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Du bist nicht hier

Im Wandel der Jahreszeiten
von

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Winter

Winter
 

Du bist nicht hier. Das weiß ich.

Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln. Ich suche den Weg mit den Augen ab. Eine weiße Pulverdecke, umringt von verschneiten Bäumen, kahlen Ästen und Zweigen, dunklen Sträuchern. Verschiedenste Fußspuren begegnen mir. Manchmal bleibe ich stehen und betrachte sie, versuche zu bestimmen, wer hier entlanggegangen ist.

Mensch und Tier gleichermaßen. Ich erkenne die Schritte eines Huftieres, dann die Pfotenabdrücke eines Hundes.

Tränen verschleiern meinen Blick.

Es könnte der Wind sein.

Die eisige Luft, die mir ins Gesicht bläst.

Aber sie ist es nicht.
 

Ein erneutes Knirschen zerschneidet die Stille, als ich weitergehe.

Du bist nicht hier. Doch ich wünschte, du wärest es. Ich stelle mir vor, wie du durch den Wald läufst. Freudig. Sorglos. Kein Mensch hätte unbekümmerter als du sein können.

Das ist nicht nur irgendein Weg. Das ist unser Weg.

Wir kannten ihn wie unsere Westentasche. Das erste Stück verlief immer gleich. Du bliebst stehen, wartetest, bis ich kam und liefst erst los, als ich dir zunickte und hinterherhetzte. Dein Blick voller Vorfreude brachte mich so oft zum Lachen. Deine Energie steckte mich an, durchströmte mich, ließ mich Dinge tun, die mir vor jedem anderen peinlich gewesen wären, nur nicht vor dir.

Wir waren ein Team. Du kanntest alle meine Geheimnisse, Ängste und Vorlieben, so wie ich deine kannte. Du machtest mir Mut, andere Leute kennenzulernen. Du wusstest, dass ich schüchtern war und mich unscheinbar fühlte, doch in deiner Gegenwart wurden Menschen auf mich aufmerksam. Es entwickelten sich nette, herzliche Gespräche, manche länger, manche kürzer. Dank dir gewann ich Freunde.

Du hast mir gezeigt, was es heißt, zu leben.
 

Ich lasse mich fallen. In den Schnee. Die Flocken verfangen sich in meinen Haaren, benässen mein Gesicht.

Dieser Winter hätte dir gefallen, wie jeder andere zuvor. Kälte machte dir nie etwas aus. Ungestüm wärest du durch den Schnee gepflügt, hättest gefrorene Stöcke und zerrissene Blätter gesammelt.

Du liebtest die Natur.

Du liebtest diesen Wald, diesen Weg.

Und mehr als alles andere liebtest du mich.
 

Plötzlich durchzuckt mich ein weiterer Blitz der Furcht, des Unglaubens, des Entsetzens wie an jenem Tag, als ich deine Augen für immer schloss.

Du kannst nicht weg sein. Nach all diesen Jahren kannst du nicht einfach verschwunden sein. Wie soll ich das alles schaffen ohne dich? Ich brauche dich, deine Zuversicht, deine Wärme. Es war ein Traum. Es ist nicht wirklich.

Du versteckst dich nur. Mit einem Mal erscheint es mir so glaubwürdig, dass ich mich gezwungen sehe, meine Umgebung erneut abzutasten.

Die knorrige Eiche zu meiner Linken; hinter dieser könntest du kauern mit einem schelmischen Ausdruck, stolz, weil du mich so lange zu täuschen wusstest. Ich springe auf, stolpere um den Baum herum, halte inne. Da ist keiner.

Unfähig, aufzugeben, haste ich den schneebedeckten Hang hinauf, rutsche an einem Ast aus.

Den Aufprall spüre ich kaum, ebensowenig die Kälte, die sich in meine Glieder frisst; krieche weiter zu der dünnen Fichte.

Der Moment der Verleugnung stirbt. Du bist nicht hier, stelle ich zum dutzenden Male in so wenigen Augenblicken fest.
 

Die Tränen, die mit dem Schnee verschmelzen, laufen stumm meine Wangen hinunter.

Ich weine tonlos, ohne ein Wort, ohne auch nur den Hauch eines Schluchzens.

Aber innerlich tobe ich, schreie, kreische, stürze mich auf den Tod, der dich hinfortnahm.

Dein glückliches Jauchzen fehlt, dein Grinsen, als du mich anstupstest und mir selbst ein Lächeln entlocktest, unsere Schatten, die zwischen uns tanzten.

Denn dieser Weg ist nicht mehr derselbe.

Nichts ist es mehr.



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