie vorhin bergauf gelaufen war, verschwand im Schatten eines Wandvorsprungs und hielt prüfend die Nase in den Wind.

Niemand in unmittelbarer Nähe. Der Duft ihres Blutes wehte durch die Nacht, nicht zu viel und nicht zu wenig. Der Regen ließ nach und würde wohl bald ganz aufhören.

Sie lief weiter, weg von ihrer alten Spur.

Seltsam eigentlich, dass Mar nirgends aufzufinden war. Sehr seltsam.

Aber ich werde ihn finden, ihn finden und ihm alles mit gleicher Münze heimzahlen, jede Wunde, jeden Schlag, und vor allem, dass ich auf der Baustelle in diese Abfallgrube getreten bin und mir den Fuß zerfetzt hab …

Sie glitt nach rechts in eine kleine Gasse, weiter durch zugemüllte Hinterhöfe und niedrige Durchgänge. Lautlos teilten ihre Hände eine Art Vorhang aus löchrigen Plastiksäcken, der ein gähnendes Loch in einer Mauer bedeckte. Die Maschendrahtabsperrung hinter der behelfsmäßigen Plane hatte schon bessere Tage - ach was, Jahre - gesehen. Mel holte eine kleine Zange aus der Tasche, und ein paar Sekunden später hatte sich eines der Löcher beträchtlich vergrößert.

Sie quetschte sich hindurch und stand in einem feuchten, schwach faulig riechenden Tunnel. Ein leichter Luftzug strich von drinnen über ihr Gesicht, als sie angestrengt ins Dunkel horchte.

Wenn man sie hier erwischte, würde Mar ihr geringstes Problem sein.

Aber da sie schon mal hier drin war, sollte sich das Erwischtwerden wenigstens lohnen, dachte sie, und schritt weiter in die Dunkelheit. Zurück konnte sie nicht mehr, nicht, wenn sie ihre falsche Spur nicht verraten wollte. Sie zuckte heftig zusammen, als ihr etwas von oben in den Nacken tropfte.

Wasser, bloß Wasser - noch. Lieber schnell weiter, so lange sie noch unbemerkt war.

Nach einiger Zeit wurde ihr mulmig. Sehr mulmig. Sie bemühte sich, lautlos und ohne auszurutschen über den nassen und mit einer Art weichem Schlamm bedecken Boden zu gehen; um so schwieriger, da der Gang schon seit längerem bergab führte. Mel wich halb rückwärts gehend jedem Müllsack, jedem gestaltlosen Haufen Irgendwas am Boden möglichst weit aus, versuchte dabei, ihren Rücken so nah wie möglich an der Tunnelwand zu halten. Diesen Eingang hatte sie immer für ein bloßes Gerücht gehalten, eine von Frantos Spinnereien, und dass er existierte, machte ihr Angst. Wenn dieser Teil seiner Hirngespinste wahr war, was war es dann noch gewesen?

Sie versuchte, in jede Richtung gleichzeitig zu sehen in der festen Überzeugung, im nächsten Moment wäre das Letzte, das sie für lange Zeit wahrnehmen würde, ein betäubender Gestank und dann der dumpfe Schmerz eines Pflockes. Wenn sie Glück hatte.
 

Etwas Hartes schlug gegen ihren Rücken. Sie wirbelte herum, die Finger im Bruchteil einer Sekunde zu unterarmlangen Klauen verlängert - und schlug beinahe mit der Nase gegen eine quer verlaufende Eisenstange.

Vor Erleichterung hätte sie fast laut aufgelacht. In die Wand eingelassene Querstreben. Eine Leiter. Und sie führte nach oben, einen gut vier Meter hohen Schacht hinauf. Die Krallen verschwanden, und Mel hing schneller unter der Decke des Schachtes, als sie “Notausgang!” hätte jubeln können. Mit aller Kraft stemmte sie das gusseiserne Gitter hoch, das den Durchgang versperrte, und schlüpfte ins Freie.

Keine Sekunde zu früh. Wenn sie sich nicht sehr irrte, hatte es unter ihr, im Tunnel, gerade begonnen, wütend zu flüstern und zu tapsen.

Sie stand auf einer Terrasse aus rissigem, altem Beton, im ersten oder zweiten Stock eines verfallenen Hauses. Einige Meter weiter begrenzte eine Backsteinmauer ein Stück unbebautes Land. Baumkronen hinderten sie daran, dort Genaueres zu erkennen - wohl ein Park oder ein Friedhof.

Perfekt.

Mit einem Satz stand sie auf dem Wall aus Ziegeln, mit einem zweiten landete sie an den Wurzeln einer ausladenden Kastanie.

Mel atmete - nur so aus Gewohnheit - tief und glücklich ein.

Das wäre erst mal geschafft.

Blutregen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Morgen. Rot.

Sie deutete hinter ihn, auf den östlichen Himmel.

"Spät. Geh." Der Stolz, der in ihr aufflammte, als sie seinen immer noch nicht nutzbaren, gebrochenen Arm an der zerfleischten Schulter hin- und herpendeln sah, wurde nur noch von ihrer Freude darüber, endlich ernstgenommen zu werden, übertroffen.

Sie schüttelte sich, spuckte aus. "Wir sind doch krank, Mar, das ist abartig. Warum machen wir das?"

Ja, Mar, warum kämpfen wir jede Nacht gegen den Rest der Welt um unsere Leben? Warum versuchen wir uns im Widerspruch dazu gegenseitig umzubringen, und wenn der andere zu lange keinen Mordversuch startet, dann spüren wir ihn auf und fallen ihn an oder versuchen ihn zu provozieren? Weißt du noch, wie das Ganze angefangen hat? Wir können uns beide an jede einzelne Runde erinnern, aber wenn wir ehrlich sind, will doch keiner von uns wissen, warum wir nie aufgehört haben oder warum wir so süchtig danach sind, ausgerechnet uns gegenseitig zu zerlegen.

"Wollen wir sterben? Das könnten wir nämlich echt billiger und schneller haben. Ich zumindest, ich müsste bloß irgendeinen Kanaldeckel aufmachen, runterspringen und warten, bis die Nosferatu mich erkennen. Dürfte so an die zwanzig Sekunden dauern."

Er lachte schnaubend. "Immer noch wegen Gizmo? Mein Gott, das war echt Pech."

"Du bist nicht ganz unschuldig daran, dass ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt habe."

Jetzt lachte er nicht mehr. "Stimmt irgendwie. Schließlich hast du ihn wegen mir als lebenden Schild benutzt. Aber 'auf dem falschen Fuß erwischt' ... irgendwie glaube ich, dass da der andere auch nicht der richtige gewesen wäre. Mein Gott - du bist wahrscheinlich die einzige Person der Welt, die das so nennen würde. Er hat ein Bein verloren, und einen ziemlich großen Brocken aus der Hüfte."

"Wie gesagt, Mar - woher hätte ich wissen sollen, dass du es ihm abfetzt und ausgerechnet der arme Gizmo das Problem hat, dass keine seiner Wunden je wieder heilen wird? Und es deshalb nicht nachwächst?" Wider Willen kicherte sie, und Mar lachte sein heiseres Wolfsgelächter. "Was für ein übler Fehlgriff der Kleine war! Ausgerechnet den Liebling vom Obermufti und einen seiner besten Kundschafter berufsunfähig zu machen!"

"Wenn ich nicht dabeigewesen wäre, würde ich glauben, irgendwer hätte das erfunden. Oder eingefädelt, um dich aus dem Weg zu räumen."

Sie sah ihn scharf an. "Keine dritte Partei zum eigenen Vorteil einspannen. Du weißt das."

Er nickte ernst. "Das gehört zum Pakt. Ich weiß das. Und ich werde nicht derjenige sein, der ihn bricht. Wir haben geschworen, und ich halte mein Wort."

"Impliziert das, dass ich es nicht tun würde?" Mel kannte dieses Spielchen nur zu gut, das Ritual am Ende jedes ihrer Treffen. Sie sprach weiter, wusste, dass jedes Wort, jede Veränderung im Tonfall schon von vornherein als gespielt erkannt war. "Willst du mich beleidigen? Ich fordere..."

"...Satisfaktion, und ich gewähre sie. Wann und wo ich will." Mar streckte eine Hand aus, Mel schlug ein.

Er drehte sich um und ging. "Ich finde dich, Meliško, du Hauskatze. Und die nächste Runde geht an mich."

"Das glaubst du!", schrie sie ihm hinterher. "Ich reiß dich in Stücke, bevor du meine Spur auch nur ansatzweise erschnüffelt hast, Drecksköter!"

Sie sah ihm nach. Der letzte Satz hing schwer und unangenehm in der Luft, und sie hätte ihn gern zurückgenommen.

Es war inzwischen nur zu wahrscheinlich geworden, dass die nächste Runde tatsächlich mit einem Haufen Asche enden würde.
 

Angst presste ihr Herz zusammen wie eine riesige Faust.

Mit diesem Knie, diesen Wunden würde sie es nie nach Hause schaffen. Und die Sonne würde bald aufgehen.

Sie starrte zitternd zum Horizont. Sie hatte nur eine einzige Möglichkeit.

Ihre Hand grub sich durch den Inhalt ihrer Jackentaschen, fand das kleine schwarze Klapphandy. Sie schnippte es auf.

Es war so glitschig vor Vitae, dass es ihr zweimal aus der Hand rutschte. Sie wischte ihre Hand und den Handybildschirm an ihrer Hose ab und drückte auf einen Knopf.

Bitte, bitte, bitte. Funktionier! Und bitte, oh, bitte, sei da und fähig zu kommen!

Durch die Blutschlieren leuchtete das Display auf. Kurzwahlnummer drei. Ein kurzer Moment der Verzweiflung - es geht nicht, ich komm hier nicht weg, Kain, hilf mir - dann das Freizeichen und Frantos Stimme.

"Mel? Was ist? Bist du nicht zuhause?"

Erleichterung und abgrundtiefe Scham überfluteten sie gleichermaßen. Sie wollte nicht, dass er sie so sah, wollte nicht, dass er wusste, was schon wieder passiert war - und wusste, dass es ihm bereits klar war.

"Wie gehts dir? Hast du Zeit?"

"Mel, es ist - "

"Ich weiß, es ist kein Zeitpunkt dafür, aber ich brauch dringend Hilfe. Ich bin im Zetkin-Park und schaff es nicht nach Hause. Kannst du mich aufsammeln? Bitte! Kannst bei mir bleiben über den Tag, ich hab auch noch Vorräte!"

Stille.

"Ja, es war Mar, ja, ich hab ihn wieder getroffen, ich gebs zu, es tut mir leid, aber ich konnte nichts dafür..."

Er seufzte. "Sag mir einfach, wo du bist. Ich will das alles gar nicht wissen."

"Claras Denkmal, das Ganzkörperding. Danke, Franto, vielen Dank!"

Er legte auf.
 

Eine Viertelstunde später - sie hatte panisch abwechselnd ihre Uhr und den Horizont angestarrt- raschelte es in den Büschen, und Frantos roter Schopf tauchte zwischen den Blättern auf. Mel fand, sie habe noch nie etwas Schöneres gesehen.

"Na komm! Schnell!" Er winkte sie hektisch heran.

"Kann nicht." Sie deutete auf ihr Knie. "Das ist Mus."

Er stöhnte und kam näher.

Im Gehen fiel ihm der Kiefer herunter; die letzten Meter rannte er.

"Bei Crazy Jane und allen Irrenhäusern, was ist denn mit dir passiert?! Und wieso hältst du den Kopf so komisch, das muss doch unbequem ... Oh."

"Genau. Darum. Falsch zusammengewachsen. Hilfst du mir hoch?"

Sie stützte sich auf den schlaksigen jungen Mann, der sie mit erstaunlicher Kraft durch das Unterholz schleifte.

Die Straße war menschenleer, zum Glück. Sie machte in Gedanken drei Kreuze, während Franto die hintere Tür seines Wagens aufriss und sie hineinschubste.

"Zumachen kannst du das selber!", rief er, während er außen um das Auto herumrannte, beim Öffnen fast gegen die Fahrertür lief und im Auto mit seinen langen Gliedmaßen wild durch die Gegend fuhrwerkte, während er gleichzeitig den Motor startete, seine Tür mit einem Knall zuzog, anfuhr und Mel ohrfeigte. Sie konnte gerade noch rechtzeitig am Türgriff ziehen, um die Tür zu schließen, aber die Ohrfeige kassierte sie ohne Gegenwehr.

"Das nächste Mal verreck", grummelte Franto. "Blutest mir die Sitze voll und ich darf die nächste Woche deine Schichten mit übernehmen und nach dir gucken kommen. Kennen wir ja alles schon. Und das alles bloß, weil du ein verdammter schmerzgeiler Junkie bist."

Hinter den schwarz getönten Scheiben fühlte Mel sich fast sofort sicherer. Franto raste durch die Stadt, als wolle er die letzte Möglichkeit dazu auskosten, bevor morgen das physikalische Phänomen der Beschleunigung abgeschafft werden würde.

"Danke, Franto", murmelte sie.

"Danke, danke, danke, was für eine gequirlte Kacke. Weißt du, womit du dich bedanken könntest? Indem du deinen Killerstecher, und das ist er im wahrsten Sinne des Wortes, du weißt es, endlich zu Papa Kain in die tiefste Hölle schickst. Kannst mir ne Prise Asche mitbringen, das wär mal ein Dankeschön, mit dem ich was anfangen könnte. Komm raus, wir sind da."

Er zerrte sie vom Sitz, die Treppen hoch, klaubte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Jacke und schubste sie hinein. Die Tür zuknallen, absperren, die mit Teichfolie abgeklebten Fenster überprüfen und zwei Konserven aus dem Kühlschrank krallen - auch das passierte scheinbar alles gleichzeitig.

Er warf ihr eine Konserve an den Kopf, ließ sich auf ihr Bett fallen und schlürfte den anderen Plastikbeutel in zwei Zügen halbleer.

"Da. Trinken, und wenn es aus deinem Sieb von Bauch wieder auf den Boden klatscht. Ist mir egal. Aber deinen Ausraster morgen früh, wenn dus nicht tust, den will ich nicht erleben. Crazy Jane - Bauchdecke durchsiebt, Knie zerbröselt, Fuß zersägt und wahrscheinlich nur noch die halbe Menge Rippen ganz, und das ist erst der Anfang. Und mich nennen sie verrückt."

Mel wankte ins Bad und legte sich in die Wanne.

"Was machste da, Mel?"

"Ich schlaf hier. Ist morgen leichter wegzuputzen."

"Oh, ein Profi. Melja?"

Sie drehte verwundert den Kopf, so gut sie konnte; so nannte er sie nur, wenn es wirklich ernst war.

"Franto?"

"Ich komm nicht auf dein Begräbnis, du blödes Miststück. Aber wenn er dich umbringt, dann bestech ich die Giovanni, bis sie dich wieder holen. Und dann kauf ich Baum-aus-Menschen-Bill für Mar."

"Baum-aus-Menschen..?"

" -Bill. Kleine Gedächtnisstütze? Schnitzeljagd. Mit echten Organen. Das ist dieser Typ, den die Sabbatis im alten Bunker an die Wand gekettet haben und nur rauslassen, wenn sie wirklich Schaden arichten wollen. Der ist sogar denen zu abartig."

"Woher kennst du denn den? Baum gibts doch gar nicht. Der ist ein demoralisierendes Gerücht, mehr nicht."

"Ja, das hast du auch von den Pharaonenraupen geglaubt. Und von dem Nossitunnel im Hinterhof in Connewitz. Und von der Theorie, dass die Leute außen vor dem Laden alle mit der Kaffeemaschine im Laden verdrahtet sind und immer dann extra viel Kaffee wollen, wenn sie gerade spinnt. Und davon, dass dein Ruhrpole dich nochmal umbringt."

"Mar ist kein Ruhrpole, und das ist doch alles..."

"Mir nicht glauben, aber den Tunnel benutzen, hm? Wo bist du denn durchgegangen heute, wenn ich mir den bloß ausgedacht hab? Ja, jetzt guckst du. Und du glaubst mir immer noch nicht, dass ich Gedanken lesen kann und in Baums Kopf war."

"Du warst..."

"Ja."

"Mal angenommen, dass ich diesen Quatsch glaube - wie war es in seinem Kopf?"

"War nur kurz drin. Und nicht weit. Das sind keine Gedanken - das ist eine Gruselgeschichte." Franto schüttelte sich. "Hey, wenn ich mir den Tunnel wirklich nur ausgedacht hab, und du heute trotzdem ohne mich drin warst - das würde heißen, dass ich mit meinen Gedanken die Realität verändern kann. Und dass die Realität meine Gedanken manipuliert, weiß ich eh schon lang, die ändern sich nämlich ständig und immer wegen Sachen, die ich sehe."

Mel machte die Badezimmertür zu. "Du machst mich noch verrückt mit deinem Gelaber."

"Schön! Vielleicht wirst du dann endlich vernünftig!"

Mel legte sich in die Badewanne und rollte sich zusammen. Sie war schon fast eingeschlafen, als sie Frantos Stimme wieder hörte.

"Mel?"

"Was denn noch?"

"Weißt du, worauf ich mich freue, morgen?"

"Nein. Worauf?"

"Dir morgen den Kopf wieder einzurichten. Weißt du, wieso? Dann kann ich dir endlich den Hals brechen. Guten Tag, du suizidales Katzenvieh."

Mel lächelte. "Ich hoffe, die Teichfolie hat ein Loch. Dann kann ich deine Asche morgen nacht als Koks an die Ventrue verticken und zuschauen, wie sie ausflippen. Tag, Franto."

Zweites Kapitel: Angelockt

Zwei Tage in der Badewanne und sechs Nächte von Franto und ihrem gesunden Verstand erzwungener Untätigkeit später war das Einzige, das Mel von ihrem letzten Aufeinandertreffen mit Mar geblieben war, ein hinkender Gang und einige dunkelrote Narben. Auch das würde vermutlich bald völlig verschwunden sein.

Am siebten Abend wachte sie auf, streckte sich und genoss die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit. Sie griff sich ihr Handy vom Nachttisch, teilte Franto und dem Chef des kleinen 24-Stunden-Supermarktes mit, dass sie heute Nacht wieder da wäre, und wählte dann nach einigem Zögern eine dritte Nummer.

Ein paar Worte wurden gewechselt, dann legte sie auf, sprang aus dem Bett und huschte in ihr winziges Bad. Unter der Dusche wusch sie sich zum ersten Mal seit einer Woche das getrocknete Blut aus dem Haar, sah den schwarzen Flocken zu, die herauskrümelten und sich zwischen ihren Füßen in rotbraune Schlieren auflösten. Im dampfbeschlagenen Spiegel nahmen ihre Haare die gewohnte goldbraune Farbe an, dunkel durch die Nässe, ihr bepelzter Hals wurde wieder weich und samtig. Nachdenklich betrachtete sie ihren Körper, die unregelmäßige Fellspur, die von ihrem Nacken aus die Wirbelsäule entlanglief und in einem breiteren Fleck über dem Steißbein endete, die runden, roten Narben an den Seiten ihres Brustkorbes und in der Magengrube und ihre Gegenstücke am Rücken. Sie sahen aus wie Brandwunden.

Sie drehte den Kopf, warf ihn in den Nacken, nickte ein paarmal. Legte ihn von der einen auf die andere Schulter. Franto hatte wirklich gute Arbeit geleistet; Perfektionist, der er war, hatte er darauf bestanden, das steife Genick mehrmals an verschiedenen Stellen zu brechen, damit es wieder richtig zusammenwuchs.

So gut wie neu.

Sie strich über ihre Schultern, über die kräftigen Arme, deren dunkle, fast schwarze Luchszeichnung unter der Haut aussah, als wäre sie schon immer dagewesen. Die Rippen entlang; sie wog ihre linke Brust prüfend in einer Hand, hob sie ein wenig an und ließ wieder los.

Ihre Hände strichen weiter über die Hüften, die Oberschenkel, tasteten das noch nicht völlig ausgeheilte Knie sorgfältig ab.

Die Ruhezeit hatte sich gelohnt; sie war wieder bereit. Wach. Und hungrig - Transfusionsbeutel hatten ihre Gier zwar gestillt, aber ihre Sinne waren unbefriedigt geblieben. Das Tier in ihr stellte die Ohren auf und schnupperte.

Sie konnte sie fast kommen riechen, mit jedem Meter Weg, den sie zurücklegte.

Mel stieg aus der Dusche, rieb sich Haare und Hals trocken, blickte in den Spiegel und bemerkte, dass ihre Locken einen einzigen zerzausten Wust bildeten. Sie schnitt eine Grimasse und zupfte halbherzig darin herum; hergerichtet oder nicht, sie würde kommen, und dann kam es längst nicht so sehr auf ihr Aussehen an wie auf ... anderes.

Zwei Schritte aus dem Bad, ein Griff ins Medizinkästchen und einer in den Kleiderschrank. Sie hatte ihr Knie fertig bandagiert und schloss gerade den Knopf ihrer Armeehose, als es klingelte.

Ein Blick durch den Türspion.

Im Flur stand eine junge Frau, groß und schlank, mit karamellfarbener Haut. Quer durch ihre Nase zogen sich zwei polierte Holzstäbe, Hornknöpfe in der Größe von Teelichtern dehnten die Ohrläppchen ihrer mit zahlreichen Silberringen versehenen Ohren. Aus ihrem kurzen schwarzen Stachelhaar hingen hier und da lange, verzierte Dreadlocks.

"Scheiße!" Mel schlüpfte in das erste herumliegende Kleidungsstück, eine dunkle, ärmellose Weste, zog hektisch den Reißverschluss zu und würgte sich irgendeinen Schal um den Hals. Ein paarmal umgewickelt, ein prüfendes Tasten - das Fell war verdeckt - ein hastiger Knoten - dann setzte sie ein strahlendes Lächeln auf und öffnete die Tür.

"Encarna. Süße! Das ging ja schnell." Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die zwei Köpfe größere Latina zur Begrüßung zu umarmen. Die schaute unsicher zu Boden.

"Hätte nicht gedacht, dass du doch noch anrufst. Und dann hatte ich Angst, dass du mich nicht reinlässt, oder mich gleich wieder wegschickst, weil du es dir anders überlegt hast." Sie lachte verlegen. "Verrückt, nicht? Das ausgerechnet mir. War mir doch immer egal, was Leute von mir halten, gerade die, mit denen ich einmal was hatte und dann nie wieder. "

Mel schubste sie in die Diele und schloss die Wohnungstür.

"Ach, jetzt hör aber auf. Ich hab dir doch nach der Tattoo-Con gesagt, dass ich mich melden werden, und warum sollte ich dich draußen stehen lassen?" Encarna schien unter ihrem nachdenklichen Blick aufzutauen.

"Und jetzt komm mal raus aus deiner Jacke. Wir haben eine Stunde, dann muss ich zu meiner Schicht - und ich hab dich vermisst."

Encarna streifte gehorsam Schuhe und Mantel ab und folgte Mel durch die Diele. Die dunkelgrün schimmernden Ozelotflecken auf ihren Oberarmen schienen im Dämmerlicht des Flurs ein Eigenleben zu entwickeln. Mel saß bereits auf der Bettkante und sah sie hungrig an.

"Ich wundere mich wirklich - ", eine Hand packte Encarna am Arm - "wie eine Frau, die wie du -", sie wurde herumgewirbelt "- ein absolut eigenes Ideal verfolgt -", Mel schubste sie aufs Bett - "in manchen Dingen derartig schüchtern sein kann."

Sie ließ sich neben Encarna, die sich gerade wieder aufgesetzt hatte, auf die Matratze fallen. "Ich meine, bis du endlich damit rausgerückt bist, was du eigentlich willst und für wie krank du dich hältst - du, die nichts noch nicht probiert hat und über alle möglichen Vorurteile lacht ... "

... warst du wirklich fürchterlich betrunken und wenn ich keine Unbekannte gewesen wäre, und noch dazu eine, auf die du scharf warst, hättest du es mir auch nie gesagt.

Die Latina lächelte sie an. "Naja, ich hab auch wirklich viele Absagen kassiert - und ziemlich deutliche dazu. Ich hab schon gedacht, ich würde nie jemanden finden. Versteh die einer - lassen die wahnwitzigsten Sachen mit sich anstellen, aber bei so was ticken sie aus."

Bei dem Fetisch wundert es mich eher, dass dich noch keiner vor mir geschnappt hat. Fast zu gut, um wahr zu sein.

"War aber doch schön, oder nicht? Auch, wenn du dich für krank hältst?"

Encarnas Blick verschleierte sich, als sie sich erinnerte. "Ich weiß es gar nicht mehr richtig. Nicht, was danach war und wie es genau ablief. Ich weiß nur noch ... ich hab dich geschmeckt, und ... sowas hab ich noch nie vorher erlebt, mit keinem, es war noch hundertmal leckerer, als ich es mir vorgestellt habe, und besser als der beste Sex meines Lebens, dagegen kommt kein Mann an und keine Frau. Krank? Ist mir inzwischen egal, ehrlich gesagt, auch, wenn ich es nicht jedem erzählen würde. Ich hab nur Angst, dass das nie wieder passiert. Ich hab nicht zu hoffen gewagt, dass du dich nochmal meldest, und als du dann doch angerufen hast, dachte ich, das kann doch nicht sein, am besten machst du dir erst gar keine Hoffnungen. Ich meine, was solltest du für einen Grund haben, mich wieder trinken zu lassen? Du hast doch nichts davon."

Mehr, als du dir vorstellen kannst.

Mel zupfte am Reißverschluss ihrer Weste. "Du willst also mehr? Dann komm."

Verführ sie. Ruhig. Bedacht. Du musst nur noch die Hand ausstrecken, so leicht war es noch nie.

Ich kann nicht mehr. Ihr Geruch nach Leben zerrt an meiner Beherrschung.

Nichts übereilen - sie schwärmt zwar noch davon,aber die paar Tropfen, die sie hatte, reichen nicht aus, um sie zu halten, wenn du sie jetzt erschreckst. Ist schon viel zu lange her.

Dann bring ich sie eben um. Ist doch egal, nur, bitte, lass mich ...

Du verschenkst damit eine unglaubliche Chance. Du brauchst sie. Sie ist perfekt. Fass. Sie. Nicht. An. Bis du sie sicher hast.

Erstaunt geweitete dunkle Augen. "Wirklich? Meinst du wirklich, du willst ... ich darf ... das war echt nicht bloß eine einmalige Sache?!"

"Was denkst du denn, warum ich dich überhaupt angerufen habe?", meinte Mel und warf die Enden ihres Schals nach hinten über die Schultern. "Für 'einmal und nie wieder' bin ich die Falsche."

Sie zog die Nachttischschublade auf, kramte kurz darin und hielt der jungen Frau ein steril verpacktes Skalpell hin. Encarna starrte sie an, dann nahm sie es beinahe ehrfürchtig entgegen, riss die dicke Plastikschicht auf und warf die Verpackung weg. Sie hielt das kleine, silbrig glänzende Werkzeug leicht in der Hand und betrachtete es. Für einen Augenblick schien außer ihr und dem Operationsmesser nichts auf der Welt mehr zu existieren, nicht einmal Mel.

Dann hob sie langsam den Kopf. Leckte über die Schneide. Ihre Augen glänzten fiebrig.

Insatiable - Süchtige unter sich

Sie rückte noch näher an Mel heran. Strich ihr mit den Fingerspitzen der freien Hand sanft über die Wange, nur ganz sacht, berührte sie fast nicht. Weiter über die Falten des Schals, zu dem kleinen, gegen das Schwarz der Weste fast weiß schimmernden Dreieck, das der ein wenig heruntergezogene Reißverschluss preisgab.

Mel schloss die Augen, lauschte dem Geräusch des unregelmäßigen Atems, das den Raum füllte. Hob und senkte ihre Brust leicht, immer wieder, um Encarna nicht zu irritieren. Nicht zu gleichmäßig.

Der Druck der Finger wurde kaum merklich stärker, sie streichelten die freiliegende Haut, fast heiß gegen Mels kühlen Körper. Die Intensität der Wärme schwankte leicht. Nur ein winziges bisschen, im Takt des Herzschlags unter der Goldhaut.

Encarna zog den Reißverschluss ein Stückchen weiter nach unten. Langsam, sehr langsam, die Zähnchen knirschten einer nach dem anderen. Die Fingerspitzen begannen wieder zu wandern, begrüßten die neu freigelegte Haut, schlichen sich unter den Stoff.

Noch ein Stückchen, die Zähnchen knirschten das Brustbein entlang.

Mel schnappte unwillkürlich nach Luft, als die warmen Berührungen einer plötzlichen, weichen, pochenden Hitze wichen, die verschwand und wieder auftauchte, dem Reißverschluss folgte. Unter der dünnen Haut dieser Lippen raste lebendes Blut, so nah ...

Die Vampirin verkrallte sich hinter ihrem Rücken mit beiden Händen in der Bettdecke.

Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht!, pulsierte es in ihrem Kopf, im Gleichtakt mit Encarnas Herzschlag.

Die Weste öffnete sich weiter, noch weiter, der Reißverschluss hatte fast die Magengrube erreicht -

Mel riss die Augen auf, ihre Hand schnellte vor, umklammerte das Handgelenk der Lebenden.

"Stopp."

Encarna, halb aus ihrer Versenkung gerissen, sah sie irritiert und wütend an. "Was darf ich denn diesmal nicht sehen? Hast du schon wieder ein paar kassiert auf einem Turnier und schämst dich für die Spuren? Ehrlich, MMA-Frau, vor dir hab ich nicht gewusst, dass Fight Club eine Doku ist. Lass los!"

Mel kratzte den Rest ihrer Konzentration zusammen, den sie nicht dafür verwendete, sich im Zaum zu halten.

"Wenn du versprichst, dieses Top nicht weiter aufzumachen. Falls doch - da hinten ist die Tür, die schließt du dann von außen. Erste und letzte Warnung."

"Ist ja gut", murrte Encarna. "Und ich bin angeblich schweigsam, was meine Gründe angeht. Irgendwann verrätst du mir, was für Kampfsportarten ihr da eigentlich kombiniert. Und zeigst mir alles. Jeden blauen Fleck. Jede Schramme. Jedes Gott-weiß-ich-was."

Mel ließ ihre Hand los, strich ihr geistesabwesend über den Kopf. "Irgendwann, ja. Bestimmt. Aber nicht jetzt, bitte. Such dir einfach eine Stelle aus."

Encarnas Stolz und ihre Begierde fochten einen kurzen Kampf aus. Sie zögerte einige Augenblicke, dann war das Duell klar entschieden.

Sie streifte Mel mit lüsternem Blick und einem breiten Grinsen die Weste von den Schultern, das halb offene Kleidungsstück hing nun knapp über ihren Ellbogen und entblößte beinahe ihren kompletten Oberkörper.

"Glaub mir. Das hab ich schon ... Lehn dich zurück."

Mel rutschte ein Stück nach hinten und stützte sich gehorsam - gehorsam, dachte sie mit einem leichten Schnauben, aber nicht mehr lange - auf ihre hinter dem Rücken angewinkelten Arme. Encarna schwang ein Bein über sie, saß jetzt praktisch auf ihr.

"Ich hab so lange gewartet", flüsterte sie. "Viel zu lange. Wo warst du?"

Mel drückte die Oberarme gegen die Rippen. Das Letzte, das sie jetzt brauchen konnte, war, dass Encarna die Narben seitlich an ihrem Brustkorb entdeckte. Nicht, nachdem sie so weit gekommen waren. Die Zeit war knapp, in mehr als einer Hinsicht.

"Ich bin hier", murmelte sie. Encarna schien sie nicht gehört zu haben. Sie strich mit der flachen Seite des Skalpells über die Haut der Vampirin, streichelte ihre Brüste. In ihren Augen glühte ein Funke, den Mel wiederzuerkennen meinte - ein verwässerter Abklatsch, ein winziger Verwandter des gleichen Feuers, das hinter ihren eigenen Schläfen raste, sie von innen her zu übermannen drohte.

Jetzt tu es endlich!

Die Latina nickte leicht, als hätte sie sie gehört, beugte sich zu ihr herunter.

Wieder diese pochende Hitze, diesmal knapp über ihrer rechten Brustwarze. Mel seufzte, nicht aus Lust, sondern, weil der Puls der Lebenden so heftig gegen deren dünne Haut und ihre eigene hämmerte, dass sie der festen Überzeugung war, er würde beide Schichten zerfetzen, auf sie überspringen und ihr eigenes totes Herz wieder schlagen machen. Der bloße Gedanke daran trieb ihr fast das Rot vor die Augen. Sie ballte die Fäuste, biss sich auf die Unterlippe. Wartete. Wartete! Unendliche Sekunden lang.

Das Pulsieren wich einem beißenden kleinen Schmerz, sie spürte die Skalpellklinge durch ihr Fleisch gleiten und stöhnte erlöst auf.

Encarna sog an der Wunde, spreizte die Ränder des Schnittes mit der Zunge wie eine hungrige Katze. Die Hitze ihres Mundes an Mels offenem Fleisch erinnerte sie daran, wie es gewesen war, sich als Lebende zu verletzen, wie es sich anfühlte, einen Körper zu haben, der von selbst auf Reize reagierte, atmete und ein eigenes Leben hatte. Sie verlor sich in der ungewohnten Empfindung, nicht selbst zu trinken, sondern sich zu verströmen.

Ein Teil ihrer selbst schlug Alarm; sie kam schlagartig zurück, packte Encarna im Nacken und zog sie von sich weg. Die zischte wütend, wehrte sich aber nicht. Sie wussten beide, dass das mehr als genug gewesen war.

Mel verschwendete keinen Gedanken daran, die Wunde zu heilen. Sie war sofort auf den Beinen, Encarna immer noch im Nacken gepackt; sie riss sie hoch und warf sie rückwärts auf die Matratze. Kniete über ihr, bevor die Jüngere überhaupt verstanden hatte, was passiert war. Vergessen jeder Gedanke an Tarnung und Überredung, jetzt würde sie gegen nichts mehr etwas einzuwenden haben.

Mel lächelte grimmig.

"Jetzt bin ich dran."

Statt einer Antwort nickte Encarna nur, immer noch mit dem gleichen glücklichen Gesichtsausdruck wie während des Trinkens, richtete sich leicht auf und zog ihr T-Shirt über den Kopf.

"Ich gehöre dir."

Wenn du nur wüsstest, wie recht du hast.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Spamdesu
2010-11-22T21:01:10+00:00 22.11.2010 22:01
Obwohl ich sgaen mus das ich das Thema ja schon debattiert, aber diese Kapitel ist SOOOOOOOO Eindeutig Auf deine Charaktere zugeschnitten, das es schon fast gruselig ist. Ich sag nur. Ob sex ob Gras Jeder hat oder will mal spaß
Von:  vanilla_quicksand
2010-11-10T20:51:45+00:00 10.11.2010 21:51
Das wundervolle Wort "Killerstecher" ist nicht meine Schöpfung.
Exquisite courtesy of Spamdesu. Guckt euch mal seine Geschichten an, die rocken =)


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