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The Basement.

von

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1. Der Anfang

John keuchte.

Er versuchte zu begreifen.

Die Welt um ihn herum war schwarz. Es gab kein Oben, kein Unten. Etwas erdrückte ihn. Ein dumpfes Fiepen klang in seinen Ohren und überdeckte alles.

Er versuchte seine Arme zu bewegen. Seine Sinne waren betäubt. Er wusste nicht, ob er sie tatsächlich bewegte. Eine dumpfe Berührung in seinem Gesicht drang zu ihm hindurch und erschreckte ihn zuerst, verriet ihm aber dass er seine Arme bewegen konnte. Er tastete sein Gesicht ab. Seine Augen. Waren sie geschlossen?

Der Druck wurde stärker.

Etwas stimmte mit seinen Beinen nicht. Er konnte nicht herausfinden was es war. Verzweiflung begann in ihm heraufzukriechen. Es war wie damals, als eine Tretmine nur ein paar Meter von ihm entfernt hochgegangen war und den Boden samt auf ihm befindlichen Kumpanen in tausend Stücke zerrissen hatte:

Gehörverlust.

Sinnesverlust.

Das Blut in seinen Augen führte zur vorübergehenden Einschränkung des Augenlichts.

Und dieser Druck, dieser schreckliche Druck, den er nicht zuordnen konnte.
 

John Watson zwang sich durchzuatmen. Seinen Körper mit Sauerstoff zu versorgen.

Er durfte nicht in Panik verfallen. Es konnte über Leben und Tod entscheiden. Er musste begreifen.
 

Er nahm noch einen tiefen Atemzug, doch etwas stoppte den Luftstrom. Verhinderte das Atmen.

Dann rann es ihm statt der frischen Luft die Kehle hinab und füllte die Lunge mit schmerzhafter Eiseskälte.

Ein starker Würgereflex durchzuckte John, und sein Körper stieß unter Krämpfen das Wasser wieder aus.

Wasser? Ja. Das war es. Wasser.

Er versuchte sofort den Kopf außer Reichweite der Wasseroberfläche zu bringen. Der Gleichgewichtssinn war nach wie vor nicht vorhanden, also hoffte er einfach inständig darauf dass er sich vom Wasser wegbewegte, den Kopf nach oben bewegte.

Dann begriff er auch was mit seinen Beinen nicht stimmte. Sie schwammen.

Der Druck wurde stärker, ging ihn durch Mark und Bein und vor allem durch den Kopf, und mit ihm verstärkte sich das entfernte Fiepen zu einem schmerzhaften lauten Oberton.
 

In einem verzweifelten Versuch dem Druck zu entkommen drehte er sich zur Seite, und sofort wurde sein Körper von Eiseskälte eingehüllt. Wasser füllte wieder seinen Mund, doch diesmal schluckte er es nicht.

Der Schock der Kälte trieb ihm das Adrenalin durch die Adern und brachte seine Sinne zurück. Er tauchte aus dem Wasser auf und fand mit den Füßen halt. Das Wasser ging ihm nur bis zu den Hüften.
 

Er hielt inne. Beruhigte sich. Konzentrierte sich.

Alles um ihn herum war immer noch schwarz. War sein Augenlicht beeinträchtigt?

Nein. Er erkannte schwache Umrisse um sich herum. Das Zimmer, in welchem er sich befand, war abgedunkelt.

Dann erklang ein Summen und eine zur Hälfte beschädigte Neonröhre beleuchtete seine Umgebung.

Das Zimmer war spärlich eingerichtet. Die Wände aus Beton. John befand sich im vorderen Teil des Raumes. Das schwache Licht reichte nicht ganz bis zum Ende, aber er dürfte nicht länger als 10 Meter sein.

Die Neonröhre flackerte und dimmte somit das Licht für einige Sekunden.

Der Druck in Johns Kopf wurde stärker, breitete sich zu einem fast betäubenden Schmerz aus.

Er stöhnte, fasste sich an die Schläfe. Zog die Hand zurück. Betrachtete sie.

Blut.

Er betastete die Wunde. Nicht tief. Keine Schädelfraktur. Zusammen mit dem immer noch anhaltende Schwindel deuteten auf ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma hin, aber das würde ihn vorerst nicht umbringen.

Er tastete schnell den Rest seines Körpers ab, bewegte die Glieder. Aber bis auf einen Venenkatheter in seinem Handrücken fand er keine Veränderungen oder weiteren Verletzungen vor. Er zog die Venüle aus der Haut und sah sich um. Er konnte kaum etwas erkennen.

Hinter ihm ein Tisch, auf den musste er gerade gelegen haben, bis er sich seitwärts ins Wasser gerollt hatte.

Neben ihm ein morsches Regal. Zu seiner Rechten eine alte Holztür.

Sofort watete er darauf zu. Als er die Türklinke umklammerte wurde ihm sofort klar dass es sich um keine normale Tür handelte sondern um ein äußerst stabiles Imitat. Der Griff ließ sich in keinster Art und Weise bewegen. John klopfte dagegen, und der Klang ließ auf einige Zentimeter dickes Metall schließen.

Die Neonröhre flackerte mit einem für sie typischen Klickgeräusch und erhellte den Raum ein bisschen mehr. Da fiel es John auf.

Neben dem Griff in der dünnen Holzbeschichtung waren Striemen eingraviert. In einem der Striemen war etwas Weißes. Ein… Fingernagel?

John keuchte. Er ging einen Schritt zurück, ungläubig auf die Tür starrend. Das waren nicht ein paar Gravuren. Das waren hunderte. Hunderte blutige Kratzer im Holz der Tür. Und neben der Tür, undeutlich zu erkennen, da die Betonwand von braunen Wasserflecken übersät war, blutige Handabdrücke.

Von Kinderhänden.
 

John unterdrückte ein Stöhnen. Die Panik, die er sonst sehr gut unter Kontrolle hatte, drohte ihm in den Verstand zu kriechen. Er atmete tief durch, konnte aber ein Hyperventilieren nicht verhindern.

Warum?

Warum das alles? Wo war er hier gelandet? Wie war er hier gelandet?

Die Neonröhre flackerte und nahm wieder einen Großteil des Lichts, und in Johns Ohren klang es wie ein hämisches Kichern.

Es war unheimlich. Es machte ihm Angst. Alles hier machte ihm Angst. Übernatürliche Angst. Der Raum um ihn herum schien sich zu bewegen.

Er schüttelte den Kopf als könne er damit die Angst von sich lösen.
 

Dann berührte ihn etwas an der Hüfte.
 

Er drehte sich um.

Konnte einen Schrei gerade noch unterdrücken.

„Guter Gott“ wimmerte er in seine Faust und torkelte rückwärts gegen die Tür.

Der Mensch, der ihn berührt hatte, trieb langsam von ihm weg, zurück hinter den Tisch, den Kopf vornüber im Wasser, die Glieder leblos und aufgedunsen, auf und ab wippend durch die von ihm ausgelösten Wellen.

Es war offensichtlich eine Frau.

Eine Leiche. Er war eingesperrt mit einer Wasserleiche. In einem überschwemmten Raum.

Die Neonröhre flackerte. Erhellte wieder die Umgebung. Und dann fiel ihm der Satz auf.

Mit großen, roten Lettern stand an der Wand hinter dem treibenden Leichnam:

„WER HAT SIE ERMORDET???“

John biss sich in die Faust. Er begriff nicht. Das alles ergab keinen Sinn. Was war das für ein Spiel? Er versuchte verzweifelt seine Gedanken zu ordnen. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er zu Bett ging.

Konnte das wirklich sein? Jemand war in seine Wohnung eingebrochen, hatte ihn durch einen Schlag an die Schläfe betäubt, wahrscheinlich intravenös über den Katheter weiter bei Bewusstlosigkeit gehalten. An sich herabsehend erkannte er dass er die Kleidungsstücke vom Vorabend trug, nicht seinen Pyjama. Jemand hatte ihn umgezogen. Hatte ihn hierher, an diesen Tatort, gebracht. Hatte weiß Gott was mit ihm angestellt.

Hilflosigkeit übermannte ihn. Verzweiflung.

„Hallo?!“ schrie er und watete wieder zur Tür. Seine Stimme brach vor Angst.

„Hallo, irgendjemand! Irgendjemand! Ist irgendjemand da? Kann mich jemand hören? Sherlock?!“

Sherlock.

Sherlock!

Erst jetzt kam es ihm. John wollte es gar nicht bestreiten, ja, er hatte Feinde. Menschen, die ihm Böses wollten. Aber das war nichts im Vergleich zu den Feindschaften seines Arbeitspartners und Freundes Sherlock Holmes. Wenn sie John in eine derartige Lage gebracht haben, was mussten sie erst mit Sherlock gemacht haben? Schlimmeres?

„Sherlock? Sherlock! Hören Sie mich?!“ schrie er nun lauter und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Das dicke Metall unter der Holzfassade schwächte erbarmungslos die Wucht seiner Schläge zu einem dumpfen Ton ab. John begriff sofort dass ihn hinter der Tür, sofern sich dort jemand aufhielt, niemand hören würde. Trotzdem hämmerte er weiter, es war das Beste, das ihm in diesem Moment einfiel. Bis sich etwas in seinen Augenwinkeln bewegte.

Die Leiche.

Sie erhob sich aus dem Wasser.

Vor Schock erstarrt hielt John inne, unfähig sich zu bewegen.

Das konnte nicht sein. Das war nicht real. Das war nicht real. Das war nicht real.

John schluckte. Und drehte langsam den Kopf zu ihr um.

Doch die Frau trieb immer noch an derselben Stelle, in derselben Position.

Er rieb sich über das Gesicht. Halluzinierte er? Er bestastete abermals die Wunde an seiner Schläfe. Der Knochen war vielleicht doch beschädigt. Vielleicht hatte er doch eine schwerwiegendere Gehirnerschütterung.

Er wandte die Augen von der Leiche ab. Ihr Anblick löste in ihm eine derartige Beklemmung aus dass ihm übel wurde. John wollte sie nicht sehen. Er wollte gar nichts von alledem sehen. Nicht die schmutzigen graubraun gefleckten Wände, nicht das schwarze Wasser dessen Kälte ihm wie ein Parasit in die Knochen kroch, nicht diese nervenaufreibende Neonlampe. Er wollte nach Hause, in die warme Atmosphäre von seinem Apartment mit Sherlock in 221b Baker Street. Er wollte auf seinen Lieblingssessel und ein gutes Buch lesen. Er wollte Sherlock beim Arbeiten zuhören.

Er schluckte.

Nein. Nein. Was war nur los mit ihm? Das war nicht seine Art. Sich wie ein Kind in schöne Gedanken flüchten, sich selbst beweinen. Das war nicht er selbst.

„Reiß dich zusammen“ sprach er laut aus. Das half. Der befehlerische Ton brachte ihn wieder auf halbwegs klare Gedanken. Dann erteilte er sich selbst noch einen weiteren Befehl.

„Denk nach.“
 

Man verlangte offensichtlich etwas von ihm. Er überflog nochmal die großen Lettern an der Wand. Sollte er den Mordfall aufklären? Wie sollte das möglich sein? Nur mit dieser Leiche? In einem abgeschlossenen Raum? Ohne Hilfsmittel? Sherlock konnte das vielleicht herausfinden, aber doch nicht er. Er war Arzt. Er war kein Detektiv. Allenfalls der konsultierende Hilfsdetektiv eines konsultierenden Detektivs.

Aber wahrscheinlich steckte Sherlock gerade selbst in einer ähnlichen Situation.

Oder einer schlimmeren? Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe ihn zu kontaktieren, ihn zu …

John hielt inne.

Man hatte ihm seine Jacke angezogen. Vielleicht hatte er das unfassbare Glück dass man sein Handy nicht daraus entfernt hatte und dass es vom Wasser nicht beschädigt wurde.

Er durchforstete die Taschen. Ein Stück Plastik glitt ihm zwischen die Finger. Aus seiner Brusttasche zog er ein wasserdicht verschlossenes Tütchen mit seinem Handy darin.

Kein Zweifel. Jemand wollte die Funktionalität gewährleisten. Wollte, dass John Watson es für Irgendetwas verwendet.

Es sollte ihn eigentlich alarmieren.

Aber er war mit seinen Nerven am Ende. Er wollte einfach nur noch Hilfe.
 

Als Sherlock den Anruf annahm klang er noch schlaftrunken.

„John, wissen Sie, wie viel Uhr es ist?“ brachte er wütend hervor und John konnte das Rascheln von Bettwäsche hören. Sherlock musste noch zu Hause sein. John fiel ein Stein vom Herzen, aber zugleich verwirrte ihn diese Information und verstärkte seine Angst. Sherlock war nicht eingesperrt. Sherlock war nicht entführt worden. Man hatte es nur auf ihn selbst, John, abgesehen.

„Nein, weiß ich nicht“ erwiderte John. Abermals brach seine Stimme.

Sherlock achtete nicht darauf.

„Sind Sie denn nun völlig umnachtet, John Watson? Wegen was für einer Kleinigkeit stören Sie mich nun schon wieder? Hat wieder eine Freundin Schluss gemacht?“ brachte er wütend hervor und fuhr ohne auf Antwort zu warten im theatralischen Ton fort: „Ach wie leid mir das tut, et cetera, gute Nacht.“

Normalerweise hätte dies John einen Stich versetzt, worauf es Sherlock wohl auch abgesehen hatte, denn er mochte es nicht gestört zu werden, bei was auch immer. John konnte daran aber im Moment keinen Gedanken verlieren.

„Sherlock“ setzte er mit kratziger Stimme an, doch die restlichen Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Er konnte hören, wie sich die Leiche hinter ihm wieder aus dem Wasser erhob.

Sein Freund, nicht besonders empfänglich für die emotionale Beschaffenheit seiner Mitmenschen, reagierte erbost.

„Was denn, Mann!“ rief er entnervt.

Die Worte krochen fast unhörbar über Johns Lippen.

„Helfen Sie mir.“

Sofort verstummte Sherlock. John konnte das Geräusch der aneinander reibenden Stoffe und Federn der Decke nicht mehr hören. Schon befürchtete er dass die Leitung unterbrochen worden war, als Sherlock mit einem alarmierten Tonfall sagte:

„Wo sind Sie.“

Gurgelnde Geräusche hinter John. Seine Glieder versteiften sich. Das ist nicht echt, dachte er. Das ist nicht echt, das ist nicht echt, das passiert nicht. Das ist nicht echt.

„Was ist nicht echt.“ sagte Sherlock und fügte hinzu: „Sie sagten gerade ‚Das ist nicht echt.‘ Sind Sie bei vollem Bewusstsein, John? Bedroht Sie jemand? Beobachtet sie jemand? Summen Sie ein Lied, wenn Sie verhindert sind zu antworten. Oder drücken Sie auf eine Taste.“

Die Neonröhre klickte. Sie flammte für einen Sekundenbruchteil auf und erhellte den ganzen Raum, dann stellte sie ihr Licht ein und hüllte alles wieder in Dunkelheit.

John verkrampfte sich. Er konnte hören wie die Leiche hinter ihm mit den Fingernägeln über das Holz des Tisches kratze, dann das Knarzen des Tisches das verriet dass ihn etwas mit Gewicht beschwerte.

Sein ganzer Körper war paralysiert, seine Finger wie ein Schraubstock um das Handy geklammert, seine Kehle wie zugeschnürt. Er konnte sich weder bewegen noch einen Laut von sich geben, selbst der Atem versagte ihm.

Aus dem Handy klangen Geräusche von zuschlagenden Türen, dann Musik.

„John“, drängte Sherlocks Stimme, und ein Funken Verzweiflung schien in seinem Tonfall mitzuschwingen, als wüsste er nicht genau was er machen sollte. „Geben Sie mir ein Zeichen.“

John wollte. Aber er konnte nicht. Die Angst schnürte ihn immer mehr ein. Er wollte sprechen, aber sie ließ ihn nicht. Die Leiche hinter ihm könnte ihn ja hören.

Nein.

Das war nicht real.

Nein.

„NEIN!“ schrie John plötzlich laut, halb zu sich, halb zur Bedrohung hinter ihm, und drehte sich dabei mit einem Ruck um. „NEIN!“ wiederholte er und leuchtete mit dem Handy in die Richtung der Leiche.

Sie war nicht da.

Die Neonröhren flackerten und erhellten wieder die Umgebung.

Die Leiche trieb immer noch an derselben Stelle wie vorher.

Schnell zog John das Mobiltelefon wieder an sein Ohr. „Sherlock!“ schrie er hysterisch.

„Ja. Was. Reden Sie mit mir“ sagte Sherlock ruhig und schnell, aber die Angst war nun ein merklicher Beiklang in seiner Stimme. Als hätte sie sich wie ein Virus auf ihn übertragen, ihn infiziert, dachte John.

„Ja!“ sagte er und wischte sich über sein Gesicht, behielt die Leiche fest im Blick. „Ich bin hier eingesperrt, es ist Wasser überall, die Frau, die Frau ist tot, die Kratzer –„

Er hielt inne. Ihm kam plötzlich ein Gedanke.

„Beruhigen Sie sich“ erklang es aus dem Handy.

„Nein. Nein. Sherlock. Sie sind es, nicht wahr? Sie spielen wieder mit mir. Machen Experimente. Sie –„

„Nein.“ unterbrach ihn Sherlock mit fester, tiefer Stimme.

Aus irgendeinem Grund glaubte John ihm sofort.

Als Sherlock nun sprach klang seine Stimme gefasster, ernster. Es waren keine Anzeichen der Angst in den folgenden Worten zu hören.

„Was ist passiert.“

Es war die völlige Ungewissheit, die ihn verzweifelt machte, pochte irgendwo ein klarer Gedanke unter Johns Angst hervor. Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf diesen Gedanken, denn er war logisch, plausibel, deutlich. Anders als die undurchschaubare Angst. Er wollte nicht wieder in wirre Panik verfallen.

„Ich weiß es nicht“ antwortete er gefasster. „Ich bin in einem Keller…“

Aus dem Handy erklangen undeutliche Worte von Mrs. Hudson. Sherlock reagierte nicht darauf und John konnte das ihm bekannte Einrasten der Haustüre ins Schloss von 221B hören, dann Straßenlärm.

„Was ist in dem Keller? Können Sie zu den Fenstern hinaussehen? Können Sie Autos sehen? Wie lange hat die Fahrt gedauert? Wie war die Beschaffenheit der Straße? Aus welchem Material sind die Wände des Kellers? Das Mobiliar? Wie schlimm ist die Wunde am Kopf?“ strömte es aus dem Handy.

John fasste sich wieder an die Schläfe. Es fiel im schwer die Fragen zu verarbeiten und im Kopf zu behalten.

„Ich bin, Ich …“ sagte er zögernd, „Ich … Moment. Woher wissen Sie, dass ich verletzt bin?“

„Es war Blut auf ihrem Kopfkissen.“ Gab Sherlock ihm schlicht als Antwort.

Für einen unpassenden Augenblick empfand John einen Anflug von Scham.

„Mehrere Zeichen von Gewalteinwirkung. Drei oder vier Männer, kräftig. Sie müssen irgendwann heute Nacht zwischen 1 und 6 entführt worden sein, da Ihr Radiowecker, der auf 6:00 Uhr eingestellt war, lief. Das bedeutet ihr jetziger Standort muss in 4, allerhöchstens 5 Stunden erreichbar sein. Ihre Nummer wird nicht mit Landesvorwahl angezeigt, das heißt Sie befinden sich noch in England. Einen Transport per Flugzeug können wir wohl ausschließen, zu viel Arbeit, zu viel Zeit. Ihr Pyjama lag zerknittert in der Ecke, also war es den Entführern aus irgendeinem Grund wichtig dass sie warm oder akkurat gekleidet sind. Vermutlich nur aus Höflichkeit. Ihre Schränke sind unberührt und kein weiteres Kleidungsstück wurde entnommen, also ist ihr Aufenthalt wohl … zeitlich begrenzt.“

Sherlock sprach die letzten Worte besorgt aus.

„Sie waren in meinem Zimmer…“ brachte John hervor.

„Nun, das war nicht das erste Mal.“ erwiderte er und John konnte ihn lächeln hören. „Es gibt jedes Mal interessante Informationen von sich und hilft ein bisschen gegen die Langeweile.“

Es war wohl mehr scherzhaft als ernst gemeint, und überraschenderweise beruhigte es John ein bisschen. Müde brachte er sogar ein Lachen, das mehr nach einem Keuchen klang als alles andere, hervor.

Sherlock schien erleichtert darüber zu sein dass Johns Situation ein Lachen, wenngleich nervöser Natur, erlaubte, denn er fuhr ruhiger als zuvor fort: „Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.“

John atmete durch.

„Ich bin gestern zu Bett gegangen und heute hier aufgewacht, in meiner Kleidung von gestern. Ich habe eine Wunde an der Schläfe und wohl eine mittelschwere Gehirnerschütterung. Hier sieht es alt aus, wie in einem Keller, aber die Tür ist in Holz verkleidet. Sie ist eigentlich aus Metall, wie bei einem Safe oder so. In der Tür sind blutige Kratzer und Fingernägel eingeschlagen, und neben der Tür blutige Handabdrücke von Kinderhänden, Sherlock. Kinderhände. Hier ist auch eine Leiche. Eine Frau. Sie treibt im Wasser. Ah, Wasser, ja. Das ist hier auch überall. Es geht mir bis zur Hüfte.“

Er brachte sich Sherlocks Fragen wieder ins Gedächtnis und sah sich um.

„Hier gibt es einen Tisch, auf dem ich lag als ich aufgewacht bin, er ist aus Holz. Und ein Regal mit irgendwelchen Kram darauf. Ich glaube am anderen Ende des Raumes steht noch ein Regal, aber ich kann das nicht genau sehen. Es gibt zwei Fenster die wohl zur Oberfläche führen, aber sie sind vergittert und die Laubgitter hinter dem Kanal sind komplett abgedunkelt, man kann nichts sehen. Autos höre ich auch nicht. Ich höre gar nichts von draußen.“

Schnell nahm er wieder wachsam die Leiche in Augenschein. Sie bewegte sich nicht im Geringsten. John gestatte sich den hoffnungsvollen Gedanken dass die Halluzinationen nachzulassen schienen.

„An der Wand steht in Großbuchstaben und in roter Farbe geschrieben ‚WER HAT SIE ERMORDET‘ mit drei Fragezeichen dahinter. Soll ich nachsehen ob ich bei den Fenstern irgendwie die Abdunkelung entfernen kann?“

Eine Weile geschah nichts. John konnte durch das Handy den Straßenverkehr hören, aber Sherlock schwieg. John ließ ihm Zeit, denn er kannte ihn und wusste dass er nachdachte. Als sich sein Schweigen jedoch in die Länge zog spürte er, wie die Angst ihm allmählich wieder in die Glieder kroch. Sein Körper begann sich wieder zu verkrampfen, geriet in Alarmbereitschaft.

Etwas stimmt nicht.

„Sherlock…“ begann er.

Er konnte Sherlock ausatmen hören. Es klang unheilvoll.

„Sherlock!“

„Haben Sie etwas Eigenartiges an?“ fragte er schnell.

John sah verwirrt an sich herab. „Was – ? Nein, meine Sachen von gestern. Jacke, Hose.“

„Öffnen Sie ihre Jacke. Tragen Sie darunter ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt mit einer schwarzen Flagge und einem weißen Totenkopf darauf?“
 

John verstand diese Frage nicht, tat jedoch wie geheißen. Er klemmte das Handy zwischen seine Schulter und sein Ohr und öffnete die Jacke mit beiden Händen. Dann sah er an sich herab. Seine Augen weiteten sich.
 

„Ja“, stieß er perplex hervor.
 

Als er jetzt sprach nahm Sherlocks Stimme einen eigenartigen Klang an. Hohl, schwach. Wie bei einem Arzt, der eine ernste Diagnose stellte. Mehr zu sich selbst als zu seinem Patienten.

„Sie sind im Basement, John. Sie befinden sich in den Grundmanifesten meines Mind Palace.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  TommyGunArts
2013-04-07T16:31:06+00:00 07.04.2013 18:31
Ich bin mal hier hereingeschneit und dachte mir: Lies doch einfach mal. Und ja, das tue ich jetzt ;)

Sein Freund, nicht besonders empfänglich für die emotionale Beschaffenheit seiner Mitmenschen, reagierte erbost.
-> Oh ja, das ist Sherlock! :D Sehr treffend formuliert!

„Nein. Nein. Sherlock. Sie sind es, nicht wahr? Sie spielen wieder mit mir. Machen Experimente. Sie –„
-> xDD Ja richtig, die gemeinen Experimente von Sherlock. Um ehrlich zu sein, ich wäre gar nicht darauf gekommen, aber irgendwie ist das schon naheliegend. Guter Gedankengang also!

Es war die völlige Ungewissheit, die ihn verzweifelt machte, pochte irgendwo ein klarer Gedanke unter Johns Angst hervor. Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf diesen Gedanken, denn er war logisch, plausibel, deutlich.
-> Diese Beschreibung ist wirklich gelungen! Die Worte sind sehr gut gewählt

Aus dem Handy erklangen undeutliche Worte von Mrs. Hudson.
-> Jawoll! Du hast die alte Quaselltante nicht vergessen :D Toll, das du sie im Hintergrund auftauchen lässt.

„Was ist in dem Keller? Können Sie zu den Fenstern hinaussehen? Können Sie Autos sehen? Wie lange hat die Fahrt gedauert? Wie war die Beschaffenheit der Straße? Aus welchem Material sind die Wände des Kellers? Das Mobiliar? Wie schlimm ist die Wunde am Kopf?“
-> Typisch Sherlock. Überhaupt nicht zu viele Fragen oder so xD Wobei... habe ich was überlesen oder woher weiß er das mit der Wunde am Kopf?

„Ich … Moment. Woher wissen Sie, dass ich verletzt bin?“
-> Oh, gut, das fragt er sich auch :D

... also ist ihr Aufenthalt wohl … zeitlich begrenzt.
-> Nicht schlecht! Genial wie immer! Du stellst Sherlock wirklich sehr authentisch dar, gefällt mir!

„Sie waren in meinem Zimmer…“ brachte John hervor.
-> xDD Super! In den irrsinnigsten Situationen wird dann ein kleiner Streit über etwas total belangloses entfacht. Klasse!

John konnte ihn lächeln hören
-> Wie hört man denn jemanden lächeln? Ich meine, beim lächeln geht es ja darum, geräuschlos die Mundwinkel nach oben zu richten... Oder ist das im übertragenen Sinne gemeint?

eine mittelschwere Gehirnerschütterung.
-> :D Da spricht der Arzt in ihm

mit irgendwelchen Kram darauf
-> es müsste "irgendwelchem" heißen

Gedanken dass die Halluzinationen nachzulassen schienen
-> Der Fehler ist mir öfter aufgefallen: Vor ein dass mit doppel s kommt immer ein Komma. Nur in Ausnahmefällen wird keins gesetzt.

Sie befinden sich in den Grundmanifesten meines Mind Palace
-> Ohaa. Ein toller Cliffhanger, der auf jeden Fall Lust auf mehr macht!

Ein tolles erstes Kapitel, das mich definitiv gepackt hat. Ich habe Bock auf mehr. Du beschreibst John und Sherlock sehr gut. Ist das in Anlehnung an die Serie? Denn die beiden kommen tatsächlich rüber, wie in der Serie.
Du schreibst spannend und sorgst für einen tollen Fall. Wen ich jetzt noch cool fände wäre Moriarty :D
Ich bleibe auf jeden Fall dabei.
lg
E. Ternity


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