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Die Wand

von

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Ein wenig schade war es schon, dass alles so hatte enden müssen. Es waren einige Jahre vergangen, seit sie Dominik das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte ihn schon fast vergessen, doch hin und wieder musste sie heute noch lachen, wenn sie an ihn dachte. Selten hatte sie einen so dickköpfigen Jungen wie ihn gesehen. Er war niedlich gewesen, auf seine Art. Hätte er nicht immer so grimmig dreingeschaut, wäre er vielleicht sogar richtig hübsch gewesen.
 

So richtig aufgefallen war er ihr erst im letzten Jahr vor dem Abitur.
 

Es gab diese gewissen Rituale, die zu Beginn jedes neuen Schuljahres wiederholt wurden. Man begrüßte sich, erzählte sich vom Urlaub, welche Videospiele man ausprobiert hatte, und von den durchgefeierten Nächten. Egal, wie sehr sie Marion am Ende des letzten Jahres manchmal auf die Nerven gegangen waren, nach sechs Wochen Ferien vermisste sie ihre Schulfreunde sehr. Das einzige, worauf sie hätte verzichten können, war die Neuverteilung der Sitzplätze. Man hatte sich so aneinander gewöhnt, hatte Absprachen zum Abschreiben von Arbeiten getroffen und unter der Bank inoffizielle Verträge über die Verteilung von Hausaufgaben abgeschlossen, sodass es schwer war, sich an einen neuen Banknachbarn zu gewöhnen. Doch die Lehrer waren nicht dumm und hatten sehr wohl gemerkt, wie sie die Abschreibraten minimieren konnten.
 

So kam es, dass Marion dieses Jahr im Physikraum neben Dominik sitzen musste. Nicht, dass sie etwas gegen Dominik gehabt hätte. Sie kannte ihn nur kaum. Er lungerte während der großen Pause normalerweise in der Bibliothek herum, meldete sich selten und machte auch ansonsten keine Anstalten, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er war nicht einmal besonders hübsch.

Marion lugte dennoch immer wieder zu ihm hinüber. Seine langen Haare verdeckten sein Gesicht zu ihrer Seite, doch sie konnte seine Hälfte des Tisches sehen. Sie war es gewohnt, dass die Jungs ihre Hefter mit großer Sorgfalt behandelten. Wenn sie nur an Gabriels Bio-Hefter dachte, den sie sich letztes Jahr zum Lernen ausgeliehen hatte. Als ob es eine Kunst wäre, war jede Überschrift mit anderen Farben unterstrichen, manche sogar mit Wellenlinien, wenn sie besonders wichtig waren. Geschnörkelte Handschrift, akkurate Zeichnungen von Pflanzenzellen, kein einziger Knick im Blatt.
 

Dominiks Hefter dagegen ähnelte eher Marions. Er hatte, gelinde gesagt, eine Sauklaue. Überall war die Tinte verschmiert, und an den Rändern war alles mit abstrakten Mustern vollgekrakelt. Marion gluckste.
 

Doch das Lachen verging ihr schnell.
 

„Marion, möchtest du uns aufklären, was an Dominiks Heft so lustig ist?“, fragte Frau Brecht schroff.
 

Dominiks Kopf schreckte nach oben und er starrte Marion verblüfft an. Marion, auf dem falschen Fuß erwischt, glotzte nur irritiert zurück. Dominik hatte sie noch nie direkt angesehen. „Nichts, gar nichts!“, stammelte Marion als Antwort, Frau Brecht seufzte und führte den Unterricht fort.
 

Dominik jedoch ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Fragend hob er eine Augenbraue. Marion, die sich inzwischen gefangen hatte, zuckte nur mit den Schultern und grinste. Sie hörte ihre Freundinnen von hinten lachen.
 

„Na, was geht denn da?“, fragte Theres in der Hofpause und klopfte Marion auf den Rücken. „Machst du dich etwa an den Kleinen ran?“ Die anderen Mädchen scharten sich um sie, neugierig auf diese Begegnung der dritten Art.
 

„Klar. Du weißt doch, ich steh auf verklemmte Brillenschlangen“, gab Marion zurück.
 

Gabriel, der sich gerade dazu gesellt hatte, rief dazwischen „Und auf fette Hintern wohl auch?“
 

Marion kicherte und sagte dann beschwichtigend „So fett ist er eigentlich gar nicht. Ist nur schwer zu erkennen unter diesen unförmigen Kapuzenpullovern.“
 

„Was auch immer du sagst! Tja, Liebe macht wohl doch blind.“ Gabriels Kommentar sorgte für Gelächter unter den Mädchen, in das auch Marion mit einfiel.
 

„Aber mal ehrlich, bring ihn ruhig mal rüber! Und wenn es nur ist, damit wir was zum Lachen haben“, forderte Theres Marion auf. „Der Arme hängt doch sonst den ganzen Tag allein herum.“
 

Kapuzenpullover und das Gewitzelei der Mädchen hin oder her, aus irgendeinem Grund fühlte Marion, dass sie Dominik tatsächlich gerne kennen lernen würde. Es waren wahrscheinlich die Zeichnungen an seinem Heftrand gewesen. Marion interessierte sich ein wenig für das Zeichnen, tat es aber relativ selten seit Theres sie vor ein paar Jahren damit aufgezogen hatte. „Willst du Sprayer werden oder was?“, hatte sie eines Morgens vor den anderen gefragt.
 

„Nein, wieso?“
 

„Dann hör endlich auf, dich beim Kunstlehrer einzuschleimen und lass den Quatsch.“
 

Damals hatte keiner gelacht.
 

Dominik anzusprechen war schwerer als gedacht. Normalerweise hatte Marion keine Probleme, auf Jungs zuzugehen. Doch Dominik wirkte so verschlossen und… anders. Aus irgendeinem Grund machten sie die Blicke der Mädchen, die sie im Nacken spürte, nervös. So folgte sie dem Jungen in der Pause in die Bibliothek. Dort saß er im hintersten Gang gegen das Regal gelehnt und las. Auch jetzt musste Marion ihren ganzen Mut zusammenkratzen, um ihn anzusprechen.
 

„Hey, ehm…“ Was für ein Einstieg, dachte Marion und rollte innerlich die Augen über ihre plötzliche Unbeholfenheit.

Dominik hob den Kopf und schaute sie mit demselben perplexen Gesichtsausdruck an wie kurz zuvor in Physik, als ob er gerade Regen von unten nach oben fallen sähe.
 

Marion startete einen gewagten Versuch, das Eis zu brechen, und fragte „Was liest du da?“
 

„Charles Brontë“, antwortete Dominik mit gehobenen Augenbrauen.
 

Auf die darauf folgende ahnungslose Stille hin lächelte Dominik verlegen. „Ist nicht so wichtig. Was wolltest du?“
 

Marion setzte sich vor ihm auf den Boden und hob die Schultern. „Keine Ahnung, einfach quatschen?“
 

Dominik wirkte nun allmählich skeptisch. „Quatschen?“
 

„Ja klar! Oder ist daran was verkehrt?“ Marion zwang sich zu ihrem unbekümmertsten Grinsen.
 

„Glaub nicht, dass ich nicht mitbekommen habe, wie du mit den anderen über mich geredet hast“, murmelte er nun äußerst verdrießlich.
 

„Oh, das…“ Marion kratzte sich verlegen den Hinterkopf. „Das war doch nur Spaß!“
 

„Dann gehen unsere Vorstellungen von Spaß ziemlich weit auseinander.“
 

Sie seufzte. „Hör mal… War nicht so gemeint, okay?“
 

Dominik zuckte als Antwort mit den Schultern. Er schien immer noch gekränkt, aber auch neugierig. Für ihn war die Situation offensichtlich genauso neu und ungewohnt wie für Marion.
 

Peinliche Stille trat ein.
 

„Ich hab gehört, du brauchst Nachhilfe in Physik?“, platzte Dominik plötzlich heraus.
 

Marion war erst verwirrt, dann musste sie lachen. Dieser Junge war wirklich eine Klasse für sich.
 

Sie einigten sich auf ein wöchentliches Treffen im Arbeitsraum. Sie nahmen sich anfangs beide nicht viel, was ihre Ungelenkheit betraf, doch da es einiges an Stoff vom letzten Jahr zu wiederholen gab, fiel das nicht weiter auf. Dominik war wirklich außerordentlich gut in Physik. Er hatte ein so natürliches Verständnis für die komplizierten Rechnungen, und zu allem Überfluss war er auch noch gut darin, es zu vermitteln. Mit seiner Hilfe wurde Marions unbeliebtestes Fach schnell weniger und weniger zu einer Bedrohung.
 

„Wie kommt es eigentlich, dass du so gut in Physik bist?“, fragte Theres mit skeptischem Seitenblick.
 

„Ich weiß nicht“, murmelte Dominik. Seit Marion angefangen hatte, ihn in den Hofpausen zu ihren Freunden mitzunehmen, hatte sie festgestellt, dass Dominik in Theres‘ Gegenwart sehr still wurde.
 

Doch waren er und Marion allein, war die Schüchternheit wie weggeblasen. Inzwischen blieben sie nach den Nachhilfetreffen normalerweise noch eine halbe Stunde, um über dies und jenes zu reden. Marion hatte festgestellt, dass Dominik nicht nur ihr Interesse am Zeichnen, sondern auch ihre Begeisterung für Videospiele teilte. Anfänglich kurze Austausche über den einen oder anderen Titel weiteten sich schnell auf stundenlange Gespräche aus. Sie gingen nach der Schule zusammen in den Videospielladen um darüber zu debattieren, wer sich welches Spiel holen würde, damit sie sie später tauschen konnten.
 

Zur Veröffentlichung des neuen Teils ihrer Lieblingsreihe lud Marion Dominik zu sich nach Hause ein, um es mit ihm zusammen auszutesten. Am Controller sah Marion ihn auftauen wie nie zuvor. Aus dem sonst so zurückhaltenden Jungen wurde eine völlig andere Person. Wenn es eng wurde, fing er an zu Fluchen wie ein Rohrspatz. Zusammen lachten und schimpften sie, diskutierten darüber, wer als nächstes spielen durfte, gaben sich Tipps. Und nicht nur das: Mit Dominik ließ es sich wunderbar über die Figuren und Handlung des Spiels reden.
 

Mit keinem ihrer Freundinnen hatte Marion jemals so viel Spaß beim Spielen gehabt. Sie waren sich einig: Dieses Treffen musste wiederholt werden. Es wurde zu einem festen Termin ihrer Wochenplanung.
 

Theres und Gabriel zerrissen sich selbstverständlich die Mäuler, doch Marion nahm es mit Humor. Auch wenn Theres stichelte, dass sie nicht nur Nachhilfe in Physik, sondern sogar beim Zocken brauchte, und das auch noch von einem Jungen. Doch ein wenig unzufrieden war Marion schon, dass es mit Dominik und den anderen so gar nicht klappen wollte.
 

„Wieso versuchst du nicht mal, dich ein bisschen anzupassen?“, fragte sie eines Nachmittags als Dominik gerade an einer kniffligen Passage eines Shooters festhing.
 

„Was meinst du damit?“, fragte Dominik geistesabwesend, konzentriert auf den Bildschirm starrend.
 

„Keine Ahnung… benutz doch mal ein bisschen Make-Up oder so.“
 

Dominik schürzte die Lippen, sein Gesicht wurde noch angespannter.
 

„Hast du was gegen Make-Up?“
 

„Nein“, entgegnete Dominik kurz angebunden. „Aber es ist doch auch okay, wenn man keines trägt.“
 

„Schon, aber mit wärst du bestimmt hübscher!“
 

Dominiks Schild zerbarst und mit einem einigen gezielten Schuss des Gegners war er besiegt. Genervt seufzend drückte er Marion das Pad in die Hand. „Du trägst doch auch keins.“
 

Marion kicherte. „Na klar trag ich keins!“ Nach fünf Minuten hatte sie die Passage freigemacht.
 

Die Wochen gingen dahin und mit ihnen die eine oder andere Klassenarbeit. Physik lief ungewohnt gut seit Marion auf Dominiks Hilfe setzte. Endlich war die Zeit vorbei, da sie vor jeder Arbeit und vor jedem bewerteten Test bangen musste.
 

Manchmal fragte Marion sich allerdings, ob Dominik sich mit der Zeit veränderte, oder ob er einfach nur ehrlicher wurde. Immer seltener reagierte er auf Frotzeleien der anderen mit Schweigen und beschämt nach unten gerichtetem Blick. Sein Gesicht wurde immer verschlossener, wenn Marions Freundinnen in der Nähe waren.
 

„Wieso bist du immer so bockig?“, fragte Marion eines Tages gereizt.
 

„Wieso spielst du immer die Aufschneiderin?“, erwiderte Dominik kühl.
 

„Was zum Geier soll das denn heißen?“
 

„Weißt du, Marion, du bist echt nett, wenn wir beiden alleine sind. Aber sobald deine Leute da sind, wirst du jedes Mal zum totalen Arschloch. Ist dir das schon mal aufgefallen?“
 

„Hör nicht auf die kleine Brillenschlange“, lachte Theres, als Marion sie darauf ansprach. „Der ist doch bloß eifersüchtig.“

Ja, da hatte sie Recht. Dominik gönnte es ihr einfach nicht, dass sie so beliebt war, während er nur sie als Freundin hatte. Das machte ihn irgendwie abhängig von ihr. Marion gefiel der Gedanke.
 

Es wurde dieses Jahr schon früh sehr warm. Bereits im Mai waren sommerliche Temperaturen zu verzeichnen, und so trafen sich Marion und ihre Freundinnen in der Zeit so kurz vor den Abiturprüfungen immer häufiger, um nach dem Lernen gemeinsam zu entspannen. Sie besuchten das Strandbad oder hingen im Park herum und grillten.
 

Eines besonders schönen Nachmittags lud Gabriel alle ein, um im Garten seiner Eltern zu feiern. Die Sonne stand hoch am Himmel, die bevorstehenden Klausuren waren vergessen und der Pool auf dem weitläufigen Grundstück war klar und kühl. Ausgelassen lachend und grölend zogen die Mädchen sich die T-Shirts über die Köpfe und sprangen ins Wasser, die Jungs feuerten sie an. Theres und ein paar andere hatten sich von hinten an einen von ihnen geschlichen, packten ihn bei den Armen und Beinen, warfen den sich sträubenden Jungen in den Pool und feixten übermütig.
 

„Tja, jetzt brauchst du wohl ein neues Shirt!“ rief Theres ihm zu, die anderen Mädchen pfiffen und johlten. Einige der Jungs lachten. Gabriel nicht. Er half dem pitschnassen Freund aus dem Wasser, gab ihm ein Handtuch um sich zu bedecken und nahm ihn mit, um ihm etwas von seinen Klamotten zu leihen. Danach nahm er sich Theres unter vier Augen zur Brust. Natürlich blieb es nicht lang bei den vier Augen und Marion gesellte sich dazu.
 

„Was denn, der hat dringend mal ein Bad gebraucht!“, rechtfertigte sich Theres gerade.
 

Gabriel starrte sie verständnislos an. „Wieso das denn?“
 

„Der ist total unhygienisch!“, antwortete Theres störrisch.
 

Mehr bekamen sie aus ihr nicht heraus, und so beließen sie es dabei. Dominik war derjenige, der Marion schließlich über den Auslöser des Debakels informierte. „Er hatte sich seit ein paar Tagen die Beine nicht rasiert“, erklärte er Marion kurz angebunden und mit ungehaltenem Ton. Marion verzog angeekelt das Gesicht. Dominik sah sie an und hob eine Augenbraue, wie er es so oft tat. Dann legte sich ein spöttisches Lächeln auf seine Lippen als er hinunter auf Marions Beine blickte, die aus ihrer kurzen Hose schauten. „Die haben in ihrem Leben noch nie einen Rasierer gesehen“, bemerkte er und wandte sich wieder dem Physikbuch zu.
 

„Das ist doch etwas komplett anderes!“, entrüstete sich Marion.
 

Dominik antwortete nicht mehr, sondern fing stattdessen an, sie physikalische Basiseinheiten abzufragen.
 

Seine offenere Art konnte manchmal anstrengend sein, doch hin und wieder war sie auch erfrischend. Eigentlich gefiel Marion sogar seine neue Frisur. Als es wärmer geworden war, war er mit einem Kurzhaarschnitt in die Schule gekommen. Er hatte gemeint, die langen Haare hätten ihn im Sommer schon immer genervt. Dadurch, dass sie ihm nun nicht mehr ins Gesicht fielen, erkannte man deutlicher den scharf geschnittenen Unterkiefer und die schmalen, langen Augenbrauen. Er sah damit ein wenig draufgängerisch aus, und die Tatsache, dass er sich jetzt nicht mehr immer hinter seinen Haaren vor ihr versteckte, war Marion ganz recht. Selbstverständlich sorgte es jedoch für Häme von den anderen.
 

Dominik sagte nichts, doch Marion bemerkte seinen verletzten Gesichtsausdruck. Einen Moment rang sie mit sich, doch schließlich bekam sie ein „Jetzt lasst es auch mal gut sein!“ heraus. Theres und Gabriel zuckten nur die Schultern und schlenderten zu ihren Tischen zurück, in Gedanken schon wieder längst wo anders.
 

Als Marion sich zu Dominik umwandte, um seinen Dank entgegenzunehmen, begegnete ihr stattdessen sein verdrossener Blick.

„Was?“, fragte sie unwirsch. „Ich hab dir doch geholfen!“
 

„Eine große Heldin bist du“, brummte er.
 

„Was willst du denn noch?“ Marion wurde allmählich zornig.
 

„Es ist mir egal, was die anderen sagen.“
 

„Ja, deswegen guckst du auch immer so trübselig aus der Wäsche!“ Marion konnte einen gewissen Hohn nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen.
 

Wieder schossen Dominik Tränen in die Augen, doch diesmal wandte er sich nicht ab. Scharf sah er sie an, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Stimme war fest und ohne den Hauch eines Zitterns als er sagte: „Du kannst dich nicht nur immer dann auf meine Seite stellen, wenn es dir passt, und dann verlangen, dass ich dir vor Dankbarkeit um den Hals falle.“
 

„Entschuldige, dass ich dir helfen wollte!“, erwiderte Marion aufgebracht. Inzwischen hatte die halbe Klasse ihren Zwist bemerkt und sah zu ihnen herüber.
 

„Gibt wohl Streit im Paradies“, hörte Marion Gabriel wispern.
 

„Du hilfst mir aber nicht. Du hilfst dir und deinem Gewissen, und du denkst das reicht. Aber dein eigenes Verhalten mir gegenüber, das hinterfragst du keine Sekunde!“
 

Dominiks Anschuldigung traf Marion wie ein Schlag vor den Kopf. Für einen Moment stand sie nur sprachlos da. Der Junge, den sie als verschlossen und unsicher kennen gelernt hatte, wirkte mit einem Mal völlig anders. Er machte ihr Angst, und das auf eine Art und Weise, die Marion noch nie kennen gelernt hatte.
 

Doch mit einem Mal wurden ihr die Blicke ihrer Freundinnen bewusst, und etwas in ihr wurde von einer festen Wand eingeschlossen. Da in diesem Moment die Lehrerin das Klassenzimmer betreten hatte, brachten die Worte, die Marion daraufhin Dominik ins Gesicht warf, ihr eine Woche Hofdienst ein. Theres klopfte ihr auf den Rücken und lachte, sie habe der dummen Brillenschlange endlich gezeigt, wer das Sagen hat. Schließlich, so meinte Theres, war es seine eigene Schuld. Alles war also richtig. Oder etwa nicht?
 

Dominik sprach nicht mehr mit ihr. Offensichtlich schmollte er. Marion erwischte sich immer häufiger dabei, wie sie ihn in Gedanken beschimpfte. Für seine Überreaktion, für seine Bockigkeit, für seine Dummheit, für seine Aufmüpfigkeit. Dafür, dass er es gewagt hatte, sie vor versammelter Klasse herunterzuputzen. Dafür, dass er ihr nicht die Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenbrachte, die sie verdiente. Manchmal erschrak sie und versuchte schnell, sich abzulenken. Manchmal zog sie die Augenbrauen zusammen, schürzte die Lippen und dachte verbittert an Theres‘ Worte.
 

Leider brauchte sie trotz allem Dominiks Hilfe. Ihr letzter Physiktest war miserabel ausgefallen, und bis zum Abitur war nicht mehr viel Zeit. Also riss sie sich zusammen und sprach ihn schließlich an. Er war nicht begeistert, willigte jedoch ein, sich für weitere Nachhilfestunden mit ihr zu treffen.
 

Es begann schon zu dämmern, als der Unterricht endlich vorbei war und sie sich im Arbeitsraum trafen. Der Raum war leer, Dominik war der Einzige dort als Marion eintrat. Sie klopfte unsicher gegen die Tür. Dominik hob den Kopf, sah sie, seufzte und zog den Stuhl zu seiner Linken zurück.
 

Nachdem Marion sich gesetzt hatte, herrschte wieder für einen Augenblick Stille. Dieselbe angespannte, unangenehme Stille wie zu Anfang.
 

„Was versuchst du eigentlich zu erreichen?“, fragte Marion schließlich.
 

Dominik spielte weiter mit dem Anhänger an seinem Stiftemäppchen herum. Ohne ihn anzusehen, entgegnete er: „Ich dachte, du bist zum Lernen hier.“
 

„Wieso gibst du mir überhaupt weiter Nachhilfe, wenn du keine Lust hast, mit mir zu reden?“
 

„Weil…“ Das Klingeln des Anhängers stoppte für einen Moment. Dominik zögerte. „Weil ich versprochen hab, dir da durch zu helfen.“
 

Marion spürte förmlich, wie die Wand, die sie an jenem Tag in sich errichtet hatte, bröckelte. Es war ihr nicht egal, was mit Dominik geschah. Es war ihr auch nicht egal, was er von ihr dachte. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen und hätte sich für die furchtbaren Dinge entschuldigt, die sie ihm gesagt hatte.
 

Doch sie konnte nicht. So blieb sie sitzen, und nickte.
 

Auch Dominiks müder Blick blieb. Er blieb gereizt, und er blieb verletzt.
 

Die sich auftürmenden Berge von Arbeit machten ihnen allen zu schaffen. Inzwischen war keine Zeit mehr für Feiern und Baden, alle vergruben sich in ihrem Lernstoff. Doch während die meisten es relativ gut wegsteckten, wirkte Dominik von allen am kränklichsten. Trotz des vielen Sonnenscheins wirkte er blass und angespannt. Er kam oft zu spät und in den Pausen war er wieder öfter in der Bibliothek zu finden als auf dem Schulhof, wo er den immer unschöner werdenden Frotzeleien der anderen entging. Marion wollte ihm helfen, doch sie wusste nicht, wie. Dabei war alles so einfach. Es war schon einmal so einfach gewesen. Sie musste es nur sagen. Doch sie tat es nicht.
 

Das bittere Ende kam eine Woche vor der Physikprüfung. Sie betrat das Klassenzimmer, begrüßte ihre Freundinnen, alles war normal. Im Vorbeigehen winkte sie Dominik zu, und stockte kurz. Er hatte sich wieder hinter seinem Buch versteckt, doch Marion starrte an dieselbe Stelle, an der eben noch sein Gesicht gewesen war. Dann sah sie sich hastig um. Niemand reagierte. Auch als Dominik aufstand und an der Schar vorbeilief, woraufhin normalerweise ein beißender Kommentar von Theres die Folge war, schien ihn niemand auch nur zu bemerken.
 

Sie versuchte, Theres darauf anzusprechen, doch die wehrte das Thema Dominik rigoros ab. Irgendwann, als Marion mit Gabriel allein war, hielt sie es nicht mehr aus. „Hast du sein Gesicht gesehen?“, fragte sie hastig.
 

Gabriel schürzte die Lippen und sah betreten zur Seite. „Ja, das haben wir wahrscheinlich alle“, flüsterte er.
 

„Was hat er sich dabei gedacht?“
 

„Er meinte, er hätte heute früh keine Zeit gehabt. Sieht so aus, als hätte er auch gestern früh auch schon keine Zeit gehabt.“ Gabriel schüttelte den Kopf. „Wie ekelhaft.“
 

Sie schraken zusammen, da sie in dem Moment Theres rufen hörten „Ja genau! Sieh zu, dass du Land gewinnst! Keiner will deine widerliche Visage sehen, Haargesicht!“ Das letzte Wort brüllte sie über den halben Hof Dominik zu, der gerade auf dem Weg zum Schultor war. Dominik begann zu rennen, Marion konnte sehen, dass er weinte.
 

Sie wollte ihm nachlaufen, fühlte förmlich wie alles in ihr danach schrie. Doch sie konnte nicht. Dominik lief allein davon.
 

Abgesehen von den Prüfungen, vor denen sie sich nicht begegneten und für die sie unterschiedlich lange brauchten, sah sie ihn nicht wieder bis zur Kundgabe der Noten. Es war erstaunlich leicht gewesen, sich von dem mulmigen Gefühl abzulenken, welches sie beim Gedanken an Dominik bekam. In allererster Linie war sie damit beschäftigt, sich Sorgen um ihre Abiturnoten zu machen. So unbekümmert die anderen Mädchen auch taten, Marion wusste, dass sie ebenso um ihre Zensuren bangten. Zahlreiche Gespräche mit ihren Eltern über Vorahnungen und Zukunftspläne hielten sie auf Trab. Besonders die Angst vor der Physiknote drückte ihr auf den Schläfen und im Magen. Doch der gefürchtete Tag kam schneller als erhofft.
 

Zu ihrem größten Erstaunen hatte sie nicht nur ihre anderen Fächer erstaunlich gut bestanden, sondern auch Physik. Sie spürte, wie Erleichterung sie durchflutete und in ihrem Bauch machte sich ein warmes, befreites Gefühl breit. Sie wusste es nicht gleich einzuordnen, doch bald wurde ihr klar, dass es Dankbarkeit war. Bei dem Blick auf ihre Physiknote wurden Erinnerungen in ihr wach an all die Stunden des letzten Jahres, die sie mit Dominik verbracht hatte. Dominik, der ihr geduldig erklärt und mit ihr wiederholt und noch einmal wiederholt hatte. Sie würde ihn besuchen gehen. Es war schließlich gerade ein neuer Teil ihrer Lieblingsvideospielreihe angekündigt worden!
 

Doch als sie bei ihm vorbei schauen wollte, war er nicht da. Zumindest behauptete das sein Vater. Auch tags darauf hatte sie kein Glück.
 

Sie wusste nicht, ob sie mehr besorgt um ihn oder frustriert seinetwegen war.
 

Doch auch bis zum Abiball hatte sie nicht viel Zeit, sich um ihn Gedanken zu machen. Die Feier fand im Freien statt. Alle hatten sie gebangt. Was, wenn das Wetter nicht mitspielte? Doch das Wetter war fabelhaft, die von Theres engagierte Band machte Stimmung, und Gabriels Rede rührte das ein oder andere Elternteil und sogar ein paar der hartgesottenen Lehrkräfte zu Tränen.

Es war nicht wirklich ein Abschied, schließlich würden sie sich immer noch sehen, so versprachen sie sich gegenseitig. Doch Gabriel fiel Theres und Marion trotzdem um den Hals und dankte ihnen beiden für die schöne Zeit. Theres klopfte Marion auf den Rücken, und Marion wusste, was sie sagen wollte. Das Ganze war fast perfekt, fehlte nur noch…
 

Dominik.
 

Er saß etwas abseits, allein. Nicht am Tisch bei seinen Eltern, sondern einfach irgendwo zwischen den Stühlen, den Blick gedankenverloren in den Himmel gerichtet.
 

Theres hatte wohl gesehen, wo sie hinschaute, denn sie sagte: „Er hat dich immer nur weggestoßen, obwohl du dich mit ihm abgegeben hast. Das hat er sich jetzt selbst zuzuschreiben.“
 

Marion wollte unauffällig zu ihm hinüber schlendern, ihm alles Gute wünschen, sich bedanken. Doch sie konnte nicht. Sie nickte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2014-09-29T18:31:27+00:00 29.09.2014 20:31
Ich bin erschüttert wie unsympathisch alle Figuren in der Geschichte sind, da das vermutlich beabsichtigt war, kann ich dazu nur gratulieren. Die Schreibart ist gut, lässt sich flüssig lesen. Mich irritieren nur ein paar Ansprüche der Geschlechter aneinander. Ist aber vermutlich überspitzter dargestellt, um es zu verdeutlichen. Die Aussage ist recht eindeutig, ich muss nur wirklich sagen, dass sich für keine Seite Verständnis aufbauen konnte, da sich beide doof benehmen. Aber so isses halt als Jugendliche. Außerdem find ich schade, dass das Weibliche, verkörpert durch Dominick, wieder als armes Opfer dargestellt wird, was so viel zu erdulden hat etc etc. Vielleicht deut ichs auch nur falsch, aber Dominick hat ja eigentlich die Schwächen beider Geschlechter zu tragen ohne auch nur einen Vorteil zu haben. Hätte man vielleicht noch was dran drehen können. Aber an sich, nice work.
Von:  kikidergecko
2014-09-16T16:47:41+00:00 16.09.2014 18:47
Wunderschön, wie der Twist sich so langsam entfaltet und letztendlich unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Das Cover ist für meinen Geschmack etwas zu kitschig, aber wenn man erstmal beim Text angelangt ist, hat man das schnell vergessen :) Vielen Dank für diese tolle Geschichte!
Von: abgemeldet
2014-09-16T15:05:12+00:00 16.09.2014 17:05
Das ist echt gut geschrieben und die Charaktere sind so verdammt glaubwürdig. Durch die ganzen Kleinigkeiten merkt man erst im Laufe der Story, worauf sie abziehlt. Man ist zu dem Zeitpunkt aber auch schon richtig in der Geschichte drin, weswegen einem nichts komisch vorkommt. Passt ja da alles sehr gut zusammen.

Ist mMn eine gute Art auf diese Thematik aufmerksam zu machen, da es so subtil und nicht hau-drauf ist. :-)
Von:  alandatorb
2014-09-06T10:13:16+00:00 06.09.2014 12:13
sehr interessant und die Diskussion war anschließend verständlich

Ich brauchte eine Weile und musste manche Passagen zweimal lesen bis ungefähr zum mittleren Teil, bis bei mir der Groschen nachhaltig fiel und ich den Sinn auch richtig verstanden hatte (spätestens bei der Aufforderung zum Schminken).
Die ganze Geschichte ist sehr passend auf die gesellschaftlichen Probleme in der Schule durch Gruppenzwang, Mobbing und soziale Vorstellungen ausgelegt. Durch den Perspektivenwechsel, den die Gesellschaft vom Verhalten von Männern und Frauen hat, werden diese Probleme noch stärker verdeutlicht, da man sie mehr wahrnimmt und als falsches Verhalten seinem Gegenüber anerkennt.
Was mein Problem war diesen Wechsel von Verhalten zu erkennen, ist in meiner eigenen Schullaufbahn begründet. Ich habe selber männliche Mitschüler gehabt, deren Hefter sehr viel ordentlicher und mit einer schöneren Schrift geführt wurden. Zusätzlich habe ich auch Jungs kennengelernt, die sich über ihre Körperpflege unterhielten - aber dies war meiner Schule zu verdanken. Von 31 Schülern waren wir gerade mal 3 Mädchen - da war es leicht für die Jungs dies zu vergessen und so erlebt man sie auch mal in anderen Situationen, in denen sie etwas offener sind.

Insgesamt ist es eine sehr spannende Geschichte und das Ende ist der gesamten Situation und dem natürlichen Verhalten der beschriebenen Personen angemessen.

LG
und ein großes Lob
Alanda
Von:  Sean
2014-07-23T21:28:21+00:00 23.07.2014 23:28
Ich finde die Geschichte beim zweiten Mal immer noch genauso brilliant wie beim ersten Lesen. Zum einen hast du einen sehr angenehmen Schreibstil, den man sich wirklich gut geben kann, zum anderen gefällt mir natürlich der Inhalt. Bei der Diskussion in deinem Seminar hätte ich doch sehr gern Mäuschen gespielt. XD Das Ende frustriert mich nachwievor, obwohl es das einzig denkbare und glaubwürdige Ende für die Geschichte ist. Das Ganze gehört imho irgendwo veröffentlicht.


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