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Morgenstern

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach längerer Pause geht es nun endlich weiter.
Unsere Helden um die Prinzessin mit den Teufelskräften überqueren in der Esmeralda, eine Galeere des Königs, die gefürchtete Teufelssee. Es scheint alles ruhig zu sein. Zeit für Selbstreflektion. Aber bleibt es friedlich, oder ist dies nur die Ruhe vor dem Sturm? Komplett anzeigen

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Die Flüche des Meeres


 

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Seit mindestens einer Woche bereisten Nebula und die anderen bereits die als diabolisch verschrienen Gewässer. Doch anstatt der wilden und unberechenbaren Teufelssee, zeigte sich ihnen das Meer ruhig und zahm wie ein Schaf auf der Alm. Nicht ein Lüftchen verirrte sich in die Segel der Esmeralda, das Schiff welches der König ihnen für ihre Reise bereitgestellt hatte. Nutzlos hing der Stoff von den drei Masten herunter und die Muskelkraft der Ruderer war das einzige, was den massiven Kahn in Bewegung hielt.

Ähnlich zweckbefreit wie die Segel während der Flaute, stand Nebula an der Reling. Die Unterarme auf sie gelegt und den Oberkörper leicht darüber geneigt, blickte sie gedankenversunken hinaus in den Horizont. Noch konnte man keine Spur der Küste von Eldora ausmachen.

Einzig wegen der Tragödie auf dem großen Bankett, trat Nebula diese Reise an. Der König von Morgenstern ließ es veranstalten, um Ammon von Aschfeuer, dem ältesten Prinzen des Kaiserreich, seine Tochter Emelaigne als Braut vorzuführen, die dieser zwar nur aus Geschichten kannte, aber dennoch begehrte und um jeden Preis sein eigen nennen wollte. So versuchte der König, den zerbrechlichen Frieden zu wahren, indem er seine einzige Tochter darbot. Aber anstatt des Erben, schickte der Kaiser eine Delegation bestehend aus seiner erstgeborenen Tochter Prinzessin Lezabel und dem jüngsten Spross Prinz Alaric. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Braut zu begutachten und ihre Eignung als Gemahlin seines ältesten Sohnes zu überprüfen. Es war der junge Prinz, der den Schwindel um die falsche Emelaigne enttarnte.

Das Übel nahm jedoch schon drei Jahre zuvor seinen Lauf, als eine Attentäterin in die Gemächer der echten Emelaigne einbrach und versuchte, sie zu ermorden. Ihre Waffe war keineswegs ein gewöhnlicher Dolch, sondern Bloodbane, eine der verfluchten Teufelswaffen. Anstatt die Prinzessin zu töten, ging der Dolch eine Verbindung mit ihr ein und erschuf eine verdorbene Kreatur. Etwas, das der König niemanden präsentieren konnte und in Ketten gelegt, tief im Verlies einsperrte. Aus diesem Grund wurde eine Magd namens Caroline als Doppelgängerin bestimmt, da sie Emelaigne glich, wie ein Ei dem anderen. Sie sollte die Rolle der Prinzessin spielen. Und sie spielte sie gut und überzeugte die nächsten drei Jahre lang. Dennoch erkannte Alaric die Wahrheit durch die Abwesenheit eines unscheinbaren Muttermals und ließ das arme Mädchen für die Täuschung mit ihrer Seele bezahlen.

Das Holz der Reling splitterte, als sich Nebulas Finger tief hinein bohrten. Caroline musste nur wegen ihr leiden. Wegen ihr verfluchten Kreatur, welche einst den Namen Emelaigne trug und die Thronerbin von Morgenstern war. Nebula ging für sie durch die Hölle, kämpfte, starb, kämpfte weiter und war dennoch außerstande, ihre Seele zurückzubringen.

Nun lag Caroline unter Deck in einem Sarg und war gefangen im traumlosen Schlaf der Seelenlosen. “Bitte vergib mir, Caro”, säuselte sie hinaus auf den Ozean. “Vergib mir mein Unvermögen.”

Nebula fühlte sich in der Tat wie ein Segel auf windstiller See.

Nutzlos.
 

Die Küche des Dreimasters war wahrlich hochherrschaftlich, so wie man es von einer königlichen Galeere erwarten konnte. Eingerichtet mit dem edelsten Mobiliar und bestückt mit den feinsten Speisen, glaubte man nicht auf einem Schiff, sondern noch immer in der Hauptstadt zu sein. Der König ließ sich nicht lumpen und versorgte seine Tochter und ihr Gefolge fürstlich.

Eigentlich war das Werkzeug seiner Wahl der Schmiedehammer, doch heute begnügte sich Henrik mit dem Schnitzelklopfer.

Es war ihm, als habe er schon immer für die Prinzessin gekocht.

Dieses wunderschöne Mädchen, deren Haare so golden wie die Kornfelder im Herbst, und deren Augen so blau wie der Himmel waren, auf das er sich immer wieder in ihnen verlieren konnte. Eine Frau, nach der sich die Mächtigen und die Gewöhnlichen gleichermaßen verzehrten. Sie war nicht besonders groß, aber seine große Liebe. Seitdem sie ihm damals auf dem Markt seiner Heimatstadt die wütenden Kunden vom Hals gehalten hatte, welche ihn für sein Schundhandwerk am nächsten Baum aufknüpfen wollten, bekam er sie nicht mehr aus dem Kopf und folgte ihr überall hin. Regelmäßig hatte er sie in die unangenehme Lage gebracht, ihn beschützen zu müssen. Immer dann fühlte er sich selbst wie ein hilfloses Burgfräulein, welches von seinem Ritter gerettet werden musste. Ein schöner Mann war er! Bis er eines Tages in die Situation kam, sie retten zu müssen. Als das gleißende Licht seiner Liebe die Nacht zum Tag machte und Tote zurück ins Leben brachte, war es ihm wenigstens einmal vergönnt, ihr Held zu sein.

Nebula. Emelaigne. Die Prinzessin von Morgenstern. Wie immer man sie auch nannte. All dies hatte für ihn keine Bedeutung, solange er an ihrer Seite sein konnte. Diesem Mädchen würde er selbst dann folgen, trüge sie abgewetzte Fetzen und lebten in der Gosse. Überall hin. Bis zum Ende der Welt und darüber hinaus.

Also klopfte er das Schnitzel windelweich.

Immerhin musste das Essen munden!
 

Das Abendrot der Dämmerung fiel durch ein Fenster in der hölzernen Wand auf das kleine Bett in der Kajüte. Die Lichtstrahlen beschienen ein Mädchen mit langen orangeroten Haaren, das auf dem Bett lag und vergnügt mit seinen Beinen auf und ab wippte, während es in die Geschichte in dem Märchenbuch vertieft schien. Es war eine Geschichte über mutige Helden, welche sich ihrem Schicksal und den Mächten des Bösen entgegenstellen und gemeinsam für eine bessere Welt kämpfen.

Annemarie mochte solche Märchen.

Noch wusste sie nicht, wie die Geschichte enden würde.

Sie hoffte auf ein Happy End.

In den Märchen, die sie verschlang, erhoffte sie sich die Antworten auf ihre eigenen Fragen. Sie versuchte, die Leere in ihrem Kopf mit angeregter Fantasie zu füllen. Dachte sie an ihre Vergangenheit, war dort nichts außer einer gewaltigen schwarzen Leere. Wer war sie und woher kam sie eigentlich? Sie konnte sich an nichts erinnern, das vor der Vollmondnacht geschah, in der sie auf Henrik traf. Als hätte sie vorher nicht existiert. War sie vielleicht auch eine Prinzessin, die durch einen Fluch alles vergessen hatte und gezwungen war, auf der Straße zu leben, oder stiegen ihr nun doch die Geschichten allmählich zu Kopf?

Sie beschloss, das Lesen für heute einzustellen.

Bald wäre es sowieso zu dunkel geworden.

Stattdessen entschied sie, hinunter in die Kombüse zu gehen. Vielleicht konnte sie Henrik beim Kochen helfen. Das Buch fand seinen Platz auf den kleinen Beistelltischlein neben dem Bett und Annemarie begab sich in die Küche.
 

Die größte Kajüte neben der des Kapitän hatte weder die Prinzessin noch sonst wer bezogen. Stattdessen genehmigten sich Clay und Cerise diesen Luxus. Es war der einzige Raum auf der Esmeralda, welcher groß genug war, ein Doppelbett unterzubringen. Niemand wollte miterleben, wie sich einer der Beiden mit Entzugserscheinungen aufführen täte, geschweige denn beide auf einmal. Darum war auch keiner eingeschritten, als Cerise sofort ihren Anspruch deutlich machte und sich und Clay in der Kajüte einquartierte.

Gerade lagen sie zusammen im Bett - eigentlich gab es kaum eine Gelegenheit, bei der sie das nicht taten. Sie konnten einfach nicht voneinander lassen und in jenem Moment war es auch nicht anders.

Clay führte eine Strähne von Cerises offenen kirschrotem Haar unter seiner Nase und inhalierte ihren Duft.

Sofort reagierte das Halbblut darauf und wand sich um ihren Liebhaber, wie eine Würgeschlange um ihre chancenlose Beute. “Hat das Biest noch immer Appetit?”, fragte sie ihn mit erotischem Unterton.

Eigentlich mochte Clay es überhaupt nicht, wenn man ihn daran erinnerte, dass er ein verfluchter Lykantroph war, verdammt dazu sein Leben lang den Mondschein zu fürchten. Und als Werwolf würde dieses Leben voraussichtlich wesentlich länger andauern als das eines gewöhnlichen Menschen. Auch wenn er dank Cerises Hilfe das Biest im Griff zu haben schien, beunruhigte ihn der Fluch, der auf ihm lastete, noch immer. Die Angst, irgendwann doch die Kontrolle zu verlieren, war sein stetiger Begleiter. Darum wollte er am Besten gar nicht daran denken. Doch seiner Geliebten ließ er es durchgehen, ihn daran zu erinnern. Das war nicht das einzige, bei dem er ein Auge zudrückte. “Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden das unersättliche Biest ist.”

“Das müsst Ihr Euch schon selbst beantworten.” Cerise streifte Clay durch dessen dichte schwarze Gesichtsbehaarung.

Aus ihr wurde er nicht schlau. Als er sie das erste Mal traf - und auch bei einigen Begegnungen danach - wollte sie ihn noch umbringen. Damals kämpften sie bis aufs Blut. Sie war eine Meuchelmörderin vom geheimnisumwobenen Orden der Schattenschwestern. Eine Vereinigung, die nur aus Frauen bestand, und im Namen der Mutter der Zwietracht gegen Bezahlung spionierte und mordete. Inzwischen war sie allerdings auch seine Geliebte. Verband sie nur fleischliche Lust, oder war da doch mehr? Ihm kam in den Sinn, dass sie ihn stets förmlich ansprach und noch nie ihre Liebe bekundet hatte. Vielleicht musste er einfach den Anfang machen. “Cerise, ich liebe dich!”, sagte er ihr im sanftesten Ton, zu dem er mit seiner tiefen männlichen Stimme imstande war.

Die Rothaarige sah ihn mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund an.

Clay fürchtete, zu weit gegangen zu sein.

Plötzlich verzog sich Cerises Mund zu einem Lächeln. “Ich war heute wohl einfach zu gut”, zog sie es ins Lächerliche. “Ihr müsst mit Euren Scherzen aufpassen, Clay, sonst glaubt Ihr es noch selbst.” Nach diesen Worten sprang sie förmlich von ihm ab und aus dem Bett. Sie suchte ihre Kleidung zusammen, welche sie zuvor voll der Vorfreude überall im Raum verteilt hatte.

Der Anblick ihres makellosen schlanken Körpers konnte Clay allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ihm auswich. “Ich meine es ernst!”

Die Rothaarige sah kurz über ihre Schulter zu ihm und tat es mit einem einfachen “Ja, ja” ab. Danach begann sie damit, sich zu bekleiden.

Es war nicht von der Hand zu weisen, dass diese Reaktion nicht die war, welche sich der schwarzhaarige Jäger erhofft hatte. Wie ein knauseriger Händler bot dieses Frauenzimmer seine Geheimnisse nur zum richtigen Preis feil. Und der war Clay leider unbekannt. Spielte sie nur mit ihm? War er für sie nichts weiter als ein Lustobjekt? Nein, das konnte nicht sein. Er weigerte sich, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Niemand würde freiwillig bei Vollmond zu einem angeketteten und wütenden Werwolf gehen, nur um etwas auszuprobieren. Niemand würde eine ganze Attentätersekte hintergehen und das Ziel eines Anschlags am Leben lassen. Wenn bei diesen Gelegenheiten keine Gefühle im Spiel gewesen sein sollen, was dann?

Er würde sie schon dazu bringen, endlich reinen Tisch zu machen.

Jedenfalls konnte es so nicht weitergehen!
 

Das Abendmahl wurde angerichtet.

Die Besatzung der Esmeralda versammelte sich in der Messe, um gemeinsam zu essen und sich auszutauschen. Sie saßen verteilt um zwei lange Tische auf Hockern und Bänken. Auch Nebula, Clay und Cerise hatten sich eingefunden. Lautstark war das Klagen der Ruderer, welche sich ihre Mahlzeit mehr als nur verdient hatten. Die tagelang andauernde Flaute zehrte bei jedem an den Nerven, doch betraf diese Männer direkt. Sie wünschten sich nichts sehnlicher, als dass endlich wieder Wind in die Segel blies. Jetzt wollten sie wenigstens etwas Handfestes zwischen die Kiemen bekommen. Also polterten sie ungeduldig mit dem Besteck auf dem Tisch. Auch der Rest der Meute zügelte sich wenig.

Die Tür zur Kombüse wurde aufgestoßen. Ein Wagen mit einem großem Topf und einigen mit Tellern abgedeckten Schnitzeln darauf wurde von der zierlichen Annemarie hinein in die Messe geschoben. Unter dem Topf befand sich eine weitere Ebene, auf der Teller und Ersatzbesteck bereit lagen. Das Mädchen wollte Henrik unbedingt helfen, verstand aber nicht das geringste vom Kochen. Folglich konnte er ihr nur einfache Hilfsarbeiten und im Anschluss daran den Job des Kellners anbieten. Trotzdem erfüllte Annemarie die ihr aufgetragenen Aufgaben mit Wonne und verteilte die Mahlzeiten an die Wartenden.

Unterdessen begab sich der Koch an den Tisch.

Henrik setzte sich auf den freien Hocker gegenüber von Nebula. Beide mussten nicht lange warten, bis auch sie ihr Abendessen erhielten.

“Das machst du aber fein, Annemarie”, lobte Henrik das Mädchen.

“Dankeschön”, erwiderte der kleine Rotschopf.

Clay und Cerise waren derweil schon voll und ganz mit der Nahrungsaufnahme - oder auch miteinander - beschäftigt und bekamen nicht mehr viel mit.

Nebula erhob die archaische Gabel mit den zwei Spießen mit der linken Hand und wollte sogleich in das Gemüse hinein pieksen, als plötzlich ihre Hand zu zittern begann, sodass sie ihr Besteck aus Versehen auf den Teller fallen ließ. Auf das Poltern folgten schnell die Blicke ihres Gegenübers. Nebula starrte entsetzt auf ihre Hand, die sich noch immer unkontrolliert bewegte.

“W-Was hast du?”, fragte Henrik besorgt.

Die Blondine brachte ihre Hand dazu, wieder ihren Befehlen zu gehorchen und nahm die Gabel auf. “Es ist nichts!”, behauptete sie.

Henrik hörte nicht auf, sie so anzusehen. “Aber...”

Konnte er nicht einfach so tun, als habe er nichts gesehen, anstatt sie so anzuschauen?

Schnell benutzte sie das Besteck und zerteilte die Kartoffel, um so zu demonstrieren, dass mit ihr alles in Ordnung war. Im Anschluss stopfte sie sich das viel zu groß geratene Stück in den Mund. Auf diese Weise musste sie seine Fragen nach ihrem Befinden nicht beantworten. Das funktionierte auch wunderbar mit dem Schnitzel. Sie verfuhr mit dieser Taktik weiter, bis sie ihre Portion aufgegessen hatte. Dann stand sie auf, räumte ihr Geschirr auf den leeren Wagen und verließ die Messe. Dabei zwang sie ihre linke Hand unter zuhilfenahme der rechten stillzuhalten.

“Habt i-ihr das gesehen?”, wandte sich Henrik an die anderen.

“Was denn?”, fragte Cerise.

“I-Ihre Hand hat gezittert. Habt ihr das nicht mitbekommen?”

“Ist mir nicht aufgefallen. Dir, Clay?”

Der Jäger schüttelte mit dem Kopf.

“Hoffentlich nichts schlimmes!”, ergänzte Annemarie, die inzwischen auch zum Essen kam und nicht weit von ihnen einen Platz gefunden hatte.

“Selbst wenn, man müsste sie schon bewusstlos schlagen, damit sie einen Heiler an sich heranlassen täte”, stellte Cerise fest.

Ja, in der Tat! So und nicht anders.

Henrik seufzte.
 

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Alles war ins Wanken geraten.

Weder das Pfeifen des Windes, oder die peitschenden schweren Regentropfen, noch das Stoßen der Wellen an die Schiffswand waren es, die Henrik aus dem Schlaf rissen. Ein greller Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubend lauten Donnergrollen, ließ den braunhaarigen Handwerksgesellen mitten in der nächtlichen Dunkelheit aufschrecken. Unmittelbar danach zuckte ein weiterer Blitz durch die Wolken und ein Krach von apokalyptischer Lautstärke ließ Henrik glauben, dass die Welt gerade drauf und dran war, unterzugehen.

Eigentlich hatte er keine Angst vor Gewitter. Aber gepaart mit der Kraft des Ozeans, dessen hohe Wellen sich die Esmeralda wie ein Spielball in einer Mannschaftssportart immer wieder gegenseitig zuspielten, flößte ihm das Unwetter gehörigen Respekt vor den Naturgewalten ein.

Der Aufprall einer weiteren Wasserwand ließ das Schiff erbeben und etwas Schweres von einem Regal auf den Boden stürzen. Henrik hoffte, wieder einzuschlafen und dann aufzuwachen, wenn der Spuk vorüber wäre. Doch seine Kalkulation ging nicht auf. Das Schwanken des Schiffes und die Geräusche des pfeifenden Windes, der unbarmherzigen Wellen und der gnadenlosen Blitze hielten ihn wach.

Weil er nicht schlafen konnte, stand er stattdessen auf und bekleidete sich notdürftig in der Dunkelheit. Vielleicht konnte er irgendwie helfen. Das wäre allemal männlicher, als im Bett zu verbleiben und das Ende des Unwetters abzuwarten. Schnell war er bereit zu gehen. Sein Fuß stieß gegen den zuvor heruntergefallenen Gegenstand, was ihn fast zu Fall brachte, hätte er sich nicht an dem Knauf der Tür zu seiner Kajüte festgehalten. Leicht humpelnd verließ er den Raum und ging den spärlich ausgeleuchteten Gang entlang, der ihn an Deck führen würde.
 

“Fiert das Hauptsegel!”, hallte der Befehl des Kapitäns über das durchnässte Deck der Esmeralda. “Und setzt die Pinne zum Baum!”

Eiligst erfüllte die Mannschaft ihre Aufgaben. Tollkühne Männer, unter ihnen auch Clay, erklommen die Mäste und zerrten die Segel in den Wind. Am Heck mühten sich die Matrosen ab, die Taue zu befestigen, welche das Ruder im Luv - also in Richtung des Windes - halten sollten. Mit diesem als “anluven” bezeichneten Manöver, versuchte der Kapitän sein Schiff sicher abzuwettern. Es half, die Esmeralda auch bei starken Seegang unter Kontrolle zu behalten, während alle das Ende des Sturms erwarteten. Der Kapitän musste dringend verhindern, dass das Schiff mit dem Bug in die Wellen einsteckte, was unmittelbares Kentern nach sich zöge! Aber die mit dem salzigen Meerwasser vollgesogenen Seile waren für die Matrosen kaum zu halten.

Das Schiff drohte achteraus zu treiben.
 

Auf seinem Weg an Deck traf Henrik auf Annemarie und Cerise.

“Hallo Leute”, begrüßte er sie.

“Na schau mal an, wer sich aus dem Bett getraut hat”, stichelte die Halbelfe.

“Henrik, ich hab Angst!”, gestand Annemarie ein.

“Was macht ihr hier?”, wollte der Geselle wissen.

“Der Kapitän hat allen Frauen und Kindern befohlen, unter Deck zu gehen”, teilte Cerise mit. “Mir soll’s Recht sein. Muss ich mich wenigstens nicht anstrengen.”

Erst jetzt fiel ihm auf, dass jemand fehlte. “Wo ist denn Nebula?”

“Die wuselt zusammen mit Clay oben an Deck herum.”

“Aber hat der Kapitän nicht gesagt...”

“Das hat sie bestimmt überhört”, mutmaßte Annemarie.

“In eurer Beziehung bist sowieso du das schwache Geschlecht”, ärgerte Cerise Henrik. “Also bleib du mal schön bei uns unter Deck.”

Die Aussage der Rothaarigen stachelte ihn nur noch mehr an, an Deck zu gehen und Nebula und Clay irgendwie unter die Arme zu greifen. Mutig stürmte er die halbe Treppe hinauf und stemmte die Tür zum Deck auf. In diesem Moment blies eine Windböe gegen das Brett und stieß sie umgehend wieder zu. Henrik bekam die Tür direkt ins Gesicht geschlagen und wurde rückwärts die Treppe hinunter geworfen, nur um zu Füßen von Annemarie und Cerise zu landen.

“Ich hab doch gesagt, du sollst es bleiben lassen”, belehrte das Halbblut.

Henrik befühlte seine Nase und stellte fest, dass sie blutete. “Aua!”

“Komm mit, ich kümmere mich darum”, bot Annemarie an.

Henrik folgte ihr, ohne Anstalten zu machen. Den Plan, an Deck seinen Mann zu stehen, hatte er inzwischen verworfen. Er täte mit blutiger Nase sowieso keinen guten Eindruck bei Nebula hinterlassen. Darum ließ er sich von Annemarie verarzten und wollte nun doch warten, bis der Sturm nachließ.
 

Nebula war völlig durchgeweicht. An Deck versuchte sie zu helfen, wo sie konnte, anstelle sich unter Deck vor den Naturgewalten zu verstecken, wie es der Kapitän eigentlich von ihr verlangt hatte. “Frauen und Kinder unter Deck”, lautete der Befehl des alten Seebären. Diese Vorsichtsmaßnahme schlug Nebula allerdings in den Orkanwind. Sie verabscheute Ungleichbehandlung aufgrund ihres Geschlechtes. Selbst dann, wenn es ihr zum Vorteil gereichte und zu ihrer eigenen Sicherheit beitrug. Lieber würde sie ertrinken, als das hilflose Frauchen zu spielen. Sie konnte nicht herumsitzen und anderen die Arbeit überlassen!

Nebula eilte an das Heck, um die Männer dort zu unterstützen. Sie packte das Ruder mit bloßen Händen.

“Was macht Ihr da?”, fragte einer der Nebenstehenden verwundert.

Die Blondine stöhnte genervt. “Wonach sieht es denn aus?”, fuhr sie den Mann an. “Ich halte das Ruder im Lov.”

“Aber wie könnt Ihr...” Wie eine zierliche Frau von um die eins-sechzig mit bloßer Muskelkraft gegen den Wasserdruck während eines Unwetters halten konnte, war ihm absolut unbegreiflich.

Nebula stemmte ein Bein gegen das Heck, um noch mehr Kraft auf das Ruder zu wirken. Dabei ächste das Holz bedrohlich. Aber tatsächlich: Hand in Hand mit den ausgerichteten Segeln gelang es, die Esmeralda auf Kurs zu halten.
 

Mit dem neuen Morgen kam der Sonnenschein zurück und eine steife Briese füllte die Großsegel der Galeere. Sollte der Wind weiter so günstig stehen, könnten sie es innerhalb einer Woche bis nach Yjasul schaffen. Das reiche Kalifat der Wüste war zwar nur ein Zwischenstopp auf ihrer Reise, dennoch handelte es sich nicht einfach nur um eine tote Wüste mit ein paar Kamelreitern und Turbanträgern, für welche eine Erwähnung als Fußnote ausreichte und die man ansonsten getroßt auslassen konnte. Ein riesiges Reich, welches den gesamten Süden kontrollierte, in dem der einzige Gott das Geld war und man jeden Segen und jeden Fluch mit barer Münze erwerben konnte. Nebula und die anderen wollten in die Rolle von Händlern aus dem Süden schlüpfen, um sich so ohne Aufsehen zu erregen in das angrenzende Aschfeuer, die Heimat der Schwarzelfen, einzuschleichen. Besser als mit einer königlichen Galeere vor der Haustür des Kaisers vor Anker zu gehen, war es allemal. Schließlich waren sie auf geheimer Mission!

Seite an Seite standen Henrik und Nebula an der Reling und sahen hinaus auf die beruhigte See, unterbrochen von heimlichen Blicken, welche sie sich abwechselnd zuwarfen, wenn sie glaubten, der jeweils andere bekäme es nicht mit. Seitdem Henrik sie in dieser einen Nacht zu aufdringlich betatschte, war Nebula auf die Bremse getreten und hatte einiges an Fahrt aus ihrer Beziehung genommen. Henrik akzeptierte, dass sie noch nicht bereit für zu viel Zärtlichkeit war. Gelinde gesagt war er froh, denn sein eigenes Tempo machte ihm Angst. Ganz in Gedanken versunken bemerkte er erst nicht, dass sich zaghaft eine Hand kontaktsuchend auf der Reling an ihn heran schlich. Doch dann streckte er ebenso zurückhalten die seine entgegen, bis sich ihre Fingerspitzen berührten.

Etwas entfernt beobachteten Clay und Cerise die Szene.

Die Rothaarige lehnte lässig am Mast und guckte zwischen ihrer Beobachtung immer mal wieder auf ihre Fingernägel.

Clay hingegen stand aufrecht wie ein Türsteher zum Schüttelbunker mit stolz geschwellter Brust und verschränkten Armen.

“Sind sie nicht niedlich?”, fragte der Lykantroph mit kreidesanfter Stimme.

“Ist nur ein bisschen langweilig”, entgegnete Cerise. “Ihrer Beziehung täte etwas mehr Action gut.”

“Sie sind doch noch halbe Kinder.”

“Sie sind achtzehn. Ich hatte mein erstes Mal schon fünf Jahre früher.”

Clay sah sie daraufhin entgeistert an.

“Was denn?!”

“Solltet Ihr solche Dinge nicht lieber für Euch behalten?”

“Wir Schattenschwestern sind nicht an diese beengenden Moralvorstellungen der Gesellschaft gebunden. Außerdem habe ich ihn kurz darauf die Kehle aufgeschlitzt.”

In Clays Gesicht machte sich Entsetzen breit.

“Beruhigt Euch, er hatte es verdient. Er verging sich an jungen Mädchen. Die waren zum Teil noch jünger als die kleine Nervensäge.”

“Das ist es nicht. Ich komme noch immer nicht damit klar, dass Ihr so locker über einen Mord sprechen könnt. Und dann auch noch einen, den Ihr als Kind begangen habt.”

“Ich bin auch nicht groß stolz drauf. Große Sauerei und ganz schlechte Umsetzung. Es war nicht nur mein erster männlicher Beischlaf, sondern auch mein erster Lequidierungsauftrag.”

Als Jäger war Clay das Töten nicht fremd, aber wie unbeschwert diese Frau in einem Atemzug gleichzeitig von ihren sexuellen Kontakten und ihren Tötungen sprechen konnte, als rede sie über das Wetter, trieb ihm einen kalten Schauer den Rücken herunter. Und ausgerechnet in so eine Person musste er sich verlieben...

Während sie noch immer Händchen hielten, fiel Henriks Blick auf die Wasserfläche. Bildete er sich das nur ein, oder war das Meer unter dem Schiff viel dunkler als es sein sollte.

“Hey, Nebula”, machte er die Prinzessin darauf aufmerksam. “Schau mal. Weißt du, was da los ist?”

“Nein”, antwortete sie mit Sorgen erfüllter Stimme. Im nächsten Moment ertönte auch schon ein Warnsignal vom Ausguck auf dem Mast und Nebula zerrte Henrik von der Reling weg.

Aus heiterem Himmel schossen lange rosarote Strukturen aus dem Wasser, welche wild in der Luft herumwirbelten und einer nach dem anderen die Esmeralda umschlang. Ein mächtiges Gebilde erhob sich aus dem Wasser. Ein etwa Teller großes tiefschwarzes Auge starrte Henrik an. Ein Riesenkrake war aus den Tiefen des Ozeans emporgestiegen und wollte die Esmeralda mit samt der Besatzung zum Frühstück verspeisen.

“Ist das die Action, die in ihrer Beziehung noch fehlt?”, scherzte Clay und wollte seinen Bogen ergreifen. Blöd nur, dass heute einer dieser Tage war und seine Waffe noch in der Kajüte lag, anstatt über seiner Schulter zu hängen.

Henrik setzte sich vor Schreck auf den Hosenboden, als das imposante Ungeheuer sich vor ihm zur vollen Größe entfaltete.

“Beim Klabautermann!” Die Flüche des Kapitäns konnte man über das ganze Deck deutlich verstehen. “Erst der Sturm und jetzt auch noch das! Der Meeresgott meint es nicht gut mit uns!” Er wandte sich seiner Besatzung zu. “Macht die Harpunen klar! Das Vieh schicken wir zurück in die Teufelssee!” Eilig bewaffneten sich die Soldaten mit Harpunen oder Macheten und begannen damit, die Arme des Kraken einzuhacken und einzustechen. Alles in Allem mit wenig Effekt.

Auch Clay, Cerise und Nebula machten sich kampfbereit.

Clay zückte sein Jagdmesser, Cerise ihr Stilett.

Nebula wollte gerade eine Waffe beschwören, als schon wieder eine Hand zu zittern begann. Dieses Mal handelte es sich um die rechte. Ihren Schwertarm. Das konnte sie jetzt absolut nicht gebrauchen!

Während Henrik damit beschäftigt war, rückwärts über das Deck zu krabbeln, fiel ihm wieder ein, dass er die ganze Zeit eine Waffe an seinem Bund trug. Das Schwert, welches er damals mit dem “magischen Hammer” angefertigt hatte. Inzwischen wusste er zwar, dass die Magie von ihm selbst ausging, eine gute Waffe war das Schwert dennoch. Mutig und voll mit jugendlichen Leichtsinn und Selbstüberschätzung zog er es und stürmte auf einen der mit Saugnäpfen übersäten Fangarme zu.

Während sich ihr Freund völlig atypisch verhielt, kämpfte Nebula noch immer mit der Fassung und ihrer außer Kontrolle geratenen Gliedmaße.

Diesmal blieb es auch den anderen nicht verborgen.

Cerise schlitzte gerade noch einen Tentakel des Ungetüms und Clay traktierte einen weiteren mit seinem Messer, als beide zur Prinzessin schauten, die wie versteinert herumstand, während Henrik das Schwert schwang. Es war ein ungewohntes und vor allem unwirkliches Bild. Der sonst so feige Bursche kämpfte mutig gegen das Monster, während Nebula keine Reaktion zeigte. Sie wollten sie aus ihrer Schockstarre herausholen, hatten aber alle Hände voll zu tun, sich zu verteidigen, als weitere Arme des Kraken auf sie zu schnellten.

Die Matrosen waren mit Überleben beschäftigt und stellten auch keine große Hilfe gegen das Monster dar.

Einen improvisierten Kampfschrei schmetternd, hackte Henrik auf einen Arm ein. Dieser war jedoch so dick, dass er auch unter Einsatz all seiner Kraft nicht dazu imstande war, ihn zu durchtrennen. “Du v-verdammtes Dr-Drecksvieh!”, machte er seinem Ärger Luft. “L-Lass m-meine Freunde in Ruhe!”

Hinter ihm näherte sich ein weiterer Tentakel.

Nebula erwachte aus ihrer Starre. “Pass auf!”, rief sie Henrik zu.

Dieser drehte sich um, aber es war bereits zu spät. Der Krake schleuderte ihm das Schwert aus den Händen. Es flog im hohen Bogen davon und bohrte sich außer seiner Reichweite in die Schiffsplanken des Decks.

Der Krake packte Henrik.

Der Braunhaarige spürte, wie das Ungeheuer die Luft aus ihm herausquetschen wollte. Verzweifelte Befreiungsversuche blieben erfolglos. Aus dem Todesgriff der Bestie schien es kein Entkommen zu geben. “H-Hilfe!”

Nebula wollte ihn retten, aber noch immer spielte ihr Arm verrückt. Der Krake würde Henrik in die Tiefe zerren und sie stand einfach nur herum und tat nichts, um ihm zu helfen! Sie sackte zusammen auf die Knie.

“Hilfe!” Abermals erflehte er seine Rettung. Während er zappelte und zerrte, um vielleicht doch noch zu entkommen, schaute er sich um. Das riesige schwarze Auge starrte ihn noch immer an. Henrik sah wieder auf das Deck und fixierte sein Schwert. Da kam ihm der rettende Gedanke. Es bestand aus Metall. Das konnte er sich zu Nutze machen! Anstatt mit den Armen gegen die Kraft des Tiefseemonsters anzukämpfen, streckte er den linken in Richtung seiner Waffe aus.

Er hatte es noch nie aus einer solchen Entfernung probiert, aber er hatte keine Wahl. Es musste einfach funktionieren!

Nebula wurde aus ihrer Verzweiflung gerissen, als Henriks Schwert neben ihr zu wackeln begann. Sie konnte sehen, wie es langsam von einer unsichtbaren Kraft aus dem hölzernen Untergrund gezogen wurde.

Henrik fühlte, wie ihm langsam die Kräfte verließen. Der Krake drückte immer fester und fester. Und das verdammte Ding saß einfach zu fest. Einmal noch konzentrierte er sich und tatsächlich erhob sich die Waffe und raste auf ihn zu. Im Flug ließ er sie sich drehen, sodass die Spitze auf ihn zeigte. Durch eine geringe Kurskorrektur schnellte das Schwert haarscharf an ihm vorbei direkt in den schwarzen Abgrund des Krakenauges und bohrte sich bis zum Anschlag in das Untier hinein, gefolgt von einem monströsen Brüllen.

Die Wunde in seinem Auge musste den Riesenkraken sehr schmerzen, denn sein Griff um Henrik lockerte sich und er ließ ihn fallen.

Gerade noch rechtzeitig!

Bewusstlos schlug er auf dem Deck auf.

Die anderen Arme lösten ebenfalls ihren Griff um das Schiff.

Clay, Cerise und die Matrosen dachten dennoch im Traum nicht daran, ihre Deckung zu vernachlässigen.

“Zum Teufel!”, schrie der Kapitän. “Erledigt mal einer das Vieh endlich!”

Der Anblick ihres reglos am Boden liegenden Gefährten erweckte neue Kräfte in Nebula, und half ihr, ihren Arm endlich wieder in den Griff zu bekommen. Diese Kreatur hatte es gewagt, Henrik zu verletzen. Dafür sollte sie ihren Zorn zu spüren bekommen! Nebula erhob ihren wieder unter Kontrolle gebrachten rechten Arm. Dunkel schimmerten die Arterien unter ihrer Haut hervor und breiteten sich immer weiter aus. “Durchstoße die Herzen meiner Feinde, Lancelot!” Pechschwarzer Äther trat hervor und formte eine Lanze. Sie schimmerte und strahlte vor teuflischer Energie. Mit dem Erhalt ihrer Waffe funkelten Nebulas Augen weithin sichtbar rubinrot. Ein kraftvoller Sprung erhob sie hinauf in die Luft. Der Besatzung der Esmeralda blieb nur das Staunen.

Weit oben über dem Schiff kanalisierte Nebula ihre Kraft.

“Überschallstoß!”

Sie stieß ihre Waffe dem Riesenkraken entgegen. Die Lanze verlängerte sich schneller als der Schall und schlug mit einem lauten Knall in der Kreatur neben der Esmeralda ein. Nachdem sie sich mindestens so schnell wieder zurückgezogen hatte, blieb ein kreisrundes Loch zurück. Sofort stürzten die zuvor noch aufgeregt zitternden Fangarme des Kraken leblos in die See. Die große Masse der Körperteile erschuf Wellen, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. Im nächsten Moment spürte Nebula wieder festen Boden unter ihren Füßen, als sie auf dem Deck der Esmeralda aufkam. Dabei stützte sie sich zusätzlich mit der linken Hand ab, während die rechte ihre Lanze am ausgestreckten Arm hinter ihrem Rücken hielt. Die Waffe verschwand und mit ihr die rubinroten Augen und die hervorstehenden Adern.

“Ein Hoch auf unsere Prinzessin!”, jubelte der Kapitän.

Seine Mannschaft stimmte mit ein.

Aber Nebula war nicht freudig gestimmt.

Rotes Monsterblut breitete sich derweil im Meerwasser um das Schiff aus.

Besorgt eilte Nebula zu Henrik. Sie legte ihre Finger auf seinen Hals und fühlte den Puls. Erleichtert atmete sie auf, als sie feststellte, dass er tatsächlich nur bewusstlos war. Er würde sicher in ein paar Momenten wieder fit sein. Aber um ein Haar wäre er gestorben. Einzig, weil sie ihren verfluchten Körper nicht im Griff hatte.

Das durfte nie wieder passieren!

Cerise sah sich um. Überall schwammen die Arme des toten Riesenkraken herum. “Jetzt bleibt nur noch eine Frage offen”, meinte sie. “Was zum Teufel machen wir mit dem Kadaver?”

Clay schaute aus, als ob ihm da schon etwas vorschwebte.
 

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Nachdem er ihn in seine Kajüte getragen hatte, legte Clay Henrik in dessen Koje und ließ anschließend Nebula allein mit ihm. Er sorgte sich um Nebulas Gesundheit, aber ihm war auch bewusst, dass sie ihm wahrscheinlich nichts sagen würde. Sie zeigte ums Verrecken keine Schwäche. Wenn jemand eine Chance hatte, aus diesem sturen Mädchen etwas herauszubekommen, dann war es Henrik.

Und so verstrichen ungezählte Momente. Noch immer saß die Prinzessin neben dem Schmiedegesellen auf dem Bett und wartete darauf, dass er endlich aufwachte.

Vorsichtig öffnete Henrik die Augen. “Bin i-ich im Himmel?”, fragte er, als das allererste, was er sah, Nebula war.

“Das konnte ich gerade noch verhindern”, sprach die Blondine mit melancholischen Unterton. Ihr Herz war noch immer schwer. Betrübt von dem Empfinden, die Menschen, die ihr wichtig waren, nicht beschützen zu können, trotz der teuflischen Macht, über die sie verfügte. Innerlich hin und her gerissen zwischen ihrem Pflichtgefühl und ihren Minderwertigkeitskomplexen, trug sie weiter die Maske der Unnahbarkeit, hinter der sie sich stets zu verstecken versuchte.

“Danke, dass du mich gerettet-”

“Bedanke dich nicht, du Trottel!” Urplötzlich war sie erregt. “Ich bin an allem Schuld! Wäre ich nicht so... schwach gewesen, dann-”

Henrik richtete sich auf und umarmte sie. “D-Das ist doch nicht schlimm. Wir sind alle manchmal schwach. Letztlich hast du mich gerettet. Mehr muss ich nicht wissen.”

Als er sie so ansah mit seinen ehrlichen Augen, bemerkte sie gar nicht, wie sich ihre Lippen allmählich annähern, bis sie sich in einem Kuss vereinigten. Henrik umschloss Nebula mit seinen Armen. Er gab ihr das angenehme Gefühl, sich fallen lassen zu können. Langsam sanken beide zurück auf das schmale Bett, ohne dabei den Austausch von Zärtlichkeiten zu unterbrechen.

Nebula gelang es, sich von Henriks Mund zu lösen und zu sprechen. “Ich hätte es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert”, sagte sie ungewohnt offen.

“Ich glaube daran, d-dass du mich immer retten kommst, wenn ich i-in der Scheiße stecke”, entgegnete der Braunhaarige und versuchte sie wieder zu sich heranzuziehen und weiter Körperflüssigkeiten mit ihr auszutauschen. Aber sie bewegte sich kein Stück zu ihm, ungeachtet dessen, mit wie viel Kraft er an ihr zog.

“Vollidiot!”, schimpfte Nebula.

“A-Aber...”

“Diese Scheiße ist doch erst passiert, weil-”

“Es ist in Ordnung!”

“Nichts ist in Ordnung!” Nun entzog sie sich ihm vollends und stand auf. “Wegen diesem... Problem wäre es fast zu spät gewesen.”

“Was war eigentlich los?”

“Ich weiß es nicht.” Die Blondine sah bedrückt zu Boden. “Vor einigen Wochen fing es an. Seitdem habe ich immer wieder diese... Anfälle.”

“A-Aber ich habe nichts bemerkt.”

“Natürlich nicht!”, funkelte Nebula Henrik an. ”Denkst du, ich trete das überall breit?! Du spinnst wohl!”

“Aber mir kannst du doch alles sagen.”

“Über manche Dinge spricht eine Frau einfach nicht.”

“Ich g-glaube nicht, dass das in diesem Fall-”

“Halt die Klappe!”

Henrik zog den Kopf ein.

“Wenn du dich soweit wieder gut fühlst, Henrik, gehe in die Kombüse!” Inzwischen war der übliche Befehlston in ihre Stimme zurückgekehrt. “Clay hatte da so eine Idee, für die er deine Hilfe braucht.” Sie umgab sich einmal mehr mit einer harten Schale, die sie wie ihre Rüstung schützen sollte, ungeachtet wem sie damit vielleicht vor den Kopf stieß.

Henrik wusste, dass es keine Widerrede gab, wenn sie erst begonnen hatte, in diesem Tonfall zu sprechen. “Okay.”

“Ach ja”, ergänzte Nebula. “Ich habe dein Schwert aus dem Meer gefischt. Es lehnt dort hinten an der Wand.” Sie zeigte zu der Stelle, an der sich die Waffe befand, und ging daraufhin.

Henrik konnte nur noch zusehen, wie sie seine Kajüte verließ. Dabei hätte er sie viel lieber weiter geküsst. Ihre Lippen waren so weich wie Wolle und so süß wie Honig. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was er wohl schon wieder falsch gemacht hatte, um sie zu erzürnen. Wieso mussten Mädchen so launisch sein? Oder war nur sie so furchtbar kompliziert? Irgendwie war er auch selber schuld. Niemand zwang ihn, auf der höchsten Schwierigkeitsstufe in das Spiel der Liebe einzusteigen.

Dennoch tat er es.
 

Vergnügt pfiff Clay in der Kombüse vor sich hin, während etwas in einem Topf über der Feuerstelle im heißen Wasser köchelte. Es verströmte einen wohltuenden Duft nach Meeresfrüchten in dem kleinen Raum. Die rosafarbene Textur begann allmählich einen intensiveren Farbton anzunehmen.

Den Teig hatte er zuvor schon vorbereitet. Ein Gemenge mit einer breiigen Konsistenz, welches hauptsächlich aus Mehl, Hefe und Salz bestand. Zusätzlich verrührt werden für gewöhnlich einige Eier und ein wenig Fischbrühe. Der Teig ruhte nun schon eine Weile unter einem befeuchteten Tuch auf der Arbeitsfläche auf der anderen Seite. Eigentlich wartete er nur noch darauf, dass Henrik endlich in die Kombüse kam.

Und wie auf sein Stichwort, trat der junge Erwachsene ein.

Große, staunende Augen betrachteten den Aufbau. “Was ist denn das alles?”, fragte er.

Clay grinste hinterhältig durch seinen dichten Bart hindurch. “Das ist ein ganz besonderes Rezept von den östlichen Inseln. Und du wirst mir beim Kochen helfen.”

Erneut hatte Henrik nicht wirklich die Wahl.

“Na gut...”
 

Abermals versammelte sich die Besatzung der Esmeralda in der Messe. Die Kunde vom bevorstehenden Festmahl war schon in aller Munde, lange bevor es aufgetischt wurde. Handelte es sich um Essen, verbreiteten sich solche Nachrichten schneller als die Pest in einem Armenviertel. Nun saßen sie ungeduldig auf ihren Plätzen und warteten darauf, bedient zu werden. Ihr Benehmen war keinen Deut besser, als am Tag davor und besserte sich nicht, als endlich die Tür zur Kombüse aufgestoßen wurde und Henrik einen Wagen mit drei großen Schüsseln hinein schob. In den Behältnissen befanden sich seltsam anmutende Bällchen. Als sich der markante Duft der Speise in der Messe verbreitete, machte er die Mannschaft nur noch ungeduldiger und gieriger.

Der Schmied verteilte das Essen. Dieses Mal ließ er sich nicht von Annemarie helfen, auch wenn sie sicher ohne zu zögern mitgemacht hätte. Stattdessen saß sie schon auf ihrem Platz. Während er die Teller füllte, sah er sich um und musste feststellen, dass Nebula sich nicht an ihrem Platz befand. Sie war wohl immer noch verstimmt. Er ließ sich nicht beirren und fuhr mit seiner Arbeit fort.

Die Gäste der Messe beäugen die Speise kritisch.

“Was ist das?”, fragte einer und lies seiner Skepsis dem seltsamen Gericht gegenüber durch wiederholtes Stechen mit der Gabel freien Lauf.

“Kann man das essen?”, wollte ein anderer wissen.

Bald schon vernahm man allerdings Laute des Genusses. Der Wohlgeschmack des exotischen Essens überzeugte auch die letzten Zweifler. Schließlich dauerte es nicht lange und alle schaufelten hemmungslos die Bällchen in sich hinein.

Cerise war da kein Stück besser.

Clay grinste die Rothaarige an.

“Mh-was hgm-glotscht Ihr Mhm-denn so hm-an?”, fragte sie ihn leicht empört mit prallen Backentaschen. Dabei fielen Brocken aus ihrem Mund zurück auf den Teller.

So sah er sie selten. “Freut mich, wenn es Euch schmeckt”, meinte er. Für seinen Geschmack könnte sie ruhig etwas zunehmen.

Cerise schluckte herunter. “In der Tat. Das schmeckt wirklich gut.” Sie beugte sich über den Tisch zu ihrem Liebhaber, der ihr wie immer gegenüber saß, und flüsterte ihm ins Ohr. “Wenn Ihr mir nicht auf der Stelle das Rezept verratet, erfahrt Ihr einen äußerst schmerzhaften Tod.”

Ihre Drohung entlockte ihm ein weiteres Grinsen. “Als ob Ihr das tätet.”

“Wohl war. Es wäre außerordentlich schwer einen angemessenen Ersatz für Eure Qualitäten zu finden.”

“Das betrachte ich mal als Kompliment.”

"Herausragende Leistungen werden stets honoriert.”

Beide sahen sich an, als wollten sie sich gleich hier vor allen Leuten die Kleider vom Leib reißen und es hemmungslos auf der Tischplatte treiben.

Annemarie blickte fragend zu Henrik. “Wovon reden die da?”

“Ähm...” Dem Braunhaarigen fehlten die Worte, um es der Kleinen zu erklären. “Also d-das ist so. Sie meint das...”

“Ja?!”

“Nein, das sage ich dir erst, wenn du älter bist.”

“Du bist gemein!” Annemarie verschränkte die Arme und schaute mit zur Schnute verzerrten Schmollmund beleidigt zur Seite.

So schnell wie sie in die Messe hinein gebracht worden waren, wurden die Oktopusbällchen von den Anwesenden auch schon wieder verspeist. Kurze Zeit nach dem Festessen zerstreute sich die Gesellschaft wieder in alle Winde. Von den Takoyaki war nicht viel übrig geblieben. Außer dem einen, besonders scharf gewürzten, den Henrik mit extra viel Liebe für seine Liebste angerichtet hatte. Einen Tag später war dieser aus der Kombüse verschwunden. Henrik wusste, dass Nebula ihn sich einverleibt hatte. Kein Anderer wäre wahnsinnig genug, das Wagnis einzugehen, dieses teuflische Oktopusbällchen direkt aus der Hölle, das er liebevoll “Satans Furz” getauft hatte, zu essen.

Henrik spürte, dass er Nebula ihren Freiraum lassen musste. Den wollte er ihr auch gewähren. Wenn sie bereit dazu wäre, täte sie ihm ihr Herz ausschütten.

Früher oder später. Vielleicht eher später...

Er konnte warten.

Schnell verstrich eine Woche.

Der Wind blieb weiterhin günstig und blies die Esmeralda ohne weitere Umwege oder unbequeme Aufeinandertreffen mit Meereskreaturen direkt an die Küste von Yjasul. Endlich hatten sie das Kalifat erreicht.

Der Hafen von Al Shahr erwartete sie bereits.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Na klar, warum auch nicht. Wenn ich einen Riesenkraken erledigt hätte, würde ich ihn auch zu Takoyaki verarbeiten. Das versteht sich doch von selbst.
(____/)
( ͡ ͡° ͜ ʖ ͡ ͡°)
╭☞ ╭☞

Nach meiner längeren Abstinenz vom Schreiben hat mir dieses Kapitel wirklich sehr viel Spaß gemacht. Ich habe meine Charaktere schon richtig vermisst. Leider ist nicht alles eitel Sonnenschein. Etwas stimmt nicht mit Nebula. Und absolut typisch für sie will sie mit niemandem darüber reden…
Wo soll das alles nur hinführen? Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Regina_Regenbogen
2022-10-09T09:08:25+00:00 09.10.2022 11:08
Oh, es war so schön, die Truppe wiederzusehen! 😍 Einen Blick auf jeden von ihnen werfen zu können am Anfang des Kapitels, sogar auf Annemarie war herzerwärmend, auch wenn die ersten großen Probleme sich da schon angekündigt haben, wie die Problematik mit dem "Ich liebe dich" zwischen Cerise und Clay.
Deine Beschreibungen waren auch wieder ganz toll, ich konnte mir das alles wieder wunderbar vorstellen! 😍
Oooh und Henrik ist einfach so süß! Seine Gedanken wind einfach herzallerliebst, bzw. was man liest, wenn es grade um ihn geht, wie dass Nebel (ich werde sie für immer so nennen, sorry) zwar nicht groß ist, aber seine große Liebe! 🥰 Was für ein Schatz. Oder dass er sich für die erste Liebe eine sehr herausfordernde ausgesucht hat, aber trotzdem daran festhält. Er ist einfach so goldig. Auch wie er mit Nebel und ihren Selbstvorwürfen umgeht und so verständnisvoll ist. Oder als er denkt, dass es gut ist, dass sie die Geschwindigkeit aus der Beziehung rausgenommen hat, weil diese ihm selbst Angst macht. Oooooh. Er ist einfach der Liebste.

Puh, Cerises Vergangenheit ist echt hart. Dass sie so unemotional darüber spricht, sollte Clay nicht verwundern. Missbrauchsopfer sprechen nie emotional über so was und wollen auch gar nicht sehen, dass ihnen was Schlimmes passiert ist. Die verdrängen das oft. Und Cerise ist ein typisches Beispiel dafür. Sie sieht das nicht und will es nicht sehen.
Oh süß, dass es Cerise so schmeckt. Klar, was macht man anderes mit einer Riesenkrake als Takoyaki! XD

Dass Nebels Körper spinnt, ist gar keine gute Entwicklung und natürlich macht sie das, was sie am besten kann, die Menschen, die sie am meisten braucht, von sich wegstoßen. Oh Mann, das tut einem richtig weh. Sie leidet ja am meisten drunter. Henrik hat ja Verständnis dafür.
Oh, und ich liebe es, wie du diese süßen Details einbaust, wie mit den extra scharfen Takoyaki und dass Nebel sie sich doch noch holt.
Oh menno, ich spüre richtig diese gedrückte Atmosphäre, man merkt, dass etwas Schlimmes bevorsteht. Es ist nicht mehr so leichtherzig wie im ersten Teil, auch wenn es immer noch witzig ist, man merkt, es wird jetzt ernst. 🙈

Danke für das tolle Kapitel!

Antwort von:  totalwarANGEL
09.10.2022 12:01
> Einen Blick auf jeden von ihnen werfen zu können am Anfang des Kapitels
Da ich ursprünglich eine neue Story eröffnen wollte, war das als Rückblick für alle gedacht, die die erste nicht gelesen haben.

> Deine Beschreibungen waren auch wieder ganz toll, ich konnte mir das alles wieder wunderbar vorstellen!
Na besser geht es doch gar nicht. 😁

Ja, Henrik der kleine Versager.
Wenigstens ist er verständnisvoll. Sonst hat er nix drauf. Auch wenn er sich sogar mit einem Kraken anlegt, wenn es sein muss.

> Missbrauchsopfer sprechen nie emotional über so was
Na ja... Missbrauch. Gut, wenn ich so darüber nachdenke, stimmt das schon. Eine Sekte, die eine komische Gottheit anbetet und Leute umbringt... ein gewisser Missbrauch findet bei den Anhängern schon statt.
> Problematik mit dem "Ich liebe dich" zwischen Cerise und Clay.
Cerise ist so eine, die gesteht sich das bis zum bitteren Ende nicht ein.
Obwohl es eigentlich offensichtlich ist...

> Dass Neb[ula]s Körper spinnt, ist gar keine gute Entwicklung
Ganz und gar nicht. Da ist ein schöner Showdown geplant. ;)

> Oh menno, ich spüre richtig diese gedrückte Atmosphäre, man merkt, dass etwas Schlimmes bevorsteht.
😈

> Danke für das tolle Kapitel!
Hast lange genug warten müssen. 😂


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