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Die Kinder von Captain Waylon

Die Geschichte von Sabrina und Berthold
von

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Oh Schwesterchen!

Sarahs viel zu überstürztes Handeln war von Emotionen gelenkt und beinahe wäre ihr genau das zum Verhängnis geworden.

Draußen im dunklen Vorgarten des Anwesens konnte sie nicht sehen, dass jemand Im Dunkeln auf dem Schuppen stand und sie genauestens beobachtete. Alles, was Berthold hatte, war einen Namen. Groves. Eine Frau, die den Namen Groves trägt, war für das Schicksal für seine Schwester verantwortlich gewesen. So war er Theodore, der von seinen Soldaten mit „Groves“ angesprochen wurde, zum Anwesen gefolgt und siehe da, er konnte seinen Augen kaum trauen, dass sich die gesuchte Person ohne Schutzpersonal nach draußen begeben würde, direkt vor seine Stiefel. Etwas, was Berthold definitiv nicht in seine Pläne mit einkalkuliert hatte. Trotzdem sagte ihm der Instinkt, dass er jetzt zuschlagen musste und nicht lange Zeit hatte, um ausgiebig zu planen. Schnell und leise wie eine Katze im Mondschein schlich er auf der Mauer entlang bis zum Haupttor, wo Sarah jeden Moment hindurchlaufen würde. Um die Wachen jedoch vorher wegzulocken, nahm er einen riesigen alten Eimer vom Schuppendach und warf ihn im hohen Bogen in eine naheliegende Böschung. Es gab ein lautes Geräusch, welches Sarah zwar nicht wahrnahm, dafür aber das Wachpersonal, die den Köder schluckten. Beide sahen sie alarmiert in genau die Richtung, aus der das Geräusch kam.

„Was war das?“, sagte der größere schmalere Soldat zum anderen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete der andere kleinere ratlos, der um seine Mitte auch ein wenig kräftiger war.

„Ja dann sieh nach!“

„Das ist aber nicht der Befehl, wir müssen hier stehen bleiben und das Tor bewachen“, entgegnete der kleinere.

„Nein, Lieutenant Groves hat ausdrücklich gesagt, wir sollen das Anwesen schützen und alles Bedrohliche fern halten. Und was auch immer da in der Böschung ist, es könnte sehr bedrohlich sein.“

Berthold hatte sich hinter einem Mauervorsprung versteckt und wartete ungeduldig darauf, dass sie sich endlich vom Tor entfernen würden. Aber sie bewegten sich nicht und Sarah Groves kam immer näher. Er wurde hektisch. Verdammt! Heilige Makrele! Sie mussten da weg.

„Geh du.“

„Nein, wenn dann gehen wir zusammen.“

„Gut, aber du …du gehst vor“, sagte der größere schmalere Soldat und deutete ängstlich in die Richtung.

Sie bewegten sich. Gott sei Dank, dachte Berthold. Es dauerte nicht einmal 30 Sekunden, bis Sarah Groves das Tor passierte. Verwundert blickte sie sich um und suchte die Wachen, welche nicht an ihrer Position standen. Diesen Moment der Verwirrung nutzte Berthold. Er sprang lautlos von oben herunter hinter Sarah, griff sich die Frau, hielt ihr mit der einen Hand den Mund zu und zerrte sie in den Garten zurück hinter eine große Eiche. Die Frau wehrte sich natürlich und schlug um sich aber Bertholds Griff war fest. So fest, wie man es eben von einem Piraten erwartete. Die harte und raue Arbeit auf der See hatten ihn stark und kräftig gemacht.  

„So sieht man sich wieder, wunderschönes Fräulein“, spöttelte er und kam ihrem Ohr ganz gefährlich nahe. Sein Atem streifte ihren Hals und ihre Wangen. Da Sarah immer noch kämpfte, blieb ihm nichts anderes übrig als auch sein Messer zu ziehen und ihr es gefährlich jedoch auch harmlos unter das Kinn zu halten. Er hatte nicht vor, Sarah wirklich zu verletzen.

„Beruhigen Sie sich und machen Sie keinen Mucks, sonst schneide ich Ihnen die Kehle durch“, drohte er ihr.

Er ließ die Hand langsam von ihrem Mund und drückte stattdessen ihren Oberkörper an sich heran.

„Elender Pirat“, zischte Sarah ungehalten und atmete schwer unter der Klinge.

„Sie riechen gut, Madame. Was benutzen Sie da für ein vornehmes Parfüm?“, provozierte Berthold die adelige Frau des Anwesens und roch an ihrem Haar. „Oder ist es das Rosenwasser, in welchem Ihr euer tägliches Bad einnehmt?“

„Wenn du mir was tust, wird die Rache meines Bruders dich treffen“, giftete sie zurück. „Schon alleine, dass du gewagt hast, hier nach Port Royal zu kommen war ganz schön dumm von dir. Du hättest auf dem verfluchten Meer bleiben sollen, wo du hingehörst.“

„Ihr Bruder? Oh ja, ich erinnere mich“, flüsterte Berthold. „Der Mann, der unser Schiff zerstörte und meinen Vater auf den Grund des Meeres sinken lies.“

Um seine Wut zu unterstreichen, drückte er Sarah noch fester an sich. Die Frau keuchte überrascht auf. Aber sie wagte es nicht, zu schreien, denn immer noch berührte die scharfe Seite der Klinge ihre weiche Haut direkt an ihrem langen Hals. Jeder Atemzug, den sie tat, kam ihr schwer vor.

„James Norrington hat mir alles genommen. Sie leben nur noch, weil ich dabei war, als Sie meiner Schwester das Leben gerettet haben und ich auf Sie angewiesen bin. Ich bin ein Pirat, es liegt nicht in meiner Natur, Gnade walten zu lassen. Doch ich bin trotzdem kein Mörder, solange mein Gegner sich kooperativ zeigt und verhandelt. Ich bin nicht hier, um Ihnen wehzutun, Mrs. Groves, ich bin nur hier, um meine Schwester zurückzuholen. Sagen Sie mir, wo sie ist und ich verlasse Port Royal auf der Stelle.“

„Ich kenne deine Schwester nicht und weiß auch von keinem Schiff, welches mein Bruder zerstört haben sollte. Und jetzt nehm die dreckigen Finger von mir, du Scheusal.“

„Sie scheinen mutig zu sein, nur nicht mutig genug. Ich war dabei, als Sie sie vor Norrington und seinem elenden Gesetzeshütern gerettet haben. Erinnern Sie sich nicht? Die Kiste und das kleine rothaarigen Mädchen mit dem Tattoo der Piraten der Mondsenate.“

Eine kleine Pause entstand.

„Gut, gut, du hast gewonnen, ich führe dich zu ihr. Aber zuerst musst du mich zum Schuppen führen.“

„Zum Schuppen?“ Berthold verstand nicht. „Meine Schwester lebt im Schuppen?“

Sarah pustete ihre Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Was hast du denn gedacht? Wir würden doch niemals einen Piraten in unsere vier Wände lassen.“

Berthold dachte nach. Da war was dran.

„Nun gut, ich bringe Sie hin. Aber keine Tricks.“

Gemeinsam im Schutz der Bäume brachte Berthold sie zum Schuppen. Durch seine Erkundungstour wusste er, wo genau im riesigen Garten dieser sich befand. Unter dem zweiten Balkon von oben. Er ließ Sarah los, hielt ihr aber eine Pistole an die Schläfen.

„Aufmachen.“

Sarah kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Berthold wartete, aber seine Ohren waren gespitzt. Er musste aufpassen, dass sie nicht entdeckt wurden. Seine Aufmerksamkeit war überall. Ein paar Stimmen weckten sein Interesse. Das waren die Wachen hinter der Mauer, die Berthold vorhin weggelockt hatte.

„Was macht denn der Eimer hier?…“

„Warum ist dort eine tote Ratte drin?“

Berthold grinste schief und war kurz unaufmerksam, was nun ihm zum Verhängnis wurde. Bertholds Arm wurde voller Wucht von Sarah weggeschlagen, die aus ihrer Manteltasche eine Pistole zog. Der Schlag veranlasste, dass Berthold entwaffnet wurde und seine eigene Pistole tief in den dunklen Garten geschleudert wurde. Sarah hatte einen sehr kräftigen Schlag drauf, der es in sich hatte. Nun wendete sich das Blatt und Berthold wurde von der gefährlichen Katze wieder zur kleinen Maus. Er hob die Arme in die Luft. Sarah sah ihn feindselig an.

„Gerissenes Frauenzimmer“, gab Berthold nur anerkennend von sich.

Sarah aber verfolgte ihren Plan, den sie von Anfang an verfolgt hatte. Dieser Schuppen stand direkt unter dem Balkon ihres Sohnes Theodore. Sie war nicht alleine.

„PIRAT IM GARTEN!!!!“, brüllte sie aus Leibeskräften.

Berthold hörte Schritte von überall, Fenster wurden geöffnet, Lichter gingen an. Die Türen im Anwesen öffneten sich, hinter den Mauern hörte er die beiden Wachen und über ihnen öffnete sich die Balkontür. Theodore hechtete zum Geländer und sah hinunter.

„SOLDATEN!!!!!“, rief er über die Mauern.

Berthold bewegte sich langsam und ruhig einen Schritt nach hinten. Ein Schritt nach dem anderen, denn wenn er nur einen gewissen Abstand hatte, konnte er sich zu Boden fallen lassen und der Kugel ausweichen, sollte Sarah schießen.

„War mir erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Groves. Doch nun muss ich los, eine Familienangelegenheit klären.“

Er machte eine schnelle Bewegung, um Sarahs Reaktion zu testen. Sarah schoss nicht, so wie er es sich gedacht hatte und Berthold warf sich so zu Boden, machte eine Rolle nach vorne zum Schuppen, sprang zum großen Ast, schwang sich auf das Dach und kam zurück auf die Mauer, wo er noch vor einem kurzen Moment gestanden hatte. Doch er hatte nicht die Rechnung mit Theodore Groves gemacht, der sich bewaffnet vom Balkon mit einem Seil herunterließ und ihn nun mit seinem Degen bedrohte.

„Du bist umstellt, gib auf!“, sagte er zielsicher und schritt auf Berthold zu. „Auf den Boden, Pirat.“

Berthold drehte sich um und ein Grinsen erschien auf seinem schiefen Kiefer.

„Ich werde niemals aufgeben, Lieutenant. Ich kam in vollkommen friedlichen Absichten“, dabei zog er seinen Säbel, „aber das war der Plan, bevor Sie mich mit Ihrer Waffe bedrohten.“

Sie gingen aufeinander los und die Klingen kreuzten sich. Es entstand ein Duell zwischen dem Piratenjungen und dem erst kürzlich ernannten Lieutenant. Bertholds scharfem Auge entging nicht das leichte Zittern in Theodores Hand, was ihm sagte, dass er noch nicht lange im Dienst der Royal Navy war. Interessant, dass er trotzdem schon zum Lieutenant ernannt worden war. Vielleicht konnte er ihn mit ein wenig Spott und Hohn ablenken, das dachte Berthold, während er Theodore immer weiter nach hinten drängte im Kampf. Doch was war, wenn er sich täuschte. Er bewegte sich weiter, immer weiter nach vorne, bis sie genau neben der Böschung waren, wo Berthold zuvor den Eimer hineingeworfen hatte. Immer wieder knallten die Waffen aufeinander, klirrten gefährlich. Berthold sah in die Augen von Groves, die konzentriert bei der Sache waren. Als der richtige Moment gekommen war, sprang Berthold in die Böschung hinein. Groves reagierte sofort, zog seine Waffe und dachte an die Worte seines Onkels.

„Du kannst nicht zögern. Denn ehe du dich versiehst, hast du selbst ein Schwert im Rücken.“

Theodore drückte ab und es erklang ein lauter Knall. Eine Schar aufgeschreckter Vögel flog aus den naheliegenden Bäumen laut piepend und schnatternd. Von unten erklang ein dumpfes aufkommen und ein schmerzerfüllter Laut. Theodore hatte getroffen. Noch ein wenig erschrocken darüber, dass er gerade einen Piraten angeschossen hatte, blickte Theodore auf seine Waffe. Die Soldaten waren indessen im Garten angekommen. Groves sah noch einmal nach unten, konnte aber nichts vom Piraten sehen, sondern nur Büsche. Er nahm denselben Weg, wie auch Berthold, um vom Schuppen hinunterzugelangen (wen auch nicht ganz so elegant) und eilte auf seine Mutter zu. Die stand dort, immer noch etwas unter Schock.

„Liebling!“

„Bist du verletzt?“

„Nein, mein Sohn.“

Sarah sah besorgt aus. Sie griff in Theodores Mantel, den er um seinen Leib trug, und grub ihr Gesicht hinein. Theodore hatte nicht die Zeit gehabt, sich umzuziehen, weswegen er nur in Hemd und leichter Hose bekleidet war. Das Hemd hatte einen großen Ausschnitt und legte die Sicht auf seine gut trainierte Brust frei. Theodore umarmte seine Mutter fest und tröstete sie.

„Sei unbesorgt, du bist in Sicherheit.“

„Sabrina“, flüsterte sie heiser. „Sabrina Stuart ist in Gefahr, er will sie sich holen. Ihr müsst sie beschützen.“

„Er wird niemanden mehr holen, Mutter. Ich habe ihn erwischt."

„Du hast was?“

Theodore legte seine Hand auf ihre Schultern und löste so die Umarmung.

„Soldaten, eilt schnell an die linke Seite. Dort müsste er liegen, er wird verletzt oder sogar tot sein“, befahl er, ohne den Blick von seiner geliebten Mutter abzuwenden.

Die Soldaten machten sich gleich auf den Weg. Theodore machte Anstalten, ihnen zu folgen, doch er wollte Sarah nicht allein lassen in diesem Zustand. Erst, als James Norrington eintraf und sich um seine Schwester kümmerte, eilte er den anderen Soldaten hinterher. Dort, wo Berthold gestürzt war, war niemand mehr zu sehen. Stattdessen lag dort eine riesige Blutlache. Sie folgten der Schleifspur, die sich irgendwann jedoch auflöste.

„Durchsucht die Gegend, er muss irgendwo sein. Verletzt wird er nicht weit kommen“ gab Theodore den Soldaten den Befehl. Sie teilten sich auf und liefen in Grüppchen sortiert in die Stadt hinein.
 

Port Royal am späten Abend war für Sabrina viel angenehmer. Wenig Menschen waren auf den Straßen, nur vereinzelte Personen, meistens allerdings auch zwielichtige Gestalten. Sabrina aber wusste, wie sie sich fernzuhalten hatte. In Whale and Waterspout, der Taverne, die gegenüber ihres Hauses lag, war wieder eine heitere Geräuschkulisse wahrzunehmen. Lachen, Musik, klirrende Gläser, all das, was auf einen „lustigen“ Abend deutete. Viele von den jungen Mädchen in Port Royal waren einmal in ihrem Leben dort, heimlich, da es die Eltern nicht erlaubten. Sie schlichen sich spät aus dem Haus, um sich dort die Zeit mit anderen Männern zu vertreiben. Man hörte aber auch immer wieder unschöne Gesichten und Gerüchte über diese verruchte Taverne. Zum Beispiel, dass auch Piraten diese immer wieder aufsuchten. Sabrina war noch nie darin gewesen und sie hatte es auch nicht vor, wobei sie sich trotzdem schon oft ertappte, wie sie darüber nachdachte. Sie war neugierig auf die lebhafte Stimmung und wollte schon immer einmal mit anderen gemeinsam tanzen. Nur das Trinken und die vielen Menschen, der Gestank von Alkohol, das war einfach nicht ihr Ding.

„Komm, Ava“, sagte sie zu ihrem Hund und ging in eine kleine Gasse hinein. Ava trottete flink hinterher, blieb aber dicht hinter Sabrina. Sie konnte das vertraute Tapsen seiner Pfoten auf dem Asphalt hören und das hecheln.

Die Gasse führte sie zur Stadtgrenze, hier fing das naheliegende Wäldchen an und die Waldstraße, die nach Portmore führte. Eine Handelsrute, wo regelmäßig imposante Kutschen hin und her fuhren. Hier konnte Sabrina ein wenig Ruhe finden. Sie musste über den ereignisreichen Tag nachdenken und dabei erwischte sie sich immer wieder, wie sie an den Lieutenant dachte, der sie vor der Kutsche heute Vormittag gerettet hatte. Groves. Lieutenant Groves. Wie er wohl mit Vornamen hieß? Verträumt lächelte sie. In dieser Uniform sah er schon ein wenig verführerisch aus und er war noch so jung, viel jünger, als die anderen Soldaten. Doch irgendwas in seiner Ausstrahlung unterschied ihn von den anderen. Vielleicht war es sein Alter? seine noch nicht so reiche Erfahrung? Er war Lieutenant, er musste gut in dem sein, was er tat, das zweifelte sie nicht an, auch nicht, ohne ihn zu kennen. Die britische Armee war sehr streng. Jeder Soldat musste gehorchen, immer, egal wann, egal wo, egal was. Sie wurden gedrillt und wenn sie nicht gehorchten, wurden sie schwer bestraft. Eingerissene Ärmel deuteten auf Hochverrat und Hochverrat endete am Galgen. Schockschwere Not, der schnelle Tod. Doch warum dachte sie darüber nach? Sie dachte nie über die Soldaten der Royal Navy nach. Sie hatte Ehrfurcht vor Ihnen, ja, aber trotzdem. Theodore Groves hoffe sie irgendwie, wiederzusehen. Er würde nicht mehr als ein Bekannter bleiben, das war ihr bewusst. Sabrina war die Tochter eines Pärchens, welches kaufmännische Handlungen betrieb, wohnte in einem Viertel, wo die Mittelschicht hauste und war auch sonst nicht „besonders“. Lieutenant Groves gehörte zum obigen Rang, befolgte direkte Befehle der Obersten der Obersten, war vielleicht sogar direkt aus königlichem Hause. Ihr Lächeln erstarb. Nur ein Traum, so etwas würde nur ein Traum sein. Es war besser, sie blieb fern von ihm, bevor sie sich noch in etwas aussichtsloses verrannte. Vielleicht war er ja auch bereits schon verheiratet.

Er hatte Sabrina gerettet, weil es für einen Soldaten üblich war, die Schutzlosen zu beschützen. Sabrina seufzte ein wenig theatralisch und bis sich auf die Mundwinkel. Wo sollte ihr Schicksal hingehen? Was würde ihre Zukunft sein? Würde sie je herausfinden, wer sie wirklich war? Genauer betrachtet übernahmen Kinder die Tätigkeiten ihrer Eltern. Sie würde Kauffrau werden, das Geschäft ihres Vaters weiterführen, vielleicht heiraten und ein oder zwei Kinder bekommen. Aber irgendetwas in ihr sträubte sich hartnäckig dagegen.

Ein Knacken im Gebüsch holte sie aus den Gedanken. Da war etwas. Ein…Tier vielleicht? Ava hatte es ebenfalls bemerkt, denn er stellte sich stocksteif mit horizontaler Rute in Angriffsstellung und begann, zu knurren.

„Ava, was hast du?“

Ava kläffte nur als Antwort. Dann sprintete der Hund plötzlich los und sprang voran mit seinen Vorderpfoten ins Geäst und verschwand.

„Ava!“, rief Sabrina ihrem vierbeinigen Freund hinterher und eilte ihm nach. Tief, abseits von den Straßen, führte Ava sein Frauchen hin. Hier zwischen zwei Bäumen lag etwas, oder eher gesagt, ein jemand. Ein junger Mann. Er hatte eine Glatze, einen Drei-Tage-Bart, trug einen grauen Mantel und ein durchlöcherten schwarzen Umhang. Die Stiefel waren abgenutzt und die Sohle löste sich, die Hose war zerfetzt und Blut durchtränkt. Eine klaffende Wunde war am Oberschenkel zu sehen. Sie blutete stark. Sabrina hielt sich die Hand vor den Mund. Sie fackelte nicht lange und ließ sich neben dem reglosen Körper nieder. Zwei Finger legte sie an den Hals, um den Puls zu spüren. Ein Glück! Er atmete noch! Sabrina riss sich ein Teil ihres Rockes ab und verband das Bein, um die Blutung stoppen zu können. In diesem Moment regte sich der Mann. Voller Schmerzen stöhnte er mit geschlossenen Augen.

„Haben Sie keine Angst, Sir. Ich helfe Ihnen!“

Plötzlich hatte sie ein Messer am Hals. Sie stoppte augenblicklich in ihrer Handlung und entfernte sich augenblicklich. Der Mann sah sie aus graublauen Augen an. An seinem Hals war eine goldene Kette mit einem Totenkopf. Sabrinas Augen wurden groß.

„Sie sind ein….Pirat."

„Fürchtest du dich?“, hauchte der Verletzte.

Sabrina nickte. Ja, sie fürchtete sich vor dem, was man über Piraten erzählte. Sie war zuvor noch niemals einem begegnet, aber sie wusste, dass sie von Piraten abstammte.

„Sie sind der, den Sie suchen. Sie sind Berthold, Captain der Mondsenate.“

Sie zog ihren Ärmel ihres Mantels hoch und zeigte ihm ihr Tattoo.

„Meine Eltern stammen von denselben Piraten ab. Ich habe sie nie kennengelernt, aber ich hörte Geschichten und Legenden über diese Piraten. Deswegen haben Sie keine Sorge, ich werde Ihnen nichts tuen.“

Die Augen von Berthold wurden groß, als er das Tattoo sah.

„Du bist es“, säuselte seine Stimme so leise und zart wie der Wind. „Wie oft habe ich mir den Moment ausgemalt, an dem ich dich finden würde. Nie habe ich die Hoffnung aufgegeben, das zu tuen. Mein geliebter Meeresteufel, meine Schwester.“

Er ließ das Messer sinken und lächelte. Dann begann er zu husten und wurde bewusstlos. Der Sturz von der Mauer und der Blutverlust hatten ihm stark zugesetzt. Sabrina schlug ihm ein paar mal sachte gegen die Wange, um ihn bei Bewusstsein halten zu können, aber es gelang ihr nicht. Hektisch setzte sie ihr vorheriges Werk fort, bis sie schließlich das Bein verbunden hatte und kein Blut mehr herausrinnen konnte. Dann nahm sie sich Bertholds Körper und versuchte, ihn zu schleppen.Sie legte seinen Arm um ihre Schultern und schliff ihn ein paar Zentimeter über den Boden. Er roch stark nach Alkohol, Eisen, Schweiß und Dreck. Sein Körper war noch warm. Wo sollte sie mit ihm hin? Irgendwo, wo die Soldaten ihn nicht finden konnten. Sie entschied sich für eine alte kaputte Hütte. Sie musste nicht weit von hier sein. Sie war zwar räudig und absolut brüchig, doch dort konnte er Schutz finden, denn kaum einer wusste davon. Und die, die davon wussten, denen war diese Hütte vollkommen gleichgültig. Dort kam nie jemand freiwillig hin.

„Ava, lauf voraus“, befahl sie ihrem Hund.

Ava sprintete los und Sabrina ging mit Berthold hinterher. Dabei war sie ziemlich langsam und musste immer wieder eine Pause machen.
 

Unterdessen waren Groves, mittlerweile wieder in Uniform gekleidet, und ein paar seiner Soldaten bei Richard und Catherine Stuart angekommen. Sarah war ebenfalls dort mit Norrington. Sie erzählten ihnen, was sich zugetragen hatte. William Turner, der nebenan in der Schmiede wohnte, bekam den Trouble mit und spähte aus dem Fenster. Er lauschte dem Gespräch und beobachtete alles ganz genau. War etwas mit Sabrina passiert?

„Er konnte fliehen, ist aber schwer verletzt“, teilte Norrington mit.

„Aber er treibt sich noch rum in Port Royal, sagen Sie?“, kam es ängstlich von Catherine, die in den Armen ihres Mannes lag.

„Seien Sie unbesorgt, Mrs. Stuart, die Soldaten suchen jede Ecke und jeden Winkel ab. Er wird hier irgendwo sein und seine Wunden lecken. Jetzt ist er leichte Beute und das wird er wissen. Er wird es nicht wagen, genau jetzt Hand an Ihrer Tochter anzulegen.“

Wer war verletzt? Und wer wollte Sabrina etwas antuen? Wills Griff um den Hammer in seiner Hand verstärkte sich.

„Und Sabrina? Wo ist Sabrina? Sie müssen sie finden, Sir. Bitte!“

Catherines zitternde und klagende Stimme schmerzte William im Innern. Ihre Sorge und ihren Schmerz konnte er spüren. Würde etwas mit Elisabeth sein, dann würde er denselben Schmerz fühlen. Aber was genau war denn jetzt passiert?

„Sir da ist sie. Sie und ihr Hund“, rief ein aufgeregter Soldat.

William stürmte aus der Tür und folgte den anderen, die sich zu Sabrina begaben. Sabrina, scheinbar nichts ahnend, was hier vor sich ging, schritt etwas schüchtern und zögerlich zum Elternhaus. Für sie war dies ein seltsames Bild: da standen ihre Eltern sich in den Armen, und um sie herum die Royal Navy samt Lieutenant und zukünftigem Commodore. Und William.

„Sabrina!!!“, rief William und erreichte seine Freundin vor den Soldaten, um sie in die Arme zu schließen. „Was ist passiert? Du bist ja voller Blut. Und dein Rock, er ist…“

Der Rock reichte Sabrina nur noch kurz bis über ihre kritischen Zonen.

„Ich habe mich beim Klettern bloß an einem Ast verhakt“, log Sabrina und erwiderte Wills Umarmung zögerlich. „Aber was ist denn hier los? Ihr seid doch nicht etwa alle hier, weil ich ein paar Stunden weggewesen bin?“

„Also, das weiß ich auch nicht aber…“

„Sabrina, heilige Mutter Maria“, brach es aus Catherines Mund. Sie begann, erleichtert zu weinen. Auch sie und ihr Mann liefen auf ihre Tochter zu, um sie erleichtert in die Arme zu schließen. William ging ein paar Schritte zurück, um ihnen Platz zu lassen

„Wir dachten schon, er hätte dich erwischt.“

„Wer denn?“, fragte Sabrina irritiert. „Kann mich jetzt endlich mal jemand aufklären?“

„Berthold. Der Pirat ist hinter dir her. Er hat Sarah Groves angegriffen, um an dich heranzukommen“, sagte Catherine ganz aufgebracht und nahm das Gesicht ihrer Tochter in die Hand. „Zum Glück hat Lieutenant Groves ihn mit einer Kugel erwischt. Aber er konnte fliehen.“

Lieutenant Groves hatte auf ihn geschossen? So schnell sah man sich also wieder, wenn auch nicht im Guten. Sabrina blickte auf den jungen Lieutenant, der alles andere als stolz aussah. Sein Gesicht deutete eher auf Überrumpelung und Ratlosigkeit hin. James Norrington war der einzige in der Runde, der noch alle Nerven beisammen zu sein schien.

„Haben Sie den Piraten gesehen, Miss? Hat er Ihnen etwas angetan? Er ist sehr gefährlich, wir müssen ihn unbedingt finden.“

Er bedrängte Sabrina mit einer fordernden Art, die ihr ein wenig Angst machte. Dieser Norrington meinte es ernst. Wenn sie ihn finden würden, dann würden sie ihn hängen.

„Ich habe niemanden gesehen….ich war…ich war nur ein bisschen spazieren“, log Sabrina und betete, dass man ihr diese Lüge abkaufen würde.

Die Runde schwieg und starrte sie an. Ihr Herz rutschte ihr in die Hose, aus Angst, man würde ihr die Lüge nicht abnehmen. Norringtons strenge Blicke waren wie Messerstiche. Vielleicht konnte er ja heimlich Gedanken lesen, dann war sie sicherlich die nächste für den Galgen, dachte Sabrina und verbannte diesen unsinnigen Gedanken gleich wieder. Sie sah zu ihrer Mutter.

„Ich will ins Bett, ich bin müde“, bat sie Catherine mit weinerlich flehenden Augen und hoffte, man würde ihr das abnehmen und sie aus dieser Situation herausbringen.

Catherine nahm Sabrina in den Arm und führte sie Richtung Haus zurück.

„Entschuldigen Sie, Sir, aber ich glaube der Tag war zu viel für sie. Sie muss dringend ins Bett.“

Sie strich ihrer Tochter behutsam über die Haare. Sabrina erwartete tadelnde Worte wegen des Kletterns, aber sie bekam nichts davon zu hören. Anscheinend waren wirklich alle so stark in Sorge gewesen, dass sie einfach erleichtert waren, dass sie noch lebte und unversehrt war. William ging auf der anderen Seite und legte eine Hand auf Sabrinas Rücken. Auf der rechten Seite gingen sie an Sarah und Theodore Groves vorbei. Sabrina erhaschte ein Blick und stellte fest, dass auch der Lieutenant sie ansah, tief blickten sie sich in die Augen und Sabrina klopfte das Herz bis zum Hals.

„Guten Abend, Sir“, stammelte sie verlegen und hätte sich dafür selbst ohrfeigen können.

Als sie drinnen waren, kam Norrington zu seinem Neffen. Abseits der anderen flüsterte er ihm ins Ohr:

"Hab ein Auge auf die kleine, ich habe das wage Gefühl, dass sie uns etwas verschweigt."

Und Theodore nickte gehorsam.



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