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Diplomatie im Auftrag seiner Majestät

von

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Rendezvous im Mondschein

Der Boden des Holzpodests war mit schmutzigem Stroh bedeckt, in dem sich Unrat, Ungeziefer und Exkremente sammelten. Wenn die Angst und der Schmerz der Verurteilten übermächtig wurde, dann versagten die Därme.

Um das Podest hatte sich die Bevölkerung versammelt. Die halbwüchsigen Knaben aus der ersten Reihe waren schon in den frühen Morgenstunden da gewesen, um die beste Sicht zu haben. Der Aufseher trat vor. An seiner Seite der Henker. Ein untersetzter Mann, mit bulligem nackten Oberkörper, der schweißnass im Sonnenschein glänzte, auf einem viel zu kleinen Unterkörper. Die Wächter schupsten sie grob nach vorn. Ihre Hände waren mit Lederriemen auf dem Rücken zusammengebunden. Das Hemd aus groben Leinen, die Füße bloß, das Haar geschoren. Mit einem zufriedenen Nicken trat der Ankläger vor und verlass das Urteil. Einige Punkte stimmte, andere waren an den Haaren herbeigezogen oder zur Unkenntlichkeit verdreht. Den Zuschauern war es egal. Laut grölend kommentierten sie jeden Richterspruch und ergötzten sich an ihrer Angst. Sie spürte, wie das Grauen sich ihres Magens bemächtigte und kniff das Gesäß zusammen. Bei allen Heiligen schwor sie sich, ihnen nicht die Befriedigung zu geben, sich vor ihnen zu besudeln. Wieder packten sie grobe Hände und rissen sie zum Schandmahl, um ihre Hände an einem Eisenring, der 5 Fuß über ihrem Kopf hing, zu befestigen. Ihre Arme wurden hochgerissen. Hilflos schliff sie mit den Zehenspitzen über die groben Holzplanken am Boden. Sie hielt Tränen und Angst zurück. Grinsend trat der Henker vor und schnürte sich eine schwarze Lederschürze um, um seinen bloßen Oberkörper vor den Blutspritzern zu schützen. Er riss ihr das Hemd am Rücken einen Zoll auf. Begierigt rückten die Zuschauer weiter vor, um möglichst viel von der nackten weißen Frauenhaut zu sehen. Genüsslich registrierte der Ankläger die Erregung der Menge und gab ein kurzes Zeichen. Mit einem Ruck lag der ganze Rücken frei. Glatte weiße junge Haut, noch unberührt von Entstellungen und Alter. Bereit für den ersten Kuss der Peitsche. Er ließ die Peitsche zur Probe knallen.

Sie zuckte bei diesem Geräusch zusammen. Der Drang ihren Tränen und ihrem Magen freien Lauf zu lassen wurde übermächtig.

Am Schandmal hängend, verschloss sie die Augen, um die demütigen Blicke nicht sehen zu müssen, die ihren entblößten Körper verschlangen. Verschloss die Ohren vor dem Surren der Peitschen und den unflätigen Bemerkungen der Menge. Wieder durchschnitt die Peitsche die Luft. Eine letzte Runde, bevor ihr langer Schwanz ihre Haut traf ...
 

Mit einem erstickten Schrei fuhr Aramis aus ihrem Schlaf. Ihr Herz raste, ihre Stirn war schweißnass. Diese Träume begleiteten immer wieder ihren Schlaf. Wann würde das aufhören? Die Antwort kannte sie; -nie. Sie atmete schwer und schwang die Beine aus dem Bett. Ihre Füße zuckten vor der Kälte des Bodens zurück. Barfüßig lief sie zum Fenster, öffnete dieses und zog begierig die kalte, klare Nachtluft ein. Nur schwach wehte der faulige Geruch der Themse hinüber. Bald würde der Sommer auf die englische Hauptstadt drücken und der Hof würde sich auf das Land zurück ziehen. Die Hände auf den Fenstersims gestützt, blickte Aramis in die Nacht hinaus. Der Wind strich kalt über ihre bloße Haut, unter dem leichten Nachthemd. Der Wunsch nach Hause zurück zu kehren wurde stärker. Sie spürte, wie sich der Knoten in ihrer Brust fester um das Herz zog. Warum kam keine Nachricht aus Paris von ihren Freunden? Für sie hatte Renée ihren Kokon aus Trauer verlassen und war ganz zu Aramis dem Musketier geworden. War sie ihnen jetzt gleichgültig, nach nur knapp 3 Monaten? Mit zusammengepressten Lippen kletterte sie in das Bett zurück und verhaarte ruhelos bis in die Morgenstunden.
 

Nachdenklich blickte Aramis aus dem Fenster und maß die Entfernung vom Fußboden, -annehmbar. Dann die Entfernung von ihrem Fenster zu de Meyé's Räumen. Gut zwei Stockwerke höher und rechts von ihr gelegen. Eine weite Strecke; - beängstigend, aber machbar. Sie zog den Kopf ein, nahm sich einen Stuhl und wartete. Sie wartete 10 Minuten, sie wartete 30 Minuten, sie wartete eine Stunde. So lange, bis die Sonne am Horizont verschwand und die notwendige Dunkelheit für ihr Unterfangen da war. Die letzten Strahlen der feurigen, roten Halbkugel ergossen sich über die Landschaft. Sie wartete geduldig und ruhig. Sie konnte warten, denn diesmal hatte das Warten ein Ende. Anders als in den vergangenen Monaten wusste sie, dass die Untätigkeit begrenzt war. So bald es Dunkel war, würde sie sich auf den Fenstersims schwingen, zwei Stockwerke hoch klettern und knapp 30 Meter nach rechts. Keine weite Strecke, wenn man davon absah, dass sie an der Außenfassade hing und jederzeit entdeckt oder herunterfallen konnte. Aramis war alleine. Sophie hatte gefleht und gebettelt, dass sie von ihrem gefährlichen Unterfangen abließ. Schließlich hatte sie das Mädchen weggeschickt, weil sie ihre Tränen nicht ertragen konnte.

So, die Sonne war untergegangen. Das letzte Tagesgrau würde bald verschwinden und der Nacht das Feld räumen. De Meyé hatte sich für den Ball des Königs entschuldigen lassen, weil er Besuch erwartete. Sein Kammerdiener, der die freie Zeit während der höfischen Pflichten seines Herren nutzte, um den Zofen hinterher zu steigen, um den ein oder anderen Bastard zu zeugen, hatte sich beschwert, dass er an diesem Abend dienen musste. Dies sagte er zum Kammerdiener des Baron Leighton, der wiederum Mr. Hamilton kannte, der es seiner Frau erzählte, die es ... oder umgekehrt. Jedenfalls landete die Information bei Sophie und nun gedachte Aramis, bei dem Treffen dabei zu sein. Die zahllosen Geheimgänge im Louvre waren ihr aus den Aufzeichnungen des Kapitäns bekannt. In Whitehall leider nicht und es blieb nur die Erinnerung an einen 7jährigen Pariser Jungen und seine Eskapaden. De Meyé war wohl kaum geneigt sie einzuladen.

Broussard saß wahrscheinlich in seiner winzigen Kammer und schrieb lange Beschwerdebriefe an den Kardinal. Der König und die Königin waren beim Ball, mit ihnen der Hofadel und der Großteil der Dienerschaft. Es blieb nur noch Lord Corday, welcher die Angewohnheit hatte immer zu den ungünstigsten Zeiten aufzutauchen. Diesmal dürfte er ihr nicht in die Quere kommen. Seine Lordschaft lag krank im Bett.

Ärgerlich schwang Aramis ein Bein über den Fenstersims. Alle Damen am Hofe sprachen von nichts anderem mehr. Die ganze Damenwelt von Whitehall war besorgt ... nicht sie, aber alle anderen.

Das zweite Bein folgte.

Es war nicht ihre Schuld, dass er mit einer Erkältung im Bett lag. Schließlich war er ein Narr. Zugegeben ein ziemlich gutaussehender Narr, dass musste sie einräumen, aber letztendlich ein Narr. Sie konnte noch immer den warmen Druck seiner Schenkel spüren. Teufel auch, warum brannte ihr Gesicht bei dieser Vorstellung?

Der Wind war hier oben erheblich schärfer, als auf dem Erdboden. Aramis drückte ihren Körper eng gegen die Wand. Sie hatte wirklich andere Sorgen, als an einen Engländer zu denken, der sich seit ihrem ersten Schritt auf englischem Boden in ihr Leben drängte. Was sollte sie auch schon über einen Narren sagen ... einen Narren, der für sie durch die Nacht ritt und eine Lungenentzündung riskierte.

Sie verdrängte jeden Gedanken an Corday und begann sich auf das Klettern zu konzentrieren. Befreit von ihren Fesseln sang ihr Körper in der ungewohnten Freiheit. Gleichmäßig, jede Bewegung auskostend erklomm Aramis die Außenfassade. Ihre Nase sog gierig die klare Abendluft ein. Die schmalen Finger ertasteten sich eine Kante, ein Spalt, einen Vorsprung zum Festhalten. Schwungvoll zogen ihre Arme sie empor, kraftvoll schoben ihre Beine von unten nach. Unvermittelt hielt sie beim Klettern inne, als die Stimme des Grafen aus einem geöffneten Fenster ertönte. Atemlos drückte sie sich näher an die Wand und ging langsam in die Hocke, die Hände fest um eine steinerne Stuckverkleidung geschlungen.

"Dies wird sicherlich kein Problem für Euch darstellen!"

Das war eindeutig die Stimme des Grafen. Ein tönender Bass, in dem Französisch der Südküste. Vorsichtig verlagerte Aramis das Gewicht und rutschte näher heran, um etwas zu sehen. Bisher hatte sie es vermieden nach unten zu blicken. Der Wind hatte erheblich aufgefrischt.

Graf de Meyé stand mit seinem Rücken zu ihr und verdeckte seinen Gesprächspartner. Der Salon des Grafen war über und über mit Jagtrophäen verziert und geschmückt. Er schien mehr Spezies ausgerottet zu haben, als eine Eiszeit. Nicht gerade ein Umstand, der Aramis für ihn einnahm.

Das rechte Knie auf dem Sims abgestützt, die Hände fest um den Flügel eines leblosen Cherubins geschlossen lauschte sie regungslos. Das Blut wich aus ihren steifen Fingern. Wenn sie das Gleichgewicht verlor, würde sie entweder in die Tiefe oder in de Meyé's Salon stürzen und beides begrüßte Aramis herzlich wenig.

"Aber Ihr bekommt doch schon alle Informationen von mir?"

Eine dünne unsichere Männerstimme im schlecht artikuliertem französisch antwortete dem Grafen. Eisiges Schweigen herrschte zwischen beiden Männern. Mit auf den Rücken verschränkten Händen fixierte der Graf seinen Gesprächspartner.

"Das reicht nicht! Der Einsatz hat sich erhöht." Gemessenen Schrittes durchmaß der Graf den Räum. Erschrocken wich Aramis zurück. Was wenn sein Blick durch das Fenster fiel? Bedächtig und behutsam tastete sie sich wieder nach vorn. Sie musste seinen Gesprächspartner sehen. Allein die Stimme half ihr nicht weiter.

Erst kam ein langes Bein in unscheinbaren Beinkleidern, dann ein schlaksiger Körper, der kraftlos in einem Sessel kauerte. Spärlich blondes Haar und blasse blaue Augen in einem Gesicht von bemitleidenswerter Durchschnittlichkeit. Der Ausdruck ständiger Unzufriedenheit und Selbstzweifel hatte sich in die unscheinbaren Züge gegraben. Aramis wusste, dass er David Heydon hieß und entfernt mit Sir Edward Graydon verwandt war, dessen Sekretär er war. Graydon gehörte zum inneren Ministerstab des Königs und bekleidete eine der höchsten Positionen im oberen Parlament. Wenn Sir Edward auf Grund seines Aufgabenfeldes in die geheimsten Staatsgeschäfte eingeweiht war, dann war es Heydon als sein Sekretär sicherlich auch. Heydon stürzte den Inhalt seines Glases mit einem Zug hinunter. Nach der Farbe der Flüssigkeit zu urteilen, ging Aramis davon aus, dass es sich um Brandy handelte. Der Graf musterte seinen Gegenüber mit berechnenden Ausdruck in den Augen, schenkte erneut Brandy in zwei Kelche und setzte sich ihm gegenüber.

"Was meint Ihr?", stotterte er unsicher. Der Graf lächelte freudlos.

"Ganz einfach mein Freund. Ihr seid mein Mittelsmann und trefft Euch an meiner Statt mit dem Interessenten! Ihr versteht, dass ich mich an bestimmten Ort und bei bestimmten Personen nicht selbst blicken lassen kann. Jemand muss diese Aufgabe für mich erledigen und hierzu habe ich Euch auserkoren. Der französische König ist schon längst misstrauisch genug."

Aramis stockte das Herz. Wusste man über sie bescheid?

Heydon stand auf und lief unsicher umher. Die Hände knetete er nervös vor seiner hageren Brust. Er blieb vor dem Beistelltisch stehen, nahm die Brandyflasche und schenkte sich ein.

"Bedienen Sie sich ruhig", erwiderte de Meyé trocken und lehnte sich zurück. Die Flüssigkeit schwenkte bedrohlich im Glas, weil Heydon's Hände zu sehr zitterten. Er ließ sich in den Sessel gegenüber des Grafen fallen und trank sein Glas in einem Zug leer. Mit der zusätzlichen Menge an Alkohol im Magen schien er wesentlich ruhiger zu werden. Er wollte erneut nach der Flasche greifen, aber de Meyé schob diese beiseite. Das Licht der Kerzen brach sich in den zahlreichen Ringen auf dessen Hand.

"Sind wir uns handelseinig, Mr. Heydon?"

"Was ist mit meinem Risiko? Was wenn ich erwischt werde? Es ist schon riskant genug, Euch die Informationen zu geben. Ich verliere meine Position, meine Stellung und wie ich hörte, sind Eure Interessenten sehr ungehalten, wenn nicht die Informationen eintreffen, die sie sich erhoffen."

"Ihr Narr, ich verlange lediglich, dass Ihr euch mit den richtigen Leuten trefft und ihnen ausrichtet, was ich Euch auftrage. Jeder Dummkopf ist dazu in der Lage. Ihr wolltet mitmachen, Heydon. Keine Belohnung ohne Wagnis. Ihr wolltet höher hinaus, als die dreckige Gosse aus der Ihr kommt. Um das Geld zu bekommen, dass Euch Eure jämmerliche Stelle nicht einbringt. Um mit Reichtum darüber hinweg zu täuschen, welches Nichts Ihr seid. Ihr wollt den Lohn, dann zahlt den Einsatz." Der Graf sah ihn verächtlich an. Heydon war bei jedem einzelnen Wort zusammen gezuckt und tiefer zwischen seine Schulterblätter gesunken. "Und denkt daran", fuhr de Meyé fort, "Ihr seid in meiner Hand."

"Aber ich erfülle meinen Teil. Ich gebe Euch alle Informationen weiter, die ich von Sir Graydon erfahre", jammerte er mitleiderregend. Sehnsüchtig suchten sein Blick die Brandyflasche. Die Augen des Grafen musterten ihn kalt.

"Dann hättet Ihr Euch mit Eurer Stellung als Graydon's Sekretär zufrieden geben sollen, aber Ihr wolltet mehr."

"Ich könnte Euch verraten!" Heydon spielte mit dem Feuer und verbrannte.

"Versucht es! Das Grab, welches Ihr Euch schaufelt ist wesentlich tiefer, als das meine. Man wird mich höchstens Absetzen und nach Hause schicken, aber Ihr ...? Was ist?

"Ja, schon gut", unterbrach ihn sein Gesprächspartner hektisch und tupfte sich nervös die schweißnasse Stirn ab. "Ich mache es."

Der Graf nickte zufrieden. Die beringte Hand schob den Brandy wieder näher. "Ihr bekommt alle Instruktionen, wenn es losgeht." Damit endete der wichtige Teil des Gespräches. Alles andere waren belanglose Floskeln.

Aramis schüttelte den Kopf. Sie fror mittlerweile. Sah der König nicht, welche Gefahr von seinem Hof ausging? Karl I. war erst 22 Jahre alt. Gott bewahre ein Land vor einem zu jungen König, dessen Berater ihm nur Unsinn zuflüstern, während dieser noch grün hinter den Ohren war.

Sie hatte gehört, was sie hören wollte. Bei allen Heiligen, mehr, als sie sich je erhofft hatte. Mit David Heydon bekam sie den Schlüssel zur Erfüllung ihrer Mission in Form eines charakterschwachen, blassgesichtigen Mitverschwörers in die Hände. David Heydon war mittellos und ein kleines Licht am großen Hof, dass nach Größerem strebte. Es gab bei Verschwörungen immer ein schwaches Glied in der Kette. Vom zuckenden Augenlid bis zu den Schweißfüßen war Heydon wie geschaffen dafür. Seine ganze Erscheinung und sein Auftreten zeichneten diesen Umstand aus. Aramis entschied, dass sie mit allen Mittel David Heydon für sich einnehmen musste. Sie sah sich weder als talentierte Verführerin oder Intrigantin, aber Heydon war zu unscheinbar und mittellos, um wählerisch zu sein und bei Gott, wenn sie es bei einem Lord Charles Corday schaffte ...

Es war Zeit den Rückweg anzutreten. Ihre Muskeln waren mittlerweile verkrampft und durchgefroren. Ihre Finger taub und eisig. Vorsichtig bewegte sie ihre Glieder und späte in die Tiefe. Beängstigend weit lag der Boden unter ihr. Aramis zwang sich den Blick nach oben gerichtet zu halten. Der nächste Fenstersims oder Mauervorsprung konnte sich ebenso gut direkt unter ihrem Fuß befinden oder mehrere Zoll entfernt. Selbst die Existenz ihrer Füße wurde zu einer Frage des Vertrauens. Der Wind pfiff in den Ohren. Nur auf ihr Tastgefühl verlassend, tastete sie sich voran. Der Rückweg gestaltete sich als wesentlich schwieriger, als der Aufstieg. Erst jetzt wurde ihr das Wagnis ihres Ausfluges richtig bewusst. Jederzeit konnte ein Fenster geöffnet werden. Man würde sie finden und zur Rechenschaft ziehen. Wie sollte sie das erklären?

Und dann passierte letztendlich das, was passieren musste. Ihr Fuß rutschte ab, ihre Hände, klamm von der Kälte fanden keinen Halt und ließen los. Für eine Schrecksekunde fiel sie. Sie atmete nicht mehr, ihr Herz stand still. Ihr Körper schabte an der Wand entlang, ihre Füße suchten einem Vorsprung oder Spalt. Ihr Kinn schlug schmerzhaft auf einen Fenstersims auf. Geistesgegenwärtig umklammerte sie den Mauervorsprung. Pfeifend stieß sie die angehaltene Luft aus. >Bleib ruhig<, dachte sie und zwang die Panik nieder. Wenn sie die Ruhe bewahrte, wurde alles gut. Es waren zwei Stockwerke, dass hieß 6 bis 7 Meter, zwischen ihr und dem Erdboden. Wenn sie fiel, brach sie sich bei viel Glück das Genick und ihr blieb es erspart die Umstände erklären zu müssen. Man würde ihre Leiche untersuchen, der Bericht würde in Frankreich eingehen und alle würden wissen, wer sie wirklich war. Bei weniger Glück brach sie sich nur die Knochen und überlebte. Dann müsste sie alles erklären, man würde sie mit Schimpf und Schande zurück schicken und dann würden sie erfahren, wer sie wirklich war, um sie anschließend anzuklagen. Lediglich 6 bis 7 Meter zwischen ihr und dem Erdboden. Wirklich kein Grund in Panik auszubrechen.

Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte sie sich hoch. Viel zu langsam und schwerfällig erfüllten die Arme den Dienst, ihr gesamtes Körpergewicht in die Höhe zu stemmen. Aramis ächzte gequält. Als sie sich endlich in die Höhe gestemmt hatte, schob sie ihr Knie auf den Sims und zog sich an den Kerben in der Stuckverkleidung in die Höhe. Ihre Muskeln brannten. Endlich kniete sie auf allen vieren auf einem Fenstersims und atmete schwer, während sich die Schlingen vor ihrem Auge verflüchteten.

"Ihr habt ein wundervolles Hinterteil, Comtesse."

Vor Schreck wäre Aramis beinah wieder in die Tiefe gestürzt. Ein Arm umfasste ihre Taille und zog sie vollends auf den Fenstersims. Wie gelähmt vor Schreck und Bestürzung starrte sie Lord Corday an, ohne sich regen zu können.

"Merde", entfuhr es ihr.

"Was habt Ihr gegen eine Treppe?"

"Nichts", keuchte sie erstickt.

"Verstehe! Immer Dienstags nehmt Ihr die Außenfassade! Wenn Ihr mich besuchen wolltet, hättet Ihr ruhig die Tür nehmen können." Es klang, als amüsiere ihm der Vorschlag.

"Allerdings muss ich einräumen, dass mir der Anblick Eures Hinterteils im Mondschein entgangen wäre."

"Blödmann", zischte Aramis kaum hörbar und ließ sich schwer atmend auf der Fensterbank nieder. Die Füße nach unten hängend, den Kopf gegen den Fensterrahmen gelehnt.

"Ihr seid ein närrisches Weibsbild, was sollte das?"

"Ich ... ich ...", resigniert gab Aramis auf eine Erklärung zu finden. Hierzu hätte sie ihr Gehirn benötigt, aber dieses hatte vor Schreck, bei Corday's Anblick die Flucht ergriffen. Sie zuckte die Achseln.

"Verstehe. Ihr tragt jetzt Männerkleidung und begebt Euch auf Abenteuer. Seid Ihr jetzt ein Mann?" Er lehnte sich lässig zum Fenster hinaus, die verschränkten Arme auf dem Fensterbrett gestützt. Die langen Beine gekreuzt. Der Mond stand hell und leuchtend am Horizont. Sterne verdichteten sich leuchtend am dunklen Firmament

"Und Ihr eine Frau, dass Euch solch ein kleiner Regen umhaut und an das Bett fesselt", erwiderte sie frech.

Corday schnaubte. "Wo ist Eure Zurückhaltung."

"Ich bin jetzt ein Mann, ich kann sagen, wozu ich Lust habe." Inwieweit war das ein Scherz, fragte sie sich.

"Das hätte Euer Tot bedeuten können. Seid Ihr von allen guten Geistern verlassen? Wo ist Eure Vernunft?" Seit sie sich entschlossen hatte von zu Hause auszureißen und Männerkleidung zu tragen, gehörte das Wort Vernunft nicht mehr zu ihrem Wortschatz. Er beobachtete sie seufzend.

"Langweilt Euch der Hof so sehr? Habt Ihr Euch mit einem Liebhaber getroffen? Ihr sagt es mir nicht, nicht wahr? Ihr lacht? So witzig ist das nicht. Ich muss gestehen, dass ich noch nie eine Frau wie Euch traf."

"Darauf wette ich," erwiderte Aramis trocken und sah angestrengt in die Nacht hinaus, um sein Blick zu meiden. Die dunkle, konturlose Fläche der Parkanlage war um so vieles interessanter.

"Wo ist Eure eiserne Jungfrau, Euer Korsette?", fragte er.

"Auf meinem Zimmer, neben der Streckbank", erwiderte sie und grinste die kalte Fläche der Mondscheibe an.

Sie schwieg und starrte in die Nacht hinaus. Es war eine klare Nacht, mit silbrig-weiße Sternenschimmer auf schwarzem Äther, -eine Nacht von dunkle beruhigender Schönheit. Sie wollte gar nicht reden, nur den Geräuschen der Nacht lauschen. Es war berauschend, einfach und unkompliziert auf dem Fenstersims zu sitzen, die Beine baumeln zu lassen und in die Ruhe der Nacht zu tauchen. Corday bewahrte Feingefühl und gewährte ihr Minuten des Schweigens.

"Ihr kommt vom Land?", fragte er, nach einer Weile.

"Bretagne."

"Musstet Ihr aus Frankreich fliehen? Seid Ihr Protestantin?"

Rhythmisch schlugen ihre Füße gegen die Wand. Klack, Klack, wie ein Lied.

"Wollte man Euch verheiraten?"

Klack klack, wie ein Marsch in die Schlacht.

"Seid Ihr schon verheiratet und flieht Ihr vor einem Ehemann? ... Vater, Bruder ... oder vor dem französischen König selbst, nein, dann wüsste es seine Schwester."

Klack klack, gleichbleibend mit der Ferse gegen den Stein. Schließlich gab er auf.

"Oh, Ihr liebt Eure Geheinmisse. Nun gut, einiges finde ich auch so heraus."

Interessiert unterbrach sie ihr Spiel und blickte ihn an. Neugierig, auf das was kam.

"Ihr seid selbstsicher. Ihr wisst Euch angemessen auszudrücken und zu benehmen, das heißt, dass Ihr von adeliger Geburt seid. Ihr habt den Stolz eines blaublütigen Stammbaums.

Jedoch seid Ihr manches Mal zu impulsiv und erfreut Euch wenig an Tratsch und Intrigen. Deshalb dachte ich mir, dass Ihr alter Landadel seid, der nie viel am Hof verkehrten." Seine Stimme klang betont neutral.

"Ich gebe zu, dass ich Euch wahrscheinlich nie beachtete hätte, wenn ich nicht den Streit zwischen Euch und Eurem Sekretär mitbekommen hätte. Es hat mich beeindruckt, wie Ihr Euch gegen diesen Mann behauptet habt, der wie mir scheint genauso wenig freiwillig an Eurer Seite ist, wie Ihr an ihn gekettet seid.

Vielleicht ist Euer Vater ein Freidenker, der glücklich auf seinem Land ist, sich der Wissenschaft verschrieben hat und Euch etwas von seiner Kuriosität und seinen Moralvorstellungen mitgegeben hat. Ein Verfechter der griechischen Philosophie oder der alten Römer. ein Shakespearliebhaber. Das würde Eure verrückte Idee erklären.

Aber Ihr habt auch sehr konventionelle Eigenschaften. Eure Mutter nehme ich an. Habe ich recht?" Seine hellgrauen Augen sahen sie siegessicher an. Es war erschreckend, wie lesbar das menschliche Wesen war.

"Vielleicht", erwiderte sie unergründlich.

Ohne ihren Einwand zu achten, nahm er ihre Hand und fuhr über die harten Stellen im Handteller.

"Hier, diese harten Stellen zeigen, dass Ihr Eure Hände zu mehr gebraucht, als fächern, sticken und ein Buch zu halten, aber es sind keine Hände einer Bürgerlichen. Auch ein Hinweis auf Eure Abstammung. Ja, Ihr seid vielleicht wirklich eine Protestantin, die floh oder man wollte Euch zur Heirat zwingen."

Aramis streckte ihre langen Finger vor sich aus. Sie hatte kein Talent für Näharbeiten. Nie gehabt. Ihre Hände waren zittrig, fahrig und ihr in einem fort im Weg gewesen. Aber wenn sie Degen oder Pistole hielt, dann waren sie ganz ruhig wie die Hände eines Mannes. Als sie mit den Waffen zu üben anfing, hatte es sie überrascht, wie richtig sich Schwert und Schießwaffe in ihren Händen anfühlten. Schweigend betrachtete sie Corday. Und er?

Er hatte das Aussehen eines Menschen, aus dem man alles hätte machen können, einen General, ein Denker, ein Taugenichts, ein Lüstling. Ein noch unbearbeiteter Mensch. Würde er auf die richtige Seite gelangen und seinen Geist und seine Persönlichkeit fordern, würde noch großen von ihm zu erwarten sein. Ließ er sich gehen und ruhte sich auf den Lorbeeren seiner Herkunft aus, dann würde er eine Hülle ohne Geist sein.

Sie sah ihn an. "Warum interessiert Euch das alles? Was wollt Ihr von mir? "

Erstaunt hob er eine Augenbraue.

"Oh, niemand weiß etwas über Euch. Ihr taucht hier auf und könntet alles mögliche sein. Auf dem ersten Blick seid ihr Kühl, auf dem zweiten lodert in Euch ein Feuer.

Ich fürchte, ich verpasse die Hälfte, wenn ich nicht ständig in Eurer Nähe bin. Heute Abend zum Beispiel begann ich mich zu langweilen und siehe da, - schon taucht Ihr auf und gebt eine höchst eindrucksvolle Vorstellung vor meinem Fenster. Um nichts in der Welt hätte ich das verpassen wollen. Ich schenke Euch eine Rose, Renée!" Er zog sich ein der Rosen aus der Vase, dann die zweite. Zustimmend nickte er. "Die ist schön. Nicht zu perfekt für irdische Zwecke."

Nachdenklich sah ihn Aramis an. Den Kopf sinnend zur Seite gelegt, lächelte sie unergründlich.

"Ich habe den Hinweis verstanden." Sie erhob sich, kletterte ins Zimmer und klopfte sich die Hose ab "Behaltet Eure Rose, Charles! Ich habe selbst Rosen auf meinem Zimmer."

"Wirklich? ... Ich will Euch meinen Schutz anbeiten, ohne Verpflichtungen für Euch. Ich erkläre Euch als meine Geliebt und nie wieder belästigt Euch ein Henry Marschall."

"Ich brauche Euren Schutz nicht, Lord Corday," erklärte sie entschieden.

"Seid Ihr sicher?"

Aramis nickte, wünschte ihm eine guten Nacht und wandte sich zum Gehen. Leise fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2004-08-03T07:54:38+00:00 03.08.2004 09:54
Ohhh, so schön romantisch, jetzt hab ich doch wirklich beinahe an ihrem Standvermögen gezweifelt :o) Aber ja, sie hält sich immer noch frei... fraglich ist, für wen? :o) Das Kapitel hatte mich total eingenommen, ich hab alles förmlich verschlungen... Super!
Von:  Kajuschka
2004-07-25T12:44:53+00:00 25.07.2004 14:44
Ich kann mich nur anschließen. Der Titel des Kapitels hat ja einiges vermuten lassen, aber du hast es wieder geschafft, es unendlich spannend zu machen :-)
Von:  Tach
2004-07-25T10:21:21+00:00 25.07.2004 12:21
Puh, Gott sei Dank is das Kapitel vorbei x]. Zwischendurch hab ichs ja schon nich mehr ausgehalten, da hat mich die Spannung fast zerrupft. Aber gegen Ende gings dann wieder, nachdem sie ihn wieder einmal ablitzen lassen hat :]. Aber wirklich verdammt spannend diesmal, mein Kompliment oO


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