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Balance Defenders

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Beschützer versuchen mit Grauen-Eminenz zusammen herauszufinden, wo Secret sich aufhält. Allem Anschein nach ist es ihm gelungen, die Nebendimension ausfindig zu machen, die in Grauen-Eminenz' Auftrag genannt wurde. Aber wie kommen sie dorthin? Komplett anzeigen

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Portal-Einstellung


 

Portal-Einstellung

 

„Aus Freund wird Feind, aus Feind wird Freund.“

(Deutsches Sprichwort)

 

Grauen-Eminenz führte seine Auserwählten zu dem Raum, in dem er Secret gezüchtigt hatte, beziehungsweise zu dem neugestalteten Bereich, in dem dies vorgefallen war. Aus praktischen Gründen hatte er den vormaligen Gang und Vorraum mit Portal zu einem großen Raum zusammengefügt. Und das hatte nichts, absolut gar nichts, damit zu tun, dass ihn das vorige Aussehen irgendwie ungewollt daran erinnerte, was er Secret angetan hatte.

Es war einfach nur zweckdienlicher! Sonst nichts!

Warum war er eigentlich nicht früher darauf gekommen, dass der Bengel ihm hier eine Botschaft hinterlassen würde?

Grauen-Eminenz verzog das Gesicht, um die ohnmächtige Empörung in sich zu kontrollieren.

Wieso konnte nichts diesen Jungen dazu bringen, einfach mal das zu machen, was man wollte! Verdammt noch mal! Nicht mal Bestrafung brachte irgendwas.

Er spürte, wie sich automatisch eine Energiewelle um seine Faust bildete und bemühte sich, die Anspannung aus seiner Hand zu lösen. Die Energie verschwand wieder.  

Bei einem Blick zu den Beschützern – der nervige Terrorzwerg hatte ihm auf die Nase gebunden, wer von ihnen welchen Namen trug – erkannte er, dass sie einen Sicherheitsabstand eingenommen hatten und Trust ihn argwöhnisch musterte.

Er hatte keine Lust, sich zu erklären.

„Hier.“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was ist hier?“, hakte Trust nach. Dem Blick nach zu urteilen, ging der Beschützer davon aus, dass er sie in eine Falle locken wollte.

Grauen-Eminenz gab ein grimmiges Geräusch von sich. „Wenn der Bengel mit einen Denkzettel verpassen will, dann hier.“

„Warum?“, fragte Unite frei heraus.

Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. Doch sie ließ sich mal wieder nicht beirren.

„Hat seine Gründe.“, antwortete er ausweichend.

„Also der Grund, warum sich Secret an dir rächen will. Stimmt’s?“, sagte Unite ihm auf den Kopf zu.

Er würde nicht darauf antworten. Bestimmt nicht.

Unite entfernte sich von ihrer Gruppe und lief an ihm vorbei. Wahrscheinlich um nach dem Hinweis zu suchen, den sie hier vermutete.

Noch immer konnte er nicht wirklich glauben, was seine Auserwählten ihm eröffnet hatten.

Er hatte zwar schon zuvor begriffen, dass Secret die Portale nutzen und offenbar aktivieren konnte, aber in welchem Ausmaß war ihm nicht klar gewesen.

Wenn die Beschützer wirklich Recht hatten, dann war es Secret gelungen, ein Portal mit einem Ort zu verknüpfen, den er nicht einmal kannte. Etwas Derartiges hatte Grauen-Eminenz für unmöglich gehalten!

„Hier!“, rief Unite und kam mit einem Zettel zurück zu ihnen.

Aus einem unerfindlichen Grund blieb sie neben ihm stehen, als würde er auch zu ihrem Team gehören. Diese …!

Sie las vor:

„Nebendimensionen wurden anhand der Gedanken und Vorstellungen des Erschaffers geformt. Sie sind verwandt mit Seelenwelten, aber viel freier, da sie unabhängig von ihrem Erschaffer weiterexistieren. Ich bin der Anker.“ Sie legte eine kurze Pause ein. „Portale kontrollieren, in Seelenwelten eindringen, Gedankenlesen. Findet mich.“

„Hä?“, stieß Change aus.

„Das ist eine Anweisung, wie wir zu ihm kommen.“, erklärte Unite.

„Was soll daran denn eine Anweisung sein?“, wollte Change wissen.

Grauen-Eminenz hörte dem Geschwätz nicht zu. Er versuchte die Worte von Secrets Hinweis zu verarbeiten. Aber er verstand nicht alles davon.

„Er hat unsere Kräfte hier aufgeführt.“, erläuterte Unite.

Grauen-Eminenz wandte sich ihr zu.

Sie sprach weiter. „Wenn wir unsere Kräfte verbinden, wird uns das zu ihm führen.“

Er verengte die Augen. „Was meinst du damit?“

Unite schmunzelte. „Das ist ein Geheimnis.“

Ihm riss der Geduldsfaden. „Du wirst mir jetzt sagen, was das zu bedeuten hat!“, brüllte er, bevor er überhaupt gemerkt hatte, dass seine Stimme so angeschwollen war. Verdammt. Was war nur in ihn gefahren?

Er hatte einfach die Schnauze voll von irgendwelchen Kindern, die nicht taten, was er ihnen befahl! Und kooperieren wollte er erst recht nicht mit ihnen.

Er war es ohnehin nicht gewöhnt, mit irgendwem zusammenzuarbeiten. Das – das funktionierte einfach nicht! Er war ein Einzelkämpfer! Das war er schon immer gewesen.

Er biss die Zähne zusammen und blickte zu den anderen Beschützern, von denen insbesondere Trust ihn ernst ansah.

„Gib her!“, rief Grauen-Eminenz und entriss Unite den Zettel. „Ich bin derjenige, der Portale kontrollieren kann. Das heißt.“ Voller Argwohn schweiften seine Augen über seine Auserwählten. „Jemand von euch kann in ‚Seelenwelten‘ eindringen“ – was auch immer das bedeuten sollte.

Seines Wissens handelte es sich bei dem Begriff Seelenwelt nur um ein theoretisches Konstrukt, um zu erklären, dass jedes Wesen eine individuelle Wirklichkeit wahrnahm und indirekt erschuf. Bei seinen Recherchen zu den Allpträumen war immer wieder darauf hingewiesen worden, dass es keine empirischen Beweise für die Existenz solcher individuellen Wirklichkeiten gab und dies einfach nur geisteswissenschaftliche Spielereien waren, um eine Unterscheidung zwischen der von einer Person wahrgenommenen Realität und der objektiven Realität zu ermöglichen.

Aber laut Secret sollten Seelenwelten mit Nebendimensionen verwandt sein. Dementsprechend klang diese Kraft besorgniserregend.

In seiner ganzen Ausbildung zum Schatthenmeister war nie der Begriff Seelenwelt verwendet worden, erst im Rahmen des Auftrags mit den Allpträumen hatte er Informationen dazu gefunden. Wie konnten diese Kinder mehr wissen als er? Und konnten sie ihm damit gefährlich werden? Er schüttelte den Gedanken ab.

„Und einer kann Gedanken lesen.“

Er gab seinem Blick etwas möglichst Angsteinflößendes. Gedankenlesen war keine Fähigkeit, über deren Existenz er nicht Bescheid wusste. Er selbst konnte schließlich die Gedanken einer anderen Person in einem gewissen Rahmen kontrollieren, sogar über Distanz hinweg, wenn es bloß darum ging, der Person gewisse Gedanken und Ideen in den Kopf zu setzen.

Auch hatte er gelernt, wie man sich gegen die telepathischen Fähigkeiten einer Person zur Wehr setzte. Dennoch fühlte er sich sofort angespannt, wenn jemand potenziell in seine Gedankenwelt eindringen konnte.

Er stockte.

Gedankenwelt, Seelenwelt. Hing das auch miteinander zusammen?

Unite lächelte ihn stolz an. „Ich kann Fähigkeiten miteinander verbinden. Wenn ich deine Kräfte mit denen der anderen kopple, kannst du das Portal auf Secret einstellen.“

Grauen-Eminenz sah sie nur feindselig an. Er traute diesem Gör nicht über den Weg.

„Bist du ein klein bisschen paranoid?“, fragte sie ihn amüsiert.

„Bin ich  nicht!“, brüllte er.

Wieder lächelte diese Göre so schrecklich verständnisvoll, als wäre er das Kind hier!

Change kommentierte: „Der hat genauso nen Schaden wie Tiny.“

„Was soll das heißen?“, zischte Destiny.

„Na, du misstraust doch auch jedem.“, antwortete Change.

„Das ist auch besser so!“, giftete Destiny.

„Jo. Aber selbst du hast gecheckt, dass du uns trauen kannst. Sag ihm das doch mal. Dir glaubt er vielleicht.“,

„Wieso sollte er mir glauben?“, wetterte Destiny aufgebracht.

„Na, weil ihr beide gaga seid.“, erklärte Change, als wäre das offensichtlich.

Destiny schlug ihm dafür gegen den Oberarm.

„Was denn?“, wollte Change wissen und wirkte vergnügt. „Du bist doch diejenige, die Bösewichte am besten versteht!“

„Bösewichte arbeiten nicht zusammen, du Trottel!“, schimpfte Destiny. „Weil man niemandem vertrauen kann!“

Nun wandte sich Unite an Destiny. „Was kann ich denn machen, damit er mir vertraut?“

Grauen-Eminenz kam sich wie im falschen Film vor.

Hallo? Er war anwesend!

„Du kannst ihn nicht dazu bringen. Er vertraut niemandem!“, rief Destiny.

„Nicht mal sich selbst?“, fragte Unite in einem Ton, als wäre das ein furchtbar trauriger Gedanke.

Was zum Teufel ging hier vor?

„Das hat doch damit nichts zu tun.“, antwortete Destiny das, was er selbst gedacht hatte.

„Doch natürlich.“, beharrte Unite. „Wenn man sich selbst vertraut, muss man keine Angst vor anderen haben. Das heißt, er zweifelt an sich und seinen Fähigkeiten und daran, ob er uns überhaupt noch überlegen ist.“

Grauen-Eminenz starrte sie wütend und fassungslos an. Das war ja wohl …!

„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“, entgegnete Destiny.

Danke! Wenigstens eine, die ihn verstand!

Change wandte sich erneut an Destiny: „Ey, wie hat’s denn bei dir geklappt, dass du nicht mehr ganz so psycho bist?“

Destiny funkelte ihn wütend an.

Desire wandte ein: „Bei Destiny ist das doch etwas ganz anderes. Wir sind ihre Freunde.“

„Wir könnten auch Freunde werden.“, rief Unite freudig.

„Bist du bescheuert?!“, schrie Destiny, bevor Grauen-Eminenz selbst dazu kam. „Er ist der FEIND!“

„Aber mit Secret hat er sich doch auch angefreundet.“, entgegnete Unite.

Er starrte sie einfach nur noch ungläubig an. War dieses Mädchen geistig minderbemittelt? Hatte sie irgendeinen Gehirnschaden?

„Sie sind keine Freunde.“, sagte Desire entschieden. „Das hat er vorhin doch klar gemacht.“

Genau!

Change tönte: „Tiny sagt auch ständig, dass sie mich töten will, und meint es nicht ernst.“

„Wer sagt, dass ich es nicht ernst meine?“, zischte Destiny.

„Seht ihr?“ Change machte eine Geste, als wolle er Destiny präsentieren.

„Es ist Destiny!“, rief Desire. „Du kannst sie und den Schatthenmeister doch nicht in einen Topf werfen.“

„Wieso nicht?“, fragte Change leichthin.

„Na, weil…“ Desire wusste darauf offenbar keine Antwort.

Grauen-Eminenz spürte einen Anflug von innerer Ungeduld. „Es reicht!“, brüllte er und spießte Unite mit seinen Blicken auf. „Ich greife euch nicht an, ihr greift mich nicht an. Und wenn ich merke, dass ihr irgendwas im Schilde führt, seid ihr dran!“

Unite grinste.

Er hielt ihr unwirsch die Hand hin, um den abermaligen Nichtangriffspakt zu besiegeln.

Doch Unite zögerte plötzlich und schaute mit einem Mal ernst.

„Wir spielen mit offenen Karten.“, verkündete sie. 

„Was willst du?“

„Warum kümmerst du dich um Secret?“, fragte sie.

Sein Gesicht verzog sich automatisch. Seine Stimme wurde zu einem grimmigen Grollen „Er ist mein Experiment.“

Ein amüsiertes Lächeln erschien jäh auf Unites Lippen, als würde ihr die Antwort gefallen.

Was zum …!

Und wäre es nicht besser gewesen, dieses bescheuerte Freundschaftsangebot anzunehmen? Das wäre doch sehr viel cleverer gewesen! Aber er hasste es einfach abgrundtief, sich zu verstellen! Und er war nicht nett! Er war so überhaupt gar nicht nett!!!

Jäh schlug Unite bei ihm ein, als hätte er ihr irgendeinen Grund dafür gegeben.

Change meldete sich zu Wort. „Und was sollen wir jetzt machen?“

Das wollte er auch gerne wissen.

Trust äußerte seine Vermutung: „Secret will wohl, dass ich seine Gedanken finde. Ich weiß bloß nicht, wie das gehen soll, wenn er in einer anderen Dimension ist.“

Unite machte den Anschein, mehr zu verstehen. „Deshalb soll ich deine Kräfte mit Destiny verbinden.“

„Was soll das bringen?“, forderte Destiny zu wissen.

Unite zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber Secret wird sich was dabei gedacht haben.“

„Und wozu brauchen wir den da?“ Change deutete mit dem Daumen unverhohlen auf Grauen-Eminenz.

„Er muss das Portal auf die Schwingung einstellen, die Trust findet.“, meinte Unite.

Auf eine Schwingung einstellen? Dieses Mädchen hatte echt keine Ahnung von Portalen! So einfach ging das nicht! Und wie sollte Secret das geschafft haben?

Grauen-Eminenz schnaubte.

Unite trat vor das inaktive Portal. „Kommt ihr?“

Destiny und Trust folgten ihr.

„Du auch!“, rief sie Grauen-Eminenz zu.

Er stöhnte. Widerwillig gesellte er sich zu ihnen.

„Du kannst deine Hand auf meine Schulter legen.“, schlug Unite ihm vor. An der linken Hand hielt sie Destiny, an der rechten Trust. „Aber…“ Sie drehte sich mit bedeutungsvoller Miene zu ihm. „Konzentrier dich nur auf das Portal und nicht auf irgendwelche Gefühle.“

War sie jetzt total übergeschnappt?

„Ich kann Gefühle spüren.“, eröffnete sie ihm.

Grauen-Eminenz zog die Augenbrauen zusammen. Er hatte keine Gefühle, die er verstecken musste. Entschlossen legte er seine Rechte auf ihre Schulter.

 

Unite versuchte, sich zu konzentrieren. Sie spürte Grauen-Eminenz schwere Hand auf ihrer rechten Schulter lasten. Für einen Moment fürchtete sie sich davor, sich mit ihm zu verbinden. Ein kaltes Grausen überkam sie wie eine Vorahnung, dass das Gefühl, das sie in dem Kontrollraum empfunden hatte, wiederkommen könnte.

Nein, es war keine Vorahnung, es war eine Gewissheit. Sie wusste, dass diese Welt seine Gefühle widerspiegelte. Erik hatte sie darauf gebracht, damals, als sie sich in Serenas Seelenwelt befunden hatten. Er hatte es Serenas Schattenreich genannt.

Einen weiteren Moment weigerte sie sich, sich den Eindrücken zu stellen, die von Grauen-Eminenz auf sie einströmen konnten. Ihr Körper gab ihr eindeutige Signale: Etwas in ihm wartete ungeduldig auf den Moment, wo sie sich ihm öffnete. Noch nie hatte sie einen solchen Drang von jemandem ausgehen gespürt, als wolle etwas sich ihr unbedingt offenbaren.

Es war das Gegenteil von dem, was sie bei Erik und Secret erlebt hatte. Er hatte ihre Versuche, in seine Gefühlswelt vorzudringen, brutal unterbunden.

 

Trust suchte vor seinem inneren Auge nach den Gedankenwellen um sich herum. Er konnte an der Form von Desires Wellen sagen, dass sie nervös war. Changes Gedanken waren unruhig, aber nicht auf die hüpfende Art wie sonst. Er war für seine Verhältnisse äußerst konzentriert, ja zwang seine Gedanken wohl, eine feste Form zu wahren, die für ihn untypisch war.

Von der Richtung an der Destiny stand, konnte er eine pinke kleine Linie erkennen, die sich unsicher und ängstlich dahinschlängelte. Destiny musste wieder an sich selbst zweifeln. Zwischendurch kam es dann aber zu hohen roten Spitzen in ihrem Verlauf, wo sie sich anscheinend über die Situation aufregte.

Unites Gedankenwelle war völlig anders als er sie gewöhnt war. Es handelte sich um drei Gedankenscheiben mit gelbleuchtenden Rändern, die in einem gleichmäßigen Abstand übereinander angeordnet waren.

Lag das daran, dass sie sich auf drei Personen gleichzeitig konzentrieren musste?

Die Scheiben regten sich nicht, sie leuchteten bloß auf, als würde eine Energie die Kreise in unterschiedlicher Geschwindigkeit entlang schießen. Das Licht schoss regelrecht hektisch über den obersten Ring. 

Außerdem war da eine dunkle, graue Wolke, wie eine Gewitterfront, die etwas Dahinterliegendes verschleierte.

Dann veränderte sich etwas und er begriff, dass Unite ihre Kräfte erst jetzt einsetzte. Das wunderte ihn für einen Moment. Sie war so geübt darin, dass sie normalerweise keine Einstimmungsphase brauchte. Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken.

Eine Art lavendelfarbener Nebel zog auf und färbte das Schwarz des Hintergrunds, den er für das Finden der Gedankenwellen verwendete, in ein traumartiges Blau-Lila. War das die Verbindung von seinen und Destinys Kräften?

Die Farbe des Nebels wandelte sich zu einem Rosa-Rot. Das sah tatsächlich nach Destiny aus. Er holte das Bild von Destinys Gedanken heran und erkannte, dass sie in einen meditativen Zustand übergegangen war. Ihr Geist war ruhig, auch wenn hier und da noch ein Gedanke aufflackerte.

Er war wirklich beeindruckt. Nun musste er nur noch herausfinden, wie er zu Secret vordrang.

Weiter hinten verblieb das Blau-Lila des Nebels. Gedanklich näherte sich Trust ihm, ja wurde regelrecht von ihm gerufen. Er kannte diese selbstbewusste, anziehende Kraft, die einen in seinen Bann schlug und einen besonderen Reiz ausstrahlte, lockend und gefährlich. Sie zog ihn mit sich.

Bei dem Versuch, sich dagegen zu wehren, wurde Trusts Atem schwer. Etwas in ihm wollte dem Ruf folgen, der ihn hinfortriss. Er drückte Unites Hand aus Furcht, sich selbst in diesem Sog zu verlieren. Secrets Kraft war elementar, wie etwas, das Welten aus den Angeln heben und Seelen aus ihrer Bahn reißen konnte, hin zu etwas reizvoll Enthemmendem jenseits aller Regeln und Verpflichtungen.

Fast hätte Trust Unites Hand losgelassen.

Im letzten Moment spürte er, wie sie ihn festhielt.

Eine sanfte, warme und liebevolle Energie umfing ihn wie eine Umarmung, wie ein Kuss, der ihn davon abhielt, sich dem Selbstverlust hinzugeben, und ihn gemahnte, dass er das, was er suchte, bereits in sich hatte. Es war nicht nötig, es gegen eine falsche Freiheit einzutauschen.

Er verharrte in dem Schleier an Liebe und Trost, von dem er nicht wusste, ob Unite ihn geschickt oder nur ausgelöst hatte. Seine Atmung beruhigte sich und er machte sich klar, dass es nichts gab, das er vermisste. Erst dann war er bereit, sich erneut Secrets verlockendem Sog zu stellen.

Mit neu gefundener Sicherheit folgte er Secrets Einflüsterungen. Dann sah er ihn vor sich – Secrets Gedankenstrang.

Er glaubte, etwas kleines Helles in unmittelbarer Nähe zu entdecken, aber durfte sich davon nicht ablenken lassen. Er konzentrierte sich auf Secret.

Wieder musste er mit sich ringen. Secrets Energie war nicht wie die eines normalen Menschen. Nie hatte Trust etwas so Betörendes an den Gedanken eines anderen gefunden. Als wolle Secret ihn dazu verführen, sich ihm anzuschließen, als flüstere es ihm zu, dass er es auch wollte, frei sein von …

Trust stockte.

…von sich selbst.

Er erinnerte sich an sein Gespräch mit Erik, als er ihm das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt und Erik ihm daraufhin offenbart hatte, dass er immer alles habe richtig machen wollen, ohne dass das jemals irgendetwas gebracht hätte.

War das also die Freiheit von der Bürde, die Erik sich gewünscht hatte? Die sich Trust selbst schon so oft heimlich ersehnt hatte?

Er durfte sich nicht länger damit aufhalten.

Es fiel ihm schwer, trotz der Konzentration die Worte laut auszusprechen, aber er musste sichergehen, dass Grauen-Eminenz ebenfalls wusste, dass es jetzt an der Zeit war zu agieren: „Ich habe ihn.“

Trust bemühte sich, Secrets Gedankenstrang im Blick zu behalten. Näher traute er sich allerdings nicht an ihn heran.

 

Grauen-Eminenz konnte nicht fassen, dass dieses Rumgestehe wirklich zu etwas geführt haben sollte. Er ließ seine Aufmerksamkeit zurück in die Hand auf Unites Schulter wandern. Die ganze Zeit über hatte er nichts gespürt. Nicht mal ein sonderliches Energieniveau. Er hatte sich daher in der Zwischenzeit so platziert, dass er Desire und Change im Blick behalten konnte. Nicht dass das bloß ein Ablenkungsmanöver war, um ihn zu attackieren.

Er fühlte etwas, doch er musste erst daraus schlau werden. Die Information war durcheinander, als wären verschiedene Sprachen miteinander gemischt worden. Gefühl, Gedanke, Ort. Das war einfach nur ein riesiges Chaos!

„Was soll ich damit anfangen?“, schimpfte er.

„Mach das, was du tust, um das Portal einzustellen.“, sagte Unite in ungewohnt ruhigem, geradezu fremdartigen Ton. Sie klang so ganz anders als zuvor.

„Ich brauche dazu genauere Informationen!“

„Tu es einfach.“, antwortete Unite.

Er stöhnte und konzentrierte sich auf das Portal, auch wenn er nicht wusste, was das bringen sollte. Es brauchte exakte Parameter und Ortsangaben, um ein Portal einzustellen.

Fast hätte er einen Satz von ihr weg gemacht, als er spürte, dass etwas von ihrem Körper auf ihn überging.

Das war nicht einfach eine Information! Sie stellte eine Verbindung zwischen ihm und sich, nein, eine Verbindung zwischen ihm, sich und den anderen beiden her! Wie ein gemeinsamer Stromkreis. Die Energie, die in diesem Kreis floss war eine abgerundete Symbiose aus den Schwingungen jedes einzelnen, als hätte dieses Mädchen die Energien von etwas bereinigt, das wie eine kantige Oberflächenstruktur das Fließen durch den nächsten Organismus unmöglich gemacht hätte. Als hätte sie eine Mischung aus verschiedenen Blutgruppen von ihren Antigenen befreit und somit eine Transfusion ohne Verklumpen ermöglicht.

Was ihm zuvor wie ein sinnloses Kauderwelsch vorgekommen war, war nun eindeutig, als habe dieses Mädchen es in seine Sprache übersetzt, ja in seine eigenen Worte. Doch das war nicht alles. Er begriff, dass die Logik, die er darin erkannte nicht dem entsprach, was er zu denken gewöhnt war. Es war, als hätte sie ihn in ihre Arbeitsweise eingeweiht, ohne ihm etwas erklären zu müssen. Einfach durch ihre Kraft.

Was war das für eine unglaubliche Gabe?

Seine Zweifel und sein Zynismus waren wie weggefegt, die beruhigende Schwingung, die von Unites Körper auf ihn überging, wies ihn an, sich auf das Portal zu konzentrieren. Die Bewegung seiner Gedanken und die Einstellungen, die er vornehmen musste, flossen in ihn, sie wurden ausgeführt, als lenke die Muse sein Handeln.

Er musste nicht darüber nachdenken, seine Muskulatur und sein Verstand arbeiteten automatisch, wie aus sich selbst getrieben und von außen zusätzlich gespeist. Vor seinem inneren Auge griffen die verschiedenen Riegel ineinander, bildeten ein harmonisches Bild wie in einem Kaleidoskop, nur dass er dieses Bild nicht durch zufälliges Drehen, sondern gezielte Schritte zusammengebaut hatte. Er wusste, dass jede Einstellung exakt war. Alles war genau wie es sein sollte.

Er hörte die anderen beiden Beschützer, die hinter ihm standen, einen erschrockenen Laut von sich geben.

Als er die Augen öffnete hatte das Portal sich in einen dunkelblau-lila leuchtenden Strudel verwandelt. Wie der Eingang zu einer anderen Galaxie.

Normalerweise hätte er einen zynischen Kommentar abgelassen, aber dazu war er nicht mehr in der Lage. Noch immer spürte er die verbindende Energie, die Unite in einer gleichmäßigen Bewegung im Schwung hielt, regelrecht jonglierte wie ein Virtuose. Er war noch immer überwältigt von ihrer Fähigkeit.

 

Change stieß einen euphorischen Siegesschrei aus, der Destiny, Trust und Unite dazu ermutigte, die Augen zu öffnen.

„Ihr habt es geschafft!“, jubelte Desire.

Die drei anderen Beschützer sahen sich an, unsicher, ob sie einander jetzt wieder loslassen konnten.

„Ist das so richtig?“, fragte Unite Grauen-Eminenz.

„Ja.“, sagte er in sehr viel ruhigerem Ton als er bisher gesprochen hatte. Destiny und Trust beendeten daraufhin die Verbindung.

Zu Unites Überraschung nahm Grauen-Eminenz seine Hand jedoch nicht von ihrer Schulter. Vielleicht war er einfach noch zu sehr davon beeindruckt, dass es ihnen tatsächlich gelungen war, das Portal einzustellen.

Change trat zu ihnen. „Also los.“

Unite spürte, wie Grauen-Eminenz‘ Hand, die bisher nur ruhig auf ihrer Schulter gelegen hatte, sich anspannte, als wolle er sie festhalten.

„Ist es sicher, da reinzugehen?“, fragte Destiny argwöhnisch. „Es sieht … anders aus.“

Trust starrte das Portal an. „Secret sollte dort sein.“

„Tot oder lebendig?“, scherzte Change.

„Das ist nicht lustig!“, stieß Desire aus.

„Er lebt.“, sagte Trust.

„Ihr solltet nicht –“ Grauen-Eminenz unterbrach sich. Zögerlich nahm er die Hand von Unites Schulter.

Verwundert drehte sie sich zu ihm und konnte Sorge in seinem Gesicht lesen. Dann wurden seine Züge fest.

„Ich gehe. Ihr wartet hier.“

Schockiert sahen sie ihn an.

Er fügte an: „Oder geht nach Hause. Mir egal.“

„Das geht nicht.“, antwortete Unite in betont ruhigem Ton, um ihn nicht merken zu lassen, dass sie hier drin gefangen waren. „Secret wartet auf uns.“

Grauen-Eminenz deutete auf das Portal. „Ihr habt keine Ahnung, was dahinter ist!“

„Secret.“, entgegnete Unite. „Das ist alles, was wir wissen müssen.“

Grauen-Eminnez stöhnte. „Das ist kein Spiel.“

„Das war es noch nie.“, sagte Unite überzeugt.

„Ihr versteht nicht. Das ist nicht wie mein Schatthenreich!“ Grauen-Eminenz‘ Stimme wurde vehementer. „Ihr habt keine Ahnung, was in dieser Dimension auf euch lauert. Und dort ist niemand, der euch beschützt!“

Change wandte sich an die anderen. „Ist der jetzt kaputtgegangen? Seit wann macht der sich Sorgen um uns?“

Trust ging nicht auf Changes Worte ein und wandte sich stattdessen an den Schatthenmeister: „Bleibt das Portal automatisch geöffnet?“

„Das sollte es.“, brummte Grauen-Eminenz.

„Und wenn nicht?“, wollte nun auch Desire wissen.

Unite wandte sich an den Schatthenmeister. „Du sorgst dafür, dass das Portal offen bleibt.“

Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er damit nicht einverstanden war.

„Wenn irgendetwas ist, kommst du nach.“, sprach Unite weiter. „Trust kontaktiert dich.“

Grauen-Eminenz gab ein Grollen von sich und wandte sich an Trust. „Beweis es.“

Trust zögerte. Schließlich holte er tief Luft und schloss die Augen.

„Du sollst nicht meine Gedanken lesen!“, schimpfte Grauen-Eminenz.

„Das tue ich nicht.“, entgegnete Trust bestimmt.

Die Gewitterfront, die zuvor Grauen-Eminenz‘ Gedankengänge verdeckt hatte, war nicht länger vorhanden. Verwirrt musste Trust feststellen, dass an ihre Stelle eine wunderschöne Erscheinung getreten war.

Die Welle hatte eine ebenmäßige, sanfte Schwingung in lila-violetter Farbe, strahlte jedoch ein weißes Leuchten aus, das an seinen Enden in ein Gold überging. Wenn Trust nicht gewusst hätte, dass es sich bei der einzigen ihm unbekannten Gedankenwelle in der unmittelbaren Umgebung um den Schatthenmeister handeln musste, hätte er es nicht geglaubt.

Er schickte der leuchtenden Erscheinung einen seiner Gedanken.

Können Sie mich hören?

„Okay.“, verkündete Grauen-Eminenz.

Im gleichen Moment sah Trust das violette Farbspiel hinter einer abermals aufziehenden grauen Wolkenfront verschwinden.

Wieder sah Grauen-Eminenz zu Unite und sie konnte nicht umhin festzustellen, dass er sich wirklich Sorgen machte.

„Wir holen ihn zurück.“, versprach sie.

„Beeilt euch.“, gab er knapp von sich. 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Der Weg zu Secret in die Nebendimension ist frei, aber was wird sie dort erwarten? Das erfahrt ihr nächste Woche in "Nebendimension". Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  totalwarANGEL
2022-07-22T19:53:37+00:00 22.07.2022 21:53
> Und das hatte nichts, absolut gar nichts, damit zu tun, dass ihn das vorige Aussehen irgendwie
> ungewollt daran erinnerte, was er Secret angetan hatte.
Aber sicher doch, Graulein...

> Er traute diesem Gör nicht über den Weg.
Kann ich voll und ganz nachvollziehen. :)

> War dieses Mädchen geistig minderbemittelt? Hatte sie irgendeinen Gehirnschaden?
Es wird wärmer...

Die Beschreibung, wie Graulein die Fähigkeit von Vivien erlebt, finde ich großartig. Da kann man sich richtig reinversetzen, wie überwältigend das erste Mal mit Vivien sein muss.
(Justin ist gerade rot geworden. XD)

Ja das wird ja was.
War wieder zu interessant zum kommentieren. :)
Antwort von:  Regina_Regenbogen
23.07.2022 00:49
>Aber sicher doch, Graulein...
Ja, niemand nimmt ihn mehr ernst. 😂

>> Er traute diesem Gör nicht über den Weg.
>Kann ich voll und ganz nachvollziehen. :)
Für Einzelgänger ist jemand, der Vereinen heißt, einfach ein Albtraum. 😂

>Die Beschreibung, wie Graulein die
>Fähigkeit von Vivien erlebt, finde ich
>großartig. Da kann man sich richtig
>reinversetzen, wie überwältigend das erste
>Mal mit Vivien sein muss.
>(Justin ist gerade rot geworden. XD)
🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣
Ich geh kaputt. Solange er bei der Aussage nur rot wird, ist es gut. 😂😂😂

>War wieder zu interessant zum kommentieren. :)
😁 Ich nehme das als Kompliment.


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