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Balance Defenders

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, ihr werdet von den mythologischen Infos nicht erschlagen. :D Komplett anzeigen

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Symbolik


 

Symbolik
 

„Kunst ist eine Lüge,

die uns die Wahrheit begreifen lässt.“

(Pablo Picasso, span. Künstler)
 

„Meine Fresse! Hier ist so viel Kultur. Ich fürchte fast, mein IQ ist grade gestiegen!“, rief Vitali aus, als sie den Kursaal betreten hatten.

Im ganzen Raum standen zahlreiche Skulpturen und Kunstgegenstände. An den Wänden hingen Gemälde unterschiedlicher Größe und zahlreiche Glasvitrinen präsentierten den Besuchern stolz ihr Inneres.

„Keine Angst, das wird nicht passieren.“, stichelte Serena.

Vitali ließ sich davon nicht beirren. „Stimmt, noch schlauer kann ich ja gar nicht werden!“ Keck grinste er sie an.

Serena antwortete mit einem höhnischen Lächeln. „Du sprichst mir aus der Seele.“

Vivien kicherte. „Es ist so süß, wenn ihr miteinander flirtet!“

„Wir flirten nicht!“, schimpfte Serena und musste mit einiger Bestürzung feststellen, dass Vitali ihr nicht lautstark beipflichtete, sondern sich bereits wieder der Umgebung widmete. Irgendwie war das peinlich.

Justin ignorierte Serenas und Vitalis Gezanke wie immer gekonnt und wandte sich an Ariane. „Siehst du Herrn Finster irgendwo?“

Arianes Blick schweifte über die Leute. „Bisher nicht.“

Dann erschien ein Lächeln auf ihren Lippen. Mit vor Vorfreude glänzenden Augen drehte sie sich zu den anderen. „Wir können uns doch erst einmal umsehen!“

Die Begeisterung darüber, auf einer Kunstausstellung zu sein, war ihr so überdeutlich anzusehen, dass die anderen ihr den Gefallen taten und mit ihr durch die Reihen der Ausstellungsgegenstände schritten.

Alte, aber auch neue Interpretationen von Sagen aus der griechischen, römischen, sowie germanischen Mythologie lenkten Arianes Aufmerksamkeit auf sich, wobei ihr auffiel, dass die Namen der griechischen und römischen Gestalten ihr vertrauter waren als die germanischen.

Vitali blieb vor einem Bild stehen, auf dem ein Hüne mit wallendem Haar abgebildet war. In der Hand hielt dieser einen großen Hammer, auf den Blitze niederprasselten. Auf dem Schildchen daneben stand:

Thor/Donar, ‚der Donnerer‘

Vitali begann zu lachen. „Schaut mal! Das ist Erik auf Drogen!“ Sofort musste er noch lauter lachen und hielt sich den Bauch. Außer Vivien lachte aber keiner der anderen mit.

Serena verdrehte die Augen und ging weiter, um nicht mit diesem Trottel gesehen zu werden.

Ariane folgte ihr. Auch wenn sie gerne zu ihrem Freund gestanden wäre, war es ihr unangenehm, dass Vitali mit seiner Lautstärke die Aufmerksamkeit der anderen Besucher auf sich zog.

Serena blieb vor einem weiteren Gemälde stehen. Auf diesem war ein gelockter Jüngling mit Engelsschwingen abgebildet. In seinen Armen hielt er eine junge Frau mit Schmetterlingsflügeln, die er verliebt anblickte.

„Was ist denn das?“, fragte Vitali, der sich anscheinend wieder beruhigt hatte und mit den anderen beiden zu Serena und Ariane trat. „Ein Engel und ’ne Fee?“

„Die Frau erinnert mich an Ewigkeit.“, stellte Justin fest.

Serena sah ihn vorwurfsvoll an. „Sag bloß nicht ihren Namen, sonst taucht sie womöglich noch auf!“ Dann wandte sie sich an Vivien. „Wie hast du es überhaupt geschafft, dass sie nicht mitgekommen ist?“

„Meine Geschwister haben sie auf Trab gehalten, da war sie so müde, dass sie eingeschlafen ist.“, erzählte Vivien. „Ich hab ihr einen Zettel hingelegt, dass sie zu Hause warten soll.“

Besorgt äußerte Ariane ihre Bedenken: „Was ist, wenn deine Geschwister deinen Eltern von Ewigkeit erzählen?“

Vivien sah das locker. „Ich hab ihnen gesagt, dass es ein Geheimnis ist.“

„Und du meinst, das reicht?“, fragte Ariane.

Vivien zuckte lässig mit den Schultern. „Wenn sie es trotzdem erzählen, glaubt ihnen doch sowieso keiner.“

Damit hatte sie wohl Recht.

Vivien sah sich die Informationstafel genauer an. „Hier steht, das sind Eros und Psyche.“

„Achso!“, rief Ariane mit einem Mal aus, den anderen schien die Information allerdings nicht weiterzuhelfen. Ariane versuchte ihnen auf die Sprünge zu helfen. „Eros ist der griechische Name für Amor.“

„Der mit den Liebespfeilen?“, erkundigte sich Justin.

Ariane nickte. „Er ist der Sohn der Aphrodite beziehungsweise Venus. Amor und Psyche ist eine bekannte Geschichte.“ Sie lächelte die anderen an, wohl abwartend, ob sie ihnen davon erzählen durfte.

„Eine Liebesgeschichte?“, fragte Vivien freudig.

„Ja, schon.“, meinte Ariane. Dieser Aspekt schien sie weniger zu interessieren.

Vivien klatschte freudig in die Hände. „Erzähl.“

„Also.“, begann Ariane. „Weil Psyche Aphrodite den Rang als die Schönste der Schönen streitig macht, beauftragt sie ihren Sohn, Psyche in einen hässlichen Mann verliebt zu machen. Aber anstatt den Befehl auszuführen, verliebt Amor sich selbst in sie. Psyches Vater wird daraufhin vom Orakel aufgetragen, seine Tochter auf einen hohen Berg zu führen. Von dort bringt der Westwind sie in ein Schloss. Wenn es dunkel ist, kommt Amor zu ihr, doch am Morgen verschwindet er wieder. Er warnt sie, dass sie nie versuchen darf, seine Identität herauszufinden. Erst ist Psyche damit einverstanden, weder zu wissen wer er ist oder wie er aussieht. Als aber ihre eifersüchtigen Schwestern zu Besuch ins Schloss kommen, reden sie ihr ein, der nächtliche Besucher sei ein Ungeheuer, das Psyche verschlingen werde. Also versucht Psyche doch herauszufinden, wer ihr Liebster ist. Als Amor schläft, holt sie eine Öllampe und ein Messer. Doch als sie erkennt, dass sie den Schönsten der Götter vor sich hat, ist sie so schockiert und von Liebe überwältigt, dass aus der Lampe heißes Öl auf Amors Schulter spritzt. Amor erwacht, erkennt den Verrat der Liebsten und flüchtet. Psyche versucht daraufhin verzweifelt, wieder zu ihm zu gelangen und gerät in die Fänge von Aphrodite. Aphrodite stellt ihr mehrere schwierige Aufgaben. Als Psyche eine Dummheit begeht und in einen todesähnlichen Schlaf verfällt, kommt Amor ihr zu Hilfe. Er rettet sie und bittet den Göttervater Zeus um Erlaubnis, sie zu heiraten. Zeus willigt ein und macht Psyche unsterblich. Die gemeinsame Tochter nennen sie Glückseligkeit.“

„Und wieso hat die jetzt Schmetterlingsflügel?“, drängte Vitali zu erfahren.

„Das weiß ich leider auch nicht.“, gestand Ariane. „Ich kenne nur die Skulptur im Louvre. Da hat Psyche keine Schmetterlingsflügel. Vielleicht hat das eine bestimmte Bedeutung“

Eine sanfte, jedoch bestimmte Männerstimme erklang hinter ihnen: „Im Griechischen bedeutet das Wort Psyche Seele oder Geist. Aber gleichzeitig heißt es auch Schmetterling.“

Überrascht drehte Ariane sich um. Hinter ihr stand Nathan Finster.

Offenbar hatte er die Gabe, aus dem Nichts aufzutauchen. Oder war er etwa eben schon da gestanden und hatte ihren Ausführungen zu der Geschichte von Amor und Psyche gelauscht?

Heute Abend trug er einen schmal geschnittenen dunkelblauen Anzug, dazu eine königsblaue Krawatte mit einem verspielten cyanblau-silbernen Barockmuster. Eindeutig war er kein Fan von schlichten gestreiften Schlipsen.

Anstatt auf ihren fragenden Blick zu antworten, sprach Nathan weiter: „Die Geschichte von Eros und Psyche wird mitunter auch als Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Gott und der menschlichen Seele gesehen. Psyche ist die Personifikation der Seele und Eros die göttliche Liebe. Die Schmetterlingsflügel sind dabei ein gebräuchliches Sinnbild für die Seele. Bereits im alten Ägypten gab es den Glauben, dass die Seelen der Menschen die Gestalt von Schmetterlingen annehmen könnten. Bestimmte Schmetterlingsarten wurden sogar verehrt, weil man in ihnen die Geister Verstorbener sah. Im Hellenismus, zur Zeit Alexanders des Großen, wurde die Seele in der griechischen und römischen Kunst als zartes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln dargestellt, so wie Psyche hier. Das Christentum verwendet den Schmetterling ebenfalls als Symbol für die Auferstehung. Die Puppe steht in diesem Sinne für den Tod und der Schmetterling für die vom Körper befreite ewige Seele und die Unsterblichkeit.“

Nathan war am Ende seines Vortrags angekommen und lächelte Ariane an. „Ich freue mich, dass du es einrichten konntest, zu kommen, und auch noch so nette Unterstützung mitgebracht hast“

Sein anerkennender Blick schweifte über die anderen, er lächelte und nickte ihnen zu, dann reichte er zunächst Vivien die Hand.

„Nathan.“

Vivien nannte ihm ihren Namen.

Ganz Gentleman wollte Nathan als nächstes Serena die Hand geben, doch diese ging grob über seine Geste hinweg und sah ihn feindselig an.

Zunächst verwundert, zögerte Nathan einen Augenblick und ging dann dazu über, sich den beiden Jungen vorzustellen.

„Es ist eine besondere Freude, wenn ich auch einmal junge Gesichter auf so einer Ausstellung sehe. Meistens treffen sich hier nur altkluge Kenner, die einander beweisen wollen, wer mehr dicke Wälzer über das Thema gelesen hat.“ Er lächelte amüsiert und wandte sich wieder an Ariane. „Habt ihr euch schon umgesehen?“

„Noch nicht viel.“, antwortete Ariane. „Wir sind gerade erst gekommen.“

„Ich hoffe, ich störe euch dann nicht.“, meinte Nathan schelmisch.

Ariane strahlte.

Serenas Blick dagegen wurde noch finsterer. „Wieso interessiert sich der Geschäftsführer eines Softwareunternehmens für antike Gegenstände? Oder Ausgrabungsstätten…“ Das Misstrauen in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Im ersten Moment runzelte Nathan überrascht die Stirn, doch dann…

Sein Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer todverheißenden Miene. Seine Augenfarbe schien von geheimnisvollem Grüngrau zu einem unerbittlichen Grau zu wechseln. Das kalte Lächeln auf seinen Lippen ließ sie frösteln.

Geschockt stierten sie ihn an.

Mit einem Mal schnaubte er belustigt und hob entschuldigend die Hände in die Höhe.

„Entschuldigt. So heftig hat noch keiner darauf reagiert.“ Er grinste. „Eure Freundin klang gerade so, als würde ich Drogen an Grundschulkinder verkaufen. Ich dachte, das wäre die passende Reaktion darauf.“

Er senkte die Arme wieder und sprach in ruhigem Ton weiter. „Als Geschäftsführer muss man manchmal etwas strenger schauen können, sonst nimmt einen keiner ernst. Vor allem wenn die meisten Mitarbeiter älter sind als man selbst.“

Vitali verzog übellaunig das Gesicht. „Alles still, einer lacht, Finster hat nen Witz gemacht.“

Ariane warf ihm einen entsetzten Blick zu. Nathans bösem Blick im Scherz ausgesetzt zu sein, hatte ihr mehr als gereicht. Sie wollte ihn nicht erleben müssen, wenn er es ernst meinte.

Nathan jedoch reagierte anders als befürchtet. Er lachte ausgelassen und schaute dann wieder auf seine hoheitsvolle Art. „Das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt.“

Ariane konnte nicht fassen, dass es jemals jemand gewagt haben sollte, ihm so etwas zu sagen. Mit Ausnahme von Vitali natürlich.

Zu ihrem Leidwesen ergriff Vitali erneut in grimmigem Tonfall das Wort. „Jetzt mal ehrlich, was interessiert Sie an diesem Zeug?“ Er machte eine ausladende Armgestik, mit der er auf sämtliche Ausstellungsstücke verwies. „Ist doch bescheuert, sich mit irgendwelchen blödsinnigen Geschichten zu beschäftigen, die die Leute früher mal erfunden haben. Was bringt es denn zu wissen, wie viele uneheliche Kinder Zeus hatte oder welcher Gott für was zuständig war? Wir sind im 21. Jahrhundert! Da gibt es wichtigere Dinge!“

Ariane seufzte innerlich. Vitali hatte einfach gar kein Verständnis für Kultur.

„Das stimmt.“, bestätigte Herr Finster unverhofft.

Ariane horchte auf.

„Das Wichtigste ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Aber man darf nicht übersehen, dass jede Legende, jeder Mythos durch Menschen entstanden ist. Und in all den Jahrhunderten hat sich die Menschheit kaum verändert. Es sind die immergleichen Triebkräfte, die Tragödien heraufbeschwören. Machtgier, Eifersucht, falscher Stolz und dergleichen. Obwohl das schon so lange bekannt ist, ändert sich nichts. Das ist eine interessante und erschreckende Erkenntnis.“

Ein erhabenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber du hast Recht, man sollte bei so einer Ausstellung den Bezug zur Gegenwart klarer machen. Ich werde in Zukunft daran denken!“

Hieß das, Nathan war Vitali für seine vorlauten Worte jetzt auch noch dankbar? Arianes Verwunderung wandelte sich in Bewunderung. Einen solchen Großmut hatte sie noch nie erlebt. Jemanden nicht einfach nur so zu tolerieren, wie er war, sondern darin auch noch etwas Wertvolles zu erkennen, das beeindruckte sie und weckte in ihr den Wunsch, eine solche Stärke auch in sich zu finden.

Nathan wandte sich an Serena. „Noch mal zu deiner Frage, warum ich mich dafür interessiere. Es ist leider nicht immer so, dass ein Beruf jedes Interessengebiet einer Person abdeckt. Manchmal muss man sich dafür entscheiden, was man beruflich macht und welchen Dingen man in seiner Freizeit nachgeht. Und manchmal versucht man, dann doch beides unter einen Hut zu bringen, wie mit der Ausgrabungsstelle. Leider geht das nicht immer gut.“

Ariane fragte sich, worauf er damit Bezug nahm, doch ehe sie danach fragen konnte, richtete Nathan das Wort an sie.

„Wollte Erik dich nicht begleiten?“

Verdutzt starrte Ariane ihn an.

Nathan lächelte nachsichtig. „Entschuldige. Ich dachte nur: Für Erik wird es nicht leicht sein, Personen zu finden, die ihm intellektuell ebenbürtig sind. Daher war ich davon überzeugt, dass er den Kontakt zu dir halten würde.“

Ariane war zu perplex über diese Äußerung, um darauf zu reagieren.

Tatsächlich hatten sie sich bewusst gegen Eriks Anwesenheit entschieden, weil sie ansonsten die ganze Zeit darauf hätten achten müssen, was sie sagten.

„Sie scheinen Erik gut zu kennen.“, sagte Serena in einem argwöhnischen Ton.

„Das würde ich nicht behaupten.“, dementierte Nathan lächelnd. „Aber es ist nicht schwer zu erkennen, dass er für sein Alter ungewöhnlich erwachsen ist.“ Ein schelmisches Grinsen trat auf seine Lippen. „So wie es unschwer zu erkennen ist, dass du dich deutlich abweisender gibst als du wirklich bist.“

Serena verzog erbost das Gesicht, während Ariane einmal mehr beeindruckt war.

Vitali kommentierte: „Nee, die ist wirklich so abweisend.“

Nathan musste lachen. „Wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass du das selbst nicht glaubst, würde ich dir widersprechen.“

„Können Sie Gedanken lesen?“, fragte Vivien vergnügt.

Nathan beugte sich verschwörerisch zu ihr. „Kannst du es?“

Vivien kicherte.

Justins Blick ruhte daraufhin auf Vivien, als verunsichere ihr Verhalten ihn.

Nathan wandte sich ihm zu. „Du scheinst in eurer Gruppe der Ruhepol zu sein. Hab ich Recht?“

Justin sah ihn nur wortlos an.

„Das ist er.“, antwortete Vivien an seiner Stelle und griff dabei nach Justins Arm, als gehöre er zu ihr.

Nathan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Ariane. „Und?“ Ein Hauch von jungenhafter Neugier trat in seine Züge. „Hast du dir die Inschriften noch mal angeschaut?“

Für einen winzigen Moment wanderten Arianes Augen zu den anderen. Die Frage, ob und wie viel sie Nathan erzählen durfte, war immer noch nicht geklärt worden. Aber nachdem sie ihn extra um die Texte gebeten hatte, konnte sie schlecht behaupten, sich nicht mit den Inschriften beschäftigt zu haben. Ansonsten hätte sie vielleicht jede Möglichkeit, weiter mit ihm in Kontakt zu bleiben, verspielt.

„Ja…“, antwortete sie schließlich zaghaft.

„Willst du mich an deinen Gedanken teilhaben lassen?“, fragte er freundschaftlich.

Ariane konnte nicht anders als zu lächeln. Nathan hatte einfach etwas an sich, das in ihr Vertrauen weckte. „Die Texte sprechen von Chaos, einer Unordnung, die entsteht, wenn etwas, das vorher eins war, voneinander getrennt wird. Die Auserwählten, von denen die Rede ist, sollen diese Trennung wohl aufheben können, indem -“

Vivien rief dazwischen. „Ist das der Teufel dahinten?“

Nathan und die anderen schauten in die Richtung, in die Viviens ausgestreckter Arm deutete.

„Ah, das ist Pan, der griechische Hirtengott.“, erkannte Finster. „Die Christen haben sich tatsächlich das Aussehen ihres Teufels bei ihm abgeschaut: Die Bocksfüße, die Hörner und den Bart.“

„Gibt es denn nur in der christlichen Mythologie einen Teufel?“, fragte Vivien weiter wie ein neugieriges Kind.

Herr Finster holte zu einer detaillierten Antwort aus:

„Im jüdischen Glauben ist es so, dass der Satan im Auftrag Gottes handelt und keinen freien Willen hat. Satan ist auch keine eigenständige Person, sondern eher ein Titel oder eine Berufsbezeichnung für jeweils den Engel, der als Ankläger gegen die Menschen fungiert. Satan heißt übersetzt auch so viel wie Ankläger.

Im Islam war der Teufel – Schaitan oder Iblis – ein Dschinn und Anführer der Engel. Er weigerte sich, vor Adam niederzuknien. Als Strafe sollte er verbannt werden, aber Iblis bat um eine Frist bis zum jüngsten Tag. Bis dahin darf er versuchen, die Menschen vom rechten Weg abzubringen. Und diejenigen, die auf ihn reinfallen, werden am Weltenende gemeinsam mit ihm in die Hölle geworfen.

In der griechischen und römischen Mythologie gibt es keine richtige Entsprechung für den Teufel. Aber, wie gesagt, wurde das typische Aussehen aus diesen Quellen gewonnen.

In anderen Religionen existiert allerdings die Vorstellung von einem bösen Gott, der den guten bekämpft, zum Beispiel im Parsismus Ahriman, im alten Ägypten Seth, in gewisser Weise auch der germanische Loki.“

„Also gibt es dort keinen gefallenen Engel?“, bohrte Vivien weiter nach.

Ariane verstand endlich. Auf diese Weise konnte Vivien Nathan womöglich einen Hinweis auf des Rätsels Lösung entlocken.

„Du meinst die Idee vom rebellierenden Engel Luzifer, der von den himmlischen Heerscharen besiegt und mitsamt den anderen Aufrührern in die Hölle hinabgestoßen wurde?“, vermutete Herr Finster.

„Warum hat man den Luzifer genannt?“, wollte Vivien wissen.

„Luzifer kommt aus dem Lateinischen. Lux: das Licht, und ferre: bringen oder tragen. Also bedeutet Luzifer Lichtbringer oder Lichtträger.“, klärte Nathan sie auf. „Hört sich nicht gerade nach dem passenden Namen für den grausigen Höllenfürsten an, nicht wahr?“

Vivien schüttelte den Kopf, als hätte sie das bei Ewigkeit abgeschaut.

Nathan setzt mit seinen Ausführungen fort. „Eigentlich entstand der Name Luzifer durch die Übersetzung aus dem Hebräischen. In der Bibel war von einem gefallenen Morgenstern die Rede. Die griechische Bezeichnung für den Morgenstern ist Phosphoros. Die lateinische Übersetzung von Phosphoros ist Lucifer.“

Vivien stellte sich dumm. „Also ist der Teufel ein Stern?“

Nathan schmunzelte. „Ursprünglich war Lucifer nicht der Name für den Teufel, sondern der lateinische Name für den Morgenstern, das hellste sternartige Objekt am Himmel. Erst in der Renaissance setzte sich der Name Venus für diesen Planeten durch.“

„Lucifer ist die Venus?“, fragte Justin ungläubig.

„Es ist eine alte Bezeichnung für die Venus, ja.“, bestätigte Nathan. „Wobei die Venus, soweit ich weiß, mal Morgen- und mal Abendstern genannt wird. Ich kann euch aber nicht erklären, woran genau das liegt.“

„Danke!“, rief Vivien.

„Gerne.“, antwortete Nathan. „Ich sollte euch wohl nicht länger aufhalten. Ihr wollt schließlich noch was von der Ausstellung haben.“

„Nicht wirklich.“, meinte Vitali.

Nathan musste angesichts seiner Ehrlichkeit lachen. Anerkennend lächelte er Vitali an. „Schön, dass du deine Freunde dennoch begleitet hast. Das ist nicht selbstverständlich.“

Vitali starrte ihn an.

„Vitali lässt einen nie im Stich.“, pflichtete Vivien ihm bei.

Nun schien Vitali vollends überfordert zu sein, als sei er es nicht gewohnt, gelobt zu werden und traue dem Ganzen nicht.

„Es hat mich sehr gefreut, dass du und deine Freunde gekommen seid.“, sagte Nathan zu Ariane. „Ich sollte jetzt noch ein paar andere Leute begrüßen gehen. Ich wünsche euch noch viel Spaß und hoffe, dass ihr noch öfter das verstaubte Kulturleben von Entschaithal auflockern werdet.“

Nochmals lächelte er Ariane an und nickte den anderen freundlich zu, ehe er sich entfernte.

„Lucifer, die Venus.“, wiederholte Justin, als Finster außer Hörweite war.

Ariane drehte sich zu ihm.

‚Beim Erscheinen Lucifers am Himmel‘. Also wenn die Venus aufging!
 

Noch eine Weile waren die fünf auf der Ausstellung geblieben, es hätte sonst möglicherweise verdächtig gewirkt, wären sie sofort nach Herrn Finsters Äußerung gegangen. Ariane hatte sich über diesen Umstand gefreut.

Als sie den Kursaal verließen, entschieden sie sich, noch zu Vivien zu gehen, um schnellstmöglich herauszufinden, wann die Venus am Himmel zu sehen war. Auf ihren Smartphones danach zu suchen, wäre zwar eine Option gewesen, doch Serena wollte nicht in der Kälte stehen.

Ewigkeit erwartete Vivien schon sehnsüchtig und war umso erfreuter, als sie auch die anderen Beschützer zu Gesicht bekam. Allerdings nahmen sich die Auserwählten dieses Mal nicht viel Zeit für sie. Vivien setzte sich direkt an den Computer, während Ariane auf ihrem Smartphone nach den Aufgangszeiten der Venus suchte.

Das stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Erst als Justin einfiel, dass sie nach dem Begriff ‚Astronomiekalender‘ suchen konnten, wurden sie endlich fündig.

Wie Nathan Finster angedeutet hatte, konnte die Venus sowohl als Morgen- als auch als Abendstern auftreten. Je nachdem, ob sie sich östlich oder westlich der Sonne befand, war sie der erste oder der letzte ‚Stern‘ am Himmel.

Sie hatten Glück, denn in der zweiten Jahreshälfte, in der sie sich befanden, war die Venus als Morgenstern zu sehen, während sie Ende Juli bis Ende August gar nicht sichtbar gewesen wäre. Sie brauchten ein bisschen, bis sie sich auf der Webseite zurechtgefunden hatten und die ganzen seltsamen Kürzel, die dort verwendet wurden, verstanden. Schließlich führte sie ein interner Link mit dem fremdartigen Namen ‚Ephemeriden‘ zu einer Seite, auf der sie die Aufgangszeiten für einen bestimmten Tag berechnen lassen konnten. Und endlich stand sie da, die Aufgangszeit für morgen!

04:13 Uhr.

Die fünf sahen einander an, während Ewigkeit ihnen interessiert zusah. Dann öffnete Vivien das Worddokument, in dem das Rätsel stand.
 

Beim Erscheinen Lucifers am Himmel, wenn die Schatten die Welt einhüllen, auf dem Ursprung der Seelenquelle stehend, werden der Auserwählten Kräfte erweckt werden, sobald, umgeben von den Elementen, des Himmels Tränen sie berühren.
 

Serena übersetzte: „Also morgen um vier Uhr dreizehn, sobald die Venus am Himmel erscheint, wenn alles noch im Dunkeln liegt und wir auf der Quelle im Kurpark stehen, werden unsere Kräfte erweckt, sobald Regen auf uns fällt.“

„Wie wahrscheinlich ist es, dass es gerade heute Nacht regnet?“, überlegte Justin laut.

Vivien kicherte und sprang von ihrem Stuhl auf. „Ich hab da schon was vorbereitet!“, verkündete sie wie ein Fernsehkoch und stürmte aus dem Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einem Behälter voll Wasser zurück.

„Am Mittwoch hat es doch geregnet.“, begann sie. „Und ich hatte die ganze Woche den Becher draußen, um den Regen zu sammeln. Da steht schließlich nichts davon, dass der Regen ganz frisch vom Himmel kommen muss!“ Sie strahlte. „Wir füllen das Wasser einfach in eine Sprühflasche und benutzen das.“

Baff starrten die anderen sie an.

„Du bist ein Genie!“, rief schließlich Ariane.

„Hat das irgendjemand bezweifelt?“, lachte Vivien.

„Aber hier ist auch noch von den Elementen die Rede.“, wandte Justin ein.

„Wahrscheinlich sind wieder die vier Elemente gemeint: Feuer, Wasser, Erde, Luft.“, mutmaßte Serena.

„Andererseits haben die Chinesen fünf Elemente: Feuer, Wasser, Erde, Metall und Holz.“, gab Justin zu bedenken.

„Oder es sind die Elemente der Beschützer.“, warf Vivien ein. „Wir haben doch gesagt, dass Vitali Luft, Serena Feuer, Ariane Wasser, Justin Erde und ich Pflanzen als Element habe.“

„Du meinst also wir selbst sind die Elemente?“, fragte Justin.

„Wenn das so wäre, dann würde hier doch nicht stehen: ‚umgeben von‘.“, hielt Serena dagegen.

„Naja, wenn ich bei euch stehe, bin ich doch von euch umgeben.“, erwiderte Vivien.

„Äh Leute. Fehlt uns dann nicht Erik?“, wollte Vitali wissen.

„Vielleicht sind ja doch unsere Elemente gemeint und nicht wir selbst.“, hoffte Justin.

Vivien blieb optimistisch. „Wenn wir im Kurpark stehen, ist die Luft ohnehin um uns herum, auf der Erde werden wir stehen, das Wasser haben wir hier und die Pflanzen sind auch kein Problem. Wir bräuchten noch Feuer.“

„Feuerzeug.“, schlug Vitali vor.

„Aber wir kennen Eriks Element nicht.“, fiel es Ariane auf.

„Natürlich!“, rief Vitali amüsiert. „Er ist doch der Donnerer!“ Erneut lachte er los.

„Genau!“, stimmte Vivien freudig zu. „Blitz und Donner.“

„Und wo sollen wir bitte Blitze herkriegen?“, wollte Serena wissen.

Dieses Mal hatte Vitali einen Einfall. „Blitze sind elektrische Entladungen, also so was wie Strom. Unsere Taschenlampen und unsere Handys haben Strom.“ Er grinste stolz.

Serena machte ein unwilliges Gesicht, als missfiele es ihr, dass Vitali zur Abwechslung mal etwas Schlaues gesagt hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Schön und gut. Aber wie kommen wir nachts aus dem Haus, ohne dass es jemand bemerkt?“

Vivien war zuversichtlich. „Wir schleichen uns einfach raus. Um die Uhrzeit schlafen doch eh alle.“

„Wo treffen wir uns?“, fragte Ariane.

„Am besten auf der Baustelle.“, zischte Serena. Ihrem Gesichtsausdruck war deutlich anzusehen, dass es ihr missfiel, alleine in der Finsternis herumzulaufen.

„Justin und ich holen euch nacheinander ab.“, bot Vivien an. „Zuerst Serena, dann Ariane und am Schluss Vitali, dann muss niemand alleine laufen.“

Ich will auch mit!“, meldete sich Ewigkeit zu Wort.

„Dann sparen wir uns schon eine Taschenlampe.“, scherzte Vitali.

„Klar kommst du mit.“, stimmte Vivien zu.

Was wollt ihr überhaupt machen?“, wollte Ewigkeit nun endlich wissen.

„Wir wollen unsere Kräfte erwecken.“, klärte Ariane sie auf.

Das Schmetterlingsmädchen hob die Augenbrauen. „Aber dafür trainieren wir doch.

„So geht’s schneller.“, sagte Vitali taktlos.

Ewigkeit schaute besorgt drein.

„Keine Angst.“, versuchte Vivien sie zu beruhigen. „Wir werden trotzdem weiter fleißig mit dir trainieren. Versprochen!“


 


 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Alles ist vorbereitet für das Erlangen ihrer Kräfte. Nächste Woche "Kraftzuwachs". Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  CMH
2022-07-03T14:57:19+00:00 03.07.2022 16:57
Mir hat der Ausflug in die Mythologie sehr gut gefallen. 👍 Das mir dem alten Namen der Venus wusste ich bislang nicht, und auch mir der Geschichte von Eros und Psyche hatte ich mich bislang noch nicht beschäftigt. Danke für den tollen Einblick, unterhaltsam obendrein. 💚
Antwort von:  Regina_Regenbogen
09.07.2022 22:07
🥰 Das freut mich.
Von:  RukaHimenoshi
2020-12-19T14:24:41+00:00 19.12.2020 15:24
Eine nette kleine Geschichts- bzw. Kultur-Stunde, gefällt mir. :D Und Mensch, ich war genauso geflasht wie Justin, dass Lucifer die Venus ist! /(°o°)\
Ich bin echt gespannt, wie bzw. ob das mit dem Erwecken der Kräfte funktionieren soll. Das klingt alles viel zu einfach. XD
Von:  totalwarANGEL
2020-12-18T22:36:55+00:00 18.12.2020 23:36
Was, Normalos können Ewigkeit sehen? Warum hat sie dann der Lehrer nicht gesehen? Hab ich was verpasst?
Ariane und ihr Fabel für den Finsterling. Dass er jeden nur mal kurz anguckt und schon komplett durchschaut hat...
Alter... Vivien cheatet! :D Was kommt als nächstes Backseat Gaming?
Antwort von:  Regina_Regenbogen
19.12.2020 01:16
Als sie aufgetaucht ist, hatte Serena gesagt, dass man daran glauben muss, um sie zu sehen. Und am Bahnhof von Schweigen hatte ein Kind Ewigkeit direkt gesehen. Also Kinder können sie oft sehen.
Ich musste jetzt Backseat Gaming erst mal googlen. 😂 Also Grauen-Eminenz wäre da sofort dabei. 😂


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