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Morgenstern

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine Neuauflage von Kapitel 1.1 bis 1.4. Wer diese Kapitel im Original gelesen hat, muss die Neuauflage nicht zwingend lesen. Es gab nur kleinere Anpassungen. Im Mittelalter hat z.B. niemand an eine flache Erde geglaubt.

Historischer Hintergrund: Das die Erde eine Kugel ist, wurde schon ~500 v.Chr. von Pythagoras mathematisch bewiesen und bis ins 19 Jahrhundert hat daran niemand mehr gezweifelt. Der Glaube, im Mittelalter dachte man, die Welt sei eine Scheibe, ist Fake News, verbreitet von einem erzkatholischen Engländer und später für die Romantisierung des Mittelalters im Viktorianischen Zeitalter missbraucht.

Damit beginnt der erste Band "Verfluchtes Blut".
Es werden in nächster Zeit weitere überarbeitete Versionen der alten Kapitel erscheinen.
Solltest du bis jetzt noch nicht gelesen haben, dann warte lieber auf die Remakes. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
Du wurdest gewarnt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Version von Kapitel 4.1 bis 4.3. Wer dieses Kapitel im Original gelesen hat, muss die Neuauflage nicht zwingend lesen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
Trotzdem sollten es auch die lesen, welche das Original bereits kennen. Inkonsistenzen und Logikfehler wurden behoben.

Was die Länge angeht… Nun, es ist ein GROSSES Bankett.
Von daher… ¯_(ツ)_/¯ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
Du wurdest gewarnt.
Die Sequenz im Limbus wurde überarbeitet, da sie vorher völlig Out of Character war. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
Du wurdest gewarnt.
Der zweite Kampf Alaric vs. Nebula wurde überarbeitet und die beiden anderen erwähnten Waffen haben jetzt einen Auftritt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Originals!
Du wurdest gewarnt.

Es ist mal wieder etwas länger, aber es ist auch das letzte Kapitel des Bandes “Verfluchtes Blut”. Da kann man nicht kleckern, da muss man klotzen!

Ab dem nächsten Kapitel befinden wir uns im zweiten Band “Drachennest”.
Dann gibt es endlich neue Kapitel! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach längerer Pause geht es nun endlich weiter.
Unsere Helden um die Prinzessin mit den Teufelskräften überqueren in der Esmeralda, eine Galeere des Königs, die gefürchtete Teufelssee. Es scheint alles ruhig zu sein. Zeit für Selbstreflektion. Aber bleibt es friedlich, oder ist dies nur die Ruhe vor dem Sturm? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wer damit rechnet, dass in diesem Kapitel die offenen Fragen aus dem vorherigen beantwortet werden…. Nun, der hat sich verrechnet.
In diesem Kapitel springen wir an einem ganz anderen Ort und folgen Aki und Toshiro. Willkommen auf den östlichen Inseln. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Gruppe kommt in Al Shahar an und begibt sich sofort auf die Weiterreise mit einer Karawane. Sie wollen sich als Händler getarnt in Aschfeuer einschleichen. Doch sie haben die Rechnung ohne die Wüstenräuber gemacht.
Dann geschieht etwas vollkommen unerwartetes. Und das Drama nimmt seinen Lauf... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Achtung: Füllerkapitelalarm!
Nach ihrem Amoklauf ist Nebula entsetzt von sich selbst. Clay spricht mit der gefangenen Jasmin und erfährt ihre wahren Beweggründe. Die Gruppe macht sich auf, eine zerrissene Familie wieder zusammenzuführen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel entführt euch abermals weg von unseren Helden und hin zum Stählernen Wall, einer mächtigen Verteidigungsanlage aus längst vergangenen Tagen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist im Alleingang für die neuen Triggerwarnungen “Missbrauch” und “Trauma” verantwortlich. Wer das nicht aushält, sollte lieber etwas anderes lesen.

Nach einem nicht so angenehmen Traum erreicht Nebula mit ihren Begleitern die Grenzstadt. Getarnt als Wüstenhändler versuchen sie, weiter in das Kaiserreich einzudringen, als sich ein Schatten über sie legt… Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nachdem die vorherigen Kapitel alle so unverschämt lang waren - und das hier ist in dem Punkt auch nicht besser - gelobe ich nun Besserung und werde mich künftig kürzer fassen.

In diesem Kapitel wird nicht einer, werden nicht zwei, sondern gleich drei neue wiederkehrende Charaktere eingeführt. Klotzen, nicht kleckern. 😁
Außerdem scheint das Baby, das unsere Helden gefunden haben, nicht ganz normal zu sein. Komplett anzeigen

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Teufelsweib


 

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Die Glocke im Kirchturm schlug gerade zur zwölften Stunde.

Unerbittlich brannte der heiße Feuerball herunter auf Gottes Erde, als habe er vergessen, dass er eigentlich ihr Lebensspender war. Sengende Hitze brutzelte den Marktplatz von Bärenhag. Zum Westen und zum Osten hin erlaubte die Straße den wuseligen Massen an Besuchern den Platz zu fluten. An den beiden anderen Seiten säumten die Fachwerke der Häuser den geschäftigen Umschlagplatz. Dunkles Holz und heller Putz standen im Kontrast zueinander. Grün angemalte Läden verschlossen die meisten Fenster, damit die Hitze draußen blieb. Eine schwarz-weiß gescheckte Katze nutzte das Vordach als Catwalk, bis sie in einem der wenigen offenen Fenster verschwand. Auf dem Markt gab es kaum feste Stände. Die meisten Verkäufer schlugen ein Zelt auf und stellten ihre Waren auf Tischen zur Schau. Die wöchentlich verpachteten Standplätze waren unter den Händlern sehr begehrt. Grund genug, selbst an einem heißen Tag im August nicht auf den Umsatz zu verzichten. Seltene Stoffe und Seide aus fernen Ländern, aber auch tägliches Allerlei, wurden feilgeboten. Die Schweinehirten trieben ihre Herden zum Schlachter. Und die Tischler, Schneider, Schmiede und alle anderen Handwerker versuchten ihre Erzeugnisse in bare Münze umzuwandeln.

Vollständig von einem braunen Kapuzenmantel verhüllt, wandelte eine fremde Gestalt über den Marktplatz. Sie stach heraus, denn sie trug ein Bündel Geschmeide bei sich. Jeder ihrer Schritte klang dumpf, wie von schwerem Schuhwerk.

“Seltene Gewürze!”, rief es aus der einen Ecke. “Erlebt den Wohlgeschmack des Orient und Okzident mit Pfeffern aus allen Teilen der bekannten Welt!”

Doch den Besucher kümmerte es nicht.

“Meine Tinkturen werden Euch nachts gute Dienste leisten!”, pries ein Apotheker seine Tinktur an. “Auf den Phallus aufgetragen, macht es ihn hart wie Stahl!” Dabei kam er dem Fremden unangenehm nah. “Eine Liebesschlacht zu später Stunde wird für Euch stets siegreich und für den Beischlaf äußerst befriedigend enden.”

Unerwartet wurde der aufdringliche Mann von dem verhältnismäßig kleinen Fremden am Schlafittchen gepackt und hoch gehalten, sodass seine Füße den Bodenkontakt verloren. “Haltet Abstand!”, wies ihn der Fremde zurecht und setzte den Apotheker anschließend unsanft ab. Dieser verneigte sich und suchte schnellstens das Weite.

“Teppiche! Wundervolle Teppiche!”, verlautete der Textilhändler.

So einen hatte der Fremde gesucht. Er gab dem Händler das Bündel und erhielt einen prallen Beutel mit Münzen. Sein Ziel war erreicht. Nun spürte er allerdings seinen Magen knurren. Die verführerischen Düfte zeigten schließlich ihre Wirkung. Aber der Textilhändler war nicht der richtige Ansprechpartner. Einen Teppich konnte man nicht essen.

“Hungrig?”, fragte es von der Seite. “Versucht es doch dort hinten beim Fischhändler. Die Suppe ist einzigartig!” Im nächsten Moment ging der Eigentümer der Stimme in der Masse unter und wart nie wieder gesehen.

Der Fremde suchte den Marktstand auf, wie ihm geheißen wart. Vom Räucherfisch bis zum Brathering war alles dabei, was eine Flosse besaß. Inmitten des Standes befand sich ein großer Kessel. Aus ihm stieg ein verführerischer und überhaupt nicht fischiger Duft auf. Dies musste die berüchtigte Fischsuppe sein. Alsbald belegte der Fremde einen der Hocker.
 

Gleich nebenan versuchte ein Schmied, seine Waren loszuwerden. Er war noch jung, vielleicht siebzehn Jahre alt. Angebot besaß er reichlich, aber kein Kunde zeigte Interesse. “Metallerzeugnisse aller Art!”, rief der Junge. “Egal ob Werkzeug der Schöpfung oder der Zerstörung. Bei mir bekommt ihr alles! Henrik, der Schmied, hat etwas für jeden Geschmack!” Doch Henriks Mühen waren vergebens. Niemand blieb stehen, um seine Waren anzusehen, geschweige denn zu erwerben. “Wenn das so weitergeht, kann ich meine Pacht nicht mehr bezahlen!” Der junge Schmied ballte die Hand zur Faust und schlug auf den Tisch vor sich. “Verdammt!”

Seine Geldsorgen waren zu offensichtlich. Er fürchtete, so niemanden für sich gewinnen zu können. Sein mangelnder Umsatz hing über ihm wie eine schwarze Aura.

“Ich muss mir etwas einfallen lassen.”

Da kam ihm eine Idee.

“Sonderangebot!”, rief er aus voller Kehle. “Zwei zum Preis von einem! Aber nur solange der Vorrat reicht.”

Noch immer scherte sich keiner um ihn und seine Waren.

“Niemand?!”

Offenbar würde der Vorrat die nächste Zeit nicht ausgehen...

Als er schon verzweifeln wollte, näherten sich unerwartet drei Männer. Keiner von ihnen sah besonders erfreut aus, ihn zu sehen. Henrik jedoch freute sich für sie mit. Der Anfang war gemacht und bald würden sie ihm die Bude einrennen.

Zumindest hegte Henrik diese Hoffnung.

Auf einmal dämmerte ihm, dass diese Männer schon einmal bei ihm waren. Jeder von ihnen hatte etwas erstanden. Sie mussten zurückgekommen sein, weil sie von der Qualität seiner Werkzeuge und Geräte überzeugt waren.

“Willkommen zurück, meine Herrschaften”, grüßte er die Männer. “Haben Euch meine Waren so gut gefallen, dass Ihr gleich mehr davon haben wollt?”

Die finsteren Mimen der Männer erhellten sich kein bisschen, egal wie sehr sich Henrik bemühte, freundlich zu lächeln.

“Sag mal, willst du mich verarschen, Bengel?”, fragte der Erste ungehalten. Er griff in eine Tasche und holte einen Hammer mit hölzernem Griff hervor. “Was ist das hier?!”, fragte er mit erhobener Stimme.

“Ei-Ein Hammer?”, entgegnete Henrik.

“Müll!” Der Mann schüttelte den Hammer hektisch umher. “Müll ist das!” Als er das Schütteln einstellte, löste sich wie auf Bestellung das metallene Gewicht vom Stil, fiel herunter und schlug dumpf auf seinem Fuß auf. Der Mann verdrehte die Augen, hielt sich den Fuß und hüpfte auf dem anderen herum. “Aua! Aua! Aua!”

“Upps…”, kommentierte der junge Schmied.
 

Die vermummte Gestalt nahm inzwischen die Fischsuppe zu sich, die sie kurz zuvor bestellt hatte. Die Geräuschkulisse der wütenden Kunden erregte ihr Interesse. Fragend sah sie den Verkäufer gegenüber an. “Was ist dort los?”, fragte ein zur Hälfte immer noch von der Kapuze verborgenes Gesicht.

Die unerwartet weiche Stimme gab dem Verkäufer zu denken. Bis jetzt glaubte er, einen jungen Mann vor sich zu haben. Aber lag er damit vielleicht falsch?

“Nun…”, antwortete der Fischverkäufer gelassen. “Gleich wird Henrik wieder windelweich geprügelt. Ist nichts besonderes! Das passiert zweimal die Woche.”

“Warum denn das?”

“Weil er der schlechteste Schmied der ganzen Stadt ist und jeder, der seinen Schund ersteht, ihm danach eine verpassen will. Ich hab ihm einmal eine Kelle um die Ohren gehauen. Sie ist nach dem ersten Treffer auseinander gefallen. Einfach keine Qualität!”

Der Gast sah hinüber zu Henrik, welcher sich weiterhin mühte, die Aufgebrachtheit der unzufriedenen Kunden wegzulächeln. “So ein Versager...”
 

Inzwischen hatte der erste aufgebrachte Kunde aufgehört, auf einem Bein zu hüpfen, als die Wellen des Schmerzes ausgestanden waren. Allerdings schien er noch immer nicht so gut zu Fuß zu sein. Das Stehen war ihm noch immer eine Pein.

“Und was ist mit mir?”, skandierte der zweite aufgebrachte Mann. “Mir hast du einen Kessel verkauft.”

“Seid Ihr damit nicht zufrieden?”, erkundigte sich Henrik vorsichtig.

“Der Kessel hatte sogleich ein Loch als er das erste Mal befüllt wurde!”

“Das kann man bestimmt flicken...”, beschwichtigte Henrik.

Urplötzlich wurde Henrik vom dritten Mann gepackt. Er zog Henrik über den Tisch und rüttelte ihn, als hielte er ihn für einen Obstbaum und wolle reife Früchte aus der Krone schütteln. “Und natürlich sollen wir dafür zahlen, dass du deinen eigenen Pfusch ausbügelst”, schnaubte der Mann.

“I-Ich muss auch von etwas leben!”, entgegnete Henrik eingeschüchtert.

“Wenn ich mit dir fertig bin, lebst du gar nicht mehr!”

Gerade als der Mann mit geballter Faust ausholte, um den jungen Schmied, den er noch immer am Hemdkragen hielt, eine kostenlose Zahnkorrektur zu verpassen, wurde er von dem Geräusch eines zu Boden fallenden Säckchens voller Münzen gestoppt.

“Hey!”, rief ihm jemand zu. “Wenn es Gold ist, das Ihr wollt, nehmt den Sack und verschwindet!” Es war der Fremde, der die ganze Zeit unscheinbar nebenan gegessen und zugesehen hatte.

“Was mischt Ihr Euch da ein?”, fragte der Mann. “Lasst uns ihn vermöbeln, sonst dreht er Euch auch noch seinen Schund an!”

“Nehmt das Gold und verschwindet! Ich werde das kein drittes Mal sagen!”

“Ihr solltet den Mund nicht so voll nehmen! Ihr klingt, als sei Euch noch kein einziges Haar am Sack gesprossen, Bürschchen! Wenn Erwachsene sprechen, haben Kinder Sendepause!” Der Mann ließ von Henrik ab und stürmte stattdessen auf den Fremden zu. Die Hand war noch immer zur Faust geballt und bereit zuzuschlagen.

“Ich habe Euch gewarnt!”

Der Fremde packte die Hand des Angreifers.

Der wütende Kunde spürte, wie der Griff um seine Hand immer fester und fester wurde. Die anderen beiden konnten fast fühlen, wie ihm die Hand gebrochen wurde, als es laut knackte und ihm die Beine weich wurden. Auf den Knien hockend jammerte er, während sein Gegenüber noch immer nicht von seiner Hand abgelassen hatte.

Henriks Mund stand sperrangelweit offen.

“Werden du und deine Freunde den Jungen in Ruhe lassen?”, fragte der Fremde.

Der Mann nickte hektisch mit dem Kopf, während ihm die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen strömten.

Der Fremde ließ seine Hand wieder los.

Daraufhin rutschte der Mann ängstlich auf allen Vieren rückwärts zurück zu seinen Freunden, ohne dabei seinen Peiniger aus den Augen zu lassen. Die anderen halfen ihm auf und gemeinsam ergriffen sie die Flucht.

Währenddessen hob der Kuttenträger das Säckchen mit den Münzen wieder auf. “Ihr habt eure Entschädigung vergessen!”, rief er den Männern hinterher. Aber sie waren zu sehr mit ihrer Flucht beschäftigt und hörten es nicht. “Dann eben nicht!” Daraufhin steckte er den Beutel in seinen Mantel.

Henrik war noch immer ängstlich, als der Fremde unter der Kutte auf ihn zukam. Er fürchtete, als nächstes die Knochen gebrochen zu bekommen. Schützend nahm er seine Arme hoch und drehte sich weg, als der Fremde näher kam.

“Du brauchst keine Angst zu haben”, sagte der Fremde. Er entledigte sich der Kapuze.

Erstaunt stellte Henrik fest, der Fremde war ein Mädchen. Etwa in seinem Alter.

Henrik nahm die Hände herunter. Er betrachtete die Jugendliche. Ihre Augen waren so blau wie der Himmel und ihre Haare so golden wie die Gerste im Hochsommer. Unter ihrem linken Auge hatte sie einen winzigen Leberfleck. Sie war so unglaublich hübsch, so eine hatte er noch nie gesehen! Kein Mädchen und keine Frau in Bärenhag war auch nur annähernd so schön wie sie. Sie musste eine Prinzessin sein!

Er war viel zu erregt, um etwas zu sagen.

“Kannst du auch sprechen?”, brummte die junge Frau genervt.

Keine Antwort.

“Henrik, richtig?”, ergriff sie schlussendlich die Initiative. “Du solltest aufhören die Leute um ihr Geld zu bringen. Ist ungesund. Und ich kann nicht immer da sein, um dich zu retten!”

“D-Danke!”, stotterte der junge Schmied. “Ab-ber a-außer schmieden liegt mir nichts.”

“Scheinbar nicht einmal das...”, murmelte sie. “Du willst also Schmied sein?”

“Ei-ein Lehrling”, gestand Henrik ein. “Nur ist mein Meister gestorben, bevor er mir sein Handwerk richtig beibringen konnte.”

“Ach so ist das also.... Hast du keine Eltern, die sich um dich kümmern könnten?”

“Die sind froh, das sie mich l-los sind.”

Die junge Frau seufzte.

“Hast du es schon im Gildenhaus versucht?”, fragte sie daraufhin. “In Fällen wie diesen ist es nach Gildensatzung deren Pflicht, einen neuen Meister zu suchen.”

“Ihr wisst wirklich viel, gnädige Frau.”

“Man sollte seine Rechte kennen! Hast du nun oder nicht?”

“Ja. Da-has habe ich auch versucht. Kein anderer Schmiedemeister w-wollte mich aufnehmen. Angeblich weil ich zwei li-linke Hände habe.”

“Wie kommen die nur auf solch eine absurde Idee...”, kommentierte sie. Danach hielt sie kurz inne. “Hmm… Ich werde dir helfen!” Sie ging zu Henriks Marktstand und ergriff einen großen Schmiedehammer. Sie prüfte die Qualität des Werkzeugs. Er schien halbwegs vernünftig gearbeitet zu sein. Dann tat sie so, als würde sie mit zur Kralle geformten linken Hand eine Energie in das Werkzeug übertragen. “Abra Kadabra!”, sagte sie. “Hier. Nimm diesen Hammer zum schmieden.”

“Wieso gerade diesen?”, fragte Henrik verwundert.

“Weil ich ihn soeben verzaubert habe, du Vollpfosten!”, antwortete die Fremde. Hoffentlich fällt der nicht auseinander, wie der letzte, setzte sie in Gedanken fort.

“Sowas k-könnt Ihr bewirken? Seid Ihr eine Hexe?”

“Hab ich Pickel und eine Hakennase?! Ich bin nur eine Reisende, die von Ort zu Ort zieht und Gutes tut, wo Gutes getan werden muss.”

“Dann seid Ihr eine Fee!”

“Ich bin das genaue Gegenteil! Und du solltest dich von mir fernhalten, Junge!” Sie reichte Henrik den Hammer. Als der nicht reagierte, wurde sie ungeduldig. “Hier! Jetzt nimm das verdammte Teil schon, bevor mir der Arm abfault!”

Henrik ergriff endlich den Schmiedehammer. “D-Danke!”

“Und lass dir ein Rückrad wachsen!” Das Mädchen setzte die Kapuze auf und ging.

“Hey! Wie lautet Euer Name?”, rief Henrik der Fremden hinterher. Doch sie antwortete nicht. Je weiter sie ging, desto mehr tauchte sie in das rege Treiben des Marktes ein, bis sie in Gänze verschwunden war.
 

🌢
 

Eine finstere Gasse wirkte wenig einladend und dennoch zog es die Fremde hinein. Zwischen Müll und Exkrementen hatten es sich die Ratten bequem gemacht. “Verdammt!”, beklagte sich das Mädchen, als ihr Stiefel mit lautem Platschen in einer unerwartet tiefen Pfütze versank. Die unappetitlich riechende Flüssigkeit ergoss sich über ihr Gewand. Für gewöhnlich würde sie diesen Schmutz meiden, doch sie spürte, dass sie verfolgt wurde. Auf offener Straße könnte sie nichts gegen ihre Verfolger unternehmen, weshalb sie beabsichtigte, sie fernab neugieriger Augen zu stellen.

Vier Männer mit verborgen getragenen Waffen tappten bereitwillig in ihre Falle.

Grinsend folgten sie ihr.

Inmitten der Gasse blieb sie plötzlich stehen und wandte sich ihren Verfolgern zu. “Wieso werde ich verfolgt?”, fragte sie sie.

Die Männer zogen ihre Waffen. Zwei hatten ein Kurzschwert, einer einen Knüppel und der letzte eine Axt. “Du stellst zu viele Fragen, Weib!”, antwortete der ihr nächststehende. Dann kamen sie ihr langsam bedrohlich näher. Siegessicher, denn sie war doch nur eine schwache Frau. Was sollte sie gegen vier bewaffnete Männer ausrichten?

Aus der Gasse drangen kurz Kampfgeräusche und Schreie des Entsetzens.

Dann wurde es still.

Totenstill.
 

Die Glocke schlug soeben Drei.

Der heiße Feuerball hatte sich ein ganzes Stück über den Himmel geschoben. In der Schmiede “Zum glühenden Hammer” wurde trotz der Temperaturen hart gearbeitet. Henrik nahm sich die Worte der wunderschönen Unbekannten zu Herzen und wollte den verzauberten Hammer austesten. Er hatte zuvor schon einige Dinge hergestellt und war drauf und dran, ein neues Werkstück zu beginnen.

Zuallererst verlangte es dem Rohling, erhitzt zu werden. Das Material musste weiß glühen. Henrik wusste, nur extrem heiß kann Stahl gefaltet werden. Je öfter der Stahl gefaltet wird, desto besser können Schlacke und Unreinheiten herausgearbeitet werden. Das steigert die Qualität des Produktes. Vor allem bei dem, was ihm vorschwebte, war die Qualität des Stahls von essenzieller Bedeutung. Henrik stand vor dem Kohlebecken und trat auf das Pedal zu seiner Rechten. Der Blasebalg, welcher durch das Pedal angetrieben wurde, fachte die Glut stets neu an. Dadurch blieb die benötigte Hitze erhalten.

Endlich war der Rohling heiß genug!

Henrik hielt ihn mit einer Zange in der linken Hand. Sie war zusätzlich durch einen dicken Handschuh vor der sengenden Hitze des glühenden Stahls geschützt. Er wechselte zum Amboss und nahm seinen neuen Hammer aus der Arbeitsschürze. Mit fixiertem Blick schlug er immer wieder auf den Rohling ein. Als er breit und dünn geworden war, schlug er ihn über der Kante krumm, bis sich die beiden Hälften trafen. Den Prozess des Faltens wiederholte er mehrere Male.

Der Stahl büßte schnell sein Glühen ein und musste wieder erhitzt werden.

Als der Rohling abermals weiß glühte, konnte Henrik weiter arbeiten. Der Schweiß floss dem jungen Schmied in Strömen, sodass er ihn sich mit dem Rücken seiner Schlaghand aus dem Gesicht wischen musste. Als das Werkstück unter seinen Schlägen endlich Gestalt angenommen hatte, kühlte er es im Wasserbecken. Es zischte laut und Dampf stieg auf.

Anschließend verlieh Henrik seinem Werkstück den letzten Schliff. Eine Klinge hatte er geschaffen. Zum Schärfen setzte er sich in den Schleifsteinstuhl. Diese Apparatur ermöglichte das gleichmäßige Schleifen von Klingen. Auch dieses Gerät wurde durch Muskelkraft angetrieben. Man könnte ihn sich als eine Art Fahrrad vorstellen. Der Stein rieb sich am Stahl und Funken sprühten. Henrik presste die Seite der Klinge im spitzen Winkel gegen die raue Oberfläche, um eine rasiermesserscharfe Kante zu erhalten.

Alles, was nun noch getan werden musste, war die Klinge mit einem anständigen Griff zu versehen. Nach getaner Arbeit nahm Henrik das Schwert in die Hand und trat aus seiner Schmiede heraus. Er schlug einige Male mit dem Kriegsgerät in der Luft herum, bevor er es mit ausgestreckten Arm gen Himmel hob, wie ein Held, welcher soeben den Sieg über einen garstigen Drachen errungen hatte.

“Ich habe es geschafft!”, rief er so laut er konnte. “I-Ich habe ein Schwert geschmiedet!"

Plötzlich riss einer der Anwohner die Fensterläden auf. “Halt die Klappe! Andere Leute versuchen hier zu schlafen!” Dann schlug er die Läden wieder zu.

“E-Entschuldigung!”, rief Henrik.

Er betrachtete erneut sein Werk. Drehte und wendete das Schwert. Beobachtete, wie die Nachmittagssonne vom Stahl reflektiert wurde. Ich habe ein Schwert geschmiedet, wiederholte er sich in Gedanken.

Henrik brachte die Waffe zurück in die Schmiede.

Er wollte sich unbedingt noch einmal bei seiner guten Fee erkenntlich zeigen. Aber dazu musste er sie zuerst finden.
 

Im Randbezirk der Stadt, nicht weit von der Mauer, befand sich ein Badehaus. Es duftete schon von weitem nach Seife und Badeölen. Ein liebliches Summen ertönte, sobald man sich näherte. Es kam von der Baderin. Im Innenraum des Gebäudes standen drei Badezuber in einer Reihe zwischen den Säulen. Um diese Zeit waren für gewöhnlich kaum Kunden zugegen. Noch war Arbeitszeit. Deshalb wurde nur der mittlere Zuber genutzt.

“Wie ist das Wasser, Herrin?”, fragte die Baderin, während sie ihrer Kundin mit einer übergroßen Bürste den Rücken schrubbte.

“Hach!”, hauchte diese. “Herrrrlich!”

Sehr viel mehr als ein lustvolles Stöhnen, entwich nicht mehr aus ihrem Mund. Sie stemmte sich mit beiden Armen gegen den Druck, der auf ihren Rücken ausgeübt wurde. Ihr Oberkörper war vollkommen im Schaum versunken. Ihre nassen Haare hingen ihr ins Gesicht. Beide Augen waren geschlossen.

“Das ist wunderbar!”

Während ihre Kundin weiter hauchte und jauchste, wie auf dem Höhepunkt der Lust, begann die Baderin erneut lieblich zu Summen.
 

Unterdessen suchte Henrik noch immer nach der Fremden. Überall fragte er nach einem hübschen Mädchen mit fast schulterlangem goldblonden Haaren und himmelblauen Augen. Doch keiner hatte sie gesehen. Dann erinnerte sich Henrik, dass sie die ganze Zeit unter ihrer Kutte verschwunden war. Deshalb beschloss er fortan nur nach einer Person in einer braunen Kutte zu fragen.
 

Die Baderin summte noch immer. Doch schrubbte sie ihrer Kundschaft nicht mehr den Rücken. Stattdessen wusch sie vor dem Badehaus einen braunen Mantel, damit ihre Kundin nicht zurück in dreckige Kleidung schlüpfen musste. Ein besonders hartnäckiger Fleck aus Schlamm und Exkrementen wollte einfach nicht rausgehen. Wäsche Waschen gehörte eigentlich nicht zum Leistungsangebot, aber sie wurde gut dafür bezahlt.

Die gnädige Dame lag mit der Kante des Zubers im Nacken im heißen Wasser und ließ es sich noch immer gut gehen. Beide Arme waren über den Rand des Beckens gelegt. Der Schaum begann sich zu verflüchtigen und teilweise die Sicht auf ihre Reize freizugeben.

“Wie lange habe ich schon nicht mehr baden können”, sprach sie vor sich hin. “Wenn man das Notwendige mit dem Angenehmen verbindet...”

Die Baderin wurde jäh aus ihrer Ruhe gerissen, als sich ein junger Mann vor ihr aufbaute. Er trug eine Schmiedeschürze und sah abgekämpft aus. Die Baderin schloss daraus, dass er ein Lehrling war, dessen Meister ihm heute einen Bonus ausgezahlt hatte. Jetzt war er hier, um sich waschen zu lassen. Dann rümpfte sie die Nase. Er hatte es schwer nötig. Der Junge roch meilenweit gegen den Wind nach Schweiß. Mit einem Bad war es nicht getan!

“Willkommen!”, grüßte sie den jungen Mann.

“Ha-Hallo!”, antwortete er.

“Wenn du hier baden willst, bist du leider falsch. Das Herrenbadehaus ist eins weiter!”

“Eigentlich bin ich auf der Suche nach jemanden.”

“Wirklich? Und du meinst du findest hier, wonach du suchst?”

“Ich suche jemanden, der eine braune Kutte trägt.” Er sah auf das Kleidungsstück in den Händen der Frau.

“Ja, so jemand ist hier!”

Ohne zu zögern, stürmte Henrik durch die offene Tür, hinein in das Badehaus.

Erschrocken ließ die Baderin den nassen Mantel zurück in den hölzernen Eimer fallen. “Hey! Stehengeblieben! Das ist ein Damenbadehaus, du kleiner Lustmolch!”

Doch die Tür fiel hinter Henrik ins Schloss und die Baderin war ausgesperrt. Sie pochte an die Tür und forderte, dass er sofort herauskommen solle.

In dem Moment, in dem Henrik eintrat, erhob sich die Kundin aus dem Badezuber. Sie stand ihm abgewandt im Dreiviertelprofil und war so vollkommen in Trance von dem wohltuenden Bad, dass sie weder Henrik noch das Klopfen der Baderin bemerkte. Henrik wurde ganz anders zumute, als sich die splitterfasernackte Schönheit zu ihm drehte. Der Schaum haftete noch immer an ihrem makellosen Körper. An ihren Beinen, an den Hüften, am Rücken, ihrem Gesäß und an ihren üppigen Brüsten.

Gelobt sei der Allmächtige, dachte er. Ich habe noch nie zuvor eine nackte Frau gesehen! Dabei konnte er dem Schaum geschuldet fast gar nichts erkennen. Diese Frau war seine gute Fee! Das wunderhübsche Mädchen von heute Mittag. Er hatte sie endlich gefunden!

Als ihr wiederum bewusst wurde, dass sie nicht allein war, färbte sich ihr Gesicht mit jeder Sekunde, die sie Henrik im Evakostüm gegenüberstand, immer roter. Noch bevor der Schaum von ihrem Körper rutschen und ihre intimen Stellen enthüllen konnte, versenkte sie sich wieder im Badezuber und begann zu kreischen.

“Verzieh’ dich!”, brüllte sie ungehalten. “Mach dass du Land gewinnst, du Perversling!”

Neben dem Badezuber stand ein kleiner Tisch mit einigen Flaschen Badeöl. Die junge Frau griff nach einer Flasche und warf sie nach Henrik. Er konnte noch rechtzeitig den Kopf zur Seite nehmen, sodass die Flasche neben ihm zersplitterte.

Derweil hämmerte die Baderin noch immer an der Tür.

“E-Entschuldigung!”, sagte er und fuchtelte dabei aufgeregt mit den Händen. “E-Es tut mir leid! Ich bin bestimmt kein Perverser!”

“Aber du dringst ungefragt in die Privatsphäre einer Lady ein! Du musst ein Perverser sein!” Sie verlieh ihrer Empörung mit einer weiteren Flasche Ausdruck.

Der junge Schmied konnte abermals auszuweichen. “Ich versichere, dass ich keinerlei unsittliche Absichten hege!”

Aber er konnte sie nicht beschwichtigen. Seine gute Fee ergriff die dritte Flasche und warf auch sie nach ihm. Diesmal traf sie ihn direkt an den Kopf. Henrik wurde es schwarz vor Augen. Er konnte nur noch die Zimmerdecke sehen, als er zu Boden ging.
 

“Aufwachen!”, tönte eine Stimme in Henriks Kopf.

Sie war dumpf, als wäre er in Watte gepackt worden.

Er öffnete die Augen einen Spalt. Wie lange war er wohl weggetreten?

“Aufwachen!”, tönte die Stimme erneut.

Henrik öffnete die Augen nun vollständig und sah das Gesicht der Baderin vor sich. “Was ist passiert?”, fragte er benommen.

“Du hast bekommen, was du verdient hast, du kleiner Perverser!”, antwortete die Baderin. “Du lägst unlängst in Ketten, hätte die Herrin nicht Gnade vor Recht ergehen lassen.”

“Mir tut der Kopf weh!”

“Geschieht dir recht, du Lustmolch!” Danach seufzte sie. “Geht es, oder soll ich den Medikus rufen? Die gnädige Dame hat auch dafür Münzen dagelassen. Und für die Flaschen Badeöl, mit denen sie sich gegen dich verteidigen musste...”

“N-Nein, mir geht es gut. Und ich b-bin kein P-Per-Verser!”

Henrik stand auf.

“Was wolltest du eigentlich von ihr?”

“Dieses Mädchen ist die, die ich gesucht habe.”

“Das sagt ihr Kerle doch andauernd...”

“Sie hat mir einen Hammer geschenkt. Vorher konnte ich nicht mal einen Nagel auf den Kopf treffen. Und heute Nachmittag hab ich damit sogar ein Schwert geschmiedet! Alles nur dank dieses magischen Hammers.”

“Magischer Hammer?”, fragte die Baderin ungläubig. “So etwas gibt es doch gar nicht! Du redest wirres Zeugs. Ich sollte doch den Medikus rufen.”

“Ich muss mich bei ihr bedanken! Bitte sagt mir, wo sie hingegangen ist.”

Die Baderin überlegte erst, ob sie ihm wirklich antworten sollte. “Die gnädige Dame ist noch nicht lange weg. Sie wollte erst warten, bis du wieder erwacht bist, ist aber gerade eben doch zum Stadttor aufgebrochen. Vielleicht holst du sie noch ein.”

“Habt Dank, gute Frau!”

Henrik stand auf, aber viel zu schnell, denn ihm wurde etwas schwindlig. Doch dann ging es wieder. Ohne noch einen Moment zu zögern, rannte er aus dem Badehaus, die Straße entlang zum Stadttor. Als er ankam, sah er gerade noch, wie eine Gestalt im Kapuzenmantel durch das Tor ging und verschwand. Jetzt musste er schnell sein. Er rannte dem Tor entgegen, in der Hoffnung, seine gute Fee noch einzuholen.
 

🌢
 

Die Bäume und Sträucher hatten ihr Grün noch nicht eingebüßt, dank der tief ins Erdreich reichenden Wurzeln. Sämtliches Gras war jedoch verdorrt. Und keines der Wasserlöcher wurde von der erbarmungslosen Sommersonne verschont. Neben dem schlammigen Überbleibsel eines Teiches lagen die halb verwesten Überreste eines Rehes. Zwei Krähen labten sich daran und pikten die besten Stücke heraus, als sie sich plötzlich aufgeschreckt in die Lüfte erhoben.

Graue Schatten hetzten durch den Wald.

Es waren grimmige Wölfe auf der Suche nach Nahrung. Die Krähen kreisten hoch in der Luft über ihrem Festmahl und beobachteten, wie sich die Raubtiere in einer kleinen Lichtung um einen umgefallenen, mit Moos behangenen Baumstamm versammelten. Das größte Tier unter ihnen sprang auf ihn. Es war durch eine Narbe im Gesicht gezeichnet. Während der Wolf zu heulen begann, demonstrierten die anderen Tiere ihre Unterwürfigkeit.

Der Alpha schaute über sein Rudel. Dann sah er beinahe sorgenvoll zu dem nicht weit entfernten vertrockneten Teich. Auf die überreste des Pflanzenfressers. Wenn das Rudel nicht bald etwas zu fressen zwischen die Zähne bekäme, wären sie die nächsten, die die Mägen der Krähen füllen würden.
 

Als Henrik das Tor durchquerte, behinderte die untergehende Sonne seine Sicht. Er hielt schützend die Hand vor die Augen. So sah er die Silhouette der Fremden immer mehr mit dem Abendrot verschmelzen, als sie die Straße entlang dem Horizont entgegen ging.

Henrik wollte seinen Weg fortsetzen, aber der Torwächter stoppte ihn. Er senkte den Stiel seiner Waffe und verwehrte Henrik die Passage.

“Wo willst du um diese Zeit noch hin?”, fragte der Wachmann.

“Das Mädchen eben habt Ihr auch gehen lassen.”

“Die kommt nicht aus der Stadt.”

“Ich muss sie einholen!”, antwortete der junge Schmied.

“Du weißt schon, dass bald Sperrstunde ist? Dann wird niemand mehr hereingelassen. Du wirst im freien Schlafen müssen. So sind die Regeln.”

“J-Ja, das ist mir klar! E-Es ist aber wichtig. Ich muss sie wiedersehen!”

Dem Wachmann dämmerte es langsam. Zumindest glaubte er das. “Ach die Kleine ist wohl dein Mädchen, Junge.” Er seufzte. “Na schön, geh!”

“Habt Dank, Büttel!”

“Ja ja, schon gut.” Er nahm die Stange von Henriks Brust und klopfte ihm auf die Schulter. “Eine Fernbeziehung muss hart sein. Lasst euch nicht den romantischen Sternenhimmel zu Kopf steigen! Ein Kind bedeutet viel Verantwortung, mein Junge!”

Henrik war ein klein wenig peinlich berührt.

Als der Wachmann ihn endlich gehen ließ, war die Fremde schon gar nicht mehr auszumachen. Er nahm die Beine in die Hand und rannte in die Richtung, in der er sie zuletzt gesehen hatte. Als sie endlich wieder in Sichtweite kam, folgte er ihr in sicherem Abstand. An einer unscheinbaren Kreuzung blieb seine gute Fee kurz stehen. Links und Rechts gingen Trampelpfade von der Straße ab. Der rechte Weg führte auf ein weites Feld und verlor sich in ihm. Der linke Weg führte durch dichten Wald. Die Fremde entschied sich für den linken Weg, verließ die Straße und verschwand im Dickicht. Es war eine Abkürzung zur Brücke über den Fluss, die jedoch von den meisten gemieden wurde.

Wo will sie nur hin?, überlegte Henrik.

Er folgte ihr in den dunklen Wald.

Seine Neugier verlangte danach, gestillt zu werden.
 

Auf leisen Sohlen - oder was er für leise erachtete - schlich Henrik hinter der Fremden her. Der Himmel verdunkelte allmählich. Henrik spürte sein Herz klopfen, wie es sonst sein Schmiedehammer auf einen Amboss tat. Er war schon nicht der mutigste, doch der Gedanke an ihre Schönheit ließ ihn schüchterner werden, als er es ohnehin schon war. Vielleicht würde er ihr für ewig und drei Tage nachlaufen, ohne sich zu trauen, mit ihr zu sprechen.

Sie hatte schon längst bemerkt, dass ihr jemand folgte. Kein Wunder, so laut wie der stapfte. Doch eine echte Bedrohung erforderte ihre Aufmerksamkeit. Etwas befand sich mit ihnen in diesem Wald. Und es war so gefährlich, wie es hungrig war!

Gerade als Henrik seinen Mut zusammengenommen hatte, um etwas zu sagen, blieb die Fremde stehen. Aus einem Reflex heraus verbarg er sich schnell hinter dem nächsten verfügbaren Versteckt, wie ein schändlicher Strauchdieb. Einem kleinen Vorsprung, welcher von den Wurzeln eines Baumes durchdrungen war. Sie hatte ihn auf keinen Fall gesehen, da war er sich sicher. Vorsichtig streckte er seinen Hals, um über den Vorsprung zu blicken.

Die Fremde hatte sich noch nicht vom Fleck bewegt.

Vorsichtig tasteten ihre Augen die Büsche um sie herum ab. Henrik fragte sich erst, warum sie angehalten hatte, bis es auch ihm auffiel. Einige böse Augenpaare starrten zwischen den Blättern hervor, fast als ob sie leuchteten. Nicht etwa die Augen von Menschen. Nein, es waren jene des Isegrim, welcher den Wald unsicher machte. Die Büsche raschelten und knurrende, hungrige, abgemagerte graue Kreaturen zeigten sich ihrer Beute. Sie hatten die Fremde umzingelt und kamen zähnefletschend auf sie zu.

Plötzlich vernahm Henrik auch ein Knurren hinter sich. Er drehte sich um. Tatsächlich lauerte einige Meter hinter ihm ein ausgehungertes Ungetüm, bereit ihn mit Haut und Haaren zu verschlingen. Von den Zähnen des Tieres tropfte schon voller Vorfreude auf sein frisches Fleisch der Speichel herab. Das linke Auge des Tieres zierte eine alte Narbe, die es sich wohl im Kampf mit einem Artgenossen zugezogen hatte. Dieses Tier war ohne Zweifel der Alpha des Rudels, welcher sich im Hintergrund gehalten hatte. Ohne weiter nachzudenken, sprang der junge Schmied auf. Er wollte nicht im Magen irgend eines flohverseuchten Viehs enden. Er rannte schreiend zu der Fremden hin.

“Zu Hilfe!”, rief er. “Zu Hilfe!”

Der Wolf ließ sich nicht beirren und rannte ihm nach. Kurz bevor er ihn umwerfen konnte, erreichte Henrik die Fremde und der Wolf stoppte abrupt.

Die Frau sah den Jungen mit ausdruckslosen Augen an. “Zeigst du nun endlich dein Gesicht, du Spanner!”, spottete sie über ihn.

“I-Ich bin kein S-Spanner!”, widersprach er.

“Dann bist du ein Voyeur!”

“W-Was? Nein! Das ist doch noch schlimmer!”

“Mphf…”

“Wo kommen diese Biester her?”, wollte Henrik wissen.

“Der Winter war hart”, erklärte die Fremde. “Der Frühling kurz. Der Sommer trocken. Die Wölfe finden nichts zu fressen und vergreifen sich in ihrer Not an hilflosen Wanderern.”

Die Bestien setzten ihr Knurren fort, trauten sich jedoch noch immer nicht, über Henrik und die Fremde herzufallen, obwohl sie ihnen ausgeliefert schienen.

“Und warum greifen sie uns nicht an?”

“Weil sie Angst vor mir haben!”

“E-Echt jetzt?!” Der Schmiedegeselle staunte nicht schlecht. “Und wie kommen wir hier jetzt wieder raus?”

“Ich springe hoch in die Wipfel und sehe zu, wie sie dich fressen.”

“WAS?!”, empörte sich Henrik.

“Du hast mich nackt gesehen. Das ist die gerechte Strafe.”

“D-Das ist nicht d-dein Ernst! A-Außerdem war da ü-überall Schaum!”

Die Fremde sah sich die wütenden Bestien noch einmal an. “Kannst du kämpfen?”, fragte sie den jungen Schmied daraufhin.

“Kä-Kämpfen?!”

“Ich habe keine Lust auf dich aufzupassen. Das machst du gefälligst selbst!”

Die Unbekannte ließen die Drohgebärden der Bestien völlig kalt. Sie griff mit der rechten Hand an ihre Kutte, als ob sie sie jeden Moment vom Leib reißen wolle. Und das tat sie auch. Schwungvoll entledigte sie sich ihr. Während das Kleidungsstück im hohen Bogen durch die Luft glitt, bestaunte Henrik, was unter ihm zum Vorschein kam. Die Fremde trug einen stählernen Brustpanzer und einen Wappenrock. Der linke Arm war durch Achselzeugs samt Armschiene ebenfalls durch Metall geschützt, der rechte lag jedoch frei. Sie trug zudem schwere Stiefel mit hohen massiven Absätzen. Und sie hatte ein Schwert bei sich. Als die Kutte auf dem Boden landete, wurde sie von den ausgehungerten Wölfen hinter den beiden sofort in Fetzen gerissen.

Die Fremde zog ihr Schwert. “Das ist meine Waffe. Sie hat mir gute Dienste geleistet” Sie hielt es an der Klinge und bot es ihm, den Griff voraus, dar. “Nimm sie! Zur Verteidigung!”

“O-Okay! Aber was i-ist mit dir?” Mit zitternder Hand ergriff er die Waffe. Er umklammerte den Griff mit beiden Händen und wünschte sich in diesem Moment, dass er sein eigenes Schwert mitgenommen hätte. Denn dieses war verdammt schwer, obwohl es nach der Form zu urteilen eine Einhandwaffe war.

Die Fremde betrachtete die zitternde Haltung des Jungen.

“Wie hältst du das Ding den?”, tadelte sie ihn für seine Unbeholfenheit.

“T-Tut mir leid! A-Aber das ist mein erstes Mal!”

“Ich zeige dir, wie man ein Schwert hält. Schau her!”

Die Fremde streckte ihren ungeschützten Arm zur Seite aus.

“Koche in meinen Venen! Bloodbane!”, sprach sie, als wolle sie etwas beschwören. Und tatsächlich färbten sich ihre Venen und die Haut des rechten Armes öffnete sich an einigen Stellen. Die Gesichtsmuskeln der Frau zuckten ein kleinwenig. Aus den Wunden trat, zusammen mit ein wenig Dampf, eine merkwürdige schwarze Flüssigkeit hervor. Sie kroch ihren Arm entlang zu ihrer Hand. Die Flüssigkeit nahm die Gestalt einer Klinge an und die Fremde umklammerte den Griff, als die Masse sich verfestigte.

Dann brachte sie sich in Fechtstellung.

“So hält man ein Schwert!”

“W-Was zu-zum T-Teu-fel...”, stotterte Henrik erschrocken.

Die Frau sah ihn mit rubinrot funkelnden Augen an. Henrik wurde sofort klar, was sie ihm sagen wollte. Er solle endlich die Klappe halten und sich um sich selbst kümmern.

Die Tiere schienen jetzt noch mehr eingeschüchtert zu sein als zuvor. Sie fühlten das Böse in ihr wohnen. Aber bei einem der Wölfe war der Hunger stärker als die Vorsicht. Er wagte den ersten Schritt und setzte zum Angriff an. Die Fremde hatte wahrlich die Reflexe einer Katze. Blitzschnell, ohne einmal den Boden zu berühren, sprang sie auf den Wolf zu. Das Tier hatte nicht die geringste Chance zu reagieren. Nach einem Streich ihrer pechschwarzen Klinge gingen Kopf und Körper des Wolfes fortan getrennte Wege.

Dies veranlasste einen Großteil der restlichen Tiere, alle auf einmal auf ihre Beute loszugehen. Sie wollten ihren gefallenen Kameraden rächen! Ein paar von ihnen versuchten stattdessen den jungen Schmied zu erwischen. Doch der fuchtelte so wild und unberechenbar mit der Waffe umher, dass die ausgehungerten Kreaturen keine Chance sahen, an ihn heranzukommen. Das Glück schien mit den Unbedarften zu sein. Aber das Gewicht der Waffe forderte seinen Tribut. Wie lange konnte er das durchhalten?

Die Fremde nahm sich einen Wolf nach dem anderen vor, bis sie begriff, welcher von ihnen der Alpha war. Nun konzentrierte sie sich auf dieses Tier und wich den anderen nur noch aus. Aber der Alpha war ein anderes Kaliber als seine Artgenossen. Er ließ sich nicht dazu verleiten, blind in die Klinge zu springen. Es gelang ihm, sie auszuspielen und mit einem Biss in die Wade zu Fall zu bringen.

Sofort ließen die übrigen Tiere von Henrik ab und stürzten sich alle auf einmal auf die vermeintlich wehrlose Beute. Henrik nutzte die Gelegenheit und brachte sich hinter einem Baumstamm in Sicherheit. Aus seinem Versteck heraus beobachtete er, völlig verängstigt und mit schlotternden Knien, wie die Ereignisse aus dem Ruder liefen. Doch nicht zu Ungunsten der Fremden, wie er zuerst vermutet hatte.

Einer Eruption gleich, wurden die Tiere weggeschleudert. Nur der Alpha nicht. Das blonde Mädchen umklammerte mit der linken Hand den Hals des Wolfes und würgte ihm die Luft ab, bis er sich nicht mehr rührte. “Drecksvieh!” Dann warf sie ihn achtlos, wie Unrat, in die Richtung seines Rudels. Die Tiere hatten sich inzwischen wieder aufgerafft und knurrten noch immer. Als der Kadaver ihres Anführers den Boden berührte, verloren sie jedoch ihren Mut. Sie zogen sich zurück, mit dem Schweif zwischen den Beinen eingeklemmt.

“Macht, dass ihr wegkommt!”, befahl die Fremde.

Als ob sie es verstanden hatten, ergriffen sie jaulend die Flucht.

Die Fremde spürte, dass die Gefahr vorüber war, und ihre Waffe verschwand. Die durch die Bisse erlittenen Wunden an ihrem Arm und ihrem Bein heilten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nachdem der schmerzhafte Prozess der Rückverwandlung abgeschlossen war, kehrten auch ihre Augen zu ihrem ursprünglichen Blau zurück.

Danach wandte sie sich Henrik zu. Doch er war nirgends aufzufinden. Er hatte noch immer ihr Schwert. Auch wenn es für sie mehr Requisite als richtige Waffe war, hing sie sehr an ihr. Mit dieser Waffe wurde ihr einst die Kunst des Kampfes gelehrt. Es war ein Erinnerungsstück, auf das sie keinesfalls verzichten wollte. Also musste sie wohl oder übel nach dem feigen Schmied suchen, wenn sie es wiederhaben wollte.

Derweil hatte Henrik alles kreidebleich aus seinem Versteck heraus beobachtet.

Noch nie zuvor sah er, wie jemand aus seinem eigenen Körper eine Waffe hervorbringen konnte. Diese beängstigende Schönheit konnte kein Mensch sein! Und keineswegs war sie die gute Fee, für die er sie gehalten hatte! Viel mehr ein Teufelsweib! Er wollte nicht darauf warten, dass der Kampf gegen die Bestien endete und flüchtete. Nun rannte er, das Schwert, welches er von der Fremden erhalten hatte, noch immer fest umklammert. Während seiner Flucht sah er andauernd über seine Schulter, was ihm zum Verhängnis wurde. Sein Fuß verhakte sich in einer Wurzel und er stürzte. Das Schwert entglitt seiner Hand und schlug neben ihm auf dem Boden auf.

Henrik spürte das feuchte Moos, als er mit dem Gesicht voran eine Bruchlandung hinlegte. Die Nässe auf seiner Haut, der leicht modrige Geruch in seiner Nase und der faulige Geschmack in seinem Mund. Nach einem kurzen Moment der Desorientierung, stand er langsam wieder auf. Dabei spuckte er Moosstücke aus.

Plötzlich spürte er einen Blick im Nacken und schwere Schritte näher kommen. Er wollte sich nicht umdrehen, denn er wusste genau, dass das Teufelsweib hinter ihm war.

“D-Du bist direkt hinter mir, r-richtig?”, fragte er rein rhetorisch.
 

Die Krähen hatten das Schauspiel aus sicherer Entfernung beobachtet.

Nun, da die Gefahr vorüber war, konnten sie wieder landen. Und sie fanden einen reich gedeckten Tisch vor. Die Raubtiere waren nun selbst zur Beute eines viel gefährlicheren Ungeheuers geworden. Nun waren sie tot und würden den Aasfressern als Nahrung dienen. In einer Spirale segelten die schwarzen Vögel herab, um sich an den Überresten des Kampfes zu laben. Nach und nach wurden weitere Krähen angelockt, bis der Waldboden mit schwarzen Vögeln übersät war.
 

🌢
 

Der Mond war aufgegangen.

Er schwamm in einem Meer aus funkelnden Sternen.

Aus einer Lichtung im Wald stieg eine schmale Rauchsäule kerzengerade in den Himmel auf. Das Licht der Flammen flackerte und warf verschiedenste Schatten an die Bäume und Sträucher. Am Feuer hockte Henrik und garte zwei Hasen am Spieß, welche er zuvor mit selbstgebauten Hasenfallen erlegt hatte.

Etwas abgelegen von der Feuerstelle, lehnte die Fremde an einem Baum und wartete darauf, dass das Fleisch durchgebraten wäre.

Henrik drehte und wendete die Hasen. Dabei bestaunte er die zarte, feminine Erscheinung des blonden Mädchens. Plötzlich begann sie zu schnarchen wie ein Waldarbeiter. Aus ihrer Nase hing eine Rotzblase, welche mit jedem Atemzug anschwoll und abklang. Die Überraschung stand dem jungen Schmied ins Gesicht geschrieben. Mein Gott, dachte er. Die sägt noch den Wald um!

Der Duft des geschmorten Fleisches kroch der Fremden in die Nase. Sie grunzte dreimal und mit einem Plop zerplatze die Rotzblase. Sie war sofort hellwach. “Das riecht aber lecker!”, sagte sie.

Henrik schmunzelte. ”I-Immerhin kann ich Ha-Hasenfallen bauen und Fleisch anbraten.” Er streute etwas Salz aus dem kleinen Beutel an seinem Gürtel über das Fleisch. So würde es besonders schmackhaft werden. Dann stand er auf und ging zu der Fremden hin. Er reichte ihr einen Hasen am Spieß. Den anderen behielt er in der Hand. “Hier, probiere mal!”

Die ausgehungerte Schönheit nahm den Spieß und nagte den Hasen nahezu in Sekunden bis auf die Knochen ab. Sie drehte ihn dabei, wie man es mit einem gebratenen Maiskolben täte. Danach warf sie die Überreste hinter sich in den Wald. “Mehr!”, forderte sie unverfroren. Sie griff nach dem Hasen in Henriks anderer Hand und verschlang auch diesen.

“Hey!”, beschwerte sich der Braunhaarige. “Das war meiner!” Er konnte nur staunen, wie schnell sie alles verputzt hatte.

Auch die Überreste des zweiten Hasens fanden ihre letzte Ruhestätte im Wald hinter ihr.

Sie klopfte sich mit beiden Händen zufrieden auf den Bauch und lächelte. “Das war lecker”, sagte sie. “Danke für’s Essen.” Ein ausgewachsenes Bäucherchen verließ ihren zarten Mund und schreckte einige schlafende Vögel auf. Sie ließ sich langsam am Stamm des Baumes in eine liegende Position herabgleiten.

“S-Schön wenn es dir schmeckt!”

Dann hielt er einen Moment inne.

“D-Du hast mir noch immer nicht deinen Namen verraten.”

Die Frau setzte sich wieder auf.

“Nebula.”

“Wie bitte?”

“Nebula. Das ist mein Name, Trottel!”

Das kam Henrik zwar seltsam vor, aber er widersprach nicht. “E-Ein ausgefallener Name.”

Nebula senkte den Kopf. “Es wäre nur fair, dir wenigstens zu erzählen, mit was du es zu tun hast.”

Gebannt hing Henrik an ihren Lippen.

“Du als Schmied weißt sicher, das die Waffe zur Gewalt verleitet.” Nebula sah den Burschen an und verstand nicht, wie er so gelassen ihren Worten folgte, nach dem, was er zuvor mit angesehen hatte. Er hatte sogar für sie gekocht. “Wenn jemand eine Waffe hat, dann neigt er dazu, seine Probleme mit ihr statt mit dem Verstand zu lösen”, fuhr sie fort. “Man fühlt sich stark, wenn man eine Waffe in der Hand hält, um anderen mit ihr den eigenen Willen aufzuzwingen. Man sagt, der Teufel habe die Waffen erfunden. Und bei einigen scheint es zu stimmen. Was du vorhin gesehen hast, war eine Teufelswaffe.”

“Teufelswaffe?”, wiederholte Henrik.

“Einst wurden aus den sechshundertsechsundsechzig Tränen eines gefallenen Engels Waffen geschmiedet. Diese Waffen sind erfüllt mit dem Hass und der Trauer des Engels, dass sein Schöpfer ihn nicht mehr liebte. Wer eine dieser Waffen in die Finger bekommt, tut schon bald sein Schlechtestes.” Sie überlegte, wie sie den Rest in Worte fassen konnte. “Die Menschen bauten sich bald eigene. Zwar ohne Teufelskräfte, aber zum Töten hat es gereicht. Bald schon verviel die Menschheit der Barbarei. So zumindest hat man es mir als Kind erzählt. Ich hätte nie gedacht, dass es nicht nur ein bescheuertes Märchen ist.”

Henrik hörte ihr noch immer gebannt zu.

Nebula seufzte. Dieser Junge ist seltsam, dachte sie.

“Was du gesehen hast, war nur ein kleiner Teil. Jede Teufelswaffe ist anders. Manche grillen dich, andere machen aus dir einen Eiszapfen. Einige können auch Gutes bewirken. Auch Bloodbane ist besonders. Es kann sich andere Teufelswaffen einverleiben. Diese... Dinger sind zu meinem Blut geworden. Ich kann sie niemals ablegen.”

“Und du willst sie eines Tages ablegen?”

“Natürlich, du Spinner! Ich will, dass dieser Irrsinn ein Ende findet! Jeden Tag fordern sie weitere Opfer! Denkst du, mir macht das Spaß?!” Eine Träne zitterte in ihrem Auge.

“K-Keineswegs!”, wies Henrik mit wild fuchtelnden Armen von sich.

“Eines Tages wird Bloodbane alle anderen Teufelswaffen in sich aufgenommen haben. Dann ist meine Mission erfüllt! Und dann werde ich sie alle zerstören!”, fuhr sie fort.

Das kann bei so vielen aber lange dauern, dachte Henrik.

“Aber bis dahin ist noch viel zu tun!”, ergänzte Nebula.

“Wie hast du diese Macht überhaupt bekommen?”, fragte Henrik neugierig.

“Das ist privat!”

“Aber...”

“Privat!”

Henrik sah Nebula mit Dackelblick an. Seine treutraurigen Augen ließ ihre Wangen erröten und sie konnte es nicht mehr bei sich halten.

“Jemand wollte meinen Tod setzte einen Attentäter auf mich an. Der Attentäter hat mich in der Nacht vor meiner Hochzeit erdolcht. Mit Bloodbane. Woher er es hatte, weiß ich nicht. Anstelle mich zu töten, machte es stattdessen ein Monster aus mir.”

“Was ist eigentlich aus Eurem Angetrauten geworden?”

“Der denkt, ich sei in seinen Armen gestorben.”

Henriks Gesicht drückte tiefe Bestürzung aus. “D-Das ist... grausam!”

“Was blieb mir anderes übrig? Hätte ich ihm sagen sollen ‘Liebster, ich bin von den Toten auferstanden’?”

“J-Ja. N-Nein.”

“Ich hatte lange mit Zorn und Mordlust zu kämpfen. Immerhin ist seither eine böse Macht ein Teil von mir. Ich konnte das nur mit Hilfe einer guten Freundin kontrollieren. Es ist trotzdem gefährlich! Deshalb gehe ich nicht gern unter Menschen.”

“A-Aber du kamst in meine Stadt. Du warst sogar Baden!”

“Ich wollte Nachforschungen anstellen. Wenn ich heute Mittag nicht urplötzlich hungrig geworden wäre, hätten wir uns wohl niemals kennen gelernt. Du hattest so erbärmlich aus der Wäsche geguckt, ich konnte das nicht mehr mit ansehen!”

“Darum a-auch der magische Hammer?”, wollte Henrik wissen.

“Der Fisch war lecker. Da war ich guter Dinge!” Sie senkte ihre Stimme. ”Wegen dem ‘magische Hammer’...”, murmelte sie. “Eigentlich hat der Hammer gar-”

“Dafür will ich mich bei dir bedanken, Nebula!”, unterbrach Henrik ohne auf das Ende des Satzes zu warten. “Ohne dieses Wunderwerk könnte ich gar nichts!”

“Ach, glaub doch, was du willst!”

Der Junge war glücklich. Wenn es ihm half, seine Unsicherheit zu überwinden und sein Talent zu entdecken, was war falsch daran, ihn mit der Lüge leben zu lassen?

“Henrik”, sprach sie aus einem Impuls heraus. “Allein durch die Lande zu ziehen, ist sehr einsam. Eine Waffe muss man richtig warten, sonst wird sie schartig. Das Zwischenmenschliche verhält sich gewiss genauso. Es w-will gewartet werden.”

“Hä?”

“Idiot! Ich suche noch einen Schmied.”

War es möglich, dass die langen Reisen Nebula einsam gemacht hatten?

Sie spielte sich aufgeregt an den Haaren herum und wurde urplötzlich rot. Ihr viel es unglaublich schwer, ihre Bitte an den Schmiedelehrling über die Lippen zu bringen.

”W-Würdest du mich also auf meinen Reisen vielleicht b-begleiten?”, stotterte sie mit erhobener Stimme. “I-Ich gebe dir auch Gewinnanteile.”

“Nichts lieber als das!”, antwortete er, ohne zu zögern.

Nebula war verwundert über seine schnelle Reaktion. Und auch schockiert über seine Naivität. Wie konnte er nach all dem einfach so mit ihr gehen?

“D-Du kannst doch nicht blindlings mit mir gehen! Ich bin gefährlich!”

“Wohl wahr. Dir will man nicht in einer dunklen Gassen begegnen, wenn du wütend bist.”

Bei dem Gedanken an den Überfallversuch auf sie in einer widerlich verschmutzten Gasse in Bärenhag entwich ihr ein verschmitztes Lächeln.

“Oder am Besten überhaupt nicht begegnen. Aber du bist ein guter Mensch, wenn du dem Bösen widerstehen kannst. Ich vertraue dir mehr als irgendwem sonst. Das sagt mir mein Bauch.”

Besagter Bauch begann zu knurren.

“Ja, das höre ich...”
 

Der nächste Tag.

Geduldig wartete Nebula in der Nähe der Stadt.

Henrik wollte nur nochmal schnell zurück und ein paar Dinge regeln. Er musste sich von seinen Eltern verabschieden. Er musste einen Käufer für seine Schmiede finden. Und er musste die Waren zu Gold machen. Auch wenn das meiste nur als Altmetall taugte.

Vielleicht nutzte er die Gelegenheit aber auch dazu, sich zu besinnen, dass er bereitwillig mit einem Teufelsweib auf Reisen gehen wollte. Zeit genug, seine Entscheidung zu überdenken und nicht wiederzukommen. Aber sie hatte ihm versprochen, bis zum Abend zu warten. Und genau das gedachte sie zu tun.

Die Sonne hing bereits tief am Firmament und färbte sich schon rot.

Viel Zeit hast du nicht mehr, dachte sie.

Sie ließ das Stadttor nicht aus den Augen.

Aber niemand kam.

Erleichtert setzte sie sich in Bewegung. Aber ein bisschen betrübt war sie dennoch. So lange reiste sie schon allein umher. Nun hätte sie endlich jemanden zum reden gehabt. Jemand, der ihr Gesellschaft leisten könnte. Aber vielleicht war es so auch besser.

Ganz in Gedanken versunken, hörte sie fast nicht, dass jemand ihren Namen rief.

“Nebula!”

Dann endlich registrierte sie es.

Es war Henrik. Winkend rannte er auf sie zu, mit einem Reisebeutel und einem zusammengerollten Zelt über dem Rücken. Und dem Schwert, das er Tags zuvor mit seinem “Zauberhammer” geschmiedet hatte, am Gürtel. In seiner Hand hielt er außerdem eine braune Kutte, welche wohl für sie bestimmt war. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sie endlich erreichte. Nebulas einsame Reise war zu Ende. Und Henriks Reise hatte eben erst angefangen.

Verraten


 

🌢
 

Ein paar Wochen zuvor

Die Sonne brannte vom Himmel und ließ die Luft über der staubtrockenen Matschstraße flimmern. Man sah ihr an, wie lange es bereits nicht mehr geregnet hatte. Die Spuren eines Fahrwerks stachen deutlich heraus. Als der Schlamm noch feucht war, musste ein Karren mit schwerer Ladung hier entlanggekommen sein und seine Räder verewigt haben. Als die Temperaturen stiegen, wurden die Spuren gebacken wie Ton in einem Ofen.

Nebula verfolgte gerade kein bestimmtes Ziel.

Ihre Kutte bot ihr Schutz vor den Sonnenstrahlen, aber nicht vor der Hitze.

Sie wollte sehen, wohin ihr Weg sie führte.

Zuvor hatte sie einen Auftrag für einen Adligen in Güldenburg erfüllt. Der Mann wollte ein wertvolles Schwert in seinem Besitz wissen. Angeblich besäße es magische Fähigkeiten - zumindest behaupteten das die Gerüchte. Die blonde Söldnerin musste den Geschichten nachgehen. Es könnte sich immerhin um eine Teufelswaffe handeln. Als sie die Waffe endlich in ihren Besitz gebracht hatte, musste sie zu ihrer Ernüchterung feststellen, dass es sich um ein stinknormales langweiliges Schwert handelte, dessen Griff zwar reichlich verziert war, sonst jedoch keinerlei Besonderheiten aufwies.

Das Ding konnte der Adlige ruhig haben...

Immerhin entlohnte er sie fürstlich für ihre Dienste.

Das nächste Mal musste sie dennoch vorsichtiger mit solchen Gerüchten sein.

Die Erfahrung zeigt, an den meisten ist nichts dran.

Weiter hinten auf der Straße kam etwas zum Vorschein. Mit der Hand auf dem Griff ihres Schwertes näherte sich die Söldnerin dem Objekt. Mit sinkender Entfernung erkannte sie, dass es sich um einen umgestürzten Wagen handelte. Eine Sperrstange ragte aus einem Pferdekadaver heraus. Zerschlagene und intakte Kisten lagen verstreut auf dem Boden herum. Und irgendetwas befand sich zwischen ihnen. Als Nebula erkannte, dass es sich um eine Person handelte, beschleunigte sie ihren Schritt.

Es war ein Mann mittleren Alters mit dunklem Haar, welches im Schein der erbarmungslosen Sonne leicht grün schimmerte.

Vorsichtig rüttelte die Blondine an dem Bewusstlosen.

Allmählich kam er wieder zu sich.

“Was ist geschehen?”, fragte er leicht benommen. Dann sah er den Kadaver seines Pferdes und den umgestoßenen Wagen und schreckte auf. “Meine Waren! Meine Waren!”

“Immer langsam”, versuchte Nebula ihn zur Ruhe zu bewegen.

Aber ihr Gegenüber gedachte nicht im Traum daran. Dafür, dass er bis eben bewusstlos am Boden lag, war er sehr schnell wieder auf den Beinen und wuselte zwischen den Überresten seiner Ladung umher. “Es ist alles weg!”, stieß er panisch aus. “Ich bin ruiniert.”

“Seid still. Berichtet mir, was sich zugetragen hat.”

“Ich wurde überfallen!”

Nebula sah ihn daraufhin abschätzig an. “Ist das wahr?!”

“Junger Herr, wollt Ihr mich verspotten?”

Offenbar zeigte ihre Verkleidung Wirkung. Kein Wunder, da ihr halbes Gesicht von der Kapuze verdeckt wurde.

“Ich brauche mehr Informationen. Was hattet Ihr geladen? Wisst Ihr, wer Euch überfallen hat? Könnt Ihr mir sonst noch etwas berichten?”

“Ich transportierte Geschmeide nach Bärenhag. Ich fuhr die Straße entlang und ahnte nichts böses. Plötzlich bohrt sich dieser Speer in meinen Gaul und aus allen Richtungen fallen Männer über meinen Wagen her, wie Spatzen über die Saat! Warum haben sie mich leben lassen? Wenn ich meine Ware nicht abliefere, bin ich bankrott. Da wäre ich lieber tot!”

“Ihr wisst gar nicht, wie einsam der Tod ist...”

“Wie meint Ihr das?”

“Unwichtig! Ihr haltet nicht viel von angeheuerten Wachen, oder?”

“Tatsache, Ihr verspottet mich.”

“Mit mir an Eurer Seite wäre das nicht passiert!”

“Das sind große Worte, Bengel. Könnt Ihr ihnen Taten folgen lassen?”

“Was wollt Ihr?”

“Bringt mir meine Waren wieder und ich beteilige Euch am Gewinn.”

“Wie viel?”

“Zehn Prozent.”

“Zwanzig.”

“Halsabschneider!”

“Wollt Ihr Eure Waren wieder bekommen oder nicht?”

“Fünfzehn.”

“Na gut! Abgemacht!”

Nebula und der fahrende Händler besiegelten ihre Abmachung mit einem Handschlag.

“Falls Ihr Anhaltspunkte braucht: Bevor sie mich bewusstlos schlugen, sah ich einige in Richtung Westen fliehen. Vielleicht findet Ihr sie dort.”

“Ich werde mich darum kümmern. Schön hier bleiben!”

“Spaßvogel! Wo soll ich denn hin, ohne meine Waren?”

Nebula folgte der Weisung des Händlers und erkundete den Westen abseits der Straße. Zuerst wirkte alles unauffällig, bis zwischen Bäumen und Sträuchern ein Höhleneingang in einer Felswand auftat. Links und rechts brannten Fackeln und es befanden sich einige Kisten und Fässer auf einem kleinen Platz vor der Öffnung. Hier muss es sein, dachte Nebula und streckte den rechten Arm aus. “Brenne in meinen Venen, Bloodbane!”, befahl sie und rief ihre Waffe herbei. Allein und nur mit einem gewöhnlichen Schwert bewaffnet, wollte sie es auch nicht mit einer ganzen Räuberbande aufnehmen.
 

Ungeduldig beobachtete der Händler den Verlauf der Sonne.

Einige Zeit verstrich.

Wo bleibt der Kerl, grübelte der Mann. Er wird mich doch nicht versetzt haben?

Als er dann aber ein Pferd schnauben hörte und sich der Geräuschquelle zuwandte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Der Fremdling kam mit Pferd und Wagen vorgefahren und stoppte am Schauplatz des Überfalls.

“Ich glaube mein Schwein pfeift!”, staunte der Krämer. “Wo habt Ihr...”

“Ich fand dies, als ich die Räuber auseinander nahm”, erklärte Nebula und sprang von dem Wagen ab. “Euer Geschmeide ist bereits aufgeladen. Inklusive weiterem Diebesgut.”

“Ihr habt gegen die Räuber gekämpft? Allein?!”

“Das wolltet Ihr doch... Sie trennten sich nicht freiwillig von Eurem Zeugs...”

“Was habt Ihr mit ihnen gemacht?”

“Wollt Ihr Euch diesen Moment des Glücks mit schmutzigen Details trüben?”

“Nein. Ihr habt wohl Recht.”

“Lasst es mich so ausdrücken: Sie sind dauerhaft aus dem Geschäft.”

“Habt Dank, Fremder! Ihr habt mich gerettet.”

“Dankt mir in Münzen.”

“Natürlich, das habt Ihr Euch redlichst verdient.” Der Händler stieg auf den Anhänger und warf Nebula ein großes zusammengerolltes Tuch Seide zu.

Die Söldnerin fing den Wertgegenstand auf. “Was soll ich damit?!”, fragte sie verärgert. “Ich will Gold!”

“Ich wurde ausgeraubt, schon vergessen. Ware ist das einzige von Werte, das ich Euch geben kann.” Der Mann stieg wieder aus dem Wagen aus. “Wenn Ihr es zu Gold machen wollt, könnt Ihr es in Bärenhag verkaufen.” Er schwang sich auf die Kutscherbank.

“Verkaufen?”

Der Krämer klopfte mit der Hand auf den freien Platz neben sich. “Kommt schon, Bursche. Ich nehme Euch mit.” Offenbar hatte er immer noch nicht bemerkt, dass Nebula eine Frau war. Um so besser. Das bedeutete, die Tarnung war gut genug, um sich auch vor vielen Augen zu verbergen. Vielleicht sollte sie es riskieren, in die Stadt zu gehen. “Außerdem ist es gefährlich. Halunken sind nicht der einzige Schrecken. Es heißt, ein waschechter Raubritter treibe sein Unwesen. Mit dem werdet Ihr bestimmt auch nicht fertig. Die Leute sagen, er sei mit dem Teufel im Bunde.”

“Wirklich?”, erkundigte sich die Blondine. Sie stieg auf der anderen Seite auf und setzte sich auf die freie Hälfte der Kutscherbank. “Redet weiter!”
 

🌢
 

Gegenwart

Gierig tranken die Pferde aus der Tränke, als der Konvoi nach langer Fahrt eine Pause einlegte. Die Kaufmänner reisten den ganzen Tag unermüdlich, um voranzukommen. Nun waren nicht nur die Pferde, sondern auch die meisten Menschen erschöpft. Die Abendröte des Himmels blutete langsam in die Schwärze der Nacht aus. Dunkelheit, durchbrochen von funkelnden Sternen, erschien.

Bald wäre es sowieso zu dunkel, um die Reise fortzusetzen.

Darum entschieden die Händler, hier zu rasten.

Die Tiere legten sich auf provisorisch aufgehäuftem Stroh schlafen und die Wachen entschieden, wer von ihnen welche Schicht übernehmen würde. Gegenseitig betrogen sie beim Stäbchen ziehen, um die besten Zeiten. Die müden Zivilisten betteten sich in ihren Schlafsäcken zur Ruhe und waren in Gedanken schon beim nächsten Morgen. Bald schon würde die nächtliche Stille einsetzen. Doch die kräftezehrende Reise vermochte es nicht, alle ihres überschüssigen Tatendrangs zu berauben. Freunde des Kampfes hatten lodernde Fackeln im Kreis in den Boden gerammt und so einen Ring geschaffen. Schaulustige fanden sich am Rand ein, um dem versprochenen Spektakel beizuwohnen. Seitdem die beiden neuen dem Konvoi beigetreten waren, gab es jeden Abend einen Kampf. Einer war im Kampf geschult und der andere wollte es erlernen.

Die Zuschauer warteten ungeduldig.

“Traut euch endlich!”, forderte einer.

“Sie wird ihm wieder den Hintern versohlen!”, prophezeite ein anderer.

Dann endlich erfüllte sich der Wunsch der Schaulustigen und die Kontrahenten betraten bewaffnet den Ring. Es waren ein Mann und eine Frau, beide im gleichen Alter und noch sehr jung. Die Frau gehörte zu den Wachen und hatte einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Eigentlich war es unüblich, Frauen als Wachen anzuheuern, aber nachdem sie den Anführer der Wachen im Handumdrehen besiegt hatte, vergaßen die Wachen schnell ihre Vorurteile. Der Mann war der Schmied. Der Ersatz für den vorherigen, der sich in der letzten Stadt zusammen mit einer Tänzerin abgesetzt hatte. Er sollte nicht das Schwert führen, sondern es schleifen. Den Pferden die Hufe wechseln. Werkzeug reparieren. Aber die Bewunderung für die Frau und ihre Kampffertigkeit, ließ ihn seine eigentliche Aufgabe vergessen. Und ihre verblüffende Schönheit zog ihn an. Zumindest während eines Kampfes konnte er ihr nah sein. Und vielleicht würde sie ihn irgendwann mit anderen Augen sehen.

Ein frommer Wunsch...

“Bist du bereit für deine Packung?”, fragte die hübsche Frau.

“Bist du bereit, diesmal Staub zu schmecken?”, provozierte der junge Mann.

“Mach dich nicht lächerlich, Idiot! Fünfzehn Sekunden, dann liegst du flach!”

Die Frau zog das Schwert an ihrem Gürtel und brachte sich in Kampfstellung. Ihre Waffe wurde einhändig geführt und erlaubte ihr, sich mit dem anderen Arm zu verteidigen. Geschützt durch Achselzeug und Schienen, diente er ihr als Ersatz für einen Schild, welcher viel zu sperrig wäre und sie höchstens behinderte.

Der junge Mann reagierte, indem er wiederum seine Waffe zog. Es war ebenfalls eine einhändige Waffe, die er allerdings mit beiden Händen hielt. Seine mangelhafte Kampfhaltung blieb nicht unverborgen und wurde sofort kritisiert.

“Wenn du es dir nicht merken kannst, lass es!”, tadelte die Frau.

“N-Nein!”, widersprach der Mann. “Ich schaffe das!”

Dann stürmten sie aufeinander zu und ihre Klingen kreuzten sich. Funken sprühten, als sich Stahl an Stahl rieb. Der Schmied strengte sich an, einen Treffer zu landen, welcher sein Gegenüber entwaffnen würde. Keinesfalls kämpften sie, um sich ernsthaft zu verletzen. Aber die weibliche Wache wehrte alle seine Hiebe ab, als wäre es nichts.

“Konzentriere dich!”, setzte sie ihren Tadel fort. “Du bist echt hoffnungslos!”

Blitzschnell beugte sie sich nach vorn und wich so dem neuesten Angriff aus. Doch das war nicht das Ziel, welches sie verfolgte. Sie schlug ihre in Metall gehüllte Faust in die Magengrube ihres Gegners. Dem Schmied entglitt sein Schwert und er fiel auf die Knie, die Hände fest auf den schmerzenden Bauch gepresst.

Er hustete und es war ihm, als würde er sein Abendmahl gleich wiedersehen.

"Ein Krieger besteht nicht nur aus seinem Schwert! Merke dir das gefälligst!"

Das Publikum war nicht besonders begeistert von dem schnellen Sieg der Wächterin.

“Könnt Ihr ihn das nächste Mal etwas langsamer verhauen?”, entrüstete sich einer.

“Ja, wir wollen was sehen!”, meinte ein anderer.

“Sucht Euch einen richtigen Gegner!”, stichelte ein Dritter. "Nicht diese Memme."

Enttäuscht zogen sie von dannen.

Die Frau steckte ihre Waffe weg und half ihrem Gegner auf. Als er wieder stehen konnte, ergriff er sein Schwert und verstaute es ebenfalls. Gemeinsam traten sie aus dem Ring und gingen zu einem der Zelte.
 

Eine Öllampe warf Schatten an die Innenseiten des zügigen Zeltes, als eine Windböe durch es hindurch pfiff. Die Kontrahenten von einst lagen nun nebeneinander, jeder in seinem eigenen Schlafsack. Sicherheitshalber hatten sie eine Mauer aus ihren Habseligkeiten zwischen sich aufgebaut, damit sie sich nicht aus Versehen schlaftrunken zu nahe kamen. Zwar tuschelte man bereits, in welcher Beziehung sie zueinander stehen könnten, aber das waren nichts als Gerüchte. Beide starrten an die Decke und beobachteten die Schatten. Sie konnten nicht schlafen.

“Du warst heute nicht bei der Sache, Henrik!”, wurde der Schmied erneut getadelt.

“Ich habe mich angestrengt, Nebula!”, verteidigte sich dieser.

“Du bist einfach ein Lappen!”, sprach die Söldnerin. “Warum bleibst du nicht einfach ein Schmied und beschlägst Hufe?”

“Ich möchte dir keine Last sein!”

Nebula schwieg einen Moment. “Du bist mir keine Last!”, beschwichtigte sie ihn. “Wir haben uns dem Konvoi angeschlossen, um so an Informationen zu gelangen. Ich gehöre zur Wache und du zum Tross. Wir täten gut daran, unsere Rollen zu spielen!”

Dann schloss sie ihre Augen und das Gespräch war für sie beendet.

Henrik hingegen versank in Gedanken.
 

Sechs Tage zuvor

Völlig außer Atem hatte Henrik die Grenzen des für ihn Erträglichen erreicht. Der Schweiß rann ihm in Strömen. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie im nächsten Moment nachgeben würden. So ging das nicht weiter! Er benötigte eine Pause und stützte sich an einem umgefallenen Baumstamm ab. “Nebula!”, rief er. “B-Bitte warte!”

Die Blondine stoppte kurz ihren strammen Marsch und sah über ihre Schulter. “Wenn du nicht Schritt halten kannst, solltest du zurückgehen”, sprach sie kalt. “Einen Klotz am Bein kann ich auch nicht gebrauchen!” Sie sah wieder nach vorn und ging einfach weiter.

“W-Warte!” Henrik verstand sie nicht. Erst überwand sie sich, ihn zu bitten, sie zu begleiten und jetzt behandelte sie ihn wie ein lästiges Anhängsel?

Abermals blieb Nebula stehen, diesmal ohne sich umzudrehen.

Sie verzog ihr Gesicht und zeigte die Zähne. Ein widerwilliges Knurren verließ ihren Mund, als sie sich nun doch umwandte und zu ihrem Begleiter zurückkehrte. “Na schön, du sollst deine Pause bekommen.” Daraufhin setzte sie sich zu ihm, die Arme verschränkt und mit ungeduldigem Gesichtsausdruck.

“W-Warum ha-hast du es so eilig?”, erkundigte sich der Schmiedegeselle.

“Das habe ich dir doch alles schon erklärt, du Trottel. Und ich habe keine Lust es nochmal zu tun! Wir müssen die Kaufmänner erreichen.”

“W-Wegen der Sache, die du untersuchen willst?”

“Genau. Wir haben einen Auftrag.”

“Die Räuber?”

Nebula machte sich offen über Henrik lustig. “Nein, ein Rudel Exhibitionisten!"

“D-Die sind wirklich sch-schwer bedeckt zu halten.”

Sein feuchtfröhlicher Spruch überraschte die Söldnerin. Er ging einfach nicht auf ihre Provokation ein und schaffte es sogar, die Situation aufzulockern. Den sollte sie behalten! Vielleicht tat sie gut daran, sich ihm ein wenig mehr zu öffnen.

“Und d-du glaubst, du findest etwas?”

“Ich half vor einigen Tagen einem Händler. Er hat mir berichtet, das eine Handelsstraße durch das Nebeltal führt. Es gab schon oft Überfälle, wenn der Nebel besonders dicht ist. Dennoch wird die Straße nicht aufgegeben, da sie zu wichtig ist. Händler heuern Wachen an und lassen sich von ihnen beschützen.”

“Und?”

“Und da kommt mein Schwertarm ins Spiel. Ich werde als Wache anheuern.”

“A-Aber du bist eine-”

“Frau! Na und?!” Nebula ballte die rechte Hand zur Faust und stieß sie mit der flachen linken zusammen. ”Wenn sie keinen anderen Grund haben, mich abzulehnen, werde ich sie so lange verdreschen, bis sie mich bitten, sie zu beschütze!”

“I-Ich gl-glaube, das ist gegen d-das Gesetz...”

Plötzlich schwang sich Nebula wieder auf die Beine. “Genug geruht! Wir haben keine Zeit zu vertrödeln!”

Widerwillig erhob sich Henrik. Nun ging die elende Quälerei von vorn los.
 

“WAS wollt Ihr?!”, fragte einer der bereits angeheuerten Wächter und konnte sich beim Anblick der schmächtigen kleinen Frau das Lachen bald nicht mehr verkneifen. “Die Karawane beschützen?” Abschätzig musterte er das kurz geratene Weibsbild vor seinen Augen. “Ihr spinnt wohl!”

Henrik und Nebula hatten den Konvoi tatsächlich noch abfangen können.

Nun versuchte die Blondine als Wächterin angeheuert zu werden.

Sie standen inmitten der Wachen.

Henrik spürte Blicke in seinem Nacken, die eigentlich jemand anderem galten.

“Traut Ihr mir das nicht zu?”, beantwortete Nebula mit einer Gegenfrage, obwohl sie die Antwort dieses Mannes bereits kannte. Es waren die gleichen chauvinistischen Vorurteile, welche sie schon viel zu oft hören musste.

“Eine Wache muss groß sein. Muss stark sein. Und vor allem eins: männlich!”

“Glaubt Ihr, ich weiß das Schwert nicht zu führen?”

“Ihr könnt gern MEIN Schwert führen!” Der Mann ballte die Hände zu Fäusten und bewegte seine Lenden in einer maximal vulgären Geste. Sie verleitete die anderen dazu, hemmungslos loszupusten.

Die Provokation zeigte Wirkung. “Ich ramme Euch unangespitzt in den Boden!” Nebula zog wütend ihr Schwert.

“Aber lasse dich nicht so einfach provozieren!”, versuchte Henrik zu beschwichtigen.

“Halt die Klappe! Lass das die Erwachsenen Regeln!”

Hilflos sah er zu. Er empfand Mitleid. Für den Mann.

Unterdessen entbrannte der Kampf zwischen Nebula und dem Wächter. Allerdings war es nicht mehr als eine einseitige Prügelei. Gelangweilt blockte die Blondine die Hiebe und Schläge, mit denen sie eingedeckt wurde. Als sie genug hatte, schlug sie ihrem Gegner einmal kräftig in die Magengrube und setzte ihn außer Gefecht.

Umgehend verstummte das Gelächter.

Und ehe sie sich versahen, waren Henrik und Nebula angeheuert.
 

Gegenwart

Ein Poltern weckte den jungen Schmied und veranlasste ihn, seine Augen aufzuschlagen. Er sah über die Barriere von Habseligkeiten, aber konnte Nebula nicht neben sich entdecken. Ihr Verbleib schien ein Rätsel zu sein.

Dann polterte es erneut.

Henrik griff nach seinem Schwert und stürmte aus dem Zelt hinein in eine weiße Wand aus Morgendunst. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, entdeckte er Nebula. Sie hockte an einem kleinen Kessel, indem irgend etwas Unappetitliches vor sich hin blubberte, und rührte unentwegt in dem Gebräu herum. Noch hatte sie ihre Rüstung nicht angelegt - Die störte bestimmt beim Kochen.

Sie sah zu ihm auf und bemerkte, dass er sein Schwert in der Hand hielt.

“Was willst du denn mit dem Ding?”, fragte sie. “Willst du lieber Staub statt meiner Kochkünste schmecken?”

“N-Nein!”, antwortete er. Obwohl er sich sicher war, dass der Staub bestimmt besser schmecken würde. “Du warst nicht da und ich h-habe etwas poltern gehört.”

“Und da bist du gekommen, um mich zu retten?” Nebula machte ein spöttisches Gesicht. “Mein Ritter in glänzender Rüstung” Sie hörte auf zu rühren. “Ich denke, es ist fertig. Erlaubst du mir, uns beide vor dem Hungertod zu bewahren?”

“Was gibt es denn?”

“Haferschleim und Brot.” Nebula füllte mit einer Kelle Schleim in zwei Schüsseln ab.

Henrik verging blitzartig der Appetit. “Wäh! Schon wieder?”

“Das ist gesund und nahrhaft!” Nebula legte eine Kunstpause ein und sah verlegen zur Seite. “A-Außerdem kann ich nichts anderes kochen.”

“Ist doch nicht schlimm. Dafür hast du doch jetzt mich!”

Nebulas Gesicht errötete. Erregt und beschämt zugleich starrte sie ihn an. “W-Was soll das jetzt wieder heißen?!”

Henrik konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

“Wieso lachst du jetzt, du Idiot?!”

Der Schmied tat sein Bestes, um den Haferschleim nachträglich noch genießbar zu machen. Doch es stellte sich als Ding der Unmöglichkeit heraus. Mit langen Zähnen würgten beide ihr Frühstück herunter, das teilweise nach Kohle schmeckte, da Nebula der Schleim im Topf angebrannt war.

“Du hast Recht!”, gestand Nebula ein. “Das ist widerlich!”

Plötzlich horchte Nebula auf. Da war noch etwas anderes in der weißen Wand. “Geh! Versteck dich irgendwo!”, befahl sie ihrem Begleiter.

“A-Aber?”

“Na mach schon!”

Henrik tat, wie ihm geheißen wurde. Neben ihrem Zelt hatte einer der Händler seinen Planwagen abgestellt. Er kletterte hinein und suchte zwischen ein paar Fässern Schutz. Indes tauchte die gefährliche Schönheit in die weiße Wand ein. Kaum ein Geräusch drang aus dem dichten Dunst heraus. Henrik wollte zwar wissen, was sich zutrug, aber er gedachte wenigstens einmal auf Nebulas Worte zu hören. Dann, unerwartet, setzte sich der Planwagen wie von Geisterhand getrieben in Bewegung.
 

Ein in einem abgetragenen Lederwams gekleideter, unrasierter und ungewaschener Mann mit kurz geschorenen Haaren brach zusammen, als Nebula den Knauf ihres Schwertes auf seinen Kopf schlug. “Das war der letzte von ihnen!”, verkündete sie stolz.

Die anderen Wachen kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als die hübsche Frau die unbefleckte Klinge wegsteckte. Eine Augenweide und ein starker Krieger. Qualitäten, denen man selten kombiniert in einer Person begegnete. Um Nebula herum lagen sechs bewusstlose Angreifer. Sie hatte sie alle allein erledigt, während die anderen Wachen Mühe im Zweikampf hatten.

“Gute Arbeit”, sagte einer der Wachmänner verlegen.

“Wo sind die überhaupt hergekommen?”, fragte ein weiterer.

“Wahrscheinlich hielten sie sich für klug, uns zu überfallen, wenn niemand sie kommen sieht.”

“Aber so haben sie nicht gesehen, wie gut hier alles bewacht ist", tönte stolz ein weiterer.

“Ihr meint, sie haben unser blondes Biest nicht gesehen!”

Langsam aber sicher ließ die Sonne den dichten Schleier weichen und man konnte endlich wieder klar sehen. Die Wachen fesselten die Männer und setzten sie in einen der Planwagen fest. Einer der Händler verfiel urplötzlich in Hysterie, als er feststellte, dass etwas fehlte. Aufgeregt rannte er auf Nebula und die anderen Wachen zu.

“Mein Wagen ist fort!”, rief er unentwegt. “All der teure Wein!”

“Was meint Ihr damit, das Euer Wagen fort sei?”, erkundigte sich Nebula.

Der Mann deutete auf die Stelle, wo sein Wagen gestanden hatte. Nebula stellte mit Schrecken fest, dass sie und Henrik ihr Zelt direkt daneben aufgeschlagen hatten. Sie eilte, um nach ihrem Schmied zu suchen. Doch er war nicht im Zelt. Hatte er sich im Wagen versteckt? Du Idiot, dachte sie besorgt. Machst doch sonst nie was ich sage! Dann kehrte sie zu den anderen Wachen zurück.

“Ich werde den Wagen zurückholen!”, kündigte sie an.

“Das könnt Ihr nicht allein wagen!”, sagte einer der Männer. “Das ist Selbstmord! Wer weiß, wie viele noch da draußen sind. Ich werde Euch lieber begleiten.”

“Fein! Seid mir aber kein Klotz am Bein!”

Gemeinsam folgten sie den Wagenspuren. Sie führten sie in einen kleinen Wald. Dort fanden sie den Karren. Er war liegen geblieben, als eines der Räder in den schlammigen Resten eines Wasserloches stecken blieb. Zwei Männer versuchten es herauszuheben, um der misslichen Lage zu entkommen. Gerade als Nebula sich ihrer annehmen wollte, fühlte sie den Griff ihres Begleiters um ihren Körper und ein Messer an ihrer Kehle.
 

Henrik kauerte noch immer im Planwagen. Bisher war er noch nicht entdeckt worden. Er hatte einen Schreck bekommen, als der Wagen plötzlich losfuhr. Doch nun steckte ein Rad fest und die Räuber konnten ihre Flucht nicht mehr fortsetzen.

Sie sind beschäftigt, dachte Henrik. Es wäre die Gelegenheit!

Doch dann hörte er eine vertraute Stimme. Vorsichtig sah er durch den Spalt in der Plane.

Nebula wurde von einer der Wachen der Karawane festgehalten und mit einem Messer bedroht. Seine Hand wanderte an Stellen, wo sie nichts verloren hatte. Erst hinauf an ihre Brust und dann hinunter zwischen ihre Beine. Er presste ihre untere Hälfte gegen die seine. Sie konnte seine Geilheit durch ihrer beider Kleidung deutlich fühlen. “Ihr habt meine Freunde ausgeliefert, Weib”, flüsterte er ihr ins Ohr. “Dafür werdet Ihr mich entschädigen!”

Nebula wurde von dem Mann näher an den liegengebliebenen Wagen gezwungen.

“Schaut mal, Jungs!”, rief er seinen Komplizen zu. “Schaut, was ich hier habe!”

Die beiden Männer stoppten ihre Arbeit am Rad.

Die verräterische Wache machte sich noch einmal an Nebulas Oberweite zu schaffen. Sie fühlte seine widerlichen Griffel selbst durch ihr gepolstertes Oberteil hindurch. Er musste ihre Brust mit einem Brotteig verwechseln. “Ihr wisst, dass Ihr gleich unsäglich Schmerzen leiden werdet?!”, sagte sie zornig. Sie stieß ihren Kopf gegen den der korrupten Wache und befreite sich aus seinem Griff. Dann entriss sie ihm das Messer und schlug ihn mit geballter Faust bewusstlos. Durch den Schlag gingen mehrere seiner Zähne auf eine Reise ohne Wiederkehr. Nebula warf das Messer in der Hand auf einen der anderen Räuber. Die Klinge streifte dessen Wange und bohrte sich in den Baum hinter ihm. "Euch will ich vor die Wahl stellen: Werdet Ihr kämpfen oder fliehen?"

Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Sie streckten die eben erst gezogenen Waffen nieder und flohen. Ihren Kameraden ließen sie zurück. Wenig später traute sich auch Henrik aus seinem Versteck heraus. Vorsichtig stieg er aus dem Planwagen aus.

Nebula war sichtlich erleichtert, auch wenn sie es nicht offen zugab. “Idiot”, schimpfte sie. “Wenn du dich noch mal entführen lässt, töte ich dich selbst!”

“W-Was ist eigentlich passiert?”, fragte der Schmied.

“Dieser Wachmann dort war wohl insgeheim ein Räuber”, schloss Nebula. Dabei zeigte sie auf den Mann, der noch immer bewusstlos die imaginären Sterne bewunderte, welche um seinen Kopf kreisten. “Wahrscheinlich hat er seinen Leuten irgendwie ein Zeichen gegeben, wenn sie angreifen sollen.”

“Ist diese Gegend nicht als Nebeltal bekannt?”, fragte Henrik. “D-Das ist doch ihre übliche F-F-Vorgehensweise, den Nebel als Tarnung für ihre Überfälle nutzten.”

“Das haben sie davon, meinen schönen Namen in den Schmutz zu ziehen!”

Henrik entdeckte die ausgeschlagenen Zähne. “D-Du hättest aber nicht so hart zuschlagen müssen."

"Er hat mich schamlos befummelt, dieser notgeile falsche Fünfziger!" Nebula ging zu dem Wagen und hob ihn mühelos aus dem Schlamm. “Das hätten wir!”

“Sagenhaft!”, staunte der junge Schmied.

Gemeinsam kehrten sie zum Konvoi zurück. Der Verräter befand sich gefesselt im Planwagen. Sie berichteten, was sich zugetragen hatte. Die Wachen schienen betroffen, die Ratte in ihren Reihen nicht enttarnt zu haben. Sie legten den Mann bei seinen Komplizen in Ketten. Dann wurde die Reise fortgesetzt. Das Ziel war die Hauptstadt. Allerdings reisten Nebula und Henrik kurz danach allein weiter, da ihr Ziel in einer anderen Richtung lag. Obwohl Nebula um einiges stärker war, ließ sie Henrik das Gepäck schleppen. Das Zelt, den Proviant und einiges mehr. Ein Gentleman trägt einer Lady ihre Sachen!

Am Rand des Gebirges, welches das Nebeltal umschloss und mitverantwortlich für das Wetterphänomen war, welches dem Tal seinen Namen gab, lag die Stadt Schleierfirst.

Doch es war noch ein weiter Weg für Henrik, den freiberuflichen Packesel.
 

🌢
 

Aus der Ferne erkannten Nebula und Henrik die Konturen eines kleinen Dorfes. Es war eine gar mickrige Ansiedlung mit Stroh bedeckten Häusern und einer lachhaft kleinen Palisade. Im Ernstfall bot sie keinerlei Schutz gegen Angreifer. Wahrscheinlich vermochte sie es gerade so, das Nutzvieh am Stiften gehen zu hindern.

“Schau mal, ein Dorf!”, bemerkte der junge Schmied.

“Ich wusste nicht, dass es auf dem halben Weg nach Schleierfirst eine Siedlung gibt”, grübelte Nebula. “Andererseits, so klein wie sie ist, kann man sie schon mal übersehen.”

Der Proviant des Duos neigte sich dem Ende entgegen. Das Dorf bot die perfekte Gelegenheit, die Vorräte wieder aufzufüllen. Sicher fände sich auf dem Marktplatz das ein oder andere Nützliche für die weitere Reise.

Ein schmaler Pfad führte durch Wiesen und Felder. Er war nicht so staubig, wie es bei den Temperaturen zu vermuten wäre. Als sie die Kulturen durchquerten, stellten sie fest, dass sie in überraschend gutem Zustand waren. Nebula sah an den Rand des Feldes und erkannte mit kühlem Nass gefüllte Bewässerungsgräben. Die Dorfbewohner mussten einen verlässlichen Zugang zu Frischwasser besitzen, wenn sie ihre Felder trotz der Trockenheit am Leben erhalten konnten. Entweder eine Wasserpumpe oder eine unterirdische Quelle. Vielleicht war es keine so schlechte Idee, in das Dorf für eine Rast einzukehren.

Als sie sich dem Palisadentor näherten, hörten sie laute Stimmen aus der Siedlung schallen. Einige klagten, einige drohten.

“W-Was mag da vor sich gehen?”, fragte Henrik.

“Wir sollten uns da nicht einmischen!”, belehrte Nebula

“Vielleicht br-brauchen sie Hilfe!”

“Die Streitereien von Fremden sollten dich nicht kümmern!” Nebula spürte, dass irgendetwas faul war. Dennoch gab sie ihrem Begleiter schlussendlich nach. ”Aber es gibt nur einen Weg herauszufinden, was dort vor sich geht.”

“A-Also gehen wir hinein?”

“Ja, aber stolpere nicht überall herum!”

Mit der Hand an der Waffe betrat Nebula das Dorf. Henrik hingegen dachte im Traum nicht daran zu kämpfen. Lieber hielt er sich hinter Nebula und hoffte, nicht gesehen zu werden. Das stellte sich angesichts ihres Größenunterschiedes als schwieriger heraus, als er gedacht hatte.
 

“Bitte, gebt uns noch etwas Zeit!”, bettelte eine alte Frau. Sie musste eine wichtige Persönlichkeit in der Siedlung sein. Vielleicht die Dorfälteste. Sie trug das zu dicken Strähnen verklebte lange graue Haar in einem losen Pferdeschwanz und musste ihr gesamtes Gewicht auf einen Gehstock stützen, um nicht hinzufallen.

“Halt deine Schnauze, du alte Schachtel”, brüllte ein muskelbepackter, groß gewachsener Mann, der einen Dornen bewehrten Streitkolben am Gürtel trug. Er versetzte dem Gehstock einen Tritt, woraufhin die alte Frau hinfiel und wehklagend auf dem Rücken liegen blieb. “Der nächste Tribut für meinen Herrn ist fällig!”

“Großmutter!”, rief ein Junge besorgt und drängte sich aus der versammelten Menge hervor. “Großmutter, geht es dir gut?” Er starrte den Mann voll des Zornes an. “Du hast meiner Großmutter wehgetan, du Dreckschwein!”, beschimpfte er ihn.

Der Grobian knackte mit den Fingergelenken und anschließend mit dem Nacken. “Jetzt werd mal nicht frech, du Bengel!” Er ergriff seinen Kolben und machte sich bereit, dem Kind den Schädel einzuschlagen. Doch dann spürte er Widerstand. Egal mit wie viel Kraft er seine Waffe auf das Kind hernieder gehen lassen wollte, es gelang nicht. Er musste feststellen, dass jemand seinen Arm festhielt. Er sah sich nach dem Übeltäter um.

“Man schlägt keine Kinder!”, sprach Nebula, die ihn am Zuschlagen hinderte.

Der Mann wollte nicht glauben, dass eine zarte Frau, die ihm nicht mal bis zur Brust ragte, seinen Arm mit solcher Kraft festhalten konnte, dass er ihn nicht mehr bewegen konnte. Er versuchte, sich loszureißen - vergeblich. “Lasst los, Weib!, befahl er. “Lasst los, oder bereut es!” Er steigerte seinen Krafteinsatz.

Nebula spürte, wie er sich an ihr abmühte. Dennoch bewegte sich die Waffe nicht einen Millimeter. Schon irgendwie lustig… Sie beschloss, ihm den Gefallen zu tun und ließ los. “Bitteschön!” Als sie ihre Hand öffnete, wurde der Mann durch seine eigene Zugkraft umgeworfen, als die entsprechende Gegenkraft entfiel. Die anderen Männer, die zweifelsohne zu ihm gehörten, lachten ihn aus, als sein Gesicht im Staub landete.

Der Junge nutzte die Gelegenheit, um sich und seine Großmutter in Sicherheit zu bringen.

“A-Aber so f-fang doch bitte keinen Streit a-an”, bat der feige Henrik, welcher um jeden Preis einen Kampf vermeiden wollte.

“Er hat mich beleidigt und nicht andersherum!”, erwiderte Nebula.

“Du kleine dämliche Hure!”, schnaubte der Muskelberg, als er wieder aufstand. Er sammelte seine Waffe wieder auf, welche ihm bei seinem Sturz entglitten war. Die Schmach, von diesem vorlauten Weibsstück blamiert worden zu sein, wollte er ihr vergelten.

“Ich kann mich nicht erinnern, Euch das ‘Du’ angeboten zu haben.” Während der Bandit vor Wut schnaubte wie ein Stier, blieb Nebula ganz gelassen. Er war nichts weiter als ein Handlanger. Von ihm hatte sie nichts zu befürchten.

Ihre Einschätzung schien er allerdings nicht zu teilen.

“Du…” Der Mann scherte sich nicht den begonnenen Satz fortzuführen. Lieber hob er den Streitkolben und wollte auf Nebulas hübsches Gesicht mit ihm malträtieren.

Henrik duckte sich und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. Er wollte nicht mit ansehen, wie der arme Mann gleich von der Blondine massakriert würde.

Bevor die Waffe Nebula treffen konnte, schlug sie ihrem Angreifer die Faust ins Gesicht, sodass er abermals zu Boden ging. Diesmal mit so viel Energie, dass er sich mehrfach überschlug und anschließend nicht mehr aufstand.

Schockiert sahen die übrigen Männer die blonde Frau an.

“Keine Angst, Jungs”, versicherte sie ihnen spöttisch. “Der schläft nur ein bisschen.” Dann erhob sie die geballte Faust auf Höhe ihres Gesichtes und setzte ein bösartiges Grinsen auf. “Jetzt nehmt ihn und macht, dass ihr Land gewinnt, bevor ich mich vergesse!”

Tatsächlich gehorchten ihr die Halunken. Sie hoben ihren benommenen Kameraden an. Jeweils einer stützte einen Arm über der eigenen Schulter. Dann verließen sie zügig das Dorf. Jedoch nicht ohne eine Drohung auszuspucken. “Das wird nicht ohne Folgen bleiben!”, sagte einer. “Greymore wird euch alle bestrafen!”

Henrik konnte sehen, wie sich die Augen der Blondine bei der Erwähnung dieses Namens kurz weiteten. Daraus schloss er, dass sie ihn kannte.

Aber sie schwieg.
 

Obwohl sie nur kurz auf den Markt gehen wollten, bestanden die Dorfbewohner darauf, ein Fest zu veranstalten. Sie wollten sich bei ihren Rettern bedanken. Zwar gedachten Nebula und Henrik keinesfalls ihre Gastfreundschaft auszunutzen, aber es wäre genauso unhöflich gewesen, eine solche Einladung auszuschlagen. Darum entschieden sie sich, entgegen ihres Vorhabens, die Nacht im Dorf zu verweilen. Innerhalb weniger Stunden hatten die Dorfbewohner den Marktplatz mit Girlanden verziert und Tische aufgestellt. Zwar hätten Nebula und Henrik gern geholfen, aber die Dorfbewohner ließen es nicht zu. Also ergaben sie sich dem süßen Nichtstun und versuchten, nicht im Weg herum zu stehen, während sich die Dorfbewohner für sie den Rücken krumm schufteten.

Als es dann Abend wurde und die Dunkelheit einsetzte, wurden die Öllampen entzündet und warmes gelbes Licht hüllte den Marktplatz ein. Die Tische warteten reich gedeckt mit Trank und Speise auf die Ehrengäste. Kaum hatte sich Henrik an den Tisch gesetzt, wurde er von einigen Mädchen aus dem Dorf umschwärmt. Er verstand nicht warum, denn er hatte nichts getan, um das zu verdienen. Im Gegenteil! Er war feige und hatte einer Frau die Drecksarbeit überlassen, anstatt selbst etwas zu tun, wie es sich für einen echten Mann geziemte. Mit einem Lächeln versuchte er sich nichts anmerken zu lassen, doch innerlich wurde ihm ganz flau im Magen. Seine innere Stimme sagte ihm, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er ließ seine Blicke zu Nebula schweifen, die zusammen mit ein paar Männern saß. Sie tranken und lachten.

Wenigstens hat sie ihren Spaß, dachte er.

“Was ist denn mit dir?”, fragte eines der Mädchen. Offenbar wurde sein falsches Lächeln durchschaut. Die Dorfschönheit schlug ihre Arme um ihn und drängte sich ihm auf. Sein Gesicht tauchte unfreiwillig in ihren tiefen Ausschnitt ein, wie ein Neugeborenes in einem Taufbecken. So sehr er sich anstrenge, war es ihm unmöglich zu entkommen. Er zappelte und versuchte, sich zu befreien. “Bin ich dir nicht hübsch genug?”

“D-Doch!”, sagte er. “A-Aber ich be-bekomme keine Luft!” Seine Worte wurden von dem voluminösen Busen des Mädchens gedämpft und waren kaum zu verstehen. Es gelang ihm, sich der erstickenden Umarmung der Schönheit zu entziehen. Einen tiefen Atemzug nehmend, verließ er die Tafel, um etwas durch die Gassen zu schlendern.

Irgendwas stinkt hier, dachte er.
 

Der Alkohol hatte Nebulas Gesicht ganz rot werden lassen. Sie war so betrunken wie selten zuvor. Die schmutzigen Witze der Männer machten ihr nichts aus. Eigentlich würde ihre prüde und konservative Erziehung sie davon abhalten, sich in diesen Kreisen zu bewegen. Aber sie hörte zu und lachte sogar darüber. Nüchtern würde sie die Männer für solche vulgären Sprüche windelweich prügeln! Glück für sie, dass sie sternhagelvoll war.

“Geht eine Nonne zum Gemüsehändler und kauft eine Gurke”, polterte einer der Männer. “Sagt der Händler, sie solle doch zwei nehmen. Dann könne sie eine davon essen.”

Nebula und die Männer lachten hemmungslos.

“Wie erkennt man eine gute Hausfrau?”, fragte ein zweiter. “Ganz einfach! Wenn sie nach getanem Hausputz noch die Stange poliert.”

Erneut lachten alle hemmungslos und ausgiebig.

“Wartet, der ist auch gut!”, kündigte Nebula an. “Warum können die Hälfte aller Männer nach dem Akt nicht einschlafen? Na weil sie abhauen müssen, bevor der Gatte wiederkehrt!”

Und wieder wurde lauthals gelacht. Doch das Gelächter klang dumpf für die Blondine. Die Lachen von Nebulas Saufkumpanen waren wie aus einer anderen Welt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Vorsichtig versuchte sie aufzustehen. Der Boden schwankte wie ein Schiff bei tüchtigem Seegang. “Wie stark ist Euer Trank?”, fragte sie. “Entschuldigt mich mal...”

Wankend und in Schlangenlinien versuchte sie, auf beiden Beinen zu bleiben. Die Männer sahen sich ratlos an. Dieses Mädchen hatte sieben Krüge der Hausmarke der Dorfbrauerei in sich hineingeschüttet und vermochte es immer noch zu stehen. Unfassbar! Nun zwangen sie jedoch dringende Bedürfnisse, das Trinken zu unterbrechen. Nach einer Weile wollte einer der Männer nachsehen, wo Nebula blieb. Doch bevor er aufstehen konnte, kehrte sie zur Tafel zurück, nur um das Trinken fortzusetzen. Drei weitere Krüge der Hausmarke fielen ihr zum Opfer. Langsam fragten sich die Männer, ob dieses Mädchen ein Fass ohne Boden sei, bis es endlich genug war.

Nebula fühlte sich weich im Kopf. Alles drehte sich. Viel schlimmer als sie es gewohnt war. “Pff-verdammt, wie zz-stark is-zz daz Zeusch?”, stammelte sie vor sich her. Dann kippte die ganze Welt zur Seite und Nebula fühlte etwas hartes an ihrer Wange. Es war die Tischplatte. Sie war zu besoffen, um zu merken, dass sie gerade das Bewusstsein verlor.
 

Henrik schlenderte durch die dunklen Straßen des Dorfes. Bisher war es ihm nicht gelungen, seine Gedanken abzukühlen. Schwach leuchteten die Lichter des Festes durch die schmalen Gassen und die Geräusche der Feiernden drangen kaum noch an sein Ohr.

Ganz tief saugte er die kalte Nachtluft ein und atmete sie wieder aus.

Er konnte sich einfach nicht helfen. All die Aufregung um die “Rettung” des Dorfes fühlte sich aufgesetzt an. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die Dorfbewohner etwas im Schilde führten. Dann bemerkte er ein kleines Mädchen an einer Hauswand sitzen. Das Mondlicht strahlte sie an. Henrik beschloss, zu dem Mädchen zu gehen. Es war vielleicht acht bis höchstens zehn Jahre alt und trug abgerissene Kleider, als ob es auf der Straße lebte. Ihr einziges Besitztum schien ein blaues Buch zu sein, das sie wie einen kostbaren Schatz an ihren Körper presste.

“Was ist mit dir, Keine?”, fragte er, als das Kind nicht auf sein kommen reagierte und nur den Mond anstarrte.

“Ich wusste, dass du kommst”, flüsterte die Kleine. “Der Mond hat es mir verraten.”

“Wie meinst du das?”

“Wenn du ein paar Münzen für mich hast, werde ich dir aus den Händen lesen”, bot sie an.

Sie machte einen so ärmlichen Eindruck, dass das Mitleid den braunhaarigen Jungen überkam. Er willigte ein, sich von ihr die Zukunft deuten zu lassen und beabsichtigte, ihr im Anschluss all sein Geld zu geben.

"Bitte, gibt mir deine linke Hand”, sagte sie und legte ihr Buch beiseite.

Henrik reichte ihr, wie gefordert, die linke Hand.

Das Mädchen ergriff sie und fuhr mit dem Finger über Henriks Handteller. “Die linke Hand kennt deine Vergangenheit und Gegenwart”, erklärte es. “Du hast schon immer eine besondere Gabe besessen. Aber du warst bis vor kurzem nicht imstande, sie zu nutzen. Du warst vom Pech verfolgt und niemand wollte dir beistehen. Dann haben sich dir neue Möglichkeiten aufgetan, als eine Frau in dein Leben trat.”

Henrik war verblüfft. Wie konnte dieses fremde Mädchen so viel über ihn wissen? Selbst wenn sie sie beobachtet hatte, woher wusste sie von dem Rest?

“Bitte gib mir nun die rechte Hand”, sagte das Kind.

Henrik reichte ihr nun auch diese.

Das Mädchen sah sich nun auch die rechte Hand an. “Die rechte Hand kennt den Pfad, den du gehen wirst. Oh, was ist das?” Die Augen der Kleinen weiteten sich. “So etwas habe ich noch nie gesehen!” Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder sprach. “Du wirst deine große Gabe bald einsetzen. Der Schlüssel, sie zu verstehen, liegt in der Vergangenheit.”

“Das ist s-sehr interessant”, lobte Henrik. Auch wenn er nicht wusste, wie er ihre Weissagung deuten sollte. Wie er es geplant hatte, gab er ihr sein ganzes Geld.

“Oh, habt dank!”, sagte das Mädchen. “Aber das ist zu viel!”

“Nein! Ist genau richtig! Ich bin übrigens Henrik.”

“Schön dich kennenzulernen. Mein Name ist Annemarie.”

“Wieso sitzt du hier auf der Straße?”

“Ich weiß es nicht.”

“Hast du keine Eltern?”

“Ich weiß es nicht.”

“Das ist schlimm! Kannst du wirklich zu niemanden gehen?”

“Nein. Bitte gehe jetzt. Unser beider Schicksal wartet nicht gern!”

Henrik fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, das Mädchen allein auf der Straße sitzen zu lassen. Aber es hatte jetzt all sein Geld. Alles, was er aus dem Verkauf seiner Schmiede herausgeschlagen hatte und auch das Geld, welches er von Nebula als seinen Anteil am Gewinn erhielt, hatte den Besitzer gewechselt. Damit sollte die Kleine gut über die Runden kommen. Mehr konnte er wirklich nicht tun. Und das war mehr, als die meisten tun würden. Und auch mehr, als er sich leisten konnte.

Innerlich gespalten, machte er sich auf, zum Fest zurückzukehren.

Kurz vor dem Marktplatz fühlte er urplötzlich einen Schlag im Nacken. Er wurde sofort zu Boden geworfen und verlor das Bewusstsein. Ein Fremder ergriff Henriks Oberarbe und zerrte ihn von der Straße in die Dunkelheit.

Annemarie beobachtete es aus sicherer Entfernung. Seine Zukunft war vor ihrem geistigen Auge bereits Vergangenheit. Sie griff nach ihrem Buch, das noch immer neben ihr lag, und drückte es wieder fest an sich.

Duell der Waffenmeister


 

🌢
 

In all der Finsternis brannten die Lichtstrahlen, welche durch das kleine, hochgelegene Fenster drangen, wie Säure in den Augen. Es war stickig und einen Atemzug zu nehmen, fühlte sich an, wie heiße Asche aufsaugen. Der Gestank von menschlichem Urin und Exkrementen verewigte sich mit jeder Inhalation in der Nase, wie ein Brandzeichen auf dem Leib einer Milchkuh.

Aufgeschreckt von einer plötzlichen Bewegung, huschten mehrere Ratten in verschiedene Richtungen über den schmutzigen Boden.

Ein Mann in abgerissenen Lumpen erhob sich in seiner winzigen Zelle und umklammerte die eisernen Gitterstäbe. Unentwegt rüttelte er verzweifelt am Metall. Er wurde nicht müde vom Versuch, die Gitter niederzureißen. “Lasst mich endlich raus”, brüllte er so kräftig, wie es seine Lungen in all dem Schmutz und Dreck hergaben.

“Gebt es auf, Mann”, sprach ein anderer Mann lethargisch und frei von jeder Zuversicht. “Sie werden uns nicht mehr freigeben.”

“Ich will hier raus!”

“Niemand kommt hier wieder raus!”, versicherte eine Gestalt tief in der Dunkelheit. “Irgendwann kommen sie einen hohlen. Und dann ist man nie wieder gesehen.”

“Hey!”, setzte der Verzweifelte sein Brüllen fort. “Hey, ich habe Familie! Lasst mich raus!”

Quietschend öffnete sich die schwere Eisentür und ein Kerkerwächter mit einem Band um den Oberarm trat ein. Ihm folgten zwei Lakaien mit einem Wagen. Auf ihm befand sich ein Kessel, ein paar schmutzige Schüsseln und eine von Resten vergangener Mahlzeiten verkrustete Kelle.

Der Mann löste das Band an seinem Arm und schnürte es um die Stirn.

“Essenszeit, ihr Ratten!”, rief der Wächter und schlug mit der Kelle gegen den Kessel.

Wie Mastschweine um den Trog, zog es die Gefangenen an die Gitterstäbe. Ungezügelt streckten sie ihre Hände den Lakaien entgegen. Jeder bekam eine Schüssel und genau eine Kelle von dem unappetitlichen stinkenden Eintopf, der sich im Inneren des Kessels befand. Ein Gebräu wie aus Tage alten, ranzigen Küchenabfällen zusammengerührt. Gierig schlangen sie ihre Rationen herunter.

“Ich hoffe es hat gemundet!”, spottete der Wachmann. Er sah sich unter den Gefangenen um. “Bald kommen wir euch holen!”
 

Langsam kam Henrik wieder zu sich. Schmerzhaft kam die Erinnerung an den Treffer auf seinen Schädel zurück. “Aua!”, sagte er. Er befühlte seinen Hinterkopf und entdeckte eine mächtige Beule.

“Endlich bist du wach!”, sprach eine Stimme.

Erst jetzt bemerkte er, dass er nicht allein war. Es war Nebula, die neben ihm hockte. Henrik sah sich um. Die verschwommenen Konturen wurden mit der Zeit klar. Beide waren eingesperrt mit einigen unbekannten Männern und auch ein paar Frauen. Ein hölzerner Käfig auf einem Fuhrwerk stellte ihr mobiles Gefängnis dar. Es wurde von zwei Ochsen gezogen. Links und Rechts ritten Männer in ledernen Rüstungen auf beige-farbenen Pferden.

“W-Was geht hier vor?”, fragte Henrik.

“Sie haben uns reingelegt!”, klärte Nebula auf.

“W-Wer?”

“Die Dorfbewohner, du Trottel!”

“A-Aber wieso haben die das getan?”, empörte sich Henrik. “Du hast ihnen doch g-gegen die Männer geholfen.” Der Schmied wandte sich lauthals an die anderen. “Hey, ihr da! W-Was ist mit euch? W-Wo kommt ihr h-her?”

“Ruhe da hinten”, forderte der Kutscher zum stillschweigen auf, “oder es setzt was!”

“Wir haben Nachforschungen angestellt, erinnerst du dich?”, fragte Nebula flüsternd.

“Wegen der Raubüberfälle...”

“Es fiel immer wieder der Name eines berüchtigten Raubritters: Greymore.”

“Stimmt. Im Dorf habe ich den Namen auch gehört!”

“Greymore verkauft Menschen als Sklaven und erpresst Dörfer. Sie fürchteten die Rache von Greymores Männern und haben uns deshalb verraten.”

“W-Warum müssen Menschen a-anderen Menschen Leid z-zufügen?”

“Es heißt, er sei mit dem Teufel im Bunde. Niemand traut sich, gegen ihn vorzugehen.”

“U-Und was ist mit dem König? Warum u-unternimmt der nichts?”

“Das wüsste ich auch gern! Aber wir haben andere Probleme! Sie bringen uns irgendwo hin. Unsere Waffen sind auch weg.”

Hastig suchte Henrik in seiner Schürze und war erleichtert, als er seinen Hammer fand.

“Keine Angst, das Ding haben sie dir aus unerfindlichen Grund gelassen! Vielleicht brauchen sie einen Schmied...” Nebula half Henrik beim aufstehen. “Vermutlich wollen sie uns versklaven, verkaufen oder vielleicht beides. Aus dir werden sie einen Leibeigenen machen. Was mit mir geschieht, mag ich mir nicht vorstellen.”

Henrik erhob seine Stimme. “A-Aber das kannst du nicht z-zulassen!”

“Mir sind die Hände gebunden.”

“A-Aber du bist doch selbst m-mit dem Teufel-”

“Schweig!”, stoppte Nebula ihren Schmied noch inmitten des Satzes. “Das ist viel zu gefährlich! Ich werde es nicht einsetzen. Ich könnte Unschuldige verletzen. Greymore wird seine Strafe schon noch erhalten! Das schwöre ich!”

Der Gefangenentransport näherte sich einer hölzernen Befestigungsanlage. Ein Holzwall umringte einen steinernen Bergfried, der auf einer Anhöhe stand. Im Inneren des Ringes dienten mehrere Blockhütten als Behausungen für das Gefolge. Aber kein Gefangener sah das Tageslicht. Der Kerker befand sich im Keller des Bergfrieds. Der Wagen hielt vor dem Tor, bis sich dieses langsam auftat. Danach setzte das Gefährt seinen Weg in den Innenhof fort. In seinem Inneren erwartete man einen Markt, fand aber stattdessen eine Arena vor.

“Wa-Was ist das alles hier?”, fragte Henrik.

“Vielleicht steht uns noch ein schlimmeres Schicksal als konventionelle Versklavung bevor.” Wie tief bist du gesunken, Greymore, dachte Nebula.

Der Wagen kam vor einem Eingang auf ebener Erde zum stehen. Einer der begleitenden Reiter saß ab und ging hinein. Nach einer Weile kam ein anderer Mann in Begleitung von mehreren Soldaten aus der Tür heraus. Er war in feinste Gewandung gekleidet. Darüber trug er ein Kettenhemd und einen Wappenrock. Arme durch Achselzeugs, Beine durch Schienen geschützt, rundeten das Bild eines Ritters ab. Nebula spürte eine dunkle Aura von ihm ausgehen. Der Mann ging zu dem Wagen mit den Gefangenen darin. Langsam umschritt er ihn, um die Ausbeute zu begutachten.

Ein plötzliches Unbehagen durchfuhr seinen Körper und zwang ihn zu halten.

Binnen eines Wimpernschlages fand er sich in einer trostlosen Ödnis wieder. Er musste sich nicht lange wundern, denn eine vertraute Stimme rief ihn zu sich. Geschwind wandte er sich ihr zu. Vor ihm stand ein muskulöser Mann in Lendenschurz und Fellstiefeln. Pulsierende Adern bedeckten seinen ganzen Körper und seine Augen leuchteten so hell wie die Sonne. “Ich spüre einen anderen Meister in diesem Käfig!”, sprach der Titan von einem Mann mit Donnerstimme. Ein weiterer Wimpernschlag später und der Ritter fand sich zurück in der Realität und realisierte, dass nicht eine Sekunde verstrichen war.

Nach Außen zeigte er nicht die geringste Regung.

Er setzte seinen Rundgang um den Wagen fort, bis er abermals stoppte, denn jemand stach aus der Masse heraus. Die goldblonden Haare Nebulas, welche zwischen den Köpfen der anderen Gefangenen hervorblitzen, hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Neugierig trat er näher an den Käfig heran.

“Zeigt Euch!”, befahl er. “Genau Ihr, Blondschopf!”

Nebula erkannte die Stimme und drängte sich zwischen den anderen Gefangenen hindurch an die Gitterstäbe. “Hier bin ich, Greymore!”, sprach sie selbstsicher.

“Ihr!”, tat der Raubritter seiner Verwunderung kund. “Wie ist... ?!!” Verstört blieb er einen oder sogar zwei Momente stehen, als habe er einen Geist gesehen. Dann sah er zu seinen Gefolgsleuten. “Seht ihr nicht, wer unser Gast ist!”, sprach er. “Holt sie sofort aus dem Käfig heraus! Bereitet ein Gemach für sie vor! Und der Rest kommt ins Loch!”

Die Männer folgten der Anweisung und holten die blonde Frau behutsam aus dem Wagen heraus. Dabei streckten sie jedem anderen ihre Waffen entgegen, der es wagte, dem Ausgang des Käfigs zu nahe zu kommen.

“Wo bringt ihr sie hin?”, wollte Henrik wissen.

Doch er bekam keine Antwort.
 

Ein reichlich dekoriertes Zimmer sollte Nebulas Verließ sein. Der Ausgang durch eine massive Tür fest verschlossen. So stabil, dass es ungewiss war, ob sie sie aus eigener Kraft schnell genug aufbrechen könnte, bevor es bemerkt werden würde. Für den Moment wollte sie bei dem übelen Schauspiel des Raubritters mitspielen. Aber der dekorierte Wandteppich, das luxuriöse Himmelbett und all das kunstvoll verzierte Porzellan von den östlichen Inseln, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine Gefangene war. Dieser Raum, dachte sie. Fast wie... Plötzlich kehre dieses finstere Gefühl von Gewalt und Mordlust zurück, welches sie zuvor schon gespürt hatte. Das Schloss wurde von außen entriegelt und der Raubritter und zwei seiner Männer traten ein. Sie trugen Ketten bei sich, welche sie Nebula sogleich anlegten und sie an einem Stuhl fixierten. Greymore wirkte noch immer verstört. “Es ist nur zu Eurer Sicherheit!”, meinte er.

“Nicht für die Eure?”, reagierte Nebula abfällig. “Was ist aus Euch geworden, Greymore?! Aus einem der höchst dekorierten Ritter Morgensterns.”

“Ich dachte Ihr wäret tot!” Greymore, der abgrundtief böse Raubritter, schien den Tränen nahe. “Ich habe Euch gehalten, als Ihr gestorben seid!”

“Und dabei hätten wir es belassen sollen!”

Greymore trat heran und schlug beide Hände flach auf die Tischplatte. “Was sagt Ihr da?! Ich bin es. Lord Greymore! Euer Verlobter!”
 

Henrik kam wieder zu sich. Man hatte ihn bewusstlos geschlagen, als man ihn aus dem Käfig zerrte. Das schien zur Gewohnheit zu werden! Er fragte sich, wie lange er in diesem schmutzigen Loch von einem Kerker gefangen war. Durch das winzige vergitterte Fenster drang nicht genug Licht, um die Tageszeit erkennen zu können. Einzig hell und dunkel konnte man unterscheiden. Es war ihm also unmöglich abzuschätzen, wie viel Zeit verstrichen war. Es hätte eine Stunde oder ein ganzer Tag gewesen sein können. Er sah sich zwischen den traurigen Gestalten um, welche seine Mithäftlinge waren. “I-Ihr da!”, suchte er Kontakt. “Hey! W-Weiß einer von euch, w-wie lange ich hier bin?”

“Nicht lange”, antwortete ein Gefangener.

“Lasst mich endlich raus!”, wimmerte ein anderer apathisch und in Fötusstellung zusammengekauert vor sich her.

“W-Was ist das hier?”

“Junge, hier ist Endstation!”, sprach eine kratzige Stimme von nebenan. “Du bist in der Hand von Greymore. Und früher oder später wirst du verkauft oder umgebracht.”

Das Klagen und Jammern des verzweifelten Gefangenen wurde immer lauter. Zwischen dem Weinen drangen nur unverständliche Wortbrocken heraus.

“Oder du wirst vorher wahnsinnig, so wie der dort drüben!”

“Nein!”, widersprach Henrik. “D-Das kann nicht das Ende sein!”

Er kramte in seiner Schürze. Er hatte noch immer seinen magischen Hammer, welchen er sogleich hervorholte. “Ich vertraue dir mein Schicksal an, Hammer!”, sagte er.

“Oh, er ist bereits des Wahnsinns...”

Henrik holte aus und schlug mit voller Kraft gegen die Gitterstäbe. Nichts passierte. Er schlug noch einmal. Wieder nichts. “Ich schätze, deine Macht hat Grenzen!” Aber er hatte die anderen Gefangen inspiriert. Sie griffen, was sie erreichen konnten, und schlugen ebenfalls gegen ihre Gitterstäbe. Die Stangen klangen, als sie von unterschiedlichen Gegenständen getroffen wurden. Bald schon war der Kerker erfüllt von Schmettern und Schlagen. Und selbst der apathische Mann stimmte mit ein. Eine Symphonie des Lärms erhob sich aus der Düsternis.
 

Nebula zeigte ihren Widerstand durch noch stärkeres Rütteln an ihren Ketten.

“Ich sah Euch sterben. Dennoch sitzt Ihr mir nun direkt gegenüber!” Greymore stützte sich noch immer auf die Tischplatte und beugte sich näher zu Nebula heran. “Ich hatte meinen Glauben an König Morgenstern verloren. Euer Tod war seine Schuld. Das Attentat war seine Strafe. Ich wollte Euch rächen.” Greymore entfernte sich wieder. “Doch jetzt seid Ihr, Emelaigne von Morgenstern, die Kronprinzessin, endlich zu mir zurückgekehrt!"

“Ich hätte nie geglaubt, dass Ihr diesen Weg beschreiten würdet, nur für Eure sinnlose Rache. Fürchtet Ihr nicht, eines Tages für Eure Taten gerichtet zu werden?”

“Irgendwann bestimmt.” Greymore richtete sich auf. “Was ist das, was ich spüre?! Seid auch Ihr mit dem Teufel im Bunde?”

Sein Gegenüber scherte sich nicht, die Frage zu beantworten.

“Ihr werdet schon noch sprechen, Emelaigne! Ich will, dass Ihr mich heiratet, so wie Ihr es mir einst geschworen habt. Ihr erinnert euch?”

“Bis dass der Tod uns scheidet! Und er hat uns geschieden.”

“Vereint könnten wir das Königreich Morgenstern zu alter Größe führen und das Kaiserreich für seine Taten bluten lassen.”

“Aschfeuer bluten lassen? Und wovon träumt Ihr Nachts?”

“Von Euch, Prinzessin!” Seine Stimme flachte ab, als er sich wiederholte “Nur von Euch!” Dann kehrte er zu seinem bestimmenden Tonfall zurück. “Wollt Ihr Euch also verweigern?!”

“Ich soll mich mit einem verrückten Verräter verbünden?” Sie scherte sich nicht darum zu verbergen, wie zuwider er ihr war. “Und wenn ich schonmal dabei bin, auch noch das Bett mit ihm teilen? Ihr begeht Verbrechen, nur um Euch Eure eigene kleine Privatarmee zu finanzieren. Ihr verkauft Menschen in die Sklaverei!” Nebula strafte Greymore mit verächtlichen Blicken ab. “Anders als Ihr, dürstet es mir nicht nach Rache oder Macht. Und ich werde nicht zur Verräterin werden!” Ihr Ausdruck wandelte sich zu einem neutralen. “Lasst mich und meinen Schmied gehen und ich werde Euch schonen!”

“Wir sehen uns wieder und sollen gleich wieder auseinander gehen?!” Ein übler Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an. “Das werde ich zu verhindern wissen! Ich habe mir die Macht des Teufels zu Eigen gemacht, um nie wieder jemanden zu verlieren.” Plötzlich lachte der muskelbepackte Mann. “Der Junge, mit dem wir Euch aufgriffen, liegt Euch doch bestimmt am Herzen?”

Nebula streckte sich so weit es die Ketten zu ließen. “Was habt Ihr ihm angetan?!”

“Er hat einen kleinen Aufstand angezettelt. Noch ist ihm nichts geschehen, aber alles andere liegt bei Euch, meine Teure!”

"Krümmt ihm ein Haar und ich werde Euch töten!"
 

🌢
 

Drei Jahre zuvor am königlichen Hof in Ewigkeit.

Nach den Wirren des Krieges sollte ein freudiges Ereignis neue Hoffnung bringen. König Morgenstern hatte endlich seinen Beratern nachgegeben und beschlossen, seine Tochter, seinen Schatz, sein einziges Kind, in die Hände eines Mannes zu geben. Mit ihren zarten vierzehn Jahren, war sie kaum alt genug, eine Frau zu sein. Und schon sollte sie heiraten. Sich einem Mann hingeben, den sie nicht kannte, der noch nicht einmal feststand, und ihm einen Erben schenken.

Dabei hatte sie sich nie wirklich wie das typische Mädchen gefühlt. Auch wenn Gott sie reichlich mit Reizen beschenkte. Entgegen der Sitte, das Mädchen durch lange Haare ihre Gesundheit zur Schau stellten, waren ihre immer kurz gewesen. Erst seit einer Weile ließ sie sie sprießen, da Vater es befohlen hatte. Zeitweilig glaubte das Volk, sie seie der Prinz und nicht die Prinzessin. Emelaigne interessierte sich nie für die Sachen eines Mädchen. Vielleicht lag es daran, dass sie ohne Mutter aufgewachsen war. Die Ammen vermochten es jedenfalls nicht, ihr ein Verhalten beizubringen, das sich für die Kronprinzessin ziemt. Weil er sich nicht besser zu helfen wusste, ließ der König seine Tochter die gleiche Ausbildung genießen, wie er sie einem Sohn hätte zuteilwerden lassen. Statt mit Puppen, spielte sie mit dem Schwert und prügelte sich mit den Jungen. Oft waren sie es, die heulend reißaus vor ihr nahmen. Statt hübsche bunte Kleider anzuziehen, trug sie Hosen und ritt mit Vater und den adligen Männern zur Jagd, alsbald sie groß genug war. Sie lernte den Umgang mit dem Kreuzbogen, statt zu nähen und zu häkeln, wie andere Mädchen.

So ging es viele Jahre, ungeachtet der äußeren Umstände. Morgenstern befand sich im Krieg mit dem elfischen Kaiserreich auf dem Festland. Es wurde umso schlimmer, als die Diplomatie endgültig versagte. Aschfeuer glaubte, Schwäche zu zeigen, das Königreich nicht zu bestrafen. Viele Unschuldige verloren ihr Leben. Doch im Krieg war es normal, wenn sich die Gewalt gegen die Schwachen richtete. Er dauerte einige Jahre an. Wie durch ein Wunder schaffte es das Königreich Morgenstern, sich dem Imperium zu erwehren. Und so endete das Blutvergießen, als der Kaiser zu dem Schluss kam, dass der kleine Inselstaat im Westen die Mühe nicht wert war.

Prinzessin Emelaigne bekam von all dem nicht viel mit. Die Wirren des Krieges hatten die Hauptstadt niemals erreicht und der König hütete das Mädchen wie seinen Augapfel. Nach Beilegung des Konfliktes, ließ er es sich viel kosten, Soldaten und Zeugen auszuzahlen, damit die Geschichten über die Gräueltaten der Elfen schnell in Vergessenheit gerieten. Nur so konnte er langfristigen Frieden durchsetzen. Und er wollte auch nicht, das seine Tochter die Wahrheit über den Krieg und dessen Auslöser erfuhr.

Inzwischen war Emelaigne herangereift und vierzehn Jahre alt. Und noch immer verhielt sie sich nicht wirklich Damenhaft.

“Vater, das kann nicht Euer Ernst sein!”, beklagte sich die Prinzessin. “Ich soll diesen Fummel tragen?!” Wutschnaubend war sie in den Thronsaal hinein gestolpert. Weder hatte sie zuvor ein Kleid getragen noch solch garstiges Schuhwerk. Das Gehen fiel ihr schwer und sie fürchtete, jeden Moment umzuknicken und sich den Knöchel zu verstauchen.

“Eine Dame trägt schöne Kleider!”, belehrte der König.

“Wer sagt, dass ich eine Dame sein will?”

Der König erhob seine Stimme. “Keine Widerrede, Tochter!” Er beruhigte sich wieder. “Ihr seid nun alt genug für die Heirat. Euer rüpelhaftes Verhalten verschreckt die Freier.”

“Ich soll was?”

“Schon bald werde ich die edelsten Ritter versammeln und sie für ihre Kriegsdienste belohnen. Es wird ein großartigen Tjost geben. Bei dieser Gelegenheit werde ich verkünden, dass eure Hand zu haben ist.”

“Meine Hand?”, fragte Emelaigne zynisch. “Nicht etwa der heilige Gral zwischen meinen Schenkeln?”

Der König schlug die geballte Faust auf die Lehne seines Throns. “Mäßigt Euren Ton, Tochter!” Dann seufzte er. “Es wird wahrlich eine Herausforderung, aus Euch eine Lady zu machen, mein Kind!”

“Ich wünschte, ich wäre ein Mann!”

“Es reicht! Gott schuf Euch als Frau und Ihr werdet Euch seinem Urteil fügen! Bei dem Turnier werden die edlen Ritter im Schaukampf ihre Kräfte messen. Einen davon werdet Ihr vor ebendiesem Gott die Treue schwören. Die Wahl obliegt Euch, Tochter.”
 

Der Tag des Turniers war angebrochen. Emelaigne saß teilnahmslos im Thron neben dem ihres Vaters und betrachtete das Gerangel der Ritter mit so viel Desinteresse, wie nur irgend möglich. Die Männer verausgabten sich beim Tjost. Schweiß floss in Strömen, Lanzen zersplitterten und Rüstungen wurden verbeult. Einer von diesen hirnlosen Grobianen sollte ihren Acker pflügen und sie dann dessen Lendenfrucht austragen. Und sie musste den Glücklichen auch noch selbst aussuchen! Wer hat Vater dies nur eingeredet, grübelte sie.

Der König war vollends begeistert von dem Spektakel. Er sah zu seiner gelangweilten Tochter hinüber. “Habt Ihr schon gewählt?”, fragte er.

“Ich habe doch nicht wirklich eine Wahl”, antwortete sie.

“Was kann ich tun, um Euch zu begeistern, Tochter?”

“Ich will über mein Schicksal selbst bestimmen! Lasst mich mitkämpfen, Vater!” Ihr Eifer brannte in ihren Augen. Die Langeweile von zuvor, wie weggeblasen. “Ich habe bei Euren besten Soldaten gelernt und bin kein leichter Gegner. Ich werde mich keinen Mann fügen, der mich nicht zu besiegen vermag.”

Der König erstaunte der Wunsch seiner Tochter. “Ihr wart schon immer anders als andere Mädchen.” Er räusperte sich. “Nun gut, so soll es sein.”

Emelaigne überraschte, das ihr Vater dem wirklich zustimmte.

Kurz darauf verkündete der König, das seine Tochter den als Gatten erwählen würde, der es schafft, sie im Fechtkampf zu schlagen. Zuerst glaubten die Ritter, der König triebe seine Späße mit ihnen. Doch bald mussten sie feststellen, dass es sein Ernst war.

Der Erste von ihnen war an der Reihe, sich Prinzessin Emelaigne entgegenzustellen. Keinesfalls konnte er die Prinzessin als ernstzunehmenden Gegner betrachten. Immerhin war sie nur ein Weib. Der Ritter und die Prinzessin standen sich gegenüber. Vorsichtig machte der Mann den ersten Zug. Er wollte sie schließlich nicht verletzen. Aber für seinen zaghaften Angriff erntete er nur Spott von der Blondine. “Pflegt Ihr Eure Gegner zu Tode zu langweilen, Ritter?”, fragte sie spöttisch. Dann griff sie ihn an. So schnell, wie sie ihn entwaffnete, vermochte er nicht zu schauen. Er fand sich im nächsten Moment mit einer Klinge unter seinem Kinn wieder. “Den Versager hier werde ich bestimmt nicht zum Manne nehmen, Vater!”

Die übrigen Edelmänner waren schockiert. So ein kampfeslüsternes Weib war ihnen noch nicht untergekommen. Einer nach dem anderen unterlag der Prinzessin im Zweikampf. Sie konnten nicht verstehen, dass sie von einer Frau geschlagen wurden. Nur noch ein Ritter blieb übrig. Ihn musste Emelaigne noch schlagen, dann würde die Hochzeit abgesagt. Er war hoch dekoriert und hatte im zurückliegenden Krieg viele Schlachten geschlagen. Die Prinzessin sah sich ihren Gegner an, als sie sich gegenüberstand. Irgendwie gefiel er ihr. Sein Gesicht war viel männlicher als das der Schwächlinge, die sie geschlagen hatte. Emelaigne ertappte sich dabei, dass es ihr wohl nicht viel ausmachen würde, von diesem Mann besiegt zu werden.

Nein, einfach würde sie es ihm dennoch nicht machen!

“Seid Ihr bereit für einen Blechschaden, Ritter?”, reizte sie den Mann.

“Seid Ihr bereit, mein Weib zu werden?”, konterte er selbstsicher.

Als sich ihre Klingen kreuzten, stellte sie fest, dass er ernsthaft kämpfte. Weder machte er unnötige Bewegungen, noch versuchte er sie mit Samthandschuhen anzufassen. Bei ihren vorherigen Kämpfen musste sie sich nicht ein Stück bewegen, aber dieser Mann trieb sie über den Platz, als sei sie ein aufgescheuchtes Huhn. Emelaigne spürte, wie sich ihr Atem intensivierte und ihr Herz immer kräftiger schlug. Einen echten Kampf hatte sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr genießen können. Die Aufregung und das Adrenalin sprühten, wie die Funken der Klingen, als sich die Schwerter trafen. Dieser Mann nahm sie so ernst, wie alle seine vorherigen Gegner bei diesem Turnier.

Er wurde ihr immer sympathischer.

Ein unglücklicher Tritt, bei dem sie ihren Fuß umknickte, beendete den Kampf zu ihren Ungunsten. Der Schmerz brachte sie zu Fall und sie sank auf die Knie. Ihr Gegner nutzte den Moment der Schwäche aus und entwaffnete sie. Emelaigne sah nun, was zuvor ihre Gegner sahen: Die Spitze eines Schwertes unter ihrem Kinn.

“Ihr habt verloren, Prinzessin!”, sagte der Ritter.

“Meinen Glückwunsch!”, gestand ihre Niederlage ein. “Der Preis soll Euer sein!”

Vorsichtig half der Ritter der Prinzessin auf. “Für mich seid Ihr keine Trophäe!” Er geleitete sie zu einem Heilkundigen, der sich ihren Fuß ansehen sollte, während die besiegten Ritter ihm zujubelten. Sicher glaubten sie, er habe durch seinen Sieg ihre Männerehre wiederhergestellt. Anschließend erklärte der König den Ritter zu Emelaignes Verlobten. Die Prinzessin saß betrübt in ihrem Thron. Das garstige Schuhwerk war ihr Fährmann in den Hafen der Ehe. Aber weder dies noch der Schmerz in ihrem Knöchel verdunkelte ihr Gemüt derart, wie der Zwiespalt, der sie gefangen hielt. Traurig über ihre Niederlage und dennoch dem Mann zugetan, der sie besiegt hatte.

Sein Name war Greymore.
 

In den kommenden Wochen wurde alles für die königliche Hochzeit vorbereitet. Einer Ehe, der Emelaigne noch immer abgeneigt war. Die royale Hochzeit sollte ein Großereignis werden. Auch wenn es offensichtlich nicht auf dem Mist ihres Vaters gewachsen war, fragte sie sich dennoch, wieso er ihr das antat. Wenigstens würde es ein anständiger Mann. Und er war sogar nur zehn Jahre älter als sie. Sie hätte es durchaus schlechter treffen können! Einer der anderen Teilnehmer war so alt, der hatte fast schon einen Gehstock gebraucht. Greymore bemühte sich wirklich sehr um sie. Er ging mit ihr in den Garten, in ein Labyrinth aus Blütenhecken. Dort pflückte er eine der Blüten und steckte sie Emelaigne ins Haar. “Das steht Euch wirklich ausgezeichnet, Liebste!”. Ein Kompliment für den schönen Anblick, den seine Augen erblicken durften.

Emelaigne berührte die Pflanze in ihrer Strähne. “Oh, D-Danke!”, sprach sie verlegen und sah ihn dabei nicht an. Er sollte nicht merken, dass sie rot geworden war. Aber es blieb ihm nicht verborgen. Gemeinsam verließen sie den Irrgarten und folgten dem Weg zu einer Brücke, die über einen kleinen Teich im Schlossgarten zu einer Insel mit Beten, einem Baum und einer Bank führte. Gemeinsam ließen sie sich nieder und lauschten den Lauten der Singvögel. Plötzlich kramte Greymore in der Tasche, welche er bei sich trug, und zauberte ein Märchenbuch hervor. “Was ist das?”, fragte die Prinzessin.

“Ich habe Euer Kindermädchen gesprochen”, antwortete ihr Verlobter. “Sie hat mir erzählt, dass ihr früher Geschichten von Prinzen und mutigen Helden gemocht habt.”

“Für diesen elenden Verrat solle sie hängen!”

“Seid nicht so hart! Schämt Ihr Euch etwa?” Graymore schlug das Buch auf. “Vielleicht sollte ich Euch das eine oder andere Märchen vorlesen!”

“Lasst das!”, wehrte sie sich fidel und versuchte ihm im Spaß das Buch zu entreißen.

Aber Greymore behielt die Oberhand und begann vorzulesen. “Es war einmal vor langer Zeit...” Anfangs passte es der Prinzessin so gar nicht. Doch dann gab sie auf und lauschte den Geschichten ihrer Kindheit.
 

Es war Abend, doch im Gemach der Prinzessin brannte noch Licht. Die Zofe gab ihr Bestes, das Korsett zusammenzubinden, welches Emelaigne eine noch begehrenswertere Figur verleihen sollte, als sie ohnehin schon besaß. Es war absichtlich viel zu klein angefertigt worden. Ihre Taille scharf betont und ihre Brüste so weit nach oben geschoben, dass sie bald aus dem Ausschnitt heraus sprangen. Es war kein Kleidungsstück, sondern ein wahres Folterinstrument. So eng zusammengeschnürt, dass ihr fast die Luft wegblieb. Die Prinzessin dachte daran, wie schnell die Zeit verflog. Es war für sie, als sei der Tag ihrer Niederlage erst gestern gewesen. Das sie im Staub vor ihm kniete, mit der Klinge vor Augen und der Schmach in ihrem Herzen. Und morgen würde sie ihn heiraten.

Unverhofft klopfte es an der Tür.

Die Zofe eilte und öffnete. Es war Greymore, der versuchte, einen Blick auf seine Verlobte zu erhaschen. “Schert euch davon!”, tadelte sie. “Es bringt Unglück, die Braut vor der Hochzeit zu sehen!”

Greymore lugte durch den Spalt, konnte Emelaigne jedoch nirgends entdecken. Bis er die lange Schleppe zaghaft hinter einem Sichtschutz verschwinden sah. “Maine Liebschte!” Seiner Stimme konnte man entnehmen, dass er es beim Junggesellenabend übertrieben hatte.

“Raus, Ihr versoffenes Schwein!”, drängte die Zofe. Angestrengt, zog sie die Tür zu und schloss ab. “Geduldet Euch noch einen Tag!”, brüllte sie dem Bräutigam durch das Türbrett hinterher. Als die Schritte Greymores leiser wurden, wollte sich die Zofe wieder der Prinzessin zuwenden, als plötzlich das Glas eines der Fenster zersprang und eine verhüllte Gestalt eindrang. Mit gezücktem schwarzen Dolch griff sie die Prinzessin an. Emelaigne versuchte auszuweichen, doch die lange Schleppe und das viel zu enge Korsett machten es ihr unmöglich, sich richtig zu bewegen. So gelang es dem Angreifer, sie zu überrumpeln und den Dolch tief in ihre Eingeweide zu treiben. Fassungslos ging sie rückwärts, umklammerte den Griff der Waffe und versuchte instinktiv den Fremdkörper aus ihrem Körper herauszuziehen. Doch er saß zu fest. Sie stürzte und riss den Sichtschutz mit sich.

Alles was die Zofe zustande brachte, war ein hysterisches Kreischen.

Der Eindringling wollte sich seinen Dolch zurückholen und stellte fest, dass die Prinzessin immer noch nicht tot war, obwohl eine Klinge in ihrem Herzen steckte. Er versuchte, die Waffe herauszuziehen, aber auch er schaffte es nicht. Wie ein Raubtier gab sie ihre Beute nicht mehr frei.

Es rumpelte an der Tür. Greymore fiel buchstäblich mit ihr ins Haus und erwischte die Gestalt, wie sie mit blutigen Händen an der Waffe zerrte. Er hatte das Kreischen der Zofe vernommen und war sofort zurück zum Zimmer seiner Verlobten geeilt. Als er sie mit dem Tode ringen sah, verflog sofort jeglicher Rausch des Gerstensaftes und er stürzte sich auf den Attentäter. Der Eindringling hatte keine Chance, als baumstammgleiche Arme ihn zu Boden drückten, während riesige Hände ihm die Luft abschnürten. Die Kapuze fiel und enthüllte, dass der Attentäter eine Frau war. Sie versuchte, sich verzweifelt aus dem Todesgriff zu befreien, aber es gelang ihr nicht. Unter Sauerstoffmangel zappelte sie wie ein Fisch auf den trockenen, bis sie starb.

Als die Attentäterin das Zeitliche gesegnet hatte, besann sich Greymore und wandte sich seiner Verlobten zu. Das Kleid hatte inzwischen die Farbe ihres Blutes angenommen. “Meine Teure!”, stieß er aus, kauerte sich neben die Sterbende und hielt sie in Armen.

“Ich... konnte nicht aus... weichen”, sprach Emelaigne in gebrochenen Worten. “Die Schleppe... . Ich... wusste, dieser Fummel... wird mein Tod sein!” Dann verließen sie ihre Kräfte und ihr Kopf neigte zur Seite. Sie atmete nicht mehr. Im nächsten Moment drangen die Wachen in den Raum ein. Doch alles was sie vorfanden, waren zwei Leichen und ein Mann, der um seine Prinzessin weinte.
 

Schon seit Stunden machte sich der Totengräber an dem Leib zu schaffen. Bisher hatte es niemand geschafft, den schwarzen Dolch aus der wunderschönen Leiche herauszuziehen. Nun war es seine Aufgabe, das Tatwerkzeug aus der Prinzessin zu entfernen. Aber auch er war bis zu diesem Moment kläglich daran gescheitert. Welch Verschwendung, dachte er, als er die Verstorbene ansah.

Nun nahm er sich eine Schere und ein scharfes Messer zu Hilfe.

Als erstes befreite er die Prinzessin von ihrem Korsett. Nun musste er ein Loch in den mit Blut vollgesogenen Stoff des Kleides schneiden, sonst käme er nicht an das Fleisch heran, in dem sich die Waffe eingegraben hatte. Die Schere zerteilte den Stoff und schuf ein Goldtaler großes Loch, in dessen Zentrum sich die Klinge erhob. Sie hatte einen sauberen Schnitt in der makellosen Haut der Prinzessin hinterlassen und streckte fast bis zum Anschlag in ihrem Körper. Der Totengräber müsste wohl sehr viel von ihrem Fleisch herausschneiden, um die Klinge zu entfernen. Um das entstandene Loch zu kaschieren, würde sie neu eingekleidet werden müssen, nachdem er es zugenäht hatte.

Er setzte zum Schnitt an.

Das Messer durchstieß die Haut.

Plötzlich krampfte der Körper der vermeintlich Toten und der Totengräber ließ vor Schreck sein Werkzeug fallen. Er stolperte voller Furcht über seine eigenen Füße.

Der Dolch in der Brust der Prinzessin verflüssigte sich und sickerte in Emelaignes Körper hinein. Wenig später riss sie ihre Augen auf. Sie glühten rubinrot.
 

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Gegenwart

Eine reichlich gefüllte Arena wartete auf den nächsten Kämpfer. Der kreisrunde Kampfbereich war in den Fels geschlagen und von einer Palisade umzäunt. Es gab nur zwei Eingänge, verschlossen von massiven hölzernen Gittern aus zusammengebundenen Baumstämmen. Dahinter umringten die Zuschauerränge die Arena. Aus ihnen stach eine prominent erhobene Tribüne heraus. Viele hatten sich versammelt, um dem blutigen Spiel mit dem Tod beizuwohnen. Ausgelassen und bereit, jeder Schandtat zuzusehen, warteten sie geduldig auf den nächsten armen Teufel, welcher die Feuertaufe ablegen würde.

In Ketten gelegt, ließ sich Nebula von den Handlangern des Raubritters zu dessen Loge bringen. Er hatte es sich bereits breitbeinig in seinem Thron bequem gemacht und ließ sich durch das große Sonnentuch von der Hitze abschirmen. “Wofür ist diese Arena?”, versuchte Nebula eine Konversation zu beginnen, in der Hoffnung, dass Greymore unvorsichtig würde. “Und wo ist mein Begleiter?!”

“In dieser Arena kämpfen für gewöhnlich jene, die Ruhm suchen und im Rang aufsteigen wollen”, erklärte Greymore. “Der Gewinner bekommt alles, der Verlierer erhält nichts, außer den Tod. Ich ließ bereits nach Eurem Gefolgsmann schicken.”

“Was führt Ihr im Schilde?”

“Ihm wird eine große Ehre zuteil werden. Er darf um seine Freiheit kämpfen!”

“Ihr seid wahnsinnig!”

Endlich öffnete sich das vergitterte Tor und eine bedauernswerte Gestalt betrat unsicher die Arena. Vollkommen verloren sah sich der junge Mann um. Die ungeduldigen Laute des Publikums wichen Jubel und Applaus. Würden sie einer Opferung beiwohnen oder der Geburtsstunde eines Helden? Das massive Gitter sank hinter dem Jüngling nach unten und verschloss den Ausgang.

Nebula sah über die Brüstung der Loge und stellte mit Schrecken fest, dass dieser Mann ihr Begleiter war. “Henrik!”, flüsterte sie. Danach ging sie einige Schritte zurück, bis der Schatten des Sonnentuches über ihr Gesicht fiel.

Greymore erhob sich von seinem Thron und ließ sich von einer Wache ein Schwert bringen. Er trat nun selbst an die Brüstung und hielt das Schwert in die Luft. “Junge!”, rief er Henrik zu. Der sah nach oben. “Siehst du das? Das hast du geschmiedet, nicht wahr?”

“J-Ja, es ist mein Werk”, antwortete Henrik.

Daraufhin zerbrach Greymore die Klinge über seinem Oberschenkel und warf die beiden Hälften der Waffe hinunter in die Arena. “Lasst ihn rein!”, befahl er im Anschluss.

Das Gitter auf der anderen Seite der Arena öffnete sich. Ein Bär bewegte sich langsam durch den Eingang. Voller Furcht wurde Henrik im Angesicht des Biest die Knie weich. Auch das zweite Tor schloss sich und die Todesfalle schnappte zu.

“Ihr Scheusal!”, verfluchte Nebula den grausamen Mann neben ihr.

Henrik ergriff in seiner Verzweiflung die beiden Teile seines Schwertes, während der Bär immer näher kam. Ein Impuls übernahm die Kontrolle über Henrik. Wie ferngesteuert, fügte er beide Hälften in seinen Händen zusammen. Ein gleißendes weißes Licht flutete die Arena und der Bär zuckte geblendet zurück. Das Publikum verstummte schlagartig. Oben in der Loge kniff Nebula die Augen zusammen, denn es war viel zu hell. Als sie wieder etwas erkennen konnte, stellte sie fest, dass Henrik ein makelloses Schwert in Händen hielt.

Der Bär besann sich wieder und stürmte auf Henrik zu. Der Schmied ging in festen Stand über, so wie er es gelernt hatte, und als der Bär sich aufrichtete, stieß er die Klinge so tief er konnte in das Tier hinein und zog sich anschließend zurück.

Der Bär war erschlagen.

Ungläubig sah der Schmied erst auf die blutige Klinge und dann auf das tote Tier.

Wenig später öffneten sich beide Tore und die Soldaten des Raubritters stürmten die Arena, um Henrik zu umzingeln.

“Du verrätst mir sofort, wie du das gemacht hast!”, befahl Greymore von oben herab.

“Genug!” Nebula zerriss die Ketten, welche sie gefangen halten sollten, als wären sie aus Pergament. “Koche in meinen Venen, Bloodbane!”, beschwor sie ihre Waffe noch während sie sich über die Brüstung in die Arena schwang. “Duck dich, Henrik!”, rief sie ihm zu.

Der Braunhaarige kauerte sich in der üblichen Stellung auf dem Boden zusammen.

Mit einem mächtigen Streich erledigte Nebula gleich drei Gegner auf einmal. Die Anderen zuckten zurück. “Hört mich an, Verräter!”, forderte sie Greymores Aufmerksamkeit ein und zeigte dabei mit ihrer Waffe auf ihn. “Ihr wollt mich, ihr sollt mich haben. Doch ich fordere ein Duell gegen Euch! Gewinnt Ihr, so könnt Ihr mit mir machen was Ihr wollt! Wenn ich gewinne, fordere ich jedoch gleiches Recht ein!”

“Bi-Bist du wahnsinnig?”, fragte Henrik entgeistert.

“Vertraue mir, ich werde gewinnen!”
 

Die Kontrahenten standen sich mit gezogenen Waffen gegenüber. Ihre Augen glühten berauscht um die Wette. Henrik sah von der Loge zu und wurde von einigen Soldaten in Schach gehalten. Nebula und Greymore schritten im Kreis umeinander, wie Katzen um den heißen Brei. “Ich wusste, dass Ihr auch den Teufel in Euch tragt”, sprach Greymore. “Ihr und Euer Bloodbane werdet schon bald mir gehören!”

“Seid Ihr bereit für einen Blechschaden, Ritter?”, reizte Nebula den Mann.

“Ihr sagtet dies schon einmal zu mir. Damals gewann ich.”

“Das war kein fairer Kampf! Ich hatte Handycap.” Dann sprang sie auf einmal rückwärts. “Verfehle niemals dein Ziel! Gastraphetes!”, rief sie und ihr schwarzes Schwert verwandelte sich in eine Armbrust.

“Ihr besitzt eine Zweite?!”, staunte der Raubritter. “Nun will ich Euch erst Recht!”

Henrik erschrak angesichts der zweiten Teufelswaffe.

“Dann bin ich an der Reihe." Greymore schlug mit der rechten Hand auf den Boden. “Erschüttere die Grundfesten der Welt, Quake!” Mit diesen Worten enthüllte der Raubritter endlich seine Teufelswaffe. Die Erde unter seiner Hand lockerte sich. Er zog ein gewaltiges schwarzes Schwert aus dem Boden.

Nebula beeindruckte das Spektakel in keinster Weise. “Gastraphetes: Nachladen!” Die schwarze Armbrust spannte sich selbst, wie von Geisterhand getrieben. Nebula feuerte einen Schuss auf Greymore ab, den er aber zurückschlagen konnte. Daraufhin stürmten beide aufeinander zu. “Nachladen! Nachladen! Nachladen!”, rief Nebula unentwegt und feuerte dabei. Greymore wehrte jeden Schuss des Gastraphetes mit seinem Schwert ab. Es war unglaublich, wie schnell er diese wuchtige Klinge zu führen wusste.

Er nutzte eine Feuerpause und schlug sein Schwert auf den Grund. “Felseruption!”, beschwor er einen Angriff herauf. Der Boden spaltete sich. Felsbrocken erhoben sich und schossen in Nebulas Richtung.

Sie konnte ihnen gerade noch ausweichen.

Die steinernen Projektile bohrten sich in die Palisade hinter ihr.

Greymore richtete sich auf und lastete das schwere Schwert seiner mächtigen Schulter auf. “Das ist die Macht meines Quake!”, posierte er selbstsicher.

Selbst mit diesem absurd großen Schwert war er schnell. Mit ihrer normalen Angriffsgeschwindigkeit, konnte Nebula gegen ihn keinen Boden gutmachen. Ihr blieb keine andere Wahl, als ein weiteres Stück aus ihrem Arsenal einzusetzen. “Wenn Ihr die Welt erschüttert, muss ich im Gegenzug den Himmel erzittern lassen!”, sprach sie. Sie hob ihre Waffe in den Himmel. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!” Ein schwarzer Blitz fuhr in sie hinein und im nächsten Moment durch die Arena. Während eines Wimpernschlages hatte sich Nebula zehn Meter über das Schlachtfeld bewegt und stand nunmehr hinter ihrem Gegner.

Greymore sah ihr noch ungläubig nach, als plötzlich sein Bein versagte.

Die Elektrizität zuckte noch immer von der verwandelten Waffe. Sie hatte die Gestalt eines Speeres angenommen. “Kettenblitz!”, verkündete Nebula den Namen ihrer Technik. Von der Spitze ihrer Waffe tropfte schwarzes Blut auf den Boden herab.

Greymore ließ seine Waffe fallen und presste beide Hände auf die klaffende Wunde.

So schnell wie Gungnir erschienen ist, verschwand es wieder. Der Speer löste sich zu einem schwarzen Äther auf und kroch zurück in Nebulas Venen. Der Kampf war für sie beendet. Greymore konnte nicht mehr stehen. Nebula ging zu ihm und hob Quake vom Boden auf. Elitär gab sie ihre Überlegenheit zu Protokoll. “Ihr seid besiegt!”

“Werdet Ihr mich jetzt töten?”, vergewisserte sich Greymore, dem allmählich die teuflischen Kräfte schwanden.

“Nein.” Nebula schwang Quake einmal durch die Luft, bevor sie mit ihm so verfuhr, wie zuvor mit jeder anderen ihrer erbeuteten Waffen. Es begann seine Form zu verlieren, doch wollte dennoch nicht gehorchen. Nebula intensivierte ihre Anstrengungen, allen zur Schau gestellt durch das rote Glühen ihrer Augen. Noch immer versagte ihr das verfluchte Ding den Gehorsam und begann, bereits teilweise absorbiert, ihren Arm mit schwarzen Scherben von innen zu durchbohren. Tapfer ertrug sie den Schmerz und versuchte weiter die Teufelswaffe unter ihre Gewalt zu bringen.
 

Halb versunken in einem pechschwarzen Morast, steckte der muskulöse Mann, welcher zuvor Greymore erschienen war. Mit aller Kraft wehrte er sich dagegen einzusinken, doch beschleunigte durch seine Mühen einzig sein unausweichliches Schicksal. Laut fluchend brachte die dämonische Gestalt mit den weiß glühenden Augen ihren Unmut zum Ausdruck, als plötzlich eine zweite Person aus dem schwarzen Schlamm auftauchte. Langsam formte die Masse einen weiblichen Körper mit blasser Haut und weißen Haaren, welcher alsbald von einem blutroten Kleid verhüllt wurde. “Gib einfach auf, Nummer 19”, sprach die Frau. “Gegen mich bist du machtlos!” Wild um sich schlagend, fluchend und seine Niederlage verneinend, wurde der hünenhafte Mann vom Schlamm verschluckt.

Zufrieden grinsend betrachtete die Frau die nun leere Stelle.

Eine mehr in meiner Sammlung, dachte sie.
 

Endlich gehorchte Quake ihren Befehlen und die Abstoßungsreaktionen klangen ab. Die Scherben aus vermeintlichem schwarzen Glas zogen sich in ihren Körper zurück und die Wunden schlossen sich. Eine weitere Waffe wurde Nebulas Arsenal hinzugefügt. Gleichgültig, sah sie sich nach dieser Tortur zu Greymore um. “Ihr solltet diese Wunde besser versorgen lassen”, beratschlagte sie ihn in eiskalter Erhabenheit und deutete dabei auf sein verletztes Bein, bevor sie sich zu Henrik begab.

Dieser wurde noch immer von den Soldaten gefangen gehalten.

“Macht den Jungen kalt!”, befahl Greymore.

Aber keiner seiner Soldaten gehorchte.

“Gehorcht, ihr Nichtsnutze!”

“Das sind Eure eigenen Regeln!” Nebula würdigte Greymore keines Blickes. “Sie befolgen sie nur. Der Gewinner bekommt alles. Der Verlierer nichts. Eure Männer gehören nun mir!”

Greymore spürte die dunkle Macht des Quake nicht mehr. Was immer Nebula getan hatte, er konnte seine Waffe nicht erneut beschwören. Er musste sie sich irgendwie zurückholen! “Wenn Ihr nicht für mich sein wollt, Liebste, seid Ihr gegen mich!” Er griff in seinen Stiefel und holte das Messer hervor, welches er immer dort zu verbergen pflegte. Er warf es auf die Frau, die er einst liebte, doch sie fing es auf, ohne hinzusehen, drehte sich um und versenkte es in seinem noch unverletzten Bein. Greymore konnte sich nicht mehr aufrecht halten und fiel auf die Seite.

Nebula bestieg die Loge und sammelte den verstört schauenden Schmied ein. “Komm mit!” Dann sprach sie zu den Soldaten. “Macht mit dem da unten, was ihr wollt!” Sie zeigte auf den verletzten Raubritter.

Sie und Henrik verließen die Arena.

Greymores ehemalige Untergebenen umzingelten ihn mit gezogenen Waffen.

Nebula und Henrik verließen den Schauplatz des Kampfes. Die Blondine schien das Schicksal ihres einstigen Verlobten egal zu sein. Innerlich trauerte sie jedoch um den Mann, der er einst war. “Es tut mir leid, mein Ritter”, flüsterte sie.

“H-Hast du etwas gesagt?”, fragte Henrik.

Aber Nebula schwieg.
 

Ihre eiskalten Gliedmaßen weckten die kleine Annemarie aus ihrem Schlaf.

Es war noch früh am Morgen und sie fühlte sich noch immer müde. Die Nacht war kurz und kalt gewesen. Außer einer alten, lumpigen Decke, besaß das Mädchen nichts, das es hätte wärmen können. Ihr Buch konnte sie nicht vor der Kälte schützen, egal wie sehr sie sich an ihm kuschelte. Zwar war es Sommer, doch in der Nacht fiel die Temperatur. Die Füße des Mädchens hatten nicht mehr unter die Decke gepasst. Deshalb waren sie nun kalt und kribbelten. Annemarie musste sich schleunigst wärmen, wenn sie keine Zehe verlieren wollte. Sie entdeckte denSack voller Münzen neben sich.

“H-E-N-R-I-K”, stammelte sie vor sich hin.

Sie begab sich auf die Suche nach Wärme. Das Kribbeln wurde schnell zu einem Schmerz. Der Geldbeutel in der Hand des zerlumpten Mädchens lenkte von ihrem Buch ab und zog alle Blicke auf sich. Sie stieß die hölzerne Doppeltür zum einzigen Gasthaus des Dorfes auf und trat ein. Links vom Eingang war ein Schalter mit einem skeptisch drein blickenden Mann. Er hatte eine Halbglatze und einen hufeisenförmigen Bart. “Was kann ich denn für dich tun, Kleine?”, fragte er das bitterlich zitternde Kind.

“Ich möchte mich nur ans Feuer setzen”, versicherte das Mädchen. “I-Ich kann Euch auch Geld dafür geben.”

“Wenn du nur am Feuer sitzen willst, dann wird das nicht notwendig sein.”

Das Mädchen ging zum Kamin und setzte sich mit ausgestreckten Beinen davor. So verharrte es eine Weile, bis der Schmerz nachließ und seine Beine wieder eine normale Temperatur erreichten. Dann erhob sich die Kleine wieder, bedankte sich und verließ das Gasthaus. Unter den Blicken des Mannes am Empfang öffnete sie die Doppeltür und ging wieder hinaus ins Freie.

Gegenüber entdeckte sie eine Bäckerei. Der Duft der frischen Brote lockte sie hinein, wie Licht in der Nacht die Motten anzog. “Ein Brötchen, bitte!”, bestellte sie bei dem Bäckermeister. “Ich kann sie bezahlen.”

Der sah sich die abgerissenen Kleider des Mädchens an und wies sie zurück. “So wie du aussiehst, bekommst du hier nichts!”

“Aber ich habe Geld!”

“Weiß der Teufel woher!”

“Bitte! Ich habe solchen Hunger!”

“Na schön! Aber komm bloß nicht wieder!” Der Bäcker erfüllte Annemarie widerwillig ihren Wunsch. Sie legte ihm eine Münzen hin, ohne zu wissen, wie viel diese wert war. Noch während sie die Bäckerei verließ, schlang Annemarie das Brötchen hinunter. Als plötzlich zwei Männer vor ihr auftauchten, blieb ihr fast der Bissen im Hals stecken.

“Wen haben wir denn da?”, fragte einer zynisch. “Das Lumpenmädchen mit dem Goldbeutel!” Sie mussten sie beobachtet haben.
 

Nebula und Henrik waren auf dem Weg zurück in das Dorf, in dem sie gefangen genommen wurden. Sie wollten den Menschen sagen, dass sie den Raubritter Greymore nicht mehr zu fürchten hatten. Und dass sie keinen Groll gegen sie hegten. Doch Henrik strafte Nebula mit Stille. Das Schweigen ihres sonst so redseligen Begleiters machte ihr schwer zu schaffen. “Willst du nie wieder mit mir reden?”, brach sie diese Stille.

“Du hast ihn zum Tode verurteilt!”, empörte sich Henrik.

“Das war keine leichtfertige Entscheidung!”, verteidigte sich Nebula. “Seine Männer gehorchen nun mir”, sprach sie weiter wie ein Plädoyer in eigener Sache. “Ich habe ihnen aufgetragen, die Sklaven freizulassen und künftig die Menschen zu beschützen.”

Der Eingang des Dorfes kam immer näher.

“Es ist trotzdem, als hättest du ihn selbst getötet!”, sprach Henrik bedrückt.

Gemeinsam durchschritten sie das Tor.

“Ich bereute es sofort. Er war immerhin-”

Plötzlich kam ihnen ein Mädchen entgegen gerannt. Es hatte ein Buch mit dem linken Arm an seinen Brustkorb gepresst und hielt einen Geldbeutel in der rechten Hand. Zwei Männer verfolgten es. Sie hatten es offenbar auf ihr Gold abgesehen.

Henrik erkannte das Kind sofort. Es war Annemarie. “Hey!”, rief er den Männern zu. “Lasst sie gefälligst in Ruhe!” Er zog sein Schwert und eilte dem Kind ungewohnt mutig zu Hilfe. Annemarie versteckte sich hinter Henrik, während er die Männer bedrohte. Die Verfolger schreckten vor der gezückten Klinge zurück und ließen von ihrem Opfer ab. “U-Und k-kommt bloß nicht wieder zurück!”, rief er ihnen nach.

“Danke, Henrik!”, zeigte Annemarie ihre Verbundenheit.

“Wer ist das?”, fragte Nebula misstrauisch.

“S-Sie hat mir auf dem Fest aus der Hand gelesen.”

“Und sie hätte dir nicht sagen können, dass dir einer eine überziehen wird?”

Henrik blickte traurig in Annemaries unschuldiges Gesicht. “D-Das Mädchen hat kein Zuhause. Sie weiß nicht, wer ihre Eltern sind. U-Und offenbar hat sie auch keine Erinnerung an ihre V-Vergangenheit.” Er trat näher zu Nebula und verneigte sich mit zusammengefalteten Händen über seinem Haupt. “Daher bitte ich dich inständig, dass wir sie mitnehmen.”

“Also gut”, ließ sich Nebula erweichen. Eine Geste der Menschlichkeit würde vielleicht einen Teil von Henriks verloren gegangenem Vertrauen wiederherstellen.

Sofort strahlte Annemarie vor Freude und umarmte auch Nebula, welche sich bedrängt fühlte und das Kind am liebsten von sich stoßen wollte.

“Sag mal, w-warum schleppst du immer dieses Buch mit dir herum?”, wollte Henrik von der Kleinen wissen.

Annemarie senkte den Blick auf den Gegenstand zwischen ihrem Körper und ihrem Arm. “Ich weiß es nicht.”

Nebula beäugte das Kind skeptisch.

Bevor sie weiterreisen konnten, gab es noch einiges zu erledigen. Die Söldnerin berichtete der Dorfältesten von ihrem Sieg über Greymore und dass sie nun frei seien. Als alles geregelt schien, die Gruppe ihre Vorräte aufgefüllt und Annemarie ordentliche Kleider und Schuhe gekauft waren, verließ die Gruppe das Dorf und setzte die Reise nach Schleierfirst fort.

Todbringende Träume


 

🌢
 

Nachdem Annemarie zu ihnen stieß, hatte Henrik sein eigenes Zelt bekommen. Wenigstens musste er jetzt nicht mehr zusammengekauert hinter einer Mauer seiner sieben Sachen Schutz suchen, stets in Furcht von Nebulas nächtlichen Waldarbeiten entzwei gesägt zu werden. Annemarie musste ihm auch nicht leid tun, denn sie schlief wie ein Murmeltier. Henrik konnte so ausgeschlafen als Erster aufstehen. Jenen Morgen schien die Sonne zaghaft zwischen den lila schimmernden Schäfchenwolken hindurch. Es war keine Zeit, sich daran zu erfreuen. Henrik musste das Frühstück vorbereiten. Würde Nebula erwachen und das Frühstück war nicht aufgetischt, zöge dies die furchtbarste Konsequenz nach sich, die man sich auch nur vorstellen konnte: Sie würde es selbst versuchen.

Und das wäre schlimmer als der Tod!

Das wollte er unter allen Umständen verhindern.

Die arme Annemarie!

Während er die nötigen Vorbereitungen für das Sonntagsfrühstück mitten in der Pampa traf, kam plötzlich ein fremder Mann geritten. Er hatte eine Tasche bei sich und wirkte auf ihn ziemlich offiziell. “W-Wie kann ich Euch behilflich sein”, fragte Henrik den Fremden, als dieser von seinem Ross abstieg.

“Ich habe einen Brief für eine gewisse Nebula”, stammelte der Mann vor sich hin.

“N-Nun ruht Euch doch erst einmal aus!”

“Keine Zeit! Verweilt die gnädige Dame noch in ihren Gemächern?”

"Gemächer?!” Henrik musste schmunzeln. “D-Das ist ein Zelt.... S-Soll ich sie wecken?”

“Das wird nicht notwendig sein. Gebt ihr einfach diesen Brief.” Der Fremde griff in seine Tasche und holte ein zusammengerolltes Blatt heraus, das mit einem Wachssiegel verschlossen war. “Ich muss an Euren Anstand appellieren. Wahrt das Postgeheimnis!” Er übergab Henrik das Schriftstück. “Euch sei gedankt!”

“Ich tue ihn nur schnell zur Seite”, sagte Henrik und legte den Brief neben dem Beutel mit den Vorräten ab. “W-Was bin ich Euch für Eure Mühen schuldig?”, fragte er.

“Nichts! Mein Auftraggeber hat mich bereits im Voraus bezahlt.” Der Bote schwang sich wieder auf sein Pferd und ritt von Dannen.

Henrik fehlte die Zeit, sich zu fragen, wie der Mann sie mitten im Nirgendwo aufgespürt hatte. Stattdessen breitete er eine Decke auf dem Boden aus. Drei Teller stellte er bereit und legte je ein Stück Brot darauf. Dann warf er etwas Schinken in eine eiserne Pfanne und ließ ihn über dem Lagerfeuer garen. Gut angebräunt, gab er den Schinken zum Brot hinzu. Ein Apfel für jeden sollte es noch sein, denn Obst ist schließlich gesund. Henrik betrübte noch immer der Gedanke an die Ereignisse von vor einer Woche. Als er das Obst in den Händen hielt, fragte er sich, ob er sich mit ihm ablenken könnte. Ihm kam eine absurde Idee. Sogleich probierte er zu jonglieren. Es funktionierte überraschend gut. Die drei Äpfel wechselten mit Leichtigkeit die Hand.

Genau in diesem ertönte ein lautes Gähnen aus dem Zelt, gefolgt von Nebulas Stimme. “Ich rieche Fleisch!”, verlautete sie fröhlich.

Erschrocken geriet Henrik aus dem Takt und der dritte Apfel plumpste ihm auf den Kopf. Er ging einen Schritt rückwärts und trat dabei aus Versehen, ohne es zu merken, auf den Brief, den der Bote zuvor überbracht hatte. “Verdammt!”, fluchte er über den unerwarteten Kopfschmerz aufgrund des Fallobst. Leider war es keine Frucht der Erkenntnis, die ihm das Verständnis der Naturgesetze offenbarte.

Hastig sammelte der Braunhaarige die Äpfel wieder ein.

Nebula schaute aus dem Zelt und lachte beim Anblick des umher wuselnden Jungen. “Hast du Spaß?” Doch dann bemerkte sie den Brief, welcher offenbar achtlos auf den Boden geworfen wurde. Sie erwartete seit längerem ein wichtiges Dokument. “Was soll das?”, fragte sie daraufhin misstrauisch.

“Was meinst du?” Henrik war perplex.

Die Blondine verließ das Zelt, ging zu ihrer Post und hob das Schriftstück auf. “Das hier!” Sie begutachtete den Brief und zeigte ihm dann das gebrochene Siegel.

“I-Ich.... D-Da ist wohl ein kleines M-Malör passiert.”

“Malör?!”, fragte Nebula ungehalten wegen der vermeintlichen Verletzung des Postgeheimnisses. Sie las den Brief, ohne ein Wort dazu zu verlieren. Doch ihr Gesicht sprach Bände.

“Du hast ihn auch gelesen, oder?!”, stellte sie ihn anschließend zur Rede.

“Nein, ich habe alberte doch nur herum und-”, versuchte er sich zu erklären.

“Ich will deine Ausreden nicht hören!” Sie wollte ausholen und ihm eine Ohrfeige verpassen, tat es dann aber doch nicht. “Wenn du dich nochmal an meinen Sachen vergehst-"

“A-aber...”

“Dieben hackt man die Hand ab!” Sie schien sich etwas zu beruhigen, nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte. "Fein! Dann weißt du ja nun Bescheid!”, fauchte sie ihn an.

Dabei wusste er rein gar nichts!

“Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Ich kann doch gar nicht-”

“Spare es dir einfach! Ich will kein Wort mehr hören!”

Geweckt von lauten Stimmen, streckte Annemarie nun auch ihren Kopf aus dem Zelt. “Was ist denn los?”, fragte sie ganz verschlafen, doch bekam keine Antwort mehr.

Die drei nahmen wenig später ihr Frühstück ein. Das Missverständnis hatte die Stimmung vergiftet. Der Schmied und die Söldnerin schlagen ihre Portion schweigend herunter. Aus dem beschaulichen Sonntagsessen war eine Farce geworden.

Annemarie konnte sich nur wundern, was zwischen ihnen vorgefallen war.
 

Auf donnernden Hufen schossen die Pferde einer Kutsche über die unebene Gebirgsstraße. Sie zogen schwere Last. Zusätzlich einen dicken Mann, welcher die Tiere unentwegt mit der Peitsche antrieb. Mit dem Fuhrwerk kurz davor zu bersten, raste er, den ehrgeizigen Zeitplan fest im Auge. Die unzureichend gesicherte Ladung sprang umher, wie die Flöhe auf dem Rücken eines räudigen Straßenköters. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch keine der Kisten eingebüßt hatte. “Schneller, ihr blöden Viecher!”, röhrte er seinen Tieren zwischen den Peitschenhieben zu.

Hätte ihn heute Morgen kein inkompetenter Zollbeamter angehalten, stünde er nicht unter Zeitdruck. Sein Wagen, eine Gefahr für den Straßenverkehr… So ein Unsinn!, dachte er.

Die Sonne machte dem Fahrer zu schaffen. Er griff mit einer Hand nach seinem Trinkbeutel, den er kaum erreichen konnte, und war so kurz abgelenkt. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er die scharfe Kurve vor sich und lenkte die Pferde am Abgrund vorbei. Das hintere Rad der Kutsche verlor kurz den Bodenkontakt und einige Steine fielen in den Grund. Die Kurve hatte er noch rechtzeitig genommen, aber den drei Gestalten, welche plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht waren, vermochte er aber nicht mehr auszuweichen. “Aus dem Weg!”, brüllte er aus Leibeskräften.

Zwei der Fußgänger konnten noch ausweichen, doch der schwere Rucksack des dritten wurde erfasst und er verlor den Halt. Er stürzte und rollte den steilen Abhang herunter.

Der Kutscher fuhr einfach weiter. Sein Termin war ihm wichtiger als das Schicksal eines Mannes, den er gar nicht kannte.
 

Ihr Streit war Nebula plötzlich vollkommen egal, als ein viel zu schnelles Gefährt Henrik streifte und er in den Grund fiel. Sofort sah sie hinunter und entdeckte ihn etwa sechs Meter unterhalb des Passes auf einem Vorsprung liegend. Er lid Schmerzen und der Inhalt seines Gepäcks lag auf dem Boden verstreut. Aber er war noch am Leben. Ohne zu zögern schlitterte die Söldnerin selbst den steilen Hang hinunter.

Annemarie rief ihr nach, sobald sie sich von dem Schreck erholt hatte, um ein Haar von Pferden zertrampelt worden zu sein.

“Hole Hilfe!”, forderte Nebula das Mädchen auf. “Und sage ihnen, wir brauchen Seile und einen Heiler!”

“Alles klar!”, bestätigte Annemarie.

Das Mädchen machte sich auf den Weg.

Nebula wusste, dass Schleierfirst nicht mehr weit sein konnte. “Henrik, halte durch!” Vielleicht könnte sie mit ihm wieder hinauf auf den Weg springen. Doch sie wusste nicht, wie schwer er verletzt war und wollte das Risiko nicht eingehen.

Der junge Schmied öffnete seine Augen. “Mir tut alles weh!”, sagte er.

“Schmerz ist gut! Solange es noch weh tut, stirbst du nicht!”

“W-Was?! St-Sterben?”

Nebula untersuchte sein Bein und diagnostizierte eine Knieverletzung. “Du hättest auf den Kopf fallen sollen. Da kann bei dir nicht viel kaputt gehen!”

“W-Wieso sagst du immer so gemeine Sachen zu mir?”

Nebula zuckte zurück und wurde rot. “W-Weil… du… mir…” Dann besann sie sich ihrer selbst zurück. “Ach, halte die Klappe!”

“B-Bist du sauer auf mich, wegen dem Brief?”

“Ziemlich!”

“W-Wieso? Stand etwas peinliches drin?”

“Du hast es doch gelesen!”

“Nein.” Henrik richtete sich leicht auf. “D-Das versuche ich die ganze Zeit zu sagen. I-Ich kann den Brief nicht gelesen haben!”

“Aber das Siegel!”

“Ich bin draufgetreten”, gestand Henrik ein.

“Das kann nicht dein Ernst sein!”

“Ich kann nicht lesen, verdammt!!”, schrie Henrik aus Leibeskräften.

“Du kannst nicht lesen?”, hakte sie ungläubig nach. Aber natürlich! Sie durfte nicht außer Acht lassen, dass er ein Gewöhnlicher war.

“Nein. Ist das so ungewöhnlich für einen einfachen Handwerker? M-Meine Eltern hatten nicht das Geld, mich auch noch auf eine Schule zu schicken. Das Lehrgeld für meinen Meister musste ausreichen. E-Ein bisschen rechnen habe ich mir selbst beigebracht.” Henrik spürte eine Schmerzwelle in seinem Bein und lehnte sich wieder zurück.

“Und du?”, fragte Nebula vorsichtig. “Bist du immer noch enttäuscht von mir?”

“Wegen Greymore? Ja. Wieso hast du ihn zum Tode verdammt?”

“Er... ich... es ist kompliziert.”

“Kompliziert?”

“Man, frag nicht so blöd!”, entrüstete sich die Blondine. “Muss ich dir alles haarklein Vorkauen? Er... war mein Verlobter.”

“ER war dein Ver-ver-verlobter?!”

“Ich sollte heiraten und er war der einzige Mann, mit dem ich es aushalten konnte. Und in der Nacht vor der Hochzeit... Den Rest kennst du bereits. Im Rachewahn wurde er zum geächteten Mörder. Irgendwann muss ihm Quake in die Hände gefallen sein. Wäre ich ihm nur früher gegenüber getreten.” Ein ironischer Unterton schlich sich in ihre Stimme ein. “Aber was dann? Überraschung Liebster, ich bin auferstanden!”

Henrik spürte, dass sie den Schmerz an ihre Erinnerung zu verbergen versuchte.

“Er hat das alles wegen mir getan. Ich habe mich verantwortlich gefühlt.” Dann sah sie nach unten. “A-Außerdem wollte ich dich beschützen!”

Henrik versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben in seiner Kehle stecken.

So schwiegen sie sich stattdessen an, bis irgendwann das Ende eines Seiles zu ihnen hinuntergelassen wurde.
 

Als er nach langem und tiefem Schlaf endlich wieder zu sich kam, lag Henrik in einem Bett und starrte die Decke an. Er rührte seinen Arm. Das funktionierte noch. Dann wackelte er mit den Zehen. Auch das klappte, wie es sollte. Es schien alles in Ordnung zu sein.

“Henrik!”, tönte eine fröhliche Kinderstimme. Annemarie sprang ihn förmlich an und umarmte ihn, dass ihm das Atmen schwer fiel.

Henrik versuchte, sich aufzusetzen, nachdem der Rotschopf von ihm abgelassen hatte. Er spürte einen Widerstand. Er sah zur Seite und entdeckte Nebula auf einem Hocker sitzend, ihren Kopf auf die Decke gelegt. Sie schlief tief und fest.

“Nebula?”, wunderte er sich. “Sie schläft?” So leise, fügte er in Gedanken an.

“Du hast über Schmerzen geklagt”, informierte die Kleine. “Der Trank des Heilers ließ dich einen Tag lang schlafen.”

Die Tür öffnete sich und ein Mann trat ein. “Oh, Ihr seid wach!”, sprach er. Es war jener Arzt, der sich um Henrik gekümmert hatte. “Schlaf ist die beste Medizin!”

Kaum an das Unglück erinnert, verlor der Trank an Kraft und Henriks Bein schmerzte.

“Sie hat die ganze Zeit deine Hand gehalten”, verriet Annemarie.

“W-Wirklich?” Henrik war überrascht.

“Ihr gehört ja auch zusammen”, strahlte das Kind.

“Eure Frau hat sich einfach nicht von Eurem Bett wegbewegen lassen”, missverstand der Heiler. “Nicht mal zum Essen ist sie von Eurer Seite gewichen. Wahrlich ein treues Weib!”

“N-Na-Na-Nein! So ist das nicht. Wir sind nur-”

“Und schön ist sie auch noch! Junge, du bist vom Glück geküsst.”

“Aber das-”

“Schssss!” Annemarie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. “Du weckst sie noch!”
 

🌢
 

Eine dunkelhaarige Dirne in freizügigen Kleidern, versuchte einen jungen Mann in die Gasse zu locken. Seine Jugend und seine Unerfahrenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben und er erlag ihren Reizen ohne jede Chance auf Gegenwehr. Es war ein leichtes Spiel für sie. “Komm schon, mein Süßer!”, sagte sie. “Ich kann dir Dinge zeigen, die kannst du dir gar nicht vorstellen! Ich bin nicht billig, aber jedes Goldstück wert!” Seine Jugend störte sie nicht, sie wollte neue Kunden akquirieren. Und er sah nicht aus, wie das Kind von armen Eltern. Dann packte sie seinen Arm und zog ihn in die finstere Passage.

Tief in der Schwärze, machte sich die Dirne über den Jungen her.
 

Nebula musste den Kopf frei bekommen. Sie schlenderte über den Marktplatz. Die kalte Morgenluft, gemischt mit einem sanften Hauch von breitgetretenen Pferdeexkrementen und auf die Straße geworfenen Hausabfällen, breitete sich mit jedem Atemzug in ihren Lungen aus. Sie hoffte, sie könnte ihre hitzigen Gedanken abkühlen.

Der Schrecken saß noch immer tief.

Sie fühlte sich auf einmal so beobachtet.

“Nebula!”, rief es augenblicklich hinter ihr. "Hallo!"

Es war nur Annemarie, welche derart fröhlich strahlte, dass sie Tschernobyl vor Neid erblassen lassen könnte. Sie musste ihr heimlich hinterher gelaufen sein. Wie fast immer führte sie das Buch mit dem blauen Einband mit sich.

Nebula wandte sich dem Mädchen zu.

Als Annemarie sie erreichte, schlug sie ihre Arme um ihre Hüfte und presste ihren Kopf gegen ihre Brust. “Ich habe dich gefunden!”

Nebula streichelte Annamarie über die orange Haartracht. “Hast du mich denn gesucht?”, fragte sie sie. “Ich brauchte frische Luft, um den Kopf frei zu bekommen.”

“Weil du in Henrik verliebt bist?”

Schockiert schob die Blonde das Kind von sich weg. “N-Na-Na-Nein! So ist das nicht.”

“Genau das Gleiche hat Henrik auch gesagt!”, antwortete Annemarie in ihrer kindlich unschuldigen Art.

Nebula schwieg.

“Gibst du mir deine Hand? Dann kann ich für Klarheit sorgen.”

“Wenn es sein muss...” Sie suchten sich ein stilles Örtchen und setzten sich auf eine Bank. Annemarie legte ihr Buch beiseite und Nebula reichte ihr die linke Hand. Gerade als das Mädchen zu lesen beginnen wollte, hallte ein hysterisches Kreischen durch die Gassen. Nebula entzog ihre Hand. “Annemarie, geh zurück zur Taverne!”, befahl sie ihr. Als sie nicht gehen wollte, wiederholte die Blondine ihre Anweisung. Danach zog sie ihr Schwert und stürmte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
 

Angsterfüllt kam ein junger Mann rückwärts aus der Gasse gestolpert.

Sein Gürtel hing lose hinunter und seine Kleidung war unordentlich.

Der Schock entartete seine Gesichtzüge. Er fiel über eine lose Schrittplatte und landete mit dem Gesäß in den unappetitlichen Mix aus Ausscheidungen und Müll, aus dem sich der Strassenschlamm zusammensetzte. Mit den Händen stützte er sich ab. Tief bohrte er dabei seine Finger in den Dreck hinein. Dann erhob er sich wieder, wandte sich von der Gasse ab und wollte davon rennen, als er fast mit einer bewaffneten Person unter einer Kutte zusammenstieß.

Der Fremde packte ihn. “Was ist hier los?”, fragte eine ernste Stimme. Der feste Griff des Fremden erlaubte nicht die geringste Bewegung. “Du brauchst keine Angst zu haben!” Die Gestalt nahm ihre Kapuze herunter und enthüllte ihre Identität. Zu des Jungen Überraschung handelte sich um ein Mädchen. “Mein Name ist Nebula”, sagte sie. Dann fiel ihr Blick auf die blutbefleckte Kleidung. “Was ist geschehen, Junge?”

“Da!”, stotterte er verängstigt und zeigte mit zitterndem Finger in die Schwärze. “Mord!”

Auch die Stadtwache war auf das Geschehen aufmerksam geworden und mühte sich mit den Gaffern ab. Nebula ließ den verängstigten Halbstarken los und stürmte noch vor den Wachen in die Seitenstraße. Als die Männer ihr folgten, fanden sie sie kauernd vor dem abscheulich zugerichteten Kadaver einer Dirne.

“Was ist hier geschehen?”, fragte einer der Männer.

Nebula stand auf und trat beiseite. “Jemand wurde ermordet.”

Die Männer meinten schon viel gesehn zu haben, doch die sechsunddreißig Stichwunden verteilt über den ganzen Körper der toten Frau und das ganze Blut aus der bis zum Knochen aufgeschlitzten Kehle, schien zu viel für sie zu sein. Einer der Wächter musste sich sogar an eine Hauswand übergeben.

Anstelle auf ihre Fragen zu antworten, stellten sie Nebula und den Jungen unter Arrest.
 

Es war ein düsterer und muffiger Raum. Das Mauerwerk bestand aus großen und schweren Steinblöcken, nur durchbrochen von einem vergitterten Fenster. Nebula und ein Mann von der Stadtwache saßen sich an einem massiven Tisch gegenüber. An der Tür stand ein weiterer Mann. Es missfiel der Blondine, immer wieder die gleichen Fragen beantworten zu müssen. Sie stützte ihren Kopf gelangweilt auf ihrer linken Hand ab und klopfte mit den Fingerkuppen der rechten auf den Tisch.

Der Mann von der Stadtwache empörte sich darüber. “Nehmt Ihr das etwa nicht ernst?!”, fragte er ungehalten.

“Meine Antworten werden sich nicht ändern, egal wie oft Ihr fragt”, stellte Nebula klar.

“Also schön, ein letztes Mal.” Der Mann sah sein Gegenüber mit den Augen rollen. “Ihr habt jemanden schreien gehört und seid sofort aufgebrochen, um nachzusehen. Richtig?”

“Ja... wie bei den letzten Malen auch, als Ihr fragtet.”

“Und dort angekommen, ist Euch der Junge zugelaufen.”

“Ja!”

“Und dann seid Ihr in die Gasse gegangen und habt die Tote gefunden?”

“Ja, verdammt!” Sie erhob sich von ihrem Stuhl und schlug die Handflächen auf die Tischplatte. “Genug der Scharade! Ich will mit dem Kommandanten der Stadtwache sprechen!”. verlangte sie. “Mit Euch Tunichtgut vergeude ich keine Zeit mehr!” Sie setzte sich wieder hin, verschränkte die Arme demonstrativ und sprach kein Wort mehr, sodass man keine andere Wahl hatte, als ihrem Willen endlich Folge zu leisteten.
 

“Wo bleibt sie nur?”, fragte Annemarie ungeduldig. Sie saß auf einem Stuhl und ihre Beine schlugen im Wechsel auf und ab. Es fiel ihr schwer, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, welches aufgeschlagen in ihren Händen lag.

Seitdem Nebula sie weggeschickt hatte, war schon einige Zeit verstrichen.

“Ich denke, dass a-alles gut wird”, versicherte Henrik aus dem Bett heraus.

“Aber da war dieser Schrei!”

“Das wird sich bestimmt alles aufklären!”

“Wirklich?”

“I-Ich weiß, sie kommt bestimmt gleich zurück!”

Aber diese Antwort stellte das Mädchen nicht zufrieden. Ihre Beine schlugen noch unregelmäßiger in die Luft.
 

Der Kommandant der Wache kam in den mittelalterlichen Verhörraum hinein und trat Nebula gegenüber. Seine Rüstung unterschied ihn von den anderen, war aber dennoch nur gewöhnliche milizionäre Ausstattung.

Nebula schaute an seiner imposanten Erscheinung hinauf. “Euch zu erreichen, ist nicht so einfach”, eröffnete sie.

“Männer, Eure Dienste werden hier nicht mehr gebraucht”, wies er seine Leute an.

Die Wachen verließen die Zelle und schlossen die Tür.

“Ihr wisst es wahrscheinlich nicht, aber seit etwa sechs Monaten treibt sich ein Mörder rum. Wir haben keine Spuren und keinen Verdächtigen.”

“Aus diesem Grund kassiert Ihr also jeden gleich ein, der eine Leiche findet?”

“Die Stimmung ist aufgeheizt dieser Tage.”

Nebula warf dem Kommandanten einen skeptischen Blick zu. “Wollt Ihr mir nun die gleichen sinnbefreiten Fragen stellen?”

“Keineswegs.”

“Der Junge war Zeuge. Wenn überhaupt, dann hat er etwas gesehen und nicht ich.”

“Aus dem bekommt man nichts heraus. Der ist vollkommen hinüber.”

“Hinüber?!” Seine Formulierung missfiel ihr. ”Führt mich zu ihm!”
 

Wie ein kleines Häufchen Elend kauerte der junge Mann neben der von Ketten gehaltenen Pritsche seiner Zelle am kalten Stein der Wand und zitterte wie Espenlaub. Sein Körper sprach Bände über die bei ihm ausprobierten Verhörmethoden.

Der Kommandant seufzte. “Er heißt Henning. Mehr haben wir nicht herausbekommen.”

Nebula war zu entsetzt, um etwas zu sagen.

“Wie Ihr seht, spricht er nicht.”

“So geht Ihr mit Euren Zeugen um?”, entrüstete sich Nebula.

“Da bleibt er solange drin, bis er endlich spricht.”

“Ihr seid von Sinnen!” Sie starrte ihm fordernd ins Antlitz. “So spricht er niemals! Ich werde ihn befragen. Aber nicht hier!”

Der Kommandant rief eine der Kerkerwachen zurück und befahl den Zeugen mitzunehmen. Solle sich das Weib ruhig lächerlich machen. Was hatte er denn schon zu verlieren? Sie brachten ihn in den Verhörraum, in dem Nebula zuvor stundenlang befragt wurde. Kein schöner Ort, aber besser als die rattenversäuchte Zelle. Nebula und der Zeuge saßen sich gegenüber. Er zitterte noch immer. Nebula umfasste seine Hände und sah ihm in die Augen. “Henning”, sprach sie seinen Namen.

Der Junge beruhigte sich, als er die Wärme ihrer Hände spürte.

“Willst du mir sagen, was du gesehen hast?”

“Das will ich.”

Der Kommandant kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein bisschen Zärtlichkeit vermochte, was stundenlange Verhöre nicht geschafft hatten? Vielleicht sollte ich künftig mein Weib die Zeugen verhören lassen, bespaßte er sich in Gedanken.

“Was ist passiert?”

“Ich war auf dem Weg, einige Besorgungen für Mutter zu tätigen. Dann kam ich durch diese Straße. Vater hat mich immer vor dem Gesindel gewarnt, das sich in diesen dunklen Gassen herumtreibt. Plötzlich hat mich jemand in die Gasse gezogen. Es war diese Frau.”

“Die, die getötet wurde?”

“Ja! Sie war eine... Hure. Sie hat mich... und mich... und dann...”

Nebula spürte, wie das Zittern seiner Hände wieder einsetzte. “Wie starb sie?”

“Plötzlich ist sie einfach umgefallen. Sah fast aus, als ob sie schläft.”

“Aber sie war übersät mit Wunden, als ich sie fand.”

“Ja. Das ist... einfach so passiert. Plötzlich zuckte sie, schrie und begann zu bluten. Als hätte sie jemand erdolcht. Ich... bin dann einfach nur gerannt.”

Nebula erhob sich und ging kommentarlos zur Tür, wo der Kommandant der Wache bereits mit verschränkten Armen auf sie wartete.

“Ein unsichtbarer Mörder?!”, zweifelte er. “Das ist doch Humbug! Gibt es doch gar nicht!”

“Es gibt Dinge, die könnt Ihr Euch nicht einmal vorstellen.”

“Und was meint Ihr, soll ich jetzt mit ihm tun? So eine fadenscheinige Ausrede wollt Ihr wirklich glauben. Ein unsichtbarer Mörder schläfert seine Opfer ein und sticht sie ab?!”

“Habt Ihr den Jungen nicht gesehen? Er steht vollkommen unter Schock.” Sie sahen zu dem jungen Mann. Kaum das Nebula seine Hände losgelassen hatte, zitterte er schon wieder. “Egal ob Wahrheit oder Trug, er glaubt, was er gesehen hat.”

“Wenn der Mörder wirklich unsichtbar ist, erklärt das, warum wir nie etwas finden.” Der Kommandant rieb mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kinn.

“Na also, Ihr zeigt etwas Vernunft.”

“Ach was rede ich da?! Soll die Wache jetzt den Unsichtbaren jagen?”

“Das werde ich für Euch übernehmen.Doch gebt Acht! Meine Dienste sind nicht billig!”
 

Nebula machte sich auf den Rückweg zur Taverne. Als sie endlich wieder da war, freute dies alle. Im Zimmer von Henrik waren neben ihm selbst auch Annemarie und Matthew, der jüngere der Brüder, welche die Taverne besaßen, in der Nebula und ihre Begleiter untergekommen waren, anwesend.

“W-Wo bist du gewesen?”, fragte Henrik.

“Annemarie, gehe spielen!”, befahl Nebula.

“Och nö!”, maulte die Kleine, aber gehorchte.

“Ich habe eine Leiche gefunden”, sagte Nebula, als Annemarie die Tür hinter sich verschloss. “Die Stadtwache hat mich stundenlang verhört.” Sie wandte sich Matthew zu. “Ist vor sechs Monaten etwas vorgefallen?”, fragte ihn Nebula anschließend.

“Wieso fragt ihr?”, wollte er wissen.

“Scheinbar treibt sich seit geraumer Zeit ein Mörder herum, den niemand fassen kann.”

“Vor sechs Monaten... starb die Frau meines Bruders.”

“Ermordet?”

“Ja. Von einem wütenden Mob.”

“Von einem Mob?”

“Mein Bruder war ein paar Tage geschäftlich unterwegs. Seine Frau Valeria war nicht sehr beliebt. Man fürchtete sie, da sie sich mit Kräutern auskannte. Eines Tages stand ein aufgebrachter Mob vor ihrem Haus. Jemand hatte sie als Hexe denunziert und diese geistlosen fanatischen Trottel haben es ohne zu fragen geschluckt. Ihnen ist es nicht gelungen, ins Haus einzudringen, also haben sie es über ihrem Kopf angezündet.”

“Das ist barbarisch!”

Alle waren sich bewusst, was er implizierte.

Doch keiner traute sich, das Wort zu ergreifen.
 

🌢
 

Ein paar ereignislose Tage verging.

Henriks verletzte Kniescheibe heilte gut in der Schiene. Aber er würde noch eine Weile ans Bett gefesselt sein. Und es war mühsam, zum Abort zu humpeln.

Der ältere der Brüder machte sich indes rar. Marcus kam oft erst spät in der Nacht zurück. Matthew konnte nur ahnen, wo er sich dieses Mal herum trieb. Wieder hielten ihn keine zehn Pferde im Haus. Erst am frühen Morgen kehrte er wieder ein. Matthew wusste genau, was seinen Bruder nachts auf den Beinen hielt und stellte ihn am Morgen zur Rede. “Hast du wieder gesoffen?!”, fragte er.

Doch Marcus zeigte sich wenig kooperativ. “Das geht dich gar nichts an!”, antwortete er.

Nach diesen Worten stürmte er die Treppe hinauf und schlug die Tür hinter sich zu.
 

Im Laufe des Tages machten Gerüchte den Umlauf.

Am Morgen wurde wieder jemand tot aufgefunden. Ängstlich verbreiteten sich Falschmeldungen über eine weitere übel zugerichtete Frau. Ein Opfer des Rippers. Doch sie schienen schnell widerlegt, als bekannt wurde, dass es dieses Mal einen Mann getroffen hatte. Einen angesehenen und wohlhabender Bankier.

Seine Schwester wollte ihrem Bruder einen Besuch abstatten. Eine kleine schmächtige Frau, die dafür bekannt war, bei der kleinsten Kleinigkeit in Ohnmacht zu fallen. Sie hatte eine Herzschwäche und der Anblick, der sich ihr bot, gab ihr beinahe den Rest.

Als sich die Identität des Opfers herumsprach, wurde Matthew ganz flau.

Er musste dringend mit jemanden sprechen und suchte seine Gäste auf.

“G-Guten Tag”, grüßte Henrik, als Matthew eintrat.

Nebula saß neben dem Bett auf einem verkehrt herum aufgestellten Stuhl. Sie erhob sich von selbigen und wandte sich dem Ankömmling zu.

“Ich will mit Euch reden”, sagte dieser.

“Worum geht es?”

“Es gab wieder einen Mord.”

“Annemarie, geh spielen!”

Doch das Mädchen gehorchte nicht.

“Diesmal traf es einen Mann. Er wurde angeblich erwürgt.”

“Das passt nicht”, bemerkte Nebula. "Weder Opfertyp noch Todesart."

“Vielleicht hat es niemals einen Ripper gegeben. Nur jemand, der Rache will. Der Mann und die Hure gehörten beide zu dem Mobb, der meine Schwägerin tötete.”

“Ich verstehe...”, erkannte Nebula. “Ihr glaubt noch immer, Euer Bruder ist der Mörder?”

“Wenn er zwischen dem Saufen dazu Zeit findet...”

“Auch wieder wahr... Dennoch, er verheimlicht etwas.”

“Darum möchte ich Euch um etwas bitten. Könntet Ihr ein Auge auf Marcus werfen?”

“Wieso fragt Ihr nicht die Wache?”

“Denen kann man nicht trauen.”

“Da habt Ihr Recht. Na schön! Ich tue es!”

“Ich danke Euch!”
 

Wie erwartet, stahl sich Marcus auch in dieser Nacht davon. Er trug etwas Verdächtiges bei sich. Nebula stieg ihm heimlich nach. Aber wieso wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie jemand beobachtete? Sie spürte fast schon den Atem in ihrem Nacken. Als sie abbiegen musste, verbarg sie sich in einem Spalt zwischen zwei Häusern, bis der vermeintliche Übeltäter an ihr vorbei ging. Sie konfrontierte ihn. Es war Annemarie. Sie musste ihr schon wieder heimlich gefolgt sein. “Was machst du hier?”, stellte sie den kleinen rothaarigen Delinquent zur Rede. Ein Tonfall, fast wie bei einem Verhör.

“Ähm... ich...”, suchte Annemarie nach Worten.

“Hau ab! Hier ist es gefährlich!”

Unterdessen entfernte sich Marcus immer weiter.

Nebula fürchtete, ihn zu verlieren. “Na schön! Wenn du nicht anders willst, versuche mit mir Schritt zu halten!” Dann stürmte sie los, in der Hoffnung, Annemarie würde aufgeben und zurücklaufen. Sie konnte schnell laufen und dennoch leise sein. Die Schritte im Matsch waren fast nicht zu hören. Ihr gelang es, die Zielperson einzuholen. Von der Ecke einer Hauswand aus, beobachtete sie Macrus.

Annemarie gesellte sich zu ihr. “Was macht der da?”

So viel dazu… “Sei still!”

Marcus ging auf eine Ruine zu. Nur ein verkohltes Fundament war noch übrig. Der Verdächtige enthüllte einen Strauß Blumen und legte ihn neben ein hölzernes Kreuz. Danach hockte er sich hin und sprach ein Gebet. Als er fertig war, erhob er sich und verließ die Szenerie auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Nebula und Annemarie versteckten sich im Schatten eines Hauses.

Als er außer Sichtweite war, gaben sie ihr Versteck auf.

“Was fällt dir ein, mich zu verfolgen?!”, schimpfte die Blondine.

“Tut mir leid”, entschuldigte sich das Mädchen. “Aber ich hatte eine böse Ahnung.”

“Hast du irgend etwas gesehen?”

“Als ich dich zum Abschied umarmt habe, sah ich einen schwarzen Schatten.”

“Einen Schatten?” Nebula tat es als Hirngespinst ab. “Na schön, wenn du schon mal hier bist, dann können wir uns das Grab auch gemeinsam ansehen.”

Beide sahen sich den Ort genauer an.

Ihnen fiel sofort auf, dass auf dem hölzernen Kreuz ein Name geschrieben stand. Nebula konnte die unleserliche Handschrift in weißer Farbe als “Valeria” entziffern. Sie zählte eins und eins zusammen. “Hier ist seine Frau gestorben”. stellte sie fest.

Ein Geräusch schreckte beide auf.

“Hier ist es gruselig!”, ängstigte sich Annemarie

“Da hast du nicht unrecht”, pflichtete Nebula bei.

Noch einmal ertönte das seltsame Geräusch.

Nebula zog ihr Schwert und wandte sich der Quelle zu. Eine rauchige schwarze Gestalt kam auf sie zu geschwebt, ganz wie vorhergesagt. Sie umklammerte einen schwarzen Dolch mit einer ihrer entarteten Klauenhände. “Lauf weg!”, befahl die Blondine.

Das Mädchen gehorchte und verschwand in der Dunkelheit.

Der kleiner Moment der Unachtsamkeit wurde sofort bestraft. Der Kreatur gelang es Nebula das Schwert aus den Händen zu schlagen. Die Blondine sprang nach hinten und beschwor Bloodbane. Ihre Waffe und der schwarze Dolch des Phantoms kreuzten sich. In der Hitze des darauffolgenden Gefechts landete die Kreatur einen Treffer. Die Klinge streifte Nebula an der Schulter. Sofort wurde ihr schwindlig und sie brach zusammen.

Bloodbane wich in ihren Arm zurück.

Die Kreatur verschwand so schnell, wie sie erschienen war.

Annemarie kam aus der Gasse zurück gerannt. Sie fand Nebula bewusstlos auf dem Boden liegend vor. Plötzlich tat sich eine weitere Schnittwunde auf. Diesmal auf Nebulas Wange und ohne einen ersichtlichen Grund.

Das Mädchen musste sie irgendwie zu den anderen bringen.
 

Nebulas Schwert lehnte zusammen mit ihrer restlichen Ausrüstung an der Wand.

Sie lag derweil auf dem Bett, neben dem von Henrik. Ihre Augen waren im Traum geschlossen. Ab und an kam eine neue Wunde irgendwo an ihrem Körper dazu. Sie zeugten davon, dass es kein angenehmer war. Zwar verheilten sie schnell, aber es kamen immer mehr dazu, sodass die Heilung nicht hinterher kam.

“Das ist Teufelswerk!”, stieß Matthew entsetzt aus.

“D-Das hilft uns nicht weiter!”, tadelte Henrik aus dem Bett heraus. Er wandte sich Annemarie zu. “Wer war die Frau, die dir geholfen hat, Nebula hierher zu tragen?”

“Sie hat ihren Namen nicht gesagt”, antwortete der Rotschopf. “Aber sie war sehr hübsch.”

Plötzlich erschien eine weitere Wunde an Nebulas Körper.

Ihr schwarzes Blut sickerte in das Laken ein.

“Können wir denn nichts machen?”, grübelte Henrik.

Eilig begab sich Annemarie zur rechten Seite des Bettes und ergriff Nebulas Hand. Erschrocken ließ sie sie fallen.

“Was hast du denn?”

“Sie ist in einem bösen Traum gefangen”, erklärte Annemarie.

“Was? N-Nein! Können wir sie nicht einfach aufwecken?”

Annemarie schüttelte den Kopf. “Das kann sie nur alleine schaffen.”

“A-Aber?! Wir können also nicht nichts tun?”

Annemarie nahm sich einen Stuhl und setzte sich zwischen die beiden Betten. “Wenn du ganz laut nach ihr rufst, hört sie dich bestimmt!” Sie nahm die linke Hand von Nebula in ihre rechte und streckte zugleich ihren linken Arm zu Henrik. “Gib mir deine Hand!”

Henrik zögerte nicht und gehorchte.

Annemarie schloss ihre Augen. “Jetzt rufe nach ihr. In deinen Gedanken.”

“O-Okay…” Henrik probierte, was die Kleine von ihm verlangte. Auf einmal fühlte er sich ganz anders.

Er spürte, wie sein Geist auf die Reise ging.
 

Als Henrik die Augen öffnete, fand er sich in einem langen Gang wieder. Das schwarze Gemäuer reichte so hoch, dass es in der Dunkelheit versank, ohne je die Decke zu erreichen. Durch hohe schmale Fenster drang spärliches Licht ein und wurde von einer dickflüssigen, rötlichen Masse auf dem Boden reflektiert. Ungläubig bewegte Henrik sein Bein durch die Flüssigkeit, sodass kleine Wellen entstanden.

Ihm war aufgetragen, zu rufen. Also rief er, so laut er konnte. “Nebula!”

Bis auf sein eigenes Echo gab es keine Reaktion.

Dann vernahm er in der Ferne das Weinen eines Kindes.

Noch bevor sich Henrik darüber wundern konnte, dass er in der Lage war zu stehen, trugen ihn seine Beine auch schon zur Quelle des Geräusch.

In der Ecke einer Halbsäule fand er ein Mädchen mit langen blonden Haaren, welches ein weißes Kleid trug, das zur Hälfte mit der roten Substanz vollgesogen war, in der es kauerte. Das Mädchen war jünger als er. Bestimmt gerade erst vierzehn Jahre alt. Die Hände des Mädchens verdeckten das Gesicht.

“Wer bist du?”, fragte der Junge vorsichtig.

Das Mädchen hörte auf zu weinen und nahm die Hände von seinem Gesicht.

Henrik erschrak. Sie sah aus wie Nebula.

“Ich habe sie alle umgebracht!”, sprach die Kleine voller Angst.

Der Pegel der roten Flüssigkeit sank und gab die Sicht auf ein dutzend Leichen frei, welche überall verstreut lagen.

Henrik ging auf das Mädchen zu und reichte ihm die Hand. “B-Bitte”, versuchte er, es zu beruhigen. “Nimm m-meine Hand!” Er verspürte selbst unendlich viel Angst. Seine Furcht war so groß, dass sie alle seine Instinkte regelrecht betäubten. Alles, was ihm noch blieb, war die Flucht nach vorn.

Das Mädchen nahm seine Hand und stand auf. Es umklammerte ihn und er spürte es zittern. “Bitte gehe nicht wieder weg!”

“Ganz bestimmt nicht!” Henrik sah sich erneut um. “Wie kommen wir hier raus?”

Das Mädchen zeigte in die Schwärze vor ihnen. “Dort entlang.”

Ein markerschütterndes Kreischen fuhr durch die Finsternis.

Gemeinsam näherten sie sich der Ursache.

Das Klirren von aufeinander schlagenden Klingen mischte sich zwischen die Schreie.

Endlich gab die Schwärze die Sicht frei.

Ein gigantisches, widerlich verunstaltetes, wurmartiges Wesen mit menschlichem Oberkörper, langen blassblonden Haaren und klingenartigen Auswüchsen auf dem Rücken wand sich um die Säulen. Es schien gegen jemanden zu kämpfen. Henrik erkannte die Person sofort. Blessuren und Wunden zierten ihren Körper, genau wie in der Realität. “Nebula!”, rief er in Finsternis hinein. “Du musst aufwachen!”

Doch sie schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit.

Die Klingen auf dem Rücken der Kreatur schossen auf sie zu, als es sich nach vorn beugte, verfehlten, trafen stattdessen eine Säule und brachten sie zum bersten. Ihre Teile stürzten herab und ihr Stumpf hing noch immer von oben aus der Finsternis heraus.

“Sie hört auf niemanden!”, sprach die junge Nebula. “Sie kämpft immer allein und lässt sich nicht helfen. Bis es zu spät ist!”

Als Henrik die Kreatur genauer in Augenschein nahm, fror er ein vor Schock. Auch sie teilte sich mit Nebula das gleiche Gesicht. Nur war die Visage des Monsters zerfressen von Wut und Hass und durchzogen von pulsierenden Adern.

“Das ist ihr Dämon", erklärte das Mädchen.

Entsetzt versuchte Henrik erneut, zu Nebula durchzudringen. “Hey, Nebula! W-Wach auf!”

Noch immer nahm sie keinerlei Notiz von ihm.

“Das ist zwecklos! Sie vertraut niemanden. Das ist nicht zu ändern.”

Das arme Kind. Sie musste Nebulas melancholische Seite darstellen. Henrik wollte ihr das Gegenteil beweisen. Schließlich hatte sie Freunde, denen sie vertrauen konnte. Aber wie sollte er Nebula gegen die Bestie unterstützen?

Er wünschte sich sein Schwert herbei.

Tatsächlich erfüllte sich seine Bitte.

Aus dem Nichts erschien die Waffe, an die er eben dachte, in seiner Hand. Wie habe ich das angestellt, grübelte er, während er auf das Produkt seiner Fantasie starrte. Ein weiterer Zusammenstoß der Klingen ließ ihn sich besinnen. Ihm wurde bewusst, dass dies nicht die Realität war. Hier vermochte er augenscheinlich zu tun, was immer er wollte. Mutig stürmte er auf die Abscheulichkeit zu und versetzte ihr einen Stoß. Die Kreatur schrie unter Schmerzen auf. Flüssigkeit trat aus der Wunde aus und verätzte Henriks Schwert. Er ließ es los, bevor sich die Säure zu seiner Hand hin fraß, und brachte ein paar Meter Abstand zwischen sich und der Kreatur. Aus sicherer Entfernung sah er sein Schwert vergehen.

Endlich schenkte Nebula ihm ihre Aufmerksamkeit. Allerdings nicht so, wie er es sich erhofft hatte. “Verschwindet!”, fauchte sie ihn an. “Mischt Euch nicht ein!” Sie schien ihn nicht einmal zu erkennen.

Henrik konnte es nicht glauben. Waren sie nicht Freunde?

“Passt auf!”, schrie die junge Nebula, als die Kreatur Henrik ins Visier nahm und eine Salve ihrer Klingen auf ihn abfeuerte.

Henrik kniff die Augen zusammen und erwartete sein Ende. Er schützte seinen Kopf mit dem linken Arm. Den rechten streckte er aus, wie in einem aussichtslosen Versuch, sein unausweichliches Schicksal abzuwenden. Er rechnete fest damit, aufgespießt zu werden.

Doch nichts geschah.

Mutig sah er den Tatsachen ins Auge und stellte fest, dass die Klingen allesamt vor seiner Hand zum Stillstand gekommen waren und regungslos in der Luft hingen. Henrik stieß sie der Kreatur entgegen. Die Klingen drehten in der Luft und bohrten sich in das Fleisch des Monsters hinein. Es stürzte gegen eine weitere Säule, brachte sie zum Einsturz und wurde unter ihren Trümmern begraben.

Ungläubig betrachtete er das Resultat.

Es wäre von Vorteil, wenn er das auch in der Realität tun könnte.

Die erwachsene Nebula richtete wutentbrannt ihre Waffe auf Henrik. “Das ist mein Kampf! Verschwindet!” Sie stürmte auf ihn zu, mit der Intention ihn zu erstechen.

Die junge Nebula konnte das nicht geschehen lassen und warf sich zwischen ihn und die unaufhaltsam näher kommende Waffe. Die Klinge durchbohrte den Körper des Kindes, konnte es jedoch nicht stoppen. Das Mädchen ging weiter auf Nebula zu und trieb die Klinge dadurch tiefer in ihre Eingeweide. Es schlug die Arme um sein älteres ich. Noch im selben Moment sandte es Licht aus und verschmolz mit ihr. Nebula ließ ihre Waffe fallen. Ihr Zorn und ihr Hass auf den ungebetenen Gast schienen vergessen.

Henrik versuchte erneut, sie anzusprechen. “Nebula?”

Perplex sah die Blondine zuerst auf ihre Hände und dann zu ihm auf. “Henrik?!” Anschließend ließ sie den Blick zu der unter Trümmern begrabenen Kreatur schweifen. “Du hast...”, rang sie mit der Fassung. “Unfassbar!”

“S-Siehst du!”, strahlte er vor Überzeugung. “D-Das muss ein Traum sein!”

Ihr jüngeres Ich hatte ihr einen letzten Gedanken übertragen, bevor es mit ihr verschmolz. “Noch ist er nicht vorbei!” Etwas musste noch getan werden. Nebula trat an die Kreatur heran und berührte sie. Das Monster löste sich in einen schwarzen Nebel auf und verschmolz ebenfalls mit ihr.

Eingeleitet von einem gewaltigen Donner, bröckelte plötzlich das Mauerwerk und die Säulen. Alles zerfiel erst zu Trümmern, dann zu Brocken und zum Schluss zu Staub. Die Finsternis lichtete sich. Nebula und Henrik fanden sich auf einer bunten Blumenwiese wieder, in deren Mitte sich eine einsame Tür befand. Keine Spur mehr von dem Gemäuer und seinen Schrecken.

“W-Was ist hier geschehen?”, fragte Henrik unsicher.

“Ich bin mir nicht sicher”, antwortete Nebula.

Es war ein Traum, welcher ihr den Spiegel vorhielt. Ihr die drei schlimmsten Fehler aufzeigte: Die Verletzlichkeit in ihrem Inneren, ihren Drang, diese durch nach außen demonstrierte Stärke zu verbergen und der teuflische Fluch, der auf ihr lastete. Die Splitter ihrer Persönlichkeit, welche sie in diesem Traum gefangen hielten. Aber auch Hoffnung, Vertrauen und Mut. Die Werkzeuge, mit denen der Schlüssel zu ihrer Freiheit erschaffen werden konnte. Etwas, das sie alleine nicht hätte schaffen können.

Tief in ihrem Inneren spürte sie das.

Aber sie war noch nicht soweit, es sich offen einzugestehen.

Henrik deutete auf die Tür vor ihnen. “I-Ist das der Ausgang?”

“Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden!", ermutigte Nebula.

Gemeinsam öffneten sie die Tür und gingen in das weiße Licht, welches ihnen aus dem Durchgang entgegen strahlte.

Phantomschmerz


 

🌢
 

Gleichzeitig schlugen Nebula und Henrik die Augen auf.

Verwirrung machte sich in ihren Köpfen breit. So richtig begreifen, was gerade passiert war, wollte keiner von ihnen. Nebula spürte fremden Schweiß in ihrer Hand. Als sie realisierte, dass es Henrik war, der sie hielt, entzog sie sie peinlich berührt. “Nimm deine Griffel weg!”, schimpfte sie.

“Hurra, ihr seid aufgewacht!”, freute sich Annemarie, die noch immer zwischen den Betten saß. “Du hast es geschafft, Henrik!”

“Was war das?”, fragte Henrik und setzte sich etwas benommen auf.

“Es war so echt”, sagte Nebula.

Henrik fasste sich an die Stirn. Ihm war schwindelig.

Nebula betrachtete, wie ihre Wunden verheilten. Das Tempo war selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich. Offenbar verschwanden sie, weil sie wachte und ihr nun klar war, dass sie zuvor träumte.

“Wir haben uns Sorgen gemacht”, meinte Annemarie.

“Er war in meinem Kopf…”, murmelte Nebula, wenig begeistert. Sie erinnerte sich an alles, was in dem Traum vorgefallen war. Bei dem Gedanken daran, dass Henrik nun ihre Ängste und Schwächen kannte, erröteten ihre Wangen noch mehr. “D-Du bist schon wieder in meine Privatsphäre eingedrungen!”, fuhr sie den Braunhaarigen daraufhin an. Schreien tat ihr gut. Es half ihr, nicht weiter nachzudenken. Darüber, was in ihrer Seelenwelt vorgefallen war und dass Henrik alles mit angesehen hatte.

“A-Aber...”, versuchte sich Henrik zu verteidigen.

“Nix aber! Du warst in meinem Kopf! D-Das war übergriffig!”

“E-Entschuldigung.”

Annemarie lächelte. Ob aus Freude oder aus Verzweiflung über den von Nebula künstlich heraufbeschworenen Streit, blieb ihr Geheimnis.

“Hast du mir geholfen, Nebula zu wecken?”, fragte Henrik das Mädchen.

“Das warst allein du”, verneinte sie. “Ich habe euch nur angefeuert.”

Nebula verwuschelte Annemaries orangene Haare. “Das hast du gut gemacht.”

Glücklich über das Lob, strahlte das Mädchen wie heiterer Sonnenschein.

“Und ich?”, fragte Henrik. “H-Hab ich das auch gut gemacht?”

Nebula ging nicht darauf ein.

“Was ist eigentlich geschehen?”, fragte Matthew.

“Ich bin eurem Bruder zu Valerias Grab gefolgt. Er hat Blumen niedergelegt. Er hat aber nichts mit dem zu tun, was mir widerfahren ist.”

“Aber wer hat dir das dann angetan?”, fragte Henrik besorgt.

Die Blondine seufzte. “Ein... schwarzes Phantom.” Sie glaubte selbst nicht, was sie da gerade eben sagte. Sie hatte schon viel Böses gesehen, doch in der Regel ging es von Menschen aus und nicht von irgendwelchen Hirngespinsten.

Stillschweigend nahmen es die Anwesenden hin.

Sie wollten fassen, was gerade eben passiert war.

Doch man ließ ihnen keine Zeit dazu. Hinter den Betten brach die Wand mit einem lauten Krach ein und Tageslicht stieß durch den aufgewirbelten Staub. Sofort verkroch sich Henrik unter seinem Bett. Sein verletztes Bein rebellierte in der Schiene, doch das war ihm in diesem Moment herzlich egal. Annemarie stolperte von ihrem Stuhl und brachte ihn dabei zu Fall. Sie rannte ans Ende des Zimmers zu Matthew und klammerte sich an ihn. Nebula sprang aus ihrem Bett, drehte sich in der Luft und wandte sich der Bedrohung zu, als sie landete. Der Staub legte sich. Eine schwarze Gestalt krallte sich an den Rändern des aufgebrochenen Mauerwerkes fest.

“Oh nein, diesmal nicht, Freundchen!”, sagte die Blondine voller Abscheu. "Koche in meinen Venen, Bloodbane!” Auf Befehl trat das Blut blubbernd aus den pulsierenden Adern ihres Armes aus und formte eine schwarze Klinge in ihrer Hand.

Das Phantom brüllte sie an und streckte ihr dabei sein ausdrucksarmes, augen- und nasenloses, glattes Gesicht entgegen.

“Man, bist du hässlich!” Nebula stürmte vor und stach zu.

Der Eindringling zerfiel sofort zu schwarzem Rauch und gab den Blick durch das Loch auf die Stadt frei. Nebula ließ ihre Waffe wieder verschwinden.

“D-Dämon! I-Ihr s-seid ein D-Dämon!”, schlotterte Matthew.

“Ihr habt größere Probleme!”, erwiderte Nebula.

Sie ging zur Seite und erlaubte den anderen durch die klaffende Wunde im Stein auf die Ortschaft zu schauen. Drei Rauchsäulen stiegen von verschiedenen Häusern auf und aus der Richtung der Kirche, welche man durch das Loch sehen konnte, tönten Kampfgeräusche.

“Oh, es brennt!”, bemerkte Annemarie und schmiegte sich noch mehr an Matthew.

“Was geht hier vor?!”, fragte dieser mit Nachdruck.

“Diese Dinger greifen die Stadt an”, antwortete Nebula mit grimmigem Gesichtsausdruck.

“Und nun?!”

“Ich werde sie aufhalten!”

Sie nahm ihren Gürtel und ihr Schwert an sich und band ihre Ausrüstung um. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schwang sie sich durch das Loch auf das Vordach. Von dort sprang sie auf die Straße und rannte dem Zentrum des Geschehens entgegen. Sie spürte eine Konzentration von Mordlust, deren Wut sich bei der Kirche sammelte.

Matthew stand der Stress ins Gesicht geschrieben. Der Moment, den er schon immer gefürchtet hatte, war nun gekommen. Jetzt musste er sich beeilen. Schnell weg von hier! Er riss sich von dem Mädchen los, das ihn festhielt, stolperte aus dem Raum hinaus und rannte wie von der Tarantel gestochen auf und davon.

“Hey!”, rief ihm Annemarie nach.

Aber Matthew hörte nicht auf sie. Er rannte weiter den Gang entlang und die Treppe hinunter in den Eingangsbereich.

Annemarie fühlte den Impuls, ihm zu folgen. “Warte!”, schrie sie.

Doch Matthew ignorierte sie.

Das Mädchen rannte ihm nach.

Unterdessen zog Stille im Zimmer ein.

Henrik traute sich jetzt unter dem Bett hervor. “Wo sind denn alle hin?”, sprach er laut zu sich selbst, als er realisierte, dass er nun ganz allein war. Er sah durch das Loch in der Wand. Auf die brennenden Häuser. Der Gestank der Feuer drang allmählich durch die Öffnung in das Zimmer ein. Henrik rutschte fast das Herz in die Hose. Sofort kroch er wieder unter das Bett und beschloss, dort zu verweilen, bis Nebula das Chaos beseitigt hätte.
 

Die Rauchschwaden aus den benachbarten Häusern hüllten die Stadtkirche ein. Der Geruch der Asche und der Glut kroch Nebula schon von weitem in die Nase, als sie sich dem Gotteshaus näherte, das von den schwarzen Phantomen attackiert wurde, und reizte ihr Riechorgan, sodass sie beinahe niesen musste.

Die Glocke im Turm des Gebäudes im gotischen Stil läutete ununterbrochen. Ihr unverwechselbarer Ton, welcher normalerweise den Alltag der Menschen strukturierte, verkam nun zu einem Alarmsignal. Chaos war auf dem Platz vor der Kirche ausgebrochen. Die schwarzen Schatten verleiteten die Menschen zu glauben, die Tore der Hölle hätten sich geöffnet. Nun suchten sie im Inneren der Kirche nach Sicherheit. Derweil stellten sich die Stadtwachen einem verzweifelten Kampf gegen die Kreaturen aus der Hölle. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie, griffen Menschen an und steckten Häuser in Brand. Zu Recht fragten sie sich, womit sie diese Strafe verdient hatten. Immerhin waren sie treue Anhänger des Namenlosen Gottes, welchen sie jeden Sonntag anbeteten und in Gedanken um Rat fragten, wenn sie ein Problem hatten, für das sie allein keine Lösung fanden.

Natürlich waren die Menschen, denen Gott antwortete, dünn gesät.

Und noch seltener die unter ihnen, welche noch einen gesunden Geist vorweisen konnten.

Anders als den Zivilisten war den Stadtwachen klar, dass ein Gebet sie nicht retten würde. Wenn der Herr im Himmel überhaupt jemanden half, dann denjenigen, die sich selbst helfen. Sie mussten ihre Pflicht tun und die Bewohner beschützen. Doch das erklärte noch immer nicht, wer die Tore zum Fegefeuer offen stehen gelassen hatte.

Die Stadtwache tat ihr Bestes, die Bürger zu schützen. Mutig wehrten sie die rasiermesserscharfen Klauen und Klingen der Ungetüme ab, so gut es ihnen möglich war. Einem der Wächter gelang es, eine der Kreaturen zu erschlagen. Sein Speer durchbohrte die Gestalt aus schwarzen Pech und ließ sie in Rauch aufgehen. Die anderen wohnten dem Schauspiel ungläubig bei. Ein Dämon war soeben zurück in die Hölle geschickt worden. Der Wächter konnte sein Glück kaum fassen und starrte seine Waffe perplex an. Seine Verwunderung währte nicht lange. Hinter ihm versetzte ein anderes Phantom einen seiner Kameraden in einen abscheulichen Traumschlaf und nahm ihn als Nächstes ins Visier. Eine schwarze Klaue grub sich in den Rücken des tapferen Mannes.

Er brach zusammen und begann bald hektisch zu atmen und wild um sich zu schlagen.

Welcher böse Traum ihn wohl plagte?

Die übrigen Wachen gaben ihr Bestes, die Monster zu beschäftigen.

Aber sie hatten keine Chance gegen die fliegenden Abscheulichkeiten und deren rasiermesserscharfen Klauen und Messer. Ein Kratzer der Phantome genügte, sie in ihren eigenen Albträumen einzusperren. Jeder Mensch fürchtete irgend etwas. Niemand war davor gefeit, mit seinen schlimmsten Ängsten konfrontiert zu werden. Während die Wächter versuchten, Boden gutzumachen, verbarrikadierten sich die Gläubigen in der Kirche und klammerten sich an die Hoffnung, in den Armen des namenlosen Gottes Schutz vor der teuflischen Bedrohung zu finden. Die langen Türen des Portales wurden mit einigen Bänken verriegelt. Vor Furcht gelähmt, fanden sie sich zusammen in ihrer Stunde der Not. Betend hockten die Menschen vor dem Abbild des Herrn und baten um einen Engel, der sie erretten möge. Angsterfüllt umklammerten Kinder ihre Mütter und Frauen ihre Männer, während sie besorgt den langsam verstummenden Schreien und verklingenden Kampfgeräuschen lauschten.

Dann wurde es still.

Vorsichtig streckten die Ersten ihre Hälse. Die Neugier hatte sie gepackt. War es vorbei? Hatten sie es überstanden. Zuerst zaghafte Seufzer wurden zum erleichterten Aufatmen. Sie waren sich sicher, dass ihr bedingungsloser Glaube sie gerettet hatte. Der Priester erhob die Hände zum Strebewerk meterweit über ihm und dankte dem namenlosen Gott im Stoßgebet für sein Einschreiten. Die ersten Schutzsuchenden wagten es aufzustehen.

Plötzlich wurde die junge Ruhe jäh gestört.

Eines der kunstvollen Fenster im linken Seitenschiff zerbarst.

Einem der Phantome gelang es, einzudringen.

Das Heiligtum wurde entweiht!

Zielstrebig rannte die finstere Gestalt zum Altar. Die Gläubigen in seiner Nähe wichen ihm kreidebleich vor Angst aus. Die Kreatur baute sich vor dem Priester auf. Das leere schwarze Gesicht begann, weibliche Züge anzunehmen und Haare wuchsen aus dem kahlen Schädel. Der ältere Mann bekreuzigte sich. Er hatte nicht damit gerechnet, das Gesicht, das er einst verteufelte, noch einmal wiederzusehen. Es ängstigte ihn bald mehr, als die Kreatur selbst. Der Geistliche verspürte ein Stechen in der Brust, fasste sich an selbige und brach tot zusammen, ohne dass das Phantom etwas zutun musste.

Panik setzte ein.
 

Annemaries orangene Haare wehten im Wind, als sie Matthew hinterher rannte. Sie konnte sein Handeln nicht verstehen.

Wo konnte er auf einmal hin wollen?

Mit den Laufschritten eines ausgewachsenen Mannes mitzuhalten, war eine fast unlösbare Aufgabe für das Mädchen. Der Abstand zwischen ihr und Matthew wurde immer größer. Sie musste sich alle Mühe geben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Als es schon fast passiert war, bremste er abrupt ab und betrat ein unscheinbares Haus am Stadtrand. Völlig außer Atem, erreichte auch Annemarie das Gebäude. Sie mühte sich, trotz ihrer geringen Größe, einen Blick durch das Fenster zu erhaschen.
 

Als Nebula endlich den Platz vor der Kirche erreichte, konnte sie gerade noch mit ansehen, wie die wenigen noch verbliebenen Stadtwachen von den Phantomen in das Reich der Albträume geschickt wurden. Sofort danach wurde sie von den Abscheulichkeiten wahrgenommen und angegriffen.

Nebula war sich der Flinkheit der Kreaturen schmerzlichst bewusst, und wählte entsprechend ihre schnellste Waffe aus ihrem Arsenal. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!”, befahl sie ihrem schwarzen Speer zu erscheinen, indem ein Blitz vom Himmel hinab in ihre ausgestreckte Hand einschlug. Sie hatte keine Zeit sich darum zu sorgen, möglicherweise von Schaulustigen hinter Fensterläden beobachtet zu werden, als die Phantome auf sie zugestürmt kamen. Andererseits wäre wohl kaum ein Zivilist kühn genug, nicht sofort zu fliehen. “Kettenblitz!” Einer elektrischen Entladung gleich, schoss sie daraufhin im Zickzack von Gegner zu Gegner und versetzte jedem von ihnen einen vernichtenden Treffer. Die Phantome zersetzten sich allesamt zu schwarzen Rauch. Nebula sah sich auf dem Platz vor der Kirche um. Die Stadtwachen lagen träumend auf den Pflastersteinen und versuchten, die grausamen Träume zu überleben.

Leis, ganz leis, käm der Tod.

Nebula wusste nicht, wie sie ihnen hätte helfen können.

Noch immer strahlte die Mordlust hell wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit.

Es kam aus dem Inneren des Gotteshauses.

Die Blondine beschloss, ihre Aufmerksamkeit dem heiligen, steinernen Gebilde zuzuwenden. Vorsichtig trat sie an die Kirchentüren, welche von einem mächtigen gotischen Portal eingefasst wurden. Rütteln an den Griffen brachte keinen Erfolg. Der Zugang zur Kirche blieb weiterhin versiegelt. Während sie die Türen malträtierte, spürte sie Widerstand. Etwas auf der anderen Seite verhinderte, die Türen zu öffnen.

Da half nur noch rohe Gewalt!

Ein beherzter Tritt gegen die sakrale Pforte löste das Problem.

Gott möge es ihr vergeben!

Im Inneren erschraken die Menschen, als die Barrikaden mit unmenschlicher Kraft zur Seite geschoben wurden. Das Tageslicht, welches durch die aufgebrochene Kirchentür hinein strömte, wurde von Nebulas Silhouette durchbrochen. Entschlossen überschritt sie die Schwelle und trat ein. Sofort erblickte sie eines der Phantome, wie es über dem toten Prediger hockte, den es mutmaßlich zuvor getötet hatte. Nebula wollte kein Risiko eingehen und ging sofort zum Angriff über. Da ihr Speer seine volle Kraft nur im Freien freisetzen konnte, sah sie sich gezwungen, ihre Waffe zu wechseln. “Koche in meinen Venen! Bloodbane!” Gungnir zerfloss und aus der entstandenen Masse formte sich das dämonische Schwert. Die pechschwarze Gestalt stürmte indes mit einem Dolch auf die Söldnerin los. Nebula wusste, ein Treffer dieser Waffe und sie würde das Schicksal der Wächter vor der Kirche teilen. Auf ein weiteres Erlebnis dieser Art konnte sie getrost verzichten. Drum wich sie den Stichen und Hieben aus, so gut es ging oder parierte mit ihrem Schwert.

Immer dann, wenn sich die teuflischen Klingen kreuzten, spürte sie, dass diese Waffe eine Täuschung war. Etwas Nicht-Existentes, nur ein Gedanke, welcher mit Gewalt in eine materielle Form gezwungen wurde. Bilder schossen einer Collage des Schreckens gleich mit jeder Berührung der Klingen durch ihren Kopf. Sie sah Menschen mit Fackeln und Mistgabeln, getrieben von Angst und Hass, ein Haus anzünden. Zwangsläufig erinnerte sie sich an Matthews Worte. “Ich verstehe, was du mir sagen willst”, sprach Nebula, als die Vision vorüber war. Doch die Kreatur interessierten ihre Worte wenig. Bloodbane und das Trugbild der fremden Teufelswaffe mussten eine Resonanz eingegangen sein. Bei diesen diabolischen Tötungsutensilien war selbst dies im Bereich des Möglichen. Man musste einfach mit allem rechnen. Die fragmentierten Visionen zeigten Nebula, in dieser Kirche versteckten sich die Leute, welche eine Unschuldige in ihrem eigenen Haus verbrannten.

Als das Phantom nach vorn preschte, sprang Nebula zur Seite und begab sich flink hinter es. Mit einem gezielten Stoß des Bloodbane wurde die Kreatur erschlagen und löste sich in Rauch auf, wie die anderen zuvor auch. Glücklicherweise war dieses Exemplar ebenfalls nicht so gefährlich wie jenes, das sie zuerst angegriffen hatte. Im Gegenteil. Sie überkam das Gefühl, jedes dieser Wesen war schwächer als das zuvor. Die Exemplare auf dem Platz vor der Kirche waren ebenfalls ein Leichtes für sie gewesen.

Woran das wohl liegen mochte...

Immerhin schien die Gefahr gebannt.

Es war für die schutzsuchenden Menschen die Gelegenheit, einmal durchzuatmen.

Aber die Achterbahn der Gefühle sollte nicht stillstehen.

Im nächsten Moment zerplatzte die Hoffnung, wie eine Seifenblase und noch mehr Fensterscheiben brachen. Die übrigen Phantome drangen voller Mordlust von allen Seiten in das Mittelschiff ein, bereit, Klingen und Klauen gegen unbewaffnetes Volk einzusetzen. Die Menschen realisierten, dass auch im Gebet keine Erlösung für ihre Sünden lag. Sie sprangen auf und versuchten panisch aus der Kirche zu entkommen. Wie sollte Nebula in diesem Chaos den Überblick behalten und die Kreaturen aufhalten? “Verflucht, rennt nicht alle durcheinander!”, entfuhr es ihr.

Bevor sie reagieren konnte, verdampften urplötzlich alle ihre Gegner, einer nach dem anderen. Metallisches Klingen wies auf die Wurfmesser hin, welche einzig auf dem Boden zurückblieben.

Inzwischen hatten die meisten das Gotteshaus verlassen.

“Das hätte ins Auge gehen können!”, sprach eine unbekannte Frauenstimme.

“Wer ist da?”, forderte Nebula die Unbekannte auf, sich erkennen zu geben und wandte sich mehrfach um, auf der Suche nach der Herkunft der Stimme.

Eine Person landete hinter ihr. Sie war von dem Deckenleuchter gesprungen, von dem aus sie wer weiß wie lange zugesehen hatte. Auf die Idee über sich zu schauen, war Nebula nicht gekommen. Sofort drehte sie sich zu ihr um. Vor ihr stand eine athletisch gebaute, aber dünne Frau mit blasser Haut. Sie war um mindestens einen halben Kopf größer als Nebula und trug einen buschig vom Schädel ausstrahlenden Pferdeschwanz ihres kirschroten Haares. Rot strahlten auch Teile ihrer größtenteils dunkelgrauen Kleidung. Besonders der Umhang an ihrer linken Schulter provozierte diesen Effekt. Auf dem Rücken hing eine Armbrust. Sie trug weitere Wurfmesser an Gürteln um ihre Oberschenkel. Sie besaß ebenfalls einen Dolch, den sie an ihrer Hüfte trug. Sie war sprichwörtlich und wahrhaftig bis an die Zähne bewaffnet.

“Wer seid Ihr?”, verlangte Nebula zu wissen.

Die Fremde strich sich lässig durch die Haarsträhnen ihres einseitigen Ponys. “Man nennt mich Cerise”, antwortete sie in einem selbstgefälligen und arroganten Tonfall. “Eigentlich hatte ich keine Lust, Euch schon wieder zu retten...”

“Schon wieder?”

“Habt Ihr Euch nicht gefragt, wie Ihr zurück in die Taverne gekommen seid?” Hochnäsig sah sie sie an. ”Als ob ein kleines Kind Euch hätte tragen können. Leicht seid Ihr ja nicht unbedingt, obwohl Ihr so klein seid!”

Wollte Cerise damit andeuten, dass sie zu dick ist?

“Und jetzt hätte es wegen Eurer Inkompetenz fast noch mehr Opfer gegeben.”

“Sagt das noch Mal!!”, entrüstete sich Nebula. Ihr kam in den Sinn, wie oft sie sich in letzter Zeit beobachtet fühlte. “Ihr verfolgt mich also. Das macht Ihr sicher nicht aus Spaß an der Freude. Sagt, wer verschwendet dafür sein Geld?”

“Was, kein Dankeschön?”, wich die Rothaarige aus. “Von jemanden Eures Standes hätte ich mehr Anstand erwartet.”

“Ihr wisst, wer ich bin?”

“Die Frau, die sich bekloppte Pseudonyme zulegt!”

Nebula war das erste Mal seit langem wirklich entsetzt. “Dann habt Dank für die Hilfe, Cerise!”, sprach sie, mehr aus Schock als aus Dankbarkeit.

“Na bitte, geht doch. Nun muss ich aber leider los.” Cerise wandte sich ab und kletterte mit Hilfe der mit eisernen Krallen bewährten Fingerkuppen ihrer Handschuhe eine Wand hinauf und stieg auf dem Sims eines kaputten Fensters.

“Werden wir uns noch einmal begegnen?”

Cerise hielt kurz inne. “Vermutlich nicht.” Dann setzte sie sich in Bewegung, nur um erneut anzuhalten. “Im Süden der Stadt findet Ihr ein Haus. Eilt Euch, oder der kleinen Annemarie wird es schlecht ergehen.” Dann entschwand sie durch das Fenster.

“Halt! Wartet!”

Doch Cerise dachte nicht im Traum daran zu gehorchen.

Sollte Nebula wirklich gehen, ohne nach den Stadtwachen zu sehen, welche noch immer Qualen litten? Wenn sie es täte, könnte es zu spät sein. Aus diesem Grund entschloss sie sich, Annemarie ohne Umwege zu Hilfe zu eilen.
 

Egal wie sehr sich das Mädchen auch mühte, sie konnte nicht durch das Fenster sehen. Sie war einfach zu klein. Drum fasste sich Annemarie ein Herz und öffnete die Haustür. Überraschenderweise hatte Matthew vergessen, sie abzuschließen. Vorsichtig schlich die Kleine auf Zehenspitzen durch den Eingangsbereich. Es war dunkel und von Matthew gab es keine Spur. Am Ende des Ganges stand eine Tür leicht offen. Lichtstrahlen fluteten aus dem Spalt in die Dunkelheit. Leise schlich sie sich näher und näher. Dann konnte sie endlich einen Blick erhaschen.

Matthew befand sich darin und kümmerte sich um eine bandagierte menschliche Gestalt. “Du musst damit aufhören!”, sprach er der Person zu.

Die Gestalt umklammerte einen Dolch in ihrer Hand.

“Du kannst sie nicht alle töten!”

Die bandagierte Person gab einige Laute des Missfallens von sich.

Annemarie versetzte der Anblick einen Schreck und ließ sie einen Schritt zurück gehen. Die Diele unter ihr wurde zum Verräter, als sie ein ächzendes Quietschen von sich gab.

Sofort wurde Matthew auf sie aufmerksam. “Wer ist da?!”

Aus der Brust der bandagierten Person stieg dunkler Rauch auf. Er sammelte sich über dem Bett und verdichtete sich zu einer Gestalt.

"Nein! Nicht!", rief Matthew, als er es bemerkte. “Das kostet dich zu viel Kraft!”

Annemarie rannte so schnell sie konnte zurück zum Ausgang.

Das Phantom riss die Tür ein und folgte ihr.

In der Dunkelheit stolperte das Mädchen über einen nicht identifizierbaren Gegenstand und fand sich auf dem harten Boden wieder. Im letzten Moment, kurz bevor die Kreatur die Kleine erreichen konnte, fiel die Haustür aus den Angeln und etwas warf sich dem Monster entgegen. Annemarie traute sich nicht aufzusehen und hörte nur Säbelrasseln.

“Was machst du hier?!”, schimpfte es auf einmal.

Annemarie blickte auf und erkannte Nebula. “Ich bin Matthew gefolgt.”

Plötzlich trat besagter Mann unter den Rahmen der völlig zerstörten Zimmertür. Er signalisierte ihnen, dass sie zu ihm kommen sollen.

Nebula verbarg ihre Überraschung nicht, als sie die bandagierte, schwer atmende Gestalt im Bett liegen sah. “Wer ist das?”, wollte sie wissen.

“Valeria”, erklärte Matthew. “Ich fand sie nach dem Brand. Seither pflege ich sie. Marcus weiß nichts davon. Ich… wollte nicht, dass er sie so sehen muss.”

“Und dennoch pflegt Ihr sie...” Nebula spürte die böse Energie, welche sich in dem Dolch in Valerias Hand konzentrierte. “Wo hat sie diese Waffe her?”

“Ich weiß es nicht. Sie hatte sie schon, als ich sie fand.”

“Das ist eine Teufelswaffe!”, belehrte die Blondine. “Damit ruft sie die Phantome.”

“Ich weiß. Ich wollte sie aufhalten. Aber ihr Hass ist zu stark. Jemand muss sie stoppen. Aber... Ich habe nicht die Kraft dazu.”

“Weil du sie auch liebst, stimmt's?”, fragte Annemarie.

“Wenn Ihr es nicht könnt, werde ich es tun”, bot sich Nebula an. Sie trat an das Bett heran und griff nach dem schwarzen Dolch.

Valeria wollte ihr Instrument der Rache nicht aufgeben. Schlampe!, schrie sie sie in Gedanken an. Aber ihre verbrannten Stimmbänder waren nicht zu mehr in der Lage, als einem armseliges Röcheln. Der Einsatz der Teufelswaffe hatte sie ausgelaugt. Nein!, protestierte sie. Sie war außerstande, sich der Kraft der ihr unbekannten Frau zu erwehren. Nein!, schrie ihr Geist verzweifelt. Ihr fehlte die Kraft, ein weiteres Phantom zu erzeugen.

Nebula entriss ihr den Dolch. Kaum war er nicht mehr in ihrer Hand, erschütterten schwere Anfälle Valerias gepeinigten Körper. Ihr Atem wurde hektischer, sie hustete und zitterte, bis sie verstummte.

Diesmal starb sie wirklich.

Matthew konnte die Tränen nicht zurückhalten und weinte aus tiefster Seele.

Nebula betrachtete den Dolch in ihrer Hand, während er allmählich seinen Widerstand aufgab und mit ihr verschmolz.
 

Ein endloses Meer aus schwarzen Äther erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen. Licht, ohne eine sichtbare Quelle, als käme es aus dem Raum selbst, erhellte das grenzenlose Nichts. Einen halben Meter über der bizarren stillen See schwebte eine blasse Frau mit weißen Haaren, verhüllt von einem blutroten Kleid mit Rüschen und angenähten Rosen. Sie erweckte den Anschein, auf irgendetwas oder irgendwen zu warten. Nach einer Weile ließ sie sich auf die Oberfläche der verflüssigten Finsternis sinken, bis sie auf ihr stand, wie der Messias persönlich. Grimmig guckend, fixierte sie einen imaginären Punkt irgendwo im leeren Raum vor ihr.

Plötzlich schoss etwas vor ihr aus der Schwärze, sprang über sie und versank hinter ihr wieder in den Untiefen.

Unbeeindruckt schritt die Frau auf der Stelle und richtete sich so neu aus.

Das Wesen durchstieß erneut die Oberfläche des pechschwarzen Meeres.

Prompt strecke sie ihren Arm aus und packte das Geschöpf. Es sah aus wie eine Mischung aus Aal und Fisch mit rasiermesserscharfen Flossen. Doch seine natürliche Bewaffnung half ihm wenig, dem festen Griff seiner Peinigerin zu entkommen.

“Da bist du ja, Nummer vierundvierzig”, sprach die Weißhaarige. Dann führte sie die Kreatur zu ihrem Mund und begann sie Stück für Stück, Happen für Happen, bei lebendigem Leibe zu verzehren.
 

Kaum war der Dolch ein Teil von ihr, erkannte Nebula seine wahre Natur. Sein Name war Mirage und er besaß die Macht, jegliche Vorstellung des Trägers Realität werden zu lassen und so auch Valerias Hass eine Form zu geben. Die Phantome entsprangen der Fantasie einer gepeinigten und rachsüchtigen Frau, die das Opfer des Hasses anderer geworden war.

Denn oft ist der Mensch schlimmer als der Teufel.
 

🌢
 

Zögerlich öffneten die Männer der Stadtwache die Augen.

Die verschwommenen Silhouetten von neugierigen Anwohnern erschienen vor ihnen. Sie waren gekommen, nachdem die Opfer der Phantome aufhörten, sich hektisch zu regen, um ihre Neugier zu stillen. Der Fluch der Phantome hatte keine weiteren Opfer eingefordert. Die Wachmänner konnten sich nicht erklären, was mit ihnen passiert war, also versuchten sie es erst gar nicht.

Gerüchte über die Ereignisse, sollten sich abermals schnell in der Stadt ausbreiten.
 

Die Sonne versank am Horizont.

Eine gespenstige Stille lähmte die sonst so lebendige Stadt. Angst hatte sie fest im Griff.

Dennoch blieb die Zeit nicht stehen.

Henning saß noch immer in seiner Zelle.

Endlich kam einer der Wachen und ließ den verängstigten Jungen frei, denn es gab keinen Grund, ihn noch länger gefangen zu halten.

“Steh auf!”, befahl die Wache, als er sich trotz offener Tür nicht bewegte.

Er konnte nicht begreifen, dass er nun frei war.

Nachdem Nebula gegangen war, kam der Hauptmann der Wache erneut, um ihm weitere Fragen zu stellen. Er konnte die Schmach, dass ausgerechnet ein Weib mehr herausbekommen hatte, als seine besten Männer, nicht verknusen. Mit Gewalt versuchte er noch mehr Informationen aus Henning herauszuprügeln. Doch wo nichts war, konnte man nichts erfahren. Die Schläge sollten nun wirklich ein Ende haben? Gesicht und Körper des Jungen waren von Hämatomen übersät, nachdem man ihn misshandelte. Und dies waren nur jene Verletzungen seiner physischen Gestalt. Welchen Schaden seine Seele davongetragen hatte, konnte niemand einschätzen.

Der Wachmann verlor die Geduld und zerrte Henning aus der Zelle.

Ohne jede Entschuldigung für seine Gefangennahme und die Folter, obwohl er nichts falsches getan hatte, setzte man ihn nun vor die Tür.

Da er sich nicht besser zu helfen wusste, machte er sich auf den Heimweg.

Zuhause angekommen, umarmten ihn seine Eltern.

Sie spürten sein Zittern.

Er spürte die Wärme ihrer Umarmung.

Aber niemand sah ihn in der Finsternis versinken.
 

Als sich die Nacht über die Stadt legte, tönte eine wütende Stimme durch die Gassen.

Es war fast, als würde sie mit ihrer Kraft das Schild der Taverne in Schwingung versetzen.

Gäste verließen das Etablissement aus Sorge um ihre eigene Unversehrtheit.

“Gebt mir endlich was zu trinken!!”, forderte der stockbesoffene Mann am Tresen.

Doch der Schankwirt tat einen Teufel, ihm noch mehr einschenken.

Vor dem Mann sammelten sich bereits die Krüge.

“Los macht schon!”, tönte er erneut. “Gebt mir was zu saufen!”

“Ihr habt genug gehabt!”, erwiderte der Wirt.

Plötzlich sprang der Betrunkene von dem Hocker, auf dem er saß, packte sein Gegenüber und zog ihn gewaltsam auf den Tresen. “Ich will was trinken!”

“Hey!”, empörte sich ein anderer Gast.

Drei andere Männer brauchte es, um den Säufer unter Kontrolle zu bringen und den Wirt zu befreien. “Ihr wisst nicht, wann Schluss ist!”, belehrte einer der Männer.

“Ach halt doch deine Fresse!”, entgegnete der Säufer.

Die couragierten Kunden versuchten den Mann aus der Taverne zu buchsieren.

“Jetzt mache es dir nicht unnötig schwer!”, sprach der zweite Mann.

“Gebt mir mehr Bier! Ich will vergessen!”

“Nix da! Du hast schon deinen Anstand vergessen!”, meinte der dritte Mann.

“Leckt mich! Allesamt!”

Auf halbem Weg fuhr für einen kurzen Moment übermenschliche Kraft durch den Körper des Betrunkenen, als hätte er kein Bier, sondern den Zaubertrank von Miraculix konsumiert. Er befreite sich unter angestrengten Grunzen und schlug dem Mann zu seiner linken derb ins Gesicht, sodass dieser benommen rückwärts ging. Ein zweiter beantwortete die Aggression mit einem Schlag in die Magengrube und ließ den stark alkoholisierten Unruhestifter zusammenzucken.

Doch nur kurz.

Immerhin hatte er genug Intus, um ein ganzes Bataillon zu betäuben.

Er erlangte seine Kräfte zurück und schlug die anderen Männer.

Der zweite und der dritte Mann mussten einstecken.

Ein unkoordiniertes Gewitter von Faustschlägen prasselte auf sie ein.

In der Zwischenzeit fing sich der erste wieder und landete einen entscheidenden Treffer, der den Besoffenen rücklings auf einen Tisch warf, an dem noch andere Gäste saßen und dem Schauspiel aus vermeintlich sicherer Entfernung beiwohnten. Eine handfeste Kneipenschlägerrei bekam man immerhin nicht alle Tage geboten. Doch ihre Neugier bezahlten sie nun. Vor Schreck fielen sie rücklings von ihren Sitzgelegenheiten, als der Tisch unter der Krafteinwirkung des auf ihn aufkommenden Mannes zusammenbrach und sich die Reste von Ale und Schnaps auf seinen Kopf ergossen, als die fallenden Krüge ihren Inhalt über seinem Kopf entleerten. Schleunigst brachten sich die nicht an der Schlägerei beteiligten Gäste in Sicherheit. Stöhnend blieb der Betrunkene liegen, bis ihn seine Kontrahenten packten und an die frische Luft zerrten.

Er flog fast aus der Tür hinaus und landete mit dem Gesicht im Schlamm.

Sofort raffte er sich auf und wollte zurück in die Taverne stürmen, seinen Gegnern eine Abreibung verpassen. Aber er rannte nur gegen eine ausgestreckte Faust, taumelte im Kreis, sah Sterne trotz der Wolken und kippte nach hinten um.

So verweilte er eine Weile, bis er aufstand und zum nächsten Wirtshaus ging.
 

Einen Leichnam zu bestatten, war eine schmutzige Arbeit.

Überall an Nebulas Körper befand sich nun Schmutz. Unter ihren Fingernägeln war es schwärzer als in einem Pechkessel. Erde bedeckte ihre Unterarme und ihr Gesicht. Mindestens einmal hatte sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt und sich so beschmutzt. Außerdem roch der Gestank ihrer Ausdünstungen alles andere als appetitlich. Nebula hatte Matthew dabei unterstützt, Valeria so würdevoll zu bestatten, wie es situationsbedingt möglich war. Danach ließ sie ihn auf seinen Wunsch allein und beschloss, in einem Badehaus etwas gegen ihren Eigengeruch zu unternehmen.

Sie musste sich gedulden, bevor ein Zuber für sie frei wurde.

Dann war es endlich so weit.

Genüsslich ließ sie ihren Körper in das heiße, schaumige Wasser gleiten.

Doch der Genuss verging ihr alsbald. Sie fühlte Augen in ihrem Nacken. Ob diese Cerise sie noch immer von irgendwo aus beobachtete?

Sie sah sich um.

Verschiedenste Frauen hatten sich eingefunden und genossen gemeinschaftlich das Ritual der Reinigung. Alte und junge, große und kleine, dicke und dünne. Einige unterhielten sich. Eine lebendige Atmosphäre. Sie alle spülten den Schmutz des Tages ab, so wie sie es tat. Keine dieser Frauen war heute in der Kirche gewesen. Angst haben, erkannt zu werden, musste sie nicht. Nach solch einem Erlebnis käm gewiss niemand auf die Idee, baden zu gehen - außer ihr natürlich.

Gezwungenermaßen ließ sie ihr Bad an den Tag denken, an dem ihr Henrik begegnete. War dieser Lustmolch tatsächlich in das Damenbadehaus eingedrungen, unter dem Vorwand sich bei ihr bedanken zu wollen. Sie starrte auf die Tür. Mit seinem verletzten Bein würde es ihm schwer fallen, das heute zu wiederholen.

Ein diabolisches Grinsen zierte ihr Gesicht.

Wie gemein von ihr!

Eigentlich wollte sie ihm gegenüber nicht so fies sein.

Bei dem Gedanken an ihn, wurde ihr auf einmal ganz seltsam zu Mute.

Sie bekam ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch, wie eintausend Schmetterlinge. Sie wollte es nicht wahrhaben. Konnte es sein, dass sie in ihn… Nein! Auf keinen Fall! Doch das Kribbeln intensivierte sich, fühlte sich an, als wollten die Schmetterlinge nach Außen brechen. Dann plötzlich: Ein donnerndes Grollen, wie bei einem Unwetter in weiter Ferne.

Blasen stiegen aus dem Wasser auf.

Das Kribbeln verflog und ein übler Geruch breitete sich an seiner statt aus.

Nun ging es ihr besser. Hatte sie vielleicht etwas falsches gegessen?

Die Lautstärke ihres Donnerwetters zog die Blicke der anderen Gäste auf sie.

So viel dazu, nicht aufzufallen...

Peinlich berührt, versank sie im Schaum und wünschte sich, unsichtbar zu sein.
 

Nachdem sie sauber zurück in die schmutzige Kleidung gestiegen und so unauffällig wie möglich aus dem Badehaus entschwunden war, kehrte sie zur Taverne der Brüder zurück. Auf einmal kreuzte ein torkelnder Tollpatsch ihren Weg. Warf sich fast auf sie, als er das Gleichgewicht verlor und stürzte. Es war ihr sehr unangenehm, also schubste sie ihn von sich weg. Er landete im Dreck, rappelte sich auf, wollte aufstehen, doch das Gebräu in seinem Magen zwang ihn auf die Knie zurück. Er musste sich auf die Straße übergeben.

“Widerlich!”, kommentierte die Blondine.

Mehr als ein Brummen brachte der Betrunkene nicht zu Strande.

“Wir haben es wohl übertrieben?”

Erneut nur brummen.

Nebula hob ihn an und erkannte zwischen den Resten von Erbrochenen, dem Straßenschlamm und dem mutmaßlich aus einer Schlägerei stammenden Schwellungen in seinem Gesicht Marcus, den älteren der Brüder. “Was ist denn mit Euch passiert?”

“Ich wollte was trinken!”, antwortete Marcus.

“Habt Ihr scheinbar zu genüge!”

“Sie haben mir nichts mehr gegeben!”

Nebula half Marcus beim aufstehen. Er wischte sich das Erbrochene und den Schlamm aus dem Gesicht. Sie sah ihn voll des Bedauerns an. “Ihr kommt jetzt mit mir zur Taverne und schlaft Euren Rausch aus.”

Marcus musste schnell einsehen, dass es bei der brutalen Schönheit keine Widerrede gab. Ohne weiteren Widerstand zu leisten, resignierte er und ließ sich von Nebula zur Taverne eskortieren. Anschließend fiel er wie ein Stein in sein Bett.
 

Eine weitere Woche verging.

Nebula ging nicht mehr ohne ihre Kutte vor die Tür. Gerüchte von einer Heldin mit übermenschlichen Kräften machten den Umlauf. Schwarze Fee nannte man sie. Obgleich sie ihr mit Furcht begegnen oder sie vergöttern würden, wollte Nebula nichts damit zu tun haben. Sie konnte es nicht gebrauchen, urplötzlich eine lokale Berühmtheit zu sein. Drum zog sie ihre Kopfbedeckung stets so tief, dass sie selbst fast nichts mehr sehen konnte. Irgendwie gelang es ihr, von niemandem angesprochen zu werden.

Henrik langweilte sich sehr in seinem Bett. Den halben Tag schon. Die Schiene wie eine Fessel. Es war zu früh, um aufzustehen. Was sollte er also tun?

Dann kamen Annemarie und Nebula zur Tür herein. Die Blonde legte ihre Kutte ab und fühlte sich befreit. Das Mädchen trug wie immer ihr Buch mit dem blauen Einband bei sich. “Willkommen zurück!”, grüßte er seine Begleiterinnen. “Wo wart ihr denn?”

“Ich habe Nebula aus meinem Buch vorgelesen.” Stolz hielt sie es hoch. Volkes Märchen stand groß auf ihm geschrieben. Doch die Schriftzeichen sagten Henrik überhaupt nichts.

“Worum geht es in deinem Buch?”, fragte er.

“Aber das steht doch drauf”, gab sich das Mädchen unverstanden.

Nebula sah sie streng an.

“Ach so, du kannst ja nicht lesen.”

Nebula schaute noch strenger.

Doch Annemarie war sich keiner Schuld bewusst und lächelte fröhlich und unschuldig. Dann rannte sie zu Henrik und setzte sich auf das Bett. “Ich bin aber auch noch nicht so gut”, gestand sie ein. “Warum lernen wir es nicht zusammen?”

Annemarie las aus dem Buch vor und Henrik lauschte ihr.

Nebula nahm sich einen Stuhl und sah den beiden zu. Bald begannen sie mit ihren Fingern den Buchstaben zu folgen und versuchten, die Silben auszusprechen. Nebula fühlte sich unweigerlich an ihre Kindheit erinnert, als sie von ihrem Kindermädchen das Lesen gelehrt bekam.

“Die Mistress muss lesen können, damit sie sich bilden kann”, hatte sie immer gesagt. “Kein Prinz mag eine Prinzessin mit mehr Stroh im Kopf, als ein Kornspeicher.”

Liselotte.

Sie fragte sich, wie es ihr wohl ergangen war.

Fortan lasen Henrik und Annemarie jeden Tag die Märchen des Volkes. Jedes Mal klappte das Lesen besser. Für beide. Und so konnte Henrik die Zeit nutzen, die ihn seine Verletzung vom Leben fernhielt, und endlich lesen lernen.

Nach ungezählten weiteren Tagen und Nächten hatte die Schiene ihren Dienst getan.

Der Arzt kam ein letztes Mal, um sie zu entfernen.

Endlich war Henrik wieder frei!

Bald darauf packten sie ihre sieben Sachen. Nebula erinnerte sich an den Brief, den sie erhalten hatte. Sie musste schnellstmöglich nach Ewigkeit. Durch Henriks Verletzung hatten sie kostbare Zeit verloren. Die konnten sie nur wieder wettmachen, wenn sie den Weg über Faringart gingen. Ein Ort, bekannt als die Stadt der Jäger.

Sie verabschiedeten sich von den Brüdern.

Wieder nötigte Nebula Henrik, sämtliches Gepäck zu tragen.
 

Als die Jahreszeiten ins Land zogen, sah Matthew tatenlos mit an, wie sich Marcus ins Unglück stürzte. Fast alles Geld versoff er bei der Konkurenz. Jener, bei der er noch kein Hausverbot erteilt bekommen hatte. Würde Marcus sich totsaufen oder würde ihn vorher kein Wirt mehr an seinen Tresen lassen?

Das musste unbedingt aufhören!

Er konnte es nicht mehr verantworten, seinem Bruder zuzusehen, wie er immer weiter in die Abwärtsspirale aus Alkohol und Gewalt hinein rutschte. Er wusste, dass sein Bruder nur seinen Kummer betäuben wollte. Deshalb beschloss er, ihm endlich die Wahrheit zu sagen.

Das er Valeria gefunden und heimlich gepflegt hatte.

Das er sie selbst auch begehrte.

Dass sie nun bei seinem Zweithaus im Garten lag.

Nur den Teil mit den Morden ließ er aus.

Monatelang wollte Marcus nicht mehr mit ihm sprechen. Doch dann trafen sie sich eines Tages an Valerias Grab, als sie ihr beide gleichzeitig einen Strauß Blumen mitbrachten. Anstatt sich anzuschreien, hielten sie einander die Hände und beteten für Valerias Seele.
 

Der Mond schien in einer klaren Nacht durch das Fenster.

Ein Mädchen mit dunklen Haaren lag in ihrem Bett und träumte.

Die Tür öffnete sich.

Henning betrat das Zimmer seiner Schwester und setzte sich auf das Bett. Das einfallende Licht des Erdtrabanten ließ den Gegenstand in seiner Hand funkeln. Das spitze Küchenwerkzeug wippte auf und ab in seiner unruhigen Hand. Begeistert starrte er mit irrem Blick auf die Klinge in seiner Hand.

Plötzlich rührte sich seine kleine Schwester.

Hastig ließ er das Messer unter dem Ärmel seines Oberteiles verschwinden.

“Hallo, Brüderchen”, sprach die Kleine. “Was machst du hier?”

Als sie die Arme nach ihm ausstreckte, ließ er sich zur Seite fallen und erlaubte dem Mädchen so, ihn fest zu drücken. Die Kleine Schloss schloss ihre Augen wieder und schlief weiter. Er fühlte ihren Atem auf seiner Haut.

Henning holte das Messer wieder hervor.

Er spielte erneut mit ihm herum. Die Reflektionen des Mondlichts wurden überall an die Wände geworfen. Dann sah er auf seine kleine Schwester und wieder auf die Klinge.

Würde er den letzten Schritt auch noch gehen?

Rendezvous im Mondschein


 

🌢
 

Die drei roten Augen des schwarzen Vogels stachen aus dem Dunkel der Nacht hervor. Er segelte durch die Finsternis und steuerte einen Baum mitten im Wald an. Die Empfängerin hockte auf einem dicken Ast des mächtigen Gewächses und streckte dem Vogel eine schmale Hand mit langen Fingern, gehüllt in einen schwarzen Handschuh, entgegen. Er landete auf ihr und wurde alsbald von einer zweiten sanft gestreichelt.

Ein Windstoß wehte durch das Geäst.

Die Haare der Frau auf dem Ast wurden zum Spielball der heftigen Briese.

Die Frau untersuchte den Vogel. Am Kropf des sonderbaren Tieres befand sich ein Halsband mit einem kleinen zylinderförmigen Gefäß. Sie öffnete den Verschluss und entnahm einen winzigen Brief. Die Schrift konnte sie dank ihren scharfen Augen mühelos entziffern. Er enthielt einen Auftrag und die benötigten Informationen, um ihn zu erfüllen.

Kaum war die Nachricht gelesen, verbrannte sie zu Asche.

Aus einer Tasche holte die Frau ihrerseits ein winziges Pergament und einen Griffel hervor, um ihre Antwort zu verfassen.

Matriarchin, ich habe verstanden.

Der Auftrag wird zur vollsten Zufriedenheit des Klienten erledigt werden.

Ich werde keine Spuren hinterlassen.

Sie beendete ihren Brief mit einem Schwur auf die Mutter der Zwietracht - wen auch immer sie damit meinen mochte - und steckte das Schriftstück dem Vogel zu. Dann hob sie ihren Arm.

Die Kreatur krächzte zweimal, schwang sich in die Lüfte und flog dem Mondschein entgegen.

Die Unbekannte machte sich ihrerseits auf den Weg.
 

Frank war schon früh in den Morgendunst hinausgegangen, da er seiner Liebsten einen Strauß Bergblumen steigen wollte. Er fand so gleich, was sie begehrte: Blau war der Adelheid die liebste Farbe. Doch weiter oben gab es noch mehr von ihnen.

Ein Stein löste sich. Hektisch versuchte Frank noch halt zu finden, doch er rutschte ab.

Als der Schmerz nach ließ, der auf die Landung gefolgt war, und er sich sicher war nicht tot zu sein, rappelte sich der tapfere Bursche auf. Ein paar Blessuren und Schürfwunden brachte ihm das Klettern ein, doch ernsthaft verletzt schien er nicht zu sein. “Ze fix, i hob ma den Oasch gebrochn!”, stieß er lauthals fluchend aus und befühlte dabei seinen Allerwertesten. Dann kehrte er den Berg entnervt den Rücken. Auf dem Heimweg wollte er Zeit sparen und nahm eine Abkürzung durch eine Schlucht. Er war nur ein Stück gegangen, als er eine Blutspur auf dem Boden entdeckte. “Mei God, wo kimmd des Blut ha?!”, sprach er, um sich selbst Mut zu machen, weiter zu gehen.

Die Spur führte ihn um eine Ecke.

Dort saß ein Mädchen in einer Tracht. Sie lehnte an der Felswand.

Frank kannte sie. “Himme, Oasch und Zwirn, Des is ned wahr!”, tat er seinem Entsetzen Kund. Es war die Adelheid.

Ihr Trachtenkleid blutüberströmt und in fetzen Gerissen, der linke Arm zertrümmert und zerkratzt und ihr Brustkorb aufgebrochen. Vom bösen Wolf, da war Frank sich sicher. Schnell wollte er zurück in die Stadt und den Jägern Bescheid geben. Doch dann hallte das Geheul der hungrigen Bestie durch die Schlucht. Frank nahm die Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Er spürte die Erschütterung des sich nähernden Unheils. Der Versuch schneller zu sein, war vergebens. Ein mannsgroßer, grauer, pelziger Schatten warf sich auf ihn und zerbiss seinen Nacken.
 

Nebula, Henrik und Annemarie erreichten Faringart.

Es war gut eine Woche her, dass sie Schleierfirst den Rücken gekehrt hatten.

Stadt der Jäger nannte man den Ort, den sie just erreichten. Dies wurde jedem klar, der nur die Augen aufsperrte und sich umsah. Wo links die Waidmänner ihre Trophäen feilboten, gerbten rechts die Ledermacher die Häute der erlegten Tiere.

“Woah, das ist ja voll beeindruckend hier!”, staunte Annemarie, als sie sich umsah.

“Faringart versorgt halb Morgenstern mit Jagdbeute aller Art”, erklärte Nebula, stets bemüht, nicht zu weit unter ihrer Kutte hinauszuschauen.

“Uff!”, stöhnte Henrik unter der Last seines Gepäcks. “Schön, wenn es euch beiden hier so gut gefällt”, sagte er anschließend. Die Beule auf seinem Rücken, welche von dem riesigen Sack geformt wurde, war noch größer als je zuvor.

“Willst du mir damit etwas sagen?”, fauchte ihn die Blondine vorwurfsvoll an.

“Das Z-Zeug ist ganz sch-schön schwer!”

“Höre auf zu klagen! Oder willst du einer Lady zumuten, schwer zu schleppen?”

“Du bist v-viel stärker als ich.”

“Na und?!”

Henrik konnte sich seiner masochistischen Vorliebe für ihre sadistische Ader nicht erwehren. Er war ihr hoffnungslos verfallen. Aber er traute sich nicht, sie auf seine Gefühle anzusprechen. Was sollte diese starke und schöne Frau, diese Augenweide von einer Amazone, mit ihm anfangen, der er sich nur zu verstecken weiß, wenn es brenzlig wird. Nein, sie würde seine Gefühle niemals erwidern!

Nebula sah sich verlegen zu ihrem Begleiter um. Nachdem er selbstlos in ihren Albtraum gekommen und sie vor sich selbst gerettet hatte, änderte es ihr Bild von ihm. Sie dachte viel zu oft an ihn. Und das gefiel ihr nicht! Darum ließ sie ihn wieder schwer tragen. Das geschah im ganz Recht, so unverfroren in ihren Kopf einzudringen und ihn nicht mehr zu verlassen.

Auf einmal wurde es wuselig auf dem Markt.

“Da böse Woif hod den Frank und de Adelheid gefressn!”, rief eine dicke Frau.

“Oh na, des is jo schrecklich!”, antwortete ein dünner Mann.

Nebula horchte auf.

Annemarie zerrte am Arm der Söldnerin. “Warum reden die alle so komisch?”, fragte sie unverfroren. “Ich versteh’ kein Wort.”

“Diese Leute sind ein bisschen eigen”, antwortete Nebula. “Gute Jäger, aber eigen.”

Henrik schnaufte und stöhnte weiter unter seiner Last.

“Sagt, guter Herr”, sprach die Blondine zu einem der aufgeregten Stadtbewohner, “was hat sich zugetragen?”

“Hobt Ihr 's ned gehört? Da Frank und de Adelheid wurdn vom Woif gefressn!”, antwortete der Mann.

“Den Teil habe ich verstanden!”, zischte sie genervt. “Was hat es mit dem Wolf auf sich?”

“Seid Ihr ned vo do? 's dreibt si a besonders garstiga Isegrim herum. Ea frisst ois, wurscht ob Mensch oda Viech. Und besonders gern frisst ea de Herzn.”

Annemarie klammerte sich an Nebula. “Ich hab Angst”, sagte sie.

“Wenn am Viech endlich oana des Fell üba de Oahn ziang würde, kanntn mia nochds wieda ruhig schlafa!”, fuhr der Mann fort.

“Ich kann nicht mehr!”, ächzte Henrik und setzte sein Gepäck mit lautem Scheppern ab.

Nebula funkelte ihn an, als wäre ein Wort von ihm schon zu viel. Doch sie sorgte sich wohl mehr um ihr Hab und Gut, welches so unsanft den Boden geküsst hatte.

“D-Du hast dich doch sch-schon mal mit einem Rudel Wölfe angelegt”, fuhr Henrik fort. "Das stellt für dich doch kein Problem dar, o-oder?"

Ungläubig beäugte der Einheimische die ein Meter achtundfünfzig große Fremde. “Du bisd Jagerin, Madl?” Das konnte er sich einfach nicht vorstellen.

“Nicht ganz”, Widersprach sie und öffnete ihre Kutte weit genug, um das Schwert an ihrem Bund freizulegen. “Ich bin eine Söldnerin.”

“Dann gehst du am Besdn moi zum Fiast, Madl!”
 

Georg, der Fürst vom Finsterwald, stand auf dem Podest wie der Hahn auf dem Mist und krähte seine Parolen. Seine grauen Haare wehten im Wind. Um ihn herum versammelte sich das Waidmannsgefolge der Umgebung und lauschte seiner flammenden Rede. Anders als das einfache Volk, verfiel er keinem eigentümlichen Dialekt.

“Wollt ihr weiter zusehen, wie Isegrim eure Buben und Mädl ermordet? Wie das Mistvieh uns alle bedroht?” Dann zeigte er in die Menschenmenge. “Du, mein Freund! Was ist, wenn der Wolf dein Weib frisst?” Er zeigte auf jemand anderen. “Und du mit deinen sieben Schwestern. Willst du sie nicht beschützen?” Zufrieden lauschte er dem Jubel der Jäger.

“Am Gerbe i des Leda!”, skandierte Einer

“Des Vieh werd mei neia Bettvoalega!”, prahlte ein Zweiter.

Georg lächelte von einem Ohr zum anderen, als er die aufgeheizte Meute erblickte, in der ein jeder versuchte, sein Gegenüber verbal zu übertreffen. Nur zwei ließen sich nicht von der Stimmung anstecken. Der eine war der vor zwei Jahren zugezogene Jäger Clay. Ein Mann, der nur selten sprach und niemals zur Wichtigtuerei verleiten ließ. Aber die zweite, ziemlich kleine Person unter der Kutte kam ihm fremd vor. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. “Ihr”, sprach er sie an. “Wieso seid Ihr so schweigsam?”

“Ich ziehe es vor zu leisten, statt zu prahlen!”, rief die unbekannte Person aus der Menge.

“Ihr seid nicht auf den Mund gefallen. Wollt Ihr mir nicht Euer Gesicht zeigen?”

Die Kutte fiel und enthüllte Nebulas goldblonden Haare.

Alle Jäger staunten, da sie einen Mann erwartet hatten. Bis auf Clay, welcher weiter schwieg. Als ob es ihn nicht mehr überraschte.

“Gebt mir einen Kreuzbogen und ich beweise Euch, dass aus meinem Mund mehr als nur heiße Luft kommt.”

Georgs Mundwinkel schnellten vor Entsetzen zu Tale.

Ungläubig schüttelte Clay mit dem Kopf.

Daraufhin sprach keiner mehr mit Nebula.

Die Versammlung löste sich auf, als Georg zur Jagd ins Horn stieß.

“Hier, fangt!”, rief es auf einmal hinter Nebula.

Blitzschnell wandte sie sich der Stimme zu und konnte gerade noch die Armbrust fangen, die der schweigsame Jäger ihr zuwarf. Als einziger war er geblieben. “Ihr sagtet, man solle Euch einen Kreuzbogen geben”, erklärte sich Clay. “Ich habe ein Pferd, doch ich kann nicht gleichzeitig reiten und schießen. Wenn Ihr wirklich so gut schießen könnt, Mädchen, dann würde ich Eure Hilfe gern in Anspruch nehmen.”

“Nennt mich nicht ‘Mädchen’!”

“Wieso? Seid Ihr etwa doch ein Kerl?”

Brummend stellte Nebula ihren Unmut zur Schau.

“Wie heißt Ihr denn?”

“Nebula.”

“Freut mich. Mein Name ist Clay.” Er reichte der Blondine die Hand.

Nebula erwiderte die Geste.
 

Egal ob Wolf, Bär oder Berglöwe. Die Raubtiere des Finsterwald fielen den Bögen der Waidmänner zum Opfer.

Nebula und Clay durften gegenüber den anderen nicht nachstehen.

Ein Grauwolf flitzte durch den Herbstwald.

Nebula saß hinter Clay auf dem Schimmel und spannte den geliehenen Kreuzbogen. Dadurch hatte sie keine Hand mehr frei und musste sich mit den Schenkeln und Waden am Körper des Pferdes wie eine Zange festklammern, um nicht herunterzufallen. Im vollen Galopp jagten sie den Grauwolf. Nebula beugte sich an der imposanten Erscheinung von Mann vor ihr vorbei und nahm das Raubtier mit gespannter Armbrust ins Visier. Sie betätigte den Abzug. Ein Klicken und das Projektil wurde vom ruckartig entspannenden Strick nach vorn katapultiert.

Der Wolf wusste nicht, wie ihm geschah, als sich das Geschoss in seinen Nacken bohrte, ihm das Rückenmark durchtrennte und augenblicklich tötete. Das Tier wurde aus der Bahn geworfen, überschlug sich und kam dann zur Ruhe.

Clay und Nebula saßen ab und ernteten die Früchte ihrer Arbeit.

“Euer Umgang mit dem Kreuzbogen ist wahrlich meisterlich”, staunte der Jäger, als er den perfekt durchstoßenen Nacken des Raubtieres in Augenschein nahm. “Keiner dieser aufgeblasenen Möchtegerne wäre dazu fähig.”

“Ich verspreche nie etwas, das ich nicht halten kann”, versicherte Nebula.

“Solcher Menschen gibt es leider viel zu wenige.” Dann unterbrach Clay die Konversation. Stattdessen zückte er sein Häutungsmesser und befreite den Wolfskörper vom Pelz. Sie hatten das erste Tier erlegt und würden hier nicht aufhören.
 

Gegen Abend trafen sich die Jäger, um ihre Beute zur Schau zu stellen.

Die Männer lobten sich gegenseitig.

“Und, wia vui hobt Ihr gschossn?”

“Zwoa. Und Ihr?”

“I ealegte gleich via!”

Georg freute sich über die erfolgreiche Jagd. Zwar konnte niemand mit Sicherheit sagen, dass die Bestie unter den erschlagenen Raubtieren war, doch um die Pöbel zu beschwichtigen, reichte es allemal.

Plötzlich wurde es laut.

Georg schaute in die Menge und erspähte die vorlaute Blonde, wie sie ein Bündel mit mindestens zehn Fellen über ihrer Schulter trug und vor Stolz schwellender Brust auf dem Platz aufmarschierte, wie ein überdekorierter General bei einer Militärparade. Auf mehrmalige Nachfrage bezeugte Clay, dass sie alle Tiere selbst geschossen hatte. Ihm ließ sie nur die eine Beute, deren Fell er trug.

Zu später Stund feierte ganz Faringart das große Jägerfest.

Es gab Weißwurst, Sauerkraut, Knödel und Bier.

Annemarie schlief schon, aber Henrik feierte mit. Er saß neben einem hübschen Mädchen mit langen blonden Haaren. Die Tochter des Försters. Er hatte sie zuvor noch nie gesehen, aber er fand, dass sie ein nettes Lächeln hatte. Sie war bestimmt mindestens drei Jahre älter als er, doch das störte ihn wenig.

“Wie hoasst du?”, fragte das Mädchen. “Mei Name is Henrike.”

“D-Das ist ja lustig”, antwortete er. “Ich bin Henrik.”

“Des mua a Wink des Schicksals sei. Mia soidn heiradn.”

Panik stieg in dem Schmied auf, wie einst die Hitze in seiner Werkstatt. “W-W-Was?”

“Beruhig di, i necke di doch grod." Sie hob ihren Bierkrug an und sah fordernd zu Henrik, bis er es ihr gleich tat. “Du bisd a siassa Buab. Zum Wohl!”

Sie stießen an und schäkern fast das ganze Fest miteinander. Durch den Zauber des Gerstensaft kamen sie sich immer näher. Irgendwann stahlen sie sich davon.

Nebula spürte, dass sie vor Clay wirklich geglänzt hatte.

Doch er beeindruckte sie auch. Er konnte genauso saufen wie sie.

“Wieso trinkt Ihr nicht?”, fragte Clay, als er bemerkte, dass Nebula noch immer am ersten Krug Bier festhielt. “Schmeckt es nicht?”

“Es ist so gehaltlos”, antwortete sie. “Und sie haben hier nur Dünnbier.”

“Mit der Zeit gewöhnt man sich selbst an das.”

Es blieb ihr nicht verborgen, dass der Mann immer wieder zum Himmel aufsah. “Wieso schaut Ihr andauernd rauf?”

“Seht Ihr den Mond?”, fragte er leicht angeheitert. “Bald schon wird Vollmond sein. Dann zeigen sich die wahren Monster.” Er legte eine Kunstpause ein. “Haben Ihr und Eure Begleiter vor, länger zu bleiben, Nebula?”

“Wir sind nur auf der Durchreise. Morgen oder übermorgen wollen wir weiterziehen.”

“So bald schon? Dann erlaubt mir wenigstens noch einmal mit Euch auf die Jagd zu gehen. Diesen Monat darf ich noch ein paar Tiere erlegen.”

Das Jagdrecht lag bei den Adligen. Doch Fürst Georg verlieh jedem Jäger die Erlaubnis eine festgelegte Zahl an Tieren pro Monat zu erlegen.

Sie verabredeten sich für den kommenden Tag zur Rotwildjagd.
 

🌢
 

Henrike schlug im fremden Bett die Augen auf.

Ihr Arm ertastete die andere Seite des Bettes. Sie erfühlte eine Person neben sich. Erschrocken stellte sie fest, dass es der Junge war, mit dem sie auf dem Fest getrunken hatte. “I war doch ned etwa umtriebig mid am?”, sprach der Schock aus ihr.

Henrik schlief zufrieden, tief und fest wie ein Stein.

“Moment moi, i droge no mei Kleidl”, fiel ihr auf.

Dann kam die Erinnerung zurück.

Sie hatten weiter getrunken und der Junge stahl einen Kuss. Dann entfernten sie sich vom Fest, als sie das Bedürfnis nach Zweisamkeit verspürten. Doch weiter als bis zum Bett, hatten sie es nicht geschafft. Henrik war volltrunken wie ein Sack hinein gefallen und sofort eingeschlafen. Erleichtert setzte sie sich auf und sah noch einmal auf den jungen Mann. “Du bisd a siassa Buab”, flüsterte sie und streichelte seine Wange.

Sie stand auf und zog ihre Schuhe wieder an.

Vorsichtig steckte sie ihren Kopf aus der Tür. Am Morgen aus dem Zimmer eines Jungen zu schleichen, könnte ihren Ruf schädigen, täte es jemand beobachten. Als sie sich sicher war, dass sie niemand sah, schlich sie sich aus dem Gasthof und machte sich auf den Weg nach Hause.

Wenig später kam Henrik zu sich und verfiel bei dem Gedanken, was sich letzte Nacht seiner Meinung nach zutrug, in Panik.

Unter Schweißausbrüchen schritt er wenig später im Zimmer auf und ab.
 

Nebula trieb die Frage um, wie ein einfacher Jäger zu einem stolzen Schimmel gekommen war. Auch aus diesem Grund stimmte sie zu, noch einmal mit ihm zu jagen. Aber sie wollte auch in Erfahrung bringen, ob er vielleicht mehr wusste, als er zugab.

Gejagt wurde entweder am Morgen oder am Abend, wenn das Licht der Dämmerung schwach war und dem Jäger die Tarnung erleichterte. Darum musste Nebula noch im Schutz der Dunkelheit aufbrechen, um Clays abgelegene Hütte rechtzeitig zu erreichen.

Der imposante Mann stand bereits vor seiner Jagdhütte und raufte seinen Bart. Das Gebäude hatte eine Tür, zwei Fenster an der Front und ein kaum wahrnehmbares drittes im Fundament an der Giebelseite. Zudem erspähte sie den Stall des Schimmels und einen kleinen Holzverschlag nicht weit entfernt.

“Guten Morgen”, grüßte Nebula. “Was schaut Ihr so skeptisch?”

“Ihr tragt keine Fernwaffe”, antwortete Clay. “Wie wollt ihr Rotwild schießen?”

Nebula hatte mental ausgeblendet, das sie Gastraphetes unmöglich vor seinen Augen entblößen könnte, und daher nicht an Ersatz gedacht.

Clay verschwand kurz in der Jagdhütte und kam mit der Armbrust vom Vortag und einem Köcher wieder heraus. “Hier, Ihr könnt die hier haben. Ich bevorzuge sowieso den Bogen.”
 

Benno, der Förster, war gerade dabei Holzscheite zu schlagen, als er seine Tochter heimkehren sah. Sofort unterbrach der korpulente Mann sein tun. Mit finsterer Mine, empfing er das Mädchen.

“Griaß God, Pappa”, begrüßte Henrike ihren Vater fröhlich.

“Wo bisd du gwen, Henrike?”, löcherte er sie vorwurfsvoll. “Hosd du di mid Burschn herumgetriebn?!”

“Na, wos redest du do fia oan Schmarrn? I war zua lang auf am Fest. 's war zua dunkl um heim zua gengan. Hättest aa keman soin.”

“Schmarrn. Fia sowas hob i koa Zeid.” Bennos Blick viel auf den gigantischen Haufen Holz, den er noch schlagen musste. “De vadammdn Knechte san beim Bam schlogn zua floassig! Wenn du ma heifd wuist, kannst du ma und den Jungs scheene Woasswürschd brühn.”

“Du denkst oiwei grod os Essn!”

Eingeschnappt stiefelte das blonde Mädchen hinein ins Försterhaus, um einen Kessel für die Weißwürste anzusetzen.
 

Der Schimmel zog einen Karren mit dem erlegten Wild hinter sich her.

Nebula und Clay liefen nebenher. Sie trug die Armbrust am Riem über der Schulter und er führte das Pferd am Zaumzeug. Die Jagd war für sie gut gelaufen. Sie transportierten mehrere Kadaver zurück zur Jagdhütte.

“Eine Frage treibt mich um”, sprach Nebula, als sie glaubte, es sei der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. “Wie kommt ein einfacher Jäger zu einem Pferd?”

“Ich habe es gewonnen”, behauptete Clay. “Jemand meinte, er könnte besser schießen als ich. Tja, nun gehört sein Pferd mir.”

Langsam kam die Hütte in Sichtweite.

“Ihr sagtet auf dem Fest, das bei Vollmond die waren Bestien erscheinen. Was habt Ihr damit gemeint?”

“Nehmt das Geschwätz eines Betrunkenen nicht für voll!”

Nebula spürte, dass er verbal einen Graben zog. Doch so leicht würde sie ihn nicht vom Haken lassen. “Was verheimlicht Ihr?”

“Das soll nicht Eure Sorge sein, Mädchen!”

Sie erreichten Clays Hütte.

Der Jäger löste den Anhänger vom Geschirr des Pferdes und führte das Tier in seinen Stall. Er begann die Kadaver zu entladen und in seinen Arbeitsschuppen zu transportieren. “Entweder helft Ihr, oder Ihr geht!”, tadelte er. “Ich hasse Leute, die nur im Weg stehen!”

Nebula half den Karren zu entladen. Vielleicht würde es Clays Zunge lösen.

Die Zeit verging wie im Fluge.

“Nun solltet Ihr aber wirklich gehen!”, empfahl Clay mit Nachdruck. “Das Ausweiden der Beute ist nichts für schwache Nerven.”

“Ich halte das schon aus.”

“Geht!!”

Er wirkte gereizt und zugleich gehetzt. Als ob ihm die Uhr im Nacken saß. Offensichtlich, dass dieser Mann etwas verheimlichte. Doch freiwillig würde er es nicht preisgeben. Sie entschied sich, seiner Forderung zu beugen. Vorerst. Sie gab ihm die geborgte Armbrust zurück, hüllte sich in ihrer Montur ein und machte sich auf den Rückweg nach Faringart.
 

Henrik war noch immer total aufgelöst und ging auf und ab.

“I-Ich bin noch nicht bereit für s-so eine Verant-w-wortung!”, murmelte er vor sich hin.

Annemarie trat in sein Zimmer ein und musste gleich bei dem Anblick lachen.

“Wenn du so weiter machst”, sagte das Mädchen, “dann gräbst du dich in den Boden ein.”

Wie aus einer Trance gerissen, sah er Annemarie schockiert an.

“Was ist denn los?”

“I-Ich bin noch viel zu jung für ein Kind!”

“Hä?”

“T-Tschuldigung. Was ist denn, Annemarie?”

“Nebula sucht dich.”

“Oh, dann will ich sie nicht warten lassen.”

Gemeinsam gingen sie zum Stadttor.

Nebula fiel sofort auf, dass Henrik seine vom Schweiß benetzten Hände rieb, schnell atmete und ihr nicht in die Augen sehen konnte. “Noch Restalkohol im Blut?”, fragte sie.

“Er redet nur wirres Zeug”, kommentierte Annemarie. “Er hat gesagt, er bekommt ein Kind. Das geht doch gar nicht. Die bringt doch der Klapperstorch!”

“Was?” Die Blondine verzog den Mund zum spöttischen grinsen.

“D-Du erinnerst d-dich an das Mä-Mädchen vom F-Fest?”, fragte Henrik, sein Stottern schlimmer als üblich. “Wir ha-ha-haben…”

Lautstarkes Lachen platzte aus Nebula heraus. Sie konnte es einfach nicht mehr bei sich halten. Ihr wurden die Knie weich.

“W-Was ist da s-so lustig?!”, fragte Henrik ungehalten.

“Was? Du…” Sie konnte kaum sprechen. “... willst mit ihr…” Ihr Gelächter wurde immer lauter und sie musste sich den Bauch halten. “Ha ha ha!”

“W-Was ist, wenn sie jetzt e-ein Kind er-erwartet?”

“Dann war es unbefleckte Empfängnis.”

“D-Du glaubst nicht, d-das ich m-mi-mit einer F-Frau…?”

Nebula hatte sich gerade erst beruhigt, doch ihr Lachflash kehrte zurück. “Niemals!”

“Sch-schönen Dank! D-Danke, dass du meine S-Sorgen so ernst nimmst!”

Plötzlich tauchte ein braunes Pferd am Ende der Straße auf. Es kam aus Richtung des Waldes und es schien, als ob niemand auf ihm reiten würde. Als es näher kam, wurden Rufe des Entsetzens laut. Über den Rücken des Tieres lag ein blutüberströmter Waldarbeiter. Ihm fehlte eine Hand und tiefe Kratzer zierten seinen ganzen Körper.

Henrik packte Annemarie und hielt ihr die Augen zu.

"Hey!", beklagte sich die Kleine.

Sofort eilte Nebula zu dem Verletzten hin.

“Bitte… Hilfe!”, sprach er vollkommen entkräftet.

“Was ist Euch zugestoßen?”, fragte die Blondine.

“De Foastwirtschoft... Ogriff... Monsta...” Bevor der Mann noch mehr zu sagen vermochte, verließen ihn seine Kräfte und er verlor das Bewusstsein. Ein paar Schaulustige hatten einen Medikus herbeigerufen. Man zog den Verletzten vom Pferd und der Arzt untersuchte ihn. Doch der stellte schnell Fest, das sein Patient ein Fall für den Bestatter war.

“Was für eine Forstwirtschaft?”, fragte Nebula ohne speziellen Adressat.

“Dort lebt Henrike!”, alarmierte der Schmied.

“Heißt so der Klapperstorch?”, fragte Annemarie, der Henrik noch immer die Sicht nahm.

“Schnell, wir müssen dorthin!”, flehte Henrik.

“Annemarie!”, befahl Nebula. “Du gehst in den Gasthof und wartest dort auf uns. Und du gehst mit niemanden mit!” Dann schnappte sich die Söldnerin ihren Begleiter und wuchtete ihn gegen seinen Willen auf das Pferd des Toten. Anschließend bestieg sie es ebenfalls. “Weißt du wo die Försterei ist?” Als Henrik nickte, trieb sie das Pferd an und galoppierten in Windeseile aus der Stadt. Annemarie blieb allein zurück und sah ihnen besorgt nach. Wenigstens könnte sie sich auf ihrem Zimmer mit den Märchen ablenken, welche ihr jedes mal Freude bereiteten, wenn sie sie las.
 

Der Schimmel stand in seinem Stall und kaute genüsslich auf Heu herum.

Im Arbeitsschuppen wurde noch immer Tagewerk verrichtet.

Die schmutzige Arbeit, die Jagdbeute auszuweiden und zu zerkleinern, war sehr anstrengend und kräftezehrend. Für Clay jedoch sein täglich Brot. Mit jedem Hieb des Beils fühlte er seinen Hunger wachsen.

Zuvor musste das Fleisch noch gepökelt werden, um es haltbar zu machen.

Also rieb er es mit zermahlenen Steinsalz ein und füllte es anschließend in die bereitgestellten Fässer. Bald würde er den Großteil in die Stadt bringen, um ihn weiter zu verkaufen. Ein wenig behielt er für sich selbst. Diese Stücke waren besonders blutig, so wie er es am liebsten mochte. Wenn er in das Fleisch biss, konnte er fast noch das Herz des Tieres schlagen fühlen.

Fürs Erste war er fertig.

Er wusch sich die Hände in einer Wasserschale und ging dann zurück zur Jagdhütte. In einer Mischung aus Wehmut und Respekt sah er zum Himmel auf, wo der Mond schon sichtbar war. Diese Nacht würde eine Vollmondnacht werden. Er sah noch einen Moment hin und wandte sich dann um und verschwand in der Hütte.
 

Der braune Hengst trug seine Passagiere zur Forstwirtschaft. Der Wind blies ihnen ins Gesicht und wehte Nebula die Kapuze vom Haupt. Henrik umklammerte ihren Bauch, um während ihres gemeinsamen wilden Ritts nicht vom Pferd zu fallen. Er fühlte ihren Atem, während er an ihrem Wappenrock halt suchte.

Als sie ihr Ziel erreichten, bot sich ein Bild der Verwüstung.

Der leblose Körper eines Waldarbeiters hing über einen Stapel Baumstämme. Blutspuren und blutige Fetzen, zum Teil aus Stoff zum Teil aus einst Lebendigem, lagen auf dem spärlich mit Gras bewachsenen Boden verstreut. Nebula zog die Zügel an und signalisierte dem Pferd zu traben. Je näher sie dem Haus des Försters kamen, desto mehr seiner Knechte fanden sie. Einer lehnte an der Hauswand. Ein weiterer war rücklings nahezu um einen Baum gewickelt. Eine große Kraft hatte ihn gegen den Stamm geschleudert. Alle wiesen ein Loch im Brustkorb auf. Nebula mutmaßte, dass man später kein Herz finden würde.

Und letztlich stolperten sie über das, was sie für die Überreste des Försters hielten.

Nebula stoppte das Pferd und stieg ab.

Henrik wollte es ihr gleich zu tun, verhakte sich im Steigbügel, verlor das Gleichgewicht, drehte Pirouetten wie eine Ballerina, versuchte durch hektisches Luftrudern mit den Armen in festen Stand zu gelangen, scheiterte kläglich und schlug, Gesicht voraus, auf einer Grasnarbe auf.

Nebula hörte ihn fallen und sah nach ihm. “Echt jetzt?!”, entrüstete sie sich.

Henrik hob den Kopf und sprach: “Tschuldigung.”

“Lass stecken und steh auf!”

Der Tollpatsch stützte sich ab und erhob sich.

Nebula untersuchte derweil die Szenerie nach Spuren ab. Ihr fiel ein gigantischer Pfotenabdruck in einer schlammigen Pfütze auf. Es sah aus wie die Spur eines Wolfes oder Hundes, doch viel größer. War ihr Urheber gleichzeitig der Grund für das Massaker?

“Henrike!”, rief Henrik urplötzlich und begann, das Kreuz der Quere über den Claim zu flitzen. Dann fror er unvermittelt bei einem Schuppen in seiner Bewegung ein. Nebula konnte nicht sehen, was ihn derart entsetzte, also ging sie zu ihm. “Henrike”, rief der Schmied erneut und verschwand in dem Schuppen. Als Nebula um die Ecke gebogen kam, sah sie den Grund für sein Verhalten. Er hielt das Mädchen vom Fest in seinen Armen. Sie lehnte an der Wand und saß in einer Lache ihres eigenen Blutes, welches aus dem ausgefransten, zerfetzten Stumpf ihres rechten Oberschenkels floss. Vom Rest ihres Beines gab es keine Spur. “Du musst wach bleiben!”, sprach er ihr zu, legte sie in seine Arme und rüttelte an ihr.

Sie hob noch einmal ihren Kopf. Ausdruckslose Augen suchten Blickkontakt. “Na schau, da Siasse Buab”, wisperte Henrike in gebrochenen Worten. Sie streckte ihre Hand aus und berührte Henriks Wange. Der Junge beugte sich zu ihr herunter, da er dachte, sie wolle ihm etwas sagen, bekam aber stattdessen den gestohlenen Kuss erwidert. “Do hosd du ihn wieda”, sagte sie. Dann starrten ihre Augen ins Leere und ihre Hand fiel kraftlos von Henriks Wange herunter.

Vorsichtig legte er den Körper des Mädchens ab. Mit weit aufgerissenen, von Tränen geschwollenen Augen sah er Nebula an. “S-Sie ist t-t-tot!”, stotterte er.

“Das tut mir Leid”, bekundete seine Reisegefährtin ihr Mitgefühl.

Henrik sah an sich herunter und ihm wurde bewusst, dass er überall mit dem Blut der Försterstochter besudelt war. “D-D-Da ist so viel Blut!”, stieß er voll des Horrors aus. “Ihr Blut...” dann überkam es ihn und er musste sich zur Seite beugen und übergeben.

Nebula wollte ihm irgendwie helfen, doch er ließ es nicht zu und stieß sie von sich. Dann rannte er davon und wurde erst viele Meter weiter wieder langsamer.

Nebula wusste, dass er allein sein und seinen Schmerz herausschreien wollte.

Dennoch wollte sie aufpassen, dass der Grund für dieses Massaker nicht auf die Idee kam, sie mit seinem Besuch zu beehren, wenn sie nicht damit rechneten.
 

🌢
 

Als die Toten begraben waren, kehrten Nebula und Henrik in die Stadt zurück. Der Junge musste jetzt allein sein und zog sich in sein Gemach im Gasthof zurück. Nebula wollte ihm seine Ruhe lassen. Der Tod hinterließ erbarmungslos seine Spuren. Er konnte das Leben eines Menschen nachhaltig verändern. Und noch viele würden ähnliche Erfahrungen machen müssen, wenn keiner kommen und dem Treiben der Bestie Einhalt gebieten würde.

Das Monster könnte überall sein.

Wie sollte sie es finden?

Sie benötigte Hilfe! Und die konnte ihr nur noch der Fürst gewähren. Einzig er oder sein Sohn durften eine weitere Treibjagd anordnen.

Aus diesem Grund bat sie um eine Audienz. Man ließ sie lange warten. Zu lange! Als sie drauf und dran war, die Geduld zu verlieren, öffnete sich endlich die Pforte. Sie trat vor den Fürstenthron in dem Jonathan, der Sohn des Fürsten, saß, und vollzog einen damenhaften Knicks, um dem Erbprinzen ihre Ehrerbietung zu beweisen.

“Was kann ich für Euch tun?”, fragte er.

“Ist Euer Vater zu sprechen, Eure Lordschaft?”, fragte sie respektvoll.

“Wie ich sehe, vermag es Euer vorlauter Mund auch freundliche Worte zu finden.” Er müsste auf ihr Verhalten bei der Treibjagd anspielen. Er lehnte sich zur rechten Seite und stützte das Gewicht seines Oberkörpers auf den Ellenbogen. “Mein Vater ist zur Zeit unpässlich. Doch es sei Euch gestattet, mir an seiner statt Eurer Anliegen vorzutragen.”

“Habt Ihr schon vom Angriff auf die Forstwirtschaft gehört, Hoheit?”

“Berichte dieses… Ereignisses erreichten bereits mein Ohr. Es ist gar abscheulich, wie die Bestie wütete.”

“Ich fand einen Pfotenabdruck. Er war riesig groß. Kein Wolf würde solch Spuren hinterlassen. Bitte, ruft eine weitere Treibjagd aus, bevor die Kreatur wieder tötet.”

“Riesige Abdrücke? Habt Ihr über den Durst geschäpselt, Weib?”

“Ihr glaubt mir nicht?”

“Natürlich nicht! Solch ein Humbug passt auf keine Kuhhaut! Geht, und bindet einem der Jäger diesen Bären auf. Bärenpfoten sind doch größer als die eines Wolfs.”

“Ich bitte Euch.”

“Papperlapapp!” Jonathan lehnte sich von der einen Seite zur anderen und deutete mit der Hand an, dass Nebula den Thronsaal verlassen soll. “Und nun, schleicht Euch!”

“Das ist unverantwortlich!”, klagte die Söldnerin.

Doch der Erbprinz schenkte ihr keine weitere Beachtung. Wächter kamen und machten Anstalten, sie mit Gewalt zu entfernen, wenn es denn sein müsse.

“Ist ja schon gut!”, sagte Nebula und verließ den Fürstensitz. Noch auf dem gepflasterten Weg im Garten des Anwesens stieg die Wut in ihr auf und ihre Augen wechselten kurz die Farbe. “Na schön!”, schnaubte sie. “Wenn Ihr mir nicht helfen wollt, findet sich ein anderer.”
 

Keiner der Jäger wollte sie begleiten und das geltende Jagdrecht für sie missachten. Nur die Herrscher dürften zur Jagd blasen oder Jägern den Abschuss gestatten. Tür an Tür wurde zugeschlagen, als sie ihr Anliegen vortrug. Wohl auch, weil sie ihr das große Mundwerk vor und den Erfolg bei der Treibjagd übel nahmen. “Feige Hunde!”, fluchte sie.

Jetzt blieb ihr nur noch eine Alternative: Der schweigsame Jäger und seine Geheimnisse.

Seine Hilfe hoffte sie nicht in Anspruch nehmen zu müssen.

Er war ihr suspekt.

Aber wenn er ihr nicht half, dann wusste sie auch nicht weiter. Zwar war sie ein wenig bewandert in der Jagdkunst, doch einem echten Waidmann konnte sie dennoch nicht das Wasser reichen. Sie hoffte, Clay könnte die Spuren besser deuten. Als sie endlich das Haus des einsamen Jägers erreichte, war die Nacht bereits hereingebrochen. Der Mond stand vollständig am Himmel und erhellte die Finsternis. Man konnte außergewöhnlich gut sehen.

In der Hütte brannte kein Licht.

Alles wirkte verlassen.

Der Schimmel war unruhig in seinem Stall und zerrte an dem Strick, mit dem er angebunden war. Etwas verstörte ihn. Tiere spürten die Gefahr stets vor dem Menschen.

Nebula trat an das Tier heran und streichelte es. “Was hast du denn?”, fragte sie, als ob es antworten könnte. “Ruhig.”

Aber das Pferd beruhigte sich nicht. Im Gegenteil. Es stellte sich auf die Hinterhufe und trat nach ihr. Seine Instinkte sagten dem Tier, das es die Flucht ergreifen soll.

Sie konnte noch rechtzeitig ausweichen und entschied, dass es zu gefährlich war, dem Tier zu nahe zu kommen. Stattdessen ging sie zur Jagdhütte und machte sich an der Tür zu schaffen. Sie stellte fest, dass sie nicht abgeschlossen war. Im Inneren herrschte Totenstille.

Sie sah eine Öllampe im einfallenden Mondlicht und entzündete sie.

Ihr Schein bestätigte, das niemand anwesend war.

Nebula sah sich weiter in der Hütte um. Hinten in einer Ecke, ziemlich verborgen, fand sie ein merkwürdiges Brett, halb mit Stroh bedeckt. Sie entfernte das vertrocknete Material und das Brett entpuppte sich als Falltür in einen Keller mit Wänden aus massivem Stein. Sie stellte die Lampe ab und sprang in das dunkle Loch.

Hinab ins Ungewisse.

“Was tut ihr hier?!”, fragte eine erboste Stimme.

Nebula sah in die Richtung, aus der sie kam. Von einem Fenster direkt unter der Decke fiel das Mondlicht ein und brachte die schwarzen Haare des Jägers zum Glänzen. Clay saß halb nackt auf dem Boden, seine Handgelenke und Knöchel in viel zu große Schellen gehüllt. Die Fesseln waren mit dicken Ketten an der Wand befestigt. Nebula starrte den Jäger an. “Lebt Ihr gerade einen Fetisch aus?”, fragte sie trocken.

“Raus!”, war die einzige Antwort, die sie erhielt.

“Nein! Erst sagt Ihr mir, was hier gespielt wird!”

“Ich hab gesagt, Ihr-” Er stoppte mitten im Satz, als eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper fuhr. Er begann sich zu winden und seine Haut lief rot an vor Anstrengung.

“Was ist mit Euch?!”

“RAUS!!”, wiederholte der Jäger fordernd, so laut es seine schmerzentstellte Stimme zuließ. Seine Muskeln schwollen an und aus der Haut wuchsen schwarze Haare. Unter Qualen verformten sich Kopf und Hände. Eine Schnauze bildete sich, Krallen wuchsen und die Behaarung verdichtete sich. Bis aus Clay ein Wesen wurde, das mehr Tier als Mensch war. Die Kreatur fletschte mit den Zähnen. Speichel tropfte in Sturzbächen. Die Schellen an den Gelenken saßen inzwischen fest wie angegossen, nachdem das Volumen seiner Glieder zugenommen hatte. Die Bestie rüttelte an ihren Ketten. Staub löste sich an den Haken, mit denen sie in die Wand getrieben waren.

Nebula ging einen Schritt zurück.

Unterdessen zerrte Clay mit immer mehr Gewalt an seinen Fesseln. Die Präsenz des Vollmondes raubte ihm den Verstand. Der Hunger eines Raubtieres plagte ihn. Seine Augen glühten vor Wahnsinn. Er roch nur noch das frische Fleisch seiner Beute. Das zarte, aromatische und frische Fleisch der Frau, die ihm gerade gegenüberstand. Nach und nach lösten sich die Bolzen der Halterungen. Bis er die Freiheit erlangte und ihn nichts mehr daran hinderte, auf seine Beute los zu stürmen und seine Zähne in sie zu schlagen.

Lupus Sanginue


 

🌢
 

Henrik lag auf dem Bett und kämpfte noch immer mit dem Schock. Den Anblick des blutüberströmten Mädchens konnte er nur schwer verdauen.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

“Nein!”, rief er.

Doch das Klopfen hörte nicht auf.

Henrik wollte allein sein. Also stand er auf, um den Klopfer zum Schweigen zu bringen. Es wurde schon dunkel. Wer konnte um diese Zeit etwas von ihm wollen? Er schloss die Tür auf und Annemarie kam ungefragt hinein gestürmt, noch bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. Sie setzte sich auf sein Bett.

“W-Was willst du hier?!” fragte er, halb gereizt und halb aufgelöst. “Und w-wieso bist du noch wach?”

“Ich kann nicht schlafen”, antwortete die Kleine.

“U-Und da s-soll ich helfen?”

“Nein, ich will DIR helfen.”

“Kein I-Interesse!”

“Du weißt doch, ich kann Dinge sehen. Ich dachte, wenn wir dahin gehen, wo es passiert ist, bekomme ich vielleicht eine Vision. Und das hilft vielleicht.”

“Funktioniert das nicht nur bei Händen?”

Annemarie zuckte mit den Schultern. “Versuchen kann man es doch.”

“Frag doch lieber N-Nebula.”

“Ne, ich frage dich!”

“Das ist viel zu g-ge-gefährlich!”

“Feigling! Feigling!”, stichelte die Kleine.

Henrik versuchte, sie von seinem Bett herunterzuziehen, in der Hoffnung, er könne wieder in den Laken versinken. Sein Ziel: Sie aus dem Zimmer buchsieren. Er war wirklich nicht dazu aufgelegt, mit dem Kind auf Monsterjagd zu gehen.

Die Kleine gab nicht nach. Bald schon zerrte sie an ihm, satt er an ihr. “Mach schon!”, versuchte sie, ihn zum Mitkommen zu bewegen.

Letztlich ergab er sich ihrem Drängen und lenkte ein. “Na schön! Wir gehen!”

Denn Schlaf finden konnte er auch nicht.
 

In Faringart gab es keine Torwachen, so wie in Henriks Heimatstadt Bärenhag. Er und Annemarie mussten sich einzig vor den Patrouillen der Nachtwächter in Acht nehmen, welche mit Laternen bewaffnet durch die Straßen zogen und stündlich in unverständlichem Dialekt die Uhrzeit ausriefen. Sie schafften es mit Mühe und Not, die Wachen zu umgehen und machten sich auf den Weg.

Mitten in der Nacht erreichten sie, was von der Forstwirtschaft übrig war. Sie gingen an den aneinander aufgereihten, frischen Gräbern der Bewohner vorbei, welche Henrik Stunden zuvor half auszuheben. Provisorische Holzkreuze zierten die hastig aufgeschütteten Grabhügel. Henrik konnte nicht einmal hinsehen. Er schüttelte seinen Kopf in der Hoffnung, das Bild der sterbenden Henrike würde hinaus purzeln und er müsse es nicht länger ertragen.

Henrik führte Annemarie zum Pfotenabdruck. “D-Den Abdruck haben wir gefunden”, sagte er und zeigte mit dem Finger darauf.

Die Kleine hockte sich vor der Spur hin. Beobachtete, wie sich das Mondlicht in dem feuchten Schlamm spiegelte. Begeistert zog es sie in ihren Bann.

“W-Wolltest du nicht irgendetwas finden?”, drängelte der Schmied. Er fürchtete, dass das Monster jeden Moment auftauchen könnte.

Das Mädchen fasste in den Schlamm und hatte prompt eine Vision.

“Was siehst du?”

“Da ist ein Mann, der wird zum Wolf”

“Blödsinn! Das gibt es doch gar nicht!”

Annemarie schmollte. Sie ballte die Hände zu fäusten und streckte die Arme vom Körper weg. “Wenn du mir nicht glaubst, dann gehe ich eben allein!” Dann stapfte sie demonstrativ in den Wald hinein.

“Mo-Moment, wo willst du hin?” Henrik entschied, ihr besser zu folgen. Er fürchtete, sie könnte der Kreatur in die Pranken laufen.

Sie durchquerten den Wald und erreichten eine weitere Lichtung. Der Boden war durchzogen von silbrig glänzenden Adern. Henrik musste feststellen, dass sie sich immer weiter von bekannten Pfaden entfernten.

“Du, wir s-sollten wirklich umkehren”, empfahl das braunhaarige Nervenbündel besorgt.

“Nö!”, verweigerte sich das Kind.

“Aber-”

Ein Wolfsheulen schnitt ihm das Wort ab.

“Da kommt er!”, kündigte Annemarie an.

“Was, du hast uns zum Monster geführt?!”

“Hab ich doch gesagt!”

Plötzlich brach ein grauer Schatten aus dem Wald gegenüber den beiden aus. Eine Kreatur, wie eine Mischung aus Mensch und Wolf.

“Das gibt’s doch nicht!”, graute es Henrik. Bis ihm klar wurde, dass er lieber weglaufen sollte. Er packte Annemarie und zerrte sie mit sich.

Der Werwolf musste sie bereits als seine Beute gewittert und ihre hektischen Fluchtversuche ausgemacht haben. Er rannte auf allen Vieren auf sie zu.

In der Dunkelheit übersah Henrik einen Stein und stürzte. Dabei riss er die Kleine mit sich zu Boden.

“Hey!”, beschwerte sich Annemarie.

Die Bestie war nur noch dreißig Meter entfernt. Bald würde sie sie zerfleischen.

Annemarie hielt noch immer Henriks Hand. “Der Boden”, sagte sie.

“Was ist damit?”, fragte Henrik unter Stress.

“Ich habe es gesehen. Du musst ihn benutzen.”

“B-Benutzen?” Während er noch überlegte, kam der Tod mit Riesenschritten unaufhaltsam näher. Henrik sah sich die Adern im Stein genau an. Es musste sich um ein natürliches Vorkommen von Silber oder einem ähnlichen Edelmetall handeln. “Bitte funktioniere!”

Kurz bevor sie der Werwolf erreichte, ließ Henrik Annemarie los und schlug mit beiden Handflächen auf den Boden. Ein greller Blitz erhellte die Nacht, wie jener damals in Greymores Arena. Das Geräusch von aufgespießten Fleisch erfüllte die Luft, begleitet von einem erbärmlichen Jaulen. Henrik sah auf und traute seinen Augen nicht. Vor seinen Händen ragten mehrere silberne, scharfe Spitzen empor. Zwei von ihnen hatten die Bestie getroffen. Eine durchstieß die Schulter, die andere den Oberschenkel. Dampf trat aus den Wunden empor, als würde das Edelmetall das Untier verbrennen. Unter Schmerzen war die Kreatur bestrebt, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Der Werwolf umfasste das Silber. Auch von den Innenflächen seiner Pranke stieg Rauch auf. Als er sie zerbrochen und aus dem Fleisch gezogen hatte, ergriff er sichtlich verstört die Flucht.

“W-War ich das?” Henrik betrachtete seine Hände. “W-Woher wusstest du das?”

“Ich hab deine rechte Hand gelesen, als wir gerannt sind.”

“Das hast du ohne hinzusehen gelesen?”

“Deine Lebenslinien haben es mir verraten. Alles was man schmieden kann, beugt sich deinem Willen. Das habe ich dir gesagt!”

Henrik erhob sich und ergriff eine der aus dem Boden ragenden Spitzen. Sie war brüchig und weich, wie man es von Silber kannte. Aus diesem Grund stellte niemand Waffen aus reinem Silber her. Eine Legierung wäre vielleicht stabil genug, bräuchte jedoch noch immer einen harten Kern aus Eisen oder Stahl und sie müsste oft erneuert werden. Als er sein Werk weiter befühlte, bemerkte er, dass er sich in seinen Gedanken verlor.

Auf einmal kniff er die Augen zusammen und verzog den Mund.

Annemarie sah ihn verwundert an. “Musst du mal?”, fragte sie.

“N-Nein. Ich versuche, sie zu v-verformen”, erklärte er sich.

“O, da passiert aber nix.”

“Es b-beugt sich wohl nur, wenn es Lust dazu hat.” Henrik schnappte Annemaries Hand. “Wir sollten hier verschwinden. Wer weiß, ob das M-Mo-Monster zurück kommt.”

Gemeinsam rannten sie zurück nach Faringart, während der graue Werwolf tief im Wald seine Wunden leckte.
 

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Ein Sonnenstrahl drang durch das Kellerfenster ein und verriet den angebrochenen Morgen. Das Licht fiel auf den am Boden liegenden Clay, mühte sich, ihn wach zu kitzeln. Bis zu diesem Moment, ohne Erfolg. Er hatte zwar seine menschliche Gestalt angenommen, war aber noch nicht wieder aufgewacht.

Ein obszön lautes Geräusch erfüllte das steinerne Kellergeschoss.

Die Finger an Clays auf dem Rücken fixierten Händen zuckten und er schlug seine Augen auf. Was die Sonne nicht vermochte, vollbrachte dieser Krach. Verwirrung hatte sich in ihm breit gemacht, wie es nach jeder Vollmondnacht der Fall war. Behutsam setzte er sich auf und bemerkte, dass er sich in der Mitte des Raumes befand. Der Blick noch getrübt, konnte er nicht in die Ferne schauen. Er erinnerte sich, dass er sich selbst gefesselt hatte. Die Schellen schlangen sich zwar noch immer um seine Gelenke, doch ihre Enden waren nicht mehr an der Wand befestigt. Überrascht musste er feststellen, dass sie verknotet waren.

Clay sah sich um, als sein verschwommenes Sichtfeld klarer wurde, und entdeckte Nebula in einer Ecke lehnend. Sie riss den Mund auf und Clay erkannte, das der abscheuliche Krach, der ihn geweckt hatte, ihr lautes Schnarchen war.

“Hey, wacht auf!”, rief er der schlafenden Schönheit zu.

Nebula sah gähnend auf. “Ihr seid aufgewacht”, stellte sie fest.

“Euer Organ ist nicht zu überhören.”

“Das sagen meine Begleiter auch immer...”

Clay streifte die viel zu großen Schellen von Armen und Beinen ab.

“Was war letzte Nacht?”, fragte die Blondine. “Ihr habt ganz schön zugebissen.” Sie fasste sich in den Nacken, wo ein Teil ihrer Kleidung fehlte.

Clay wurde umgehend kreidebleich. “Ich habe Euch gebissen?!”, fragte er fassungslos. “Wie kann es dann sein, das Ihr nicht tot seid? Der Biss verwandelt einen Mann in einen Werwolf. Aber eine Frau bringt er einfach nur um. Darum gibt es auch keine weiblichen Werwölfe.” Seinen Blick kurz abwendend, fügte er hinzu: “Oder zumindest sollte es die nicht geben.” Was er wohl damit meinte?

“Nun, Euer Biss ist anstandslos verheilt.” Sie präsentierte ihr im Nacken zerrissenes Oberteil. Darunter war nicht ein Kratzer zu erkennen. “Heißt das, ich bin…”

Der Jägersmann gab ein gequältes Lachen von sich. “Nein. Das hättet Ihr bemerkt! Der ersten Verwandlung geht eine lange und schwere Infektion voraus. Das ist es wohl auch, das weibliche Opfer normalerweise tötet.”

Nebula schwieg daraufhin andächtig.

“Wie kann es sein, das Ihr nicht gestorben seid?”

“Vielleicht, weil ich selbst ein Monster bin.” Sie zeigte ihm das rote Glühen ihrer Augen.

Entsetzt starrte sie der Jäger an. Zwar wusste er, wie der Wahn die Augen eines Wolfes zum Glühen bringen konnte, aber das hatte er auch noch nicht gesehen!

“Ich weiß, wie Ihr Euch fühlt. Die Kontrolle zu verlieren und dann Dinge zu tun, die man nicht entschuldigen kann, ist mir sehr wohl auch bekannt.” Dann setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf. “Außerdem wart Ihr überraschend leicht zu besiegen.”

“Deshalb seid Ihr wohl auch eingeschlafen.” Der lustigen Aussage folgte sofort ein ernster Ton. “Ihr hättet mich dennoch töten sollen. Von uns beiden, bin ich mit Abstand das abscheulichere Monster.”

“Ihr lebt in Einsamkeit und meidet die Menschen. Mehr kann man nicht erwarten.”

“Dennoch sind mir bereits Menschen zum Opfer gefallen.”

Nebula horchte auf.

“Bevor ich nach Faringart kam, hatte ich alles, was sich ein Mann wünschen kann. Eine liebende Frau, einen mutigen Sohn und eine schöne Tochter. Eines Nachts…” Er pausierte - musste wohl die Worte finden. “...überfiel mich ein weißer Werwolf und biss mich. Irgendwie überlebte ich. In der darauffolgenden Vollmondnacht verlor ich das erste Mal die Kontrolle und habe jene gejagt und gefressen, die mir alles bedeutet haben!”

“Ihr habt Eure Familie angegriffen?”

Clay senkte den Kopf und bejahte stillschweigend.

Nebula dachte zurück an den Tag, als sie im Palast die Kontrolle verlor. Die Leben, die sie in dieser Nacht genommen hatte. ”Ihr wart nicht bei Verstand. Euch trifft keine Schuld.”

“Aber sie sind dennoch alle tot! Ich habe am nächsten Morgen mit eigenen Augen gesehen, was der Biss meiner Frau angetan hat.” Für eine Weile erfüllte die Stille den Kellerraum. “Nach meiner Tat musste ich fliehen. Eines Tages erreichte ich Faringart mit nichts außer meinem Bogen. Meine Bestiensinne erlaubten es mir, als Jäger ein neues Leben aufzubauen.”

“Jetzt ist aber mal Schluss mit dem ganzen Selbstmitleid!”, unterbrach ihn Nebula. “Da wird man ganz depressiv von. Ich bin nicht hergekommen, um Euch jammern zu hören! Ich brauche Eure Hilfe! Ich suche ein richtiges Monster. Das ist Eure Gelegenheit, Buße zu tun!”

Nebulas Worte waren harsch.

Aber Clay kümmerte das nicht. Etwas an ihrem Geruch war ihm so vertraut und dennoch ängstigte es ihn zutiefst. War es ihre dämonische Hälfte? Er war nicht imstande, es einzuordnen. Gefährliche Neugier erfasste ihn. “Was verlangt Ihr von mir?”

“Ich wollte Euch als Fährtenleser. Doch als Werwolf könnt Ihr mir viel nützlicher sein. Ihr vermögt es wahrscheinlich, den anderen direkt zu wittern.” Nebula spürte, wie die Lebensgeister in den Mann zurückkehren. Sie interpretierte es so, dass er das Gefühl hatte, gebraucht zu werden. Also setzte sie noch einen oben drauf. “Hört auf zu jammern und führt mich zu seinem Versteck, damit ich ihm die Kerze löschen kann!”
 

Henrik war früh am Morgen in die Küche gegangen, um sich Material zum Üben zu beschaffen. Mit der Unterseite seines Oberteils nach oben gebogen, floh er aus der leeren Küche des Gasthofes. Bei jedem Schritt klirrte und klang es. Er eilte sich auf sein Zimmer zu gelangen, bevor ihn jemand erwischte. Er verschwand in seinem Raum und stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu.

“Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich gemacht habe!”, sprach er zu sich selbst.

Schnell entleerte er den Inhalt des gefalteten Oberteils auf dem Bett. Messer, Gabeln und Löffel purzelten heraus und fielen auf die Decke. Henrik schwebte etwas für das entwendete Essbesteck vor. Er hockte sich auf den Boden vor dem Bett und ergriff einen Löffel.

Ich habe echt einen Sockenschuss, dachte er. Er hielt den Löffel auf Abstand und erhob ihn mit gebeugtem Arm auf Augenhöhe. Seine Augen fixierten das archaische eiserne Essgerät und ließen nicht mehr von ihm ab. Henrik konzentrierte sich mit aller Macht auf den Suppenaufnehmer in seiner Hand.

Jeden Moment würde es passieren.

Etwas musste passieren!

Doch passierte nichts.

Der Löffel blieb das, was er war. Ein Löffel. Enttäuscht ließ Henrik seinen Arm fallen, ohne das Besteck dabei loszulassen.

Was habe ich mir nur dabei gedacht?, tadelte er sich selbst.

Plötzlich fühlte er eine fremde Bewegung in seiner Hand. Er führte das Essgerät erneut vor seine Augen und musste feststellen, dass es seine Funktion völlig verändert hatte. Nun war es eine Gabel. Ungläubig ließ er sie fallen und ergriff eines der Messer. Während er es anstarrte, bog es sich nach hinten, als versuche es, vor seinem Blick zu fliehen. Das konnte nur zwei Dinge bedeuten. Entweder war Henrik der größte Illusionist seiner Zeit oder Metall beugte sich tatsächlich seinem Willen.
 

Clay konnte das Blut seiner Beute wittern. Er führte Nebula zu dem Ort, an dem Stunden zuvor das Leben ihrer Begleiter auf dem Spiel stand. Aber das war ihnen nicht klar. Sie wussten beide nichts mit den seltsamen Silberformationen anzufangen, wie sie aus dem Boden sprossen, als seien sie wie ein Pflanze gewachsen.

“Was ist das?”, fragte Nebula, als sie einen der silbernen Stalagmiten berührte.

“Ich weiß es nicht”, antwortete Clay. “Ich weiß nur, dass das Blut des Wolfes an ihnen haftet.” Er deutete auf die abgebrochenen Spitzen auf dem Boden, welche mit einer rotbraunen verkrusteten Patina überzogen schienen.

Nebula bemerkte, dass er einen Sicherheitsabstand zu den Gebilden zu halten versuchte, als übertrugen sie die Pest. “Wenn Ihr näher ran kämt, könntet Ihr mehr sehen.”

“Ich kann nicht! Das ist Silber!”

“Mögt Ihr keine Edelmetalle?”, scherzte Nebula, obwohl ihr die alten Legenden sehr wohl bekannt waren.

“Silber wirkt toxisch auf Werwölfe”, begann Clay zu erklären, da er glaubte, sie wisse es nicht. “Es verbrennt unsere Haut und vergiftet unser Blut.”

“Ich weiß. Ich wollte Euch erheitern.”

Clay hielt seine Nase in den Wind. Die Fährte des anderen Werwolfs wurde nun immer klarer. Doch er konnte noch mehr riechen. Angstschweiß. “Hier hat jemand gegen den Werwolf gekämpft... und sich fast dabei in die Hosen gemacht.”

“Das tut mir Leid ... für Eure Nase”, scherzte Nebula.

“Wer auch immer das war, hat den Wolf in die Flucht geschlagen.”

“Das könnt Ihr alles riechen? Hat das vielleicht mit diesem Silber zu tun?” Nebula dachte unweigerlich an Henrik, hatte dieser immerhin ein zerbrochenes Schwert mit bloßen Händen zusammengefügt. Da schien es nicht so abwegig, dass diese Gebilde sein Werk waren. “Ich bringe ihn um!”

“Den Wolf?”

“Nein, Henrik!” Sie ballte die Hand zur Faust.

“Wer ist das?”

“Ein Trottel! Wie kann er sich nur so in Gefahr begeben und auf eigene Faust auf Monsterjagd gehen?”

“Ihr meint, er hat den Wolf verfolgt und dabei dies hier vollbracht? Mir scheint, wer auch immer dieser Henrik ist, muss sehr mächtig sein.”

“W-W-Was?”, Nebula begann zu kichern. “Alles nur das nicht! Ein Idiot ist er!”

“Für Euch ist er mehr als nur das, habe ich Recht?”

“Ja, ein Riesenidiot!” Nebula setzte sich wütend in Bewegung. “Jetzt lasst uns keine weitere Zeit mit dummen Geschwätz verlieren und zeigt mir, wo dieser Werwolf sein Versteck hat!”

Sie folgten der Fährte über die Lichtung und wieder hinein in den Wald.
 

Hoch im Geäst saß ein Schatten in schwarzer Kleidung. Dunkle Handschuhe spannten eine Armbrust. Das eingefügte Projektil war vollkommen mit einer Legierung überzogen, welche einen hohen Silberanteil aufwies. Ein Geschoss, wie geschaffen für die Jagd nach Lykantrophen. Die Waffe wurde von ihrem Träger auf die linke Armbeuge gelegt und an der rechten Schulter angelehnt. Durch dichte Haarsträhnen hindurch schauten die Augen eines Killers auf der Suche nach einem Ziel.
 

Erneut ragte die Nase des Jägers hinauf in die Luft. Der typische Geruch des Waldes erfüllte Clays Riechorgan. Im Süden, in etwa zweihundert Meter Entfernung, befand sich eine Rehmutter mit ihrem Jungen. Im Westen durchstreifte eine Rotte halbstarker Überläufer den Forst, auf der Suche nach Fressbarem. Auf einem Baum im Westen schlief eine vollgefressene Wildkatze. Die Maus mundete ihr bestimmt vorzüglich. Doch mittendrin war der Gestank der Abscheulichkeit. Clay und Nebula folgten der Fährte.

Plötzlich zuckte das Ohr des Waidmanns unter dem Geräusch einer herranschnellenden Bedrohung. Sofort warf sich der Mann auf seine schöne Begleitung, um sie zu schützen.

“Hey, was soll das?!”, beklagte sich Nebula, als er sie zu Boden riss.

Im nächsten Moment schlug ein Bolzen im Baum neben ihnen ein.

“Wir werden angegriffen!”, erklärte sich Clay.

“Ja, offensichtlich!” Nebula drückte den schweren Mann von sich. “Runter von mir! Ich kann selbst auf mich aufpassen!” Sie sah zu dem Projektil, welches nur noch zur Hälfte aus dem Stamm herausragt. “Außerdem galt dieser Anschlag sowieso Euch.”

Clay erkannte, aus welchem Material der Bolzen gefertigt war, und stimmte ihr zu. Er nahm seinen Bogen, den er über der Schulter trug, und legte einen Pfeil aus dem Köcher an.

Nebula streckte ihren Arm aus. “Verfehle niemals dein Ziel, Gastraphetes!” Es bestand kein Grund mehr, es länger zu verheimlichen.

In seiner stoischen Gelassenheit nahm Clay es augenscheinlich hin, dass diese Frau eine Waffe offenbar aus dem Nichts herbeirufen konnte. Aber seine Instinkte rieten ihm zu äußerster Vorsicht mit diesem Weibsbild.

“Wenn er sich zeigt, ist er tot!”, sagte Nebula selbstsicher. “Gastraphetes, Nachladen!” Die Teufelswaffe lud und spannte sich von selbst. Nebula legte die Waffe an und wartete auf eine Gelegenheit, sie einzusetzen.

Clays feiner Geruchssinn trat erneut in Aktion. Zwischen all den Gerüchen war noch etwas anderes. Eine sanfte feminine Duftnote flutete seine Nebenhöhlen. “Nicht er wird tot sein”, sagte er, “sondern sie. Die uns angreift, ist eine Frau. Ich kann sie riechen.” Er nahm noch einen tiefen Atemzug. Der Duft der Frau, die ihn töten wollte, betörte ihn. Er inhalierte ihn wie Kräuterbalsam. “Sie ist gerade in ihren fruchtbaren Tagen.”

“Eure tierischen Sinne sind zutiefst beeindruckend!” Insgeheim dachte Nebula, dass er sich aufführte, wie ein Rüde, der einer läufigen Hündin nachstellte.

Ein Geräusch versetzte Clays Ohr erneut ins Zucken. “Achtung!”

Nebula reagierte sofort und feuerte das Gastraphetes ab. Sein Bolzen und der der Fremden Armbrust stießen mitten im Flug genau aufeinander und prallten voneinander ab.

“Eure Schießkunst beeindruckt mich immer wieder!”, staunte der Jäger.

“Das ist die besondere Fähigkeit dieser Waffe. Solange ich ein Ziel habe, trifft sie. Einen Bolzen im Flug könnte ich auch nicht treffen. Könnt Ihr mir sagen, wo das Miststück ist?”

“Sie muss irgendwo dort hinten sein.” Er deutete nur mit den Augen auf eine dichte Baumgruppe, die von Büschen flankiert wurde. “Sie bleibt in sicherer Entfernung, sodass ich ihr Herz nicht schlagen hören und ihre Position nicht genau bestimmen kann.”

“Also weiß sie auch um die Fähigkeiten eines Werwolfs Bescheid."

“Davon müssen wir ausgehen.”

Mordlüsternes Grinsen verzerrte Nebulas Gesicht. “Na wollen wir mal sehen, ob wir sie nicht herauslocken können!” Sie streckte erneut den Arm zur Seite weg. “Erschüttere die Grundfesten der Welt, Quake!” Nach der Anrufung tauschte die Armbrust den Platz mit einem Schwert. Ein absurd großes, wie Clay meinte. Nebula hob die Waffe mit Leichtigkeit an und der Unterkiefer Clays senkte sich mit steigender Gradzahl des aufgespannten Höhenwinkels weiter zu Boden. Wie konnte diese kleine Frau, die ihm kaum bis zum Kinn ragte, eine so gewaltige Waffe heben? Nebula ließ die Klinge in Richtung der Bäume zu Boden schnellen. “Erdrutsch!” Ein Graben riss auf und setzte sich bis zu der Baumgruppe fort. Die Pflanzen verloren ihren Halt und kippten zur Seite um.

Eine feminine Gestalt sprang mit wehenden Haaren und Umhang aus ihrem Versteck auf den Boden und eilte sich ein neues zu finden. Clay spannte seinen Bogen und schoss. Der Pfeil bohrte sich in der Höhe in einen der nicht umgestürzten Bäume, in der einen Moment zuvor noch der Kopf der Fremden war. Hinter einem dicken Stamm suchte die Attentäterin Schutz und sah auf den letzten verbliebenen Silberbolzen in ihrem Besitz. In dieser Situation war ein Angriff aussichtslos. Gegen einen Werwolf und einen Waffenmeister zugleich, konnte sie nicht gewinnen. Hier würde sie nichts finden, außer den Tod. Darum beschloss sie, sich zurückzuziehen, verstaute den Bolzen und suchte nach einem sicheren Fluchtweg. Auf dem Boden war sie für zwei Gegner mit Fernwaffen zu verwundbar. Mit Hilfe ihrer Handschuhe, deren Fingerkuppen mit Krallen bewehrt waren, kletterte sie den Stamm des Baumes hinauf und nutzte das Blattwerk, um im Schutz des Geäst zu entkommen.

Clay schnüffelte, aber konnte ihre Ausdünstungen nicht mehr riechen. “Sie ist weg”, verkündete er. Schade, fügte er in Gedanken an. Insgeheim hoffte er, der Besitzerin dieses wundervollen Duftes eines Tages von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

Nebula entspannte sich und Quake verschwand.
 

Der Fährte des Monsters zu folgen, nahm eine weitere Viertelstunde in Anspruch.

Der Geruch führte Clay und Nebula zu einem Felsvorsprung mit einer kleinen Höhle. Das einfallende Licht verlor sich rasch im finsteren Loch. Der Boden vor der Höhle war weich und feucht und Spuren von Mensch und Tier hatten sich in ihm verewigt.

“Sind wir hier richtig?”, fragte Nebula.

“Meine Nase irrt sich niemals”, versicherte Clay. “Oder ist es nicht wahr, dass Ihr gerade eure Periode habt, Mädchen?”

Nebula überkam eine Mischung aus zorniger Erregung und quälendem Scham. Sie lief rot an und wandte sich von Clay ab. “W-Was fällt Euch ein, Ihr P-Perversling!”, quäkte sie beschämt. “Das ist meine Privatsphäre! Das geht Euch gar nichts an!”

“Ha ha ha!”

Das Gelächter triggerte eine inbrünstige Wut in der Söldnerin. Nebula zog ihr Schwert und ließ es unter Clays Kinn ragen. “Genug ist genug!” Feuriges Rot brannte in ihren Iriden.

“Sachte, sachte!”

Nebula steckte ihr Schwert zurück an ihren Bund. “Spart Euch das einfach!” Sie ließ ihre Blicke in das finstere Loch in der Felswand vor ihnen schweifen. “Dort ist der Werwolf also drin... Ein Glück, dass wir Fackeln mitgenommen haben.”

Clay reichte ihr die Beleuchtungskörper. “Wünscht Ihr meine Begleitung?”

“Nein. Geht zurück nach Faringart. Falls die Höhle einen zweiten Ausgang hat und der Wolf die Stadt angreift, sollte jemand anwesend sein, der es mit ihm aufnehmen kann.”

“Ich verstehe!” Clay begab sich eilig auf den Rückweg.

Nebulas skeptische Blicke folgten ihm. Etwas stank ihr an der Geschichte, die sie von ihm aufgetischt bekommen hatte. Sie wollte keinen zweiten Wolf im Rücken haben, wenn sie drauf und dran war, einen zu jagen.
 

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Auch mit der Macht des Bösen in den Venen, war Nebula im Dunkeln genauso blind wie jeder andere. Darum musste auch sie eine Fackel entzünden, bevor sie es wagen konnte, den Spuren zu folgen. Tief führten sie in die Finsternis hinein. Der Boden der Grotte war mit Matsch bedeckt. Ein Teil eines menschlichen Oberschenkels erinnerte sie daran, dass sie sich bei diesem Ungetüm wenigstens nicht zurückhalten musste. Es würde die volle Macht ihres Arsenals zu spüren bekommen, das hatte sie beschlossen.

Je weiter sie eindrang, desto mehr abgenagte Überreste stachen aus dem Matsch hervor. Die Wände der Höhle veränderten ihre Beschaffenheit. Mehr und mehr wirkten sie, als wären ihre Schöpfer nicht Zeit und Natur, sondern fleißige Hände gewesen. Die willkürlich anmutenden Formen des Ganges glichen sich stetig einem Quadrat an und in der Ferne erspähte Nebula ein Licht. Es führte sie in einen großen runden Raum. Hier waren die Wände mit Holz verkleidet und es schien, als gäbe es in etwa vier Metern Höhe einen Laufsteg mit einem Geländer. Die Verkleidung der Wand wies viele tiefe Kratzspuren auf. Gegenüber der Passage befand sich ein großes metallisches Gitter, welches möglicherweise zu einem weiteren Ausgang führte. An den Seiten gab es mehrere kleine Öffnungen, die ebenfalls vergittert waren.

Nebula ging bis in die Mitte des Raumes und nahm ihn in Augenschein. Plötzlich vernahm sie hinter sich ein Schleifen, gefolgt von einem Knall. Sie wandte sich dem Geräusch zu und musste feststellen, dass nun ein massives Eisengitter den Eingang versperrte, den sie just genommen hatte.

“Willkommen im Zwinger!”, tönte eine Stimme von oben.

Nebula sah sich auf der Suche nach ihrer Herkunft um. “Zeigt euch!”, forderte sie.

“Aber wo wäre dann der Spaß?”

Die Gitter links und rechts von ihr hoben sich und mehrere Tiere, Kreuzungen zwischen Wolf und Hund - Wolfsblüter - betraten Zähne fletschend die Arena.

“Ihr hättet nicht hierher kommen sollen!”

Knurrend zogen die Tiere ihre Kreise um ihre vermeintlich wehrlose Beute.
 

Unterdessen erreichte Clay Faringart.

Ein Halbstarker und ein Mädchen kamen ihm entgegen, als er den Marktplatz betrat.

Clay kannte die Beiden. Sie waren Nebulas Begleiter. Hätte er sie nicht bereits zusammen gesehen, hätte er zumindest den Jungen an seinem Geruch erkannt. Er roch meilenweit nach Angst und Feigheit. Er war eindeutig dieser Henrik, von dem Nebula gesprochen hatte. Aber auch das Mädchen wieß eine seltsame Duftnote auf.

“Kann ich euch helfen?”, fragte der Jäger.

“Wir warten schon lange auf Nebula”, erklärte Henrik. “Wisst Ihr vielleicht wo sie ist.”

“Ich kann euch nicht helfen”, log Clay, in der Hoffnung sie blieben in der Stadt.

Das Mädchen sah ihn fragend an. Es war fast, als durchschaue sie seine Lüge. Obendrein roch sie so merkwürdig. Nach Tinte und altem Pergament, statt nach Schweiß, Schlamm und Dreck, wie andere Kinder. Nicht dezent und schwach, sondern penetrant und aufdringlich. So viel konnte sie nimmer in dem Werk gelesen haben, welches sie stets mit sich führte.

“Sag mal, wer - oder viel mehr was - bist du eigentlich?”, fragte er das Kind.

“Ich?”, antwortete die Kleine. “Na die Annemarie.”

So hatte er es nicht gemeint. “Du riechst nach Tinte.”

“Ich lese gern.”

Clay überlegte, ob seine Phantasie ihm Streiche spielte. Aber ein vollkommen anderer Geruch beunruhigte ihn viel mehr, als dieser sich dazwischen mischte und alles andere unwichtig erscheinen ließ. Der abscheuliche Gestank des anderen Werwolfs. Selbst als Werbiest empfand Clay diesen Geruch als herausragend widerlich. Seine Präsenz bedeutete, die Kreatur trieb in der Nähe der Stadt ihr Unwesen. “Entschuldigt mich”, sagte er und begab sich zurück zum Stadttor.

Mehrere verängstigte Leute rannten ihm schon von weitem entgegen. Das war keineswegs ein gutes Zeichen! Als der Jäger das Tor erreichte, sah er den Grund für die Angst der Bewohner: Mitten auf der Straße stand der Lykantroph. Seine Schulter, eine der Pranken und sein Bein von verheilten Brandwunden verziert, die er sich beim Kontakt mit dem Silber auf der Lichtung zugezogen haben musste. Regungslos starrte er auf die Stadt, als warte er noch auf seine Einladung zum großen Fressen.
 

Wildes Bellen und Knurren erfüllte die Höhle.

Der Meister der Wolfshunde war sich seiner sicher und grinste zufrieden. Darauf trainiert Angst und Schrecken zu verbreiten, würden seine Tiere genau das tun, was er von ihnen erwartete: Diese Frau in Stücke reißen! Ein Rudel ausgehungerter Hunde mit dem Blut wilder Bestien in ihren Adern macht kurzen Prozess mit seiner Beute.

Aber die aggressiven Laute schlugen schnell in klägliches Jaulen und Wimmern um.

Nach und nach wurden sie weniger, bis sie endgültig verebbten.

Das Grinsen hing dem Bestienmeister nun arg schief in der Visage.

Er musste einen Blick in den Zwinger riskieren.

Was er sah, schockierte ihn zutiefst. Überall war Blut. Doch es gehörte nicht der Frau, sondern seinen Wolfshunden. Jeder einzelne von ihnen lag zu Tode massakriert auf dem Boden. Einigen war der Kopf abgeschlagen worden. Andere hatten Gliedmaßen eingebüßt oder lagen aufgeschlitzt in einer Lache ihres eigenen Lebenssaftes.

“Allmächtiger!”, stieß der Mann voller Entsetzen aus.

“Falsche Adresse”, sprach es auf einmal hinter ihm.

Mit einem krausen und irritierten Blick wandte er sich der Quelle zu und umklammerte dabei das Geländer hinter seinem Rücken. Es war die Frau, die ihr Ende durch seine Hunde finden sollte. Stattdessen fand er sich nun mit der Spitze eines merkwürdigerweise völlig unbefleckten Schwertes konfrontiert, welches sie auf sein Gesicht richtete.

Nebula hatte ihn bereits an seiner Stimme erkannt und war nicht überrascht, als sie dem Meister der Hunde von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Der Mann am Ende ihrer ausgestreckten Waffe war kein Geringerer als Jonathan, der Sohn von Fürst Georg. “Ihr werdet mir das hier erklären!”, forderte die Söldnerin nach Antworten. “Was ist das für ein Ort? Wieso waren die Hunde hier?”

“Und Ihr glaubt, dass ich mich dazu erniedrige, Eure Fragen zu beantworten?”

“Nun, wenn Ihr es vorzieht, in kleine feine Scheibchen geschnitten zu werden, anstatt mir ein paar Fragen zu beantworten, so will ich Euch diesen Wunsch gern erfüllen!” Um ihre Drohung zu untermalen, stieß Nebula ihr Schwert näher an seinen Kopf heran und bremste erst um Haaresbreite vor Jonathans Auge ab.

Jonathan hing an seinem Leben, weshalb er angesichts der Drohgebärden der Blondine einlenkte. ”Na schön! So sei es! Ich werde Euch alles erzählen!” Er versuchte der Klinge auszuweichen und beugte sich dabei rücklings über das Geländer. “Aber bitte, tötet mich nicht! Ich flehe Euch an!”
 

Entschlossene Männer passierten den Eingang zur Stadt und Clay, welcher noch immer unbeweglich unter dem Torbogen stand und es vorzog, den grauen Werwolf mit finsteren Blicken in Schach zu halten.

Gib mir den Jungen!, tönte eine Stimme im Kopf des Jägers.

Werwölfe waren in der Lage, telepathisch Kontakt mit ihresgleichen aufzunehmen. Sogleich verneinte Clay die Forderung. Nein, das werde ich nicht tun!

Unterdessen umzingelten die anderen die Bedrohung und spannten ihre Bögen. Die Pfeile bohrten sich in das Fleisch des Monsters, schienen aber nicht die geringste Wirkung zu entfalten. Der Graue zog sie unbeeindruckt heraus und stürzte sich anschließend auf die Jäger. Ein gewaltiger Hieb mit der Pranke warf einen von ihnen mit immenser Wucht um. Der Mann prallte auf den Boden, ohne sich noch einmal zu rühren. Einem anderen trafen die Klauen an der Schläfe und zertrümmerten ihm den Schädel. Auch er wurde meterweit durch die Luft geschleudert. Einer nach dem anderen fielen die Männer dem Monster zum Opfer.

Als er sich um sie gekümmert hatte, wandte sich der Graue wieder Clay zu.

Gib mir den Jungen!, forderte erneut eine hallende Stimme in Clays Kopf.

Niemals!, weigerte er sich telepathisch.

Dann hole ich ihn mir einfach! Und töte jeden, der sich mir in den Weg stellt!

Versuche es doch!

Der Werwolf stieß ein furchteinflößendes Brüllen aus.

Clay antworte mit einem ebenwürdig monströsen Laut. Dann legte er Bogen und Köcher ab. Er löste seine Gürtel, ließ sie zu Boden fallen und entledigte sich seines Oberteils. Er sah zu den Menschen hinter sich. “Keine Angst, ich beschütze euch!”, versprach er. In Menschengestalt hätte er keine Chance gegen die Kreatur. Ihm blieb keine andere Wahl, als sein Geheimnis zu enthüllen “Ich habe viel zu lange weggesehen!” Unter entsetzlichen Schmerzen verwandelte er sich in ein Werbiest.

Seine guten Absichten erkannten die Bewohner von Faringart nicht. Alles was sie sahen war wie einer der ihren sich als Monster entpuppte. Voller Entsetzen und Abscheu starten sie auf Clay und hatten noch mehr Angst als zuvor.

Der andere hatte sich die Verwandlung aus sicherer Entfernung angesehen.

Ein zweites Mal brüllten sich grauer und schwarzer Werwolf an, bevor sie sich in einen Kampf auf Leben und Tod stürzten. Auf allen vieren rannten sie aufeinander zu. Sie sprangen sich an und umschlossen sich in einer Umarmung des Todes. Auf den Hinterläufen stehend, versuchte jeder seine Zähne in den Nacken seines Gegners zu schlagen, ihm die Halsschlagader zu zerfetzen, auf das er jämmerlich verbluten sollte. Ihre Mühen untersetzt von aggressiven Knurren und Brüllen.

Als das keinem von beiden so richtig gelingen wollte, lösten sie sich und traten jeweils etwas zurück.

Der Graue begann abwechselnd mit der rechten und der linken Pranke zuzuschlagen.

Clay wehrte die Schläge ab. Aber schnell stellte er fest, dass der andere Wolf ihm in Kräften überlegen war. Möglicherweise weil dieser Menschen fraß und sich nicht nur mit blutigem Tierfleisch begnügte. Ein mächtiger Schlag beförderte ihn zu Boden und hinterließ vier parallele Furchen auf seiner Brust.

Der Graue packte ihn und beugte sich über ihn. Dumm von dir, sich gegen mich zu stellen!, belehrte er Clay und ließ seine Stimme in dessen Kopf dröhnen. Wir hatten eine Übereinkunft! Warum musstest du sie brechen? Er erhob eine Klaue, um seinem Gegner den Todesstoß zu versetzen.

Wir sehen uns in der Hölle!, dachte Clay und knurrte dabei verächtlich.

Soweit sollte es nicht kommen.

Der graue Wolf zuckte unverhofft zusammen. Von seinem Rücken stieg weißer Qualm auf, als stünde er in Flammen. Er versuchte verzweifelt zu entfernen, was ihn plagte. Während er sich drehte und wendete, lag für einen Augenblick ein betörender Duft in der Luft, verschwand aber sofort wieder.

Die Verzweiflung seines Gegners, gereichte Clay zum Vorteil und er rammte ihm die Klaue in die Brust. Er durchbrach den Brustkorb des Grauen und drang dort ein, wo das Leben schlug, um es ihm zu entreißen. Der aschfarbene Werwolf brach umgehend tot zusammen. Clay ließ das entrissene Herz zu Boden fallen, sank auf alle Viere und verwandelte sich zurück. Dabei verheilte auch seine Wunde.

Er verharrte so für eine unbestimmte Zeit.

Als er seine Sinne wiederfand, kehrte Nebula mit dem Sohn des Fürsten als ihren Gefangenen zurück. Sie musste den Mann weder fesseln noch knebeln. Er folgte ihr aus freien Stücken. Eine Flucht hielt er für ausgeschlossen.

Clay hockte sich hin und starrte den blutigen Arm mit Entsetzen an, mit dem er zuvor seinen Gegner umgebracht hatte. Die Abscheu hatte ihn mit voller Wucht getroffen. Er wollte nie wieder jemanden töten müssen und dennoch hatte er. “Was habe ich getan?”, fragte Clay, als Nebula ihn erreichte.

“Das Richtige”, antwortete diese.

Jonathan fiel auf die Knie, als er den grauen Wolf tot auf dem Boden liegen sah.

Bei genauerer Inspektion des Kadavers entdeckte Nebula einen silbernen Bolzen.
 

Auf dem Marktplatz enthüllte Jonathan sein Wissen, nachdem er von Nebula auf ihre einzigartige, liebenswerte und charmante Art und Weise darum gebeten wurde: Mit einer Klinge an seiner Kehle. Beide standen auf dem gleichen hölzernen Podest, auf dem zuvor die Treibjagd ausgerufen worden war.

Währenddessen wurde dem inzwischen wieder bekleideten Clay der Eintritt nach Faringart von den anderen Jägern verwehrt. Seine ehemaligen Kameraden bedrohten ihn mit ihren Bögen, ihren Armbrüsten und ihren Sauspießen.

Henrik und Annemarie warteten vor den Toren auf Nebulas Rückkehr, mit dem Gepäck bereits zur Abreise geschnürt. Sie wollten Faringart schnell hinter sich lassen.

“Mein Vater und ich tragen die Verantwortung für die Wolfsangriffe!”, gestand Jonathan. “Das erschlagene Monster vor den Toren der Stadt… ist euer Fürst.”

Eine Welle des Entsetzen fuhr durch die versammelte Bevölkerung.

“Vor vielen Jahren wurde Vater von einem schneeweißen Wolf gebissen”, fuhr der Erbprinz fort.

Clay horchte auf. Dank seiner Werwolfsinne konnte er die Ansprache auf dem Platz bis vor das Tor der Stadt deutlich verstehen.

“Seither hat sich mein Vater in jeder Vollmondnacht in ein Monster verwandelt”, fuhr Jonathan fort. “Ich ließ ihm einen Zwinger errichten und durch Training gelang es ihm, selbst bei Vollmond bei klaren Verstand zu bleiben.”

“Erzählt, warum es dennoch Übergriffe gab!”, forderte Nebula.

“Vater wusste um eure Angst. Er wusste, wie gespalten die Stadt war. Wie jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht war und mehr Beute erlegen wollte, als alle anderen. Drum fiel er von Zeit zu Zeit jemanden an, um die Angst zu schüren.”

Die Menschenmenge wurde wütend und begann mit Dingen nach Jonathan zu werfen. “Vabrecha!”, rief es. “Mörda!”

“Aber versteht doch, es war nur zu eurem Besten! Man entfernt ein krankes Tier, damit die Herde gesund bleibt. Ihr hattet ein gemeinsames Ziel. Niemand hat mehr gegen den anderen, sondern mit dem anderen gearbeitet. Es war endlich Frieden in der Stadt.”

“Warn des Madl und da Junge etwa kranke Viecher?!”, regte sich ein Bürger auf. “I drahe dia den Hals um, du Drecksau!”

“Die gestörte Logik eines kranken Geistes!”, merkte Nebula an. “Vergesst nicht, auch von den Hunden zu erzählen!”

“Wos fia Hunde?”, rief es aus der Menge.

“Euer Fürst konnte nicht überall sein”, antwortete Nebula anstelle Jonathans. “Darum hat er Wolfsblüter gezüchtet und sie abgerichtet, Menschen anzugreifen.”

“Unvazeihlich!”, rief ein aufgebrachter Einwohner.

“Schaut Euch die Menschen an, vor denen Ihr Euch verantworten müsst”, sagte Nebula. Sie nahm das Schwert von Jonathans Kehle. Dann stieg sie vom Podest herab. Was nun mit ihm geschah, war ihr herzlich egal. Er war es nicht wert, einen Gedanken an ihn zu verschwenden! Darum ist auch nichts zu seinem Schicksal bekannt. Die anderen Jäger gingen zur Seite und machten ihr den Weg frei. Sie ging die Hauptstraße entlang, direkt zu Clay.

“Ich hätte viel früher etwas tun sollen”, bedauerte der enttarnte Werwolf mit gesenktem Kopf. Er wirkte auf Nebula, wie ein getretener Hund. “Doch ich wurde selbstsüchtig. Ich wollte mein neues Leben nicht verlieren. Also ignorierte ich den Gestank des Fürsten, wo ich nur konnte und im Gegenzug half er mir mein Verlies zu bauen und meine Spuren zu verwischen. Und nun habe ich dennoch alles verloren.”

“Schaut!”, orderte Nebula und geleitete ihn weg von den Jägern zu ihren Begleitern. “Die Bewohner von Faringart mögen Euch zwar fürchten und verachten, doch keiner von uns würde das tun.” Sie zeigte auf Henrik. “Ein Junge mit mysteriösen Kräften.” Dann auf Annemarie. “Ein Mädchen, das jedermanns Zukunft kennt, aber nicht die eigene Vergangenheit.” Als letztes deutete sie auf sich selbst. “Und das Weib, in dem der Teufel wohnt.” Nun streckte sie ihren Arm aus und reichte ihm die Hand. “Da ist ein Werwolf in bester Gesellschaft.”

“Bietet Ihr mir tatsächlich an, Euch zu begleiten?”, fragte Clay unsicher.

“Spricht etwas dagegen?”

“Habt Ihr keine Angst, dass ich hungrig werden könnte?”

“Zur Not könnt Ihr Henrik fressen.”

“Ihr seid zu gütig!” Dass Clay auf ihren Spaß einstieg, war ein gutes Zeichen. ”Ihr gebt einem Mann, der alles verloren hat, ein neues Heim. Seid Ihr sicher, dass Ihr vom Teufel besessen seid?”

“Ihr könnt weiter vor Euch selbst davon laufen oder mir folgen und mit Eurer Kraft dabei helfen, gegen das Böse zu kämpfen.”

“Dann will ich Euch folgen.” Er ergriff Nebulas Hand.

“Willkommen, neuer Gefährte.”

Die vier begaben sich auf die Reise.

Clay musste staunen, als Henrik wieder fast unter dem Gewicht eines gewaltigen Sacks zusammenbrach und es irgendwie dennoch stemmte. “Übrigens, Junge”, sagte er. “Ich habe ein Pferd. Lasst es uns holen und Euch von dieser Last befreien!”

Das große Bankett


 

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Der Finsterwald trennte Nebula und ihre Begleiter von der Hauptstadt Ewigkeit. Ein Forst, von dem man sagte, er sei so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden berührte. Ganz so schlimm, wie es die Geschichten behaupteten, war es zwar nicht, trotzdem freute sie der Anblick der Lichtung, auf der sie wenig später ihre Zelte aufschlugen. Die mehrtägige Reise in die Hauptstadt bot Gelegenheit, miteinander per Du zu werden. Der Platzmangel tat sein Übriges. Den neuesten Zuwachs angemessen in einem der Zelte unterzubringen, gestaltete sich schwierig. Deshalb erstanden sie vor ein paar Tagen in einem kleinen Dorf ein weiteres. So blieb es Henrik erspart, sich mit Clay in eines zu quetschen.

Während sie alle zur Ruhe gebettet lagen, riss ein aufgeregtes Schnauben den Jäger mit dem Bestienblut aus seinem unruhigen Schlaf. Jene Männer, welche dazu verdammt sind, ein Wolf zu sein, konnten in der Nacht niemals Ruhe finden. Stetig quälten sie Jagdträume, in welchen sie in Wolfsgestalt ihrer Beute hinterherjagten. Jedes Mal mit der Angst verbunden, dass es sich am nächsten Morgen als Realität herausstellte. Deshalb riss es Clay mit Leichtigkeit aus seinem unheilvollen Schlaf.

Vorsichtig streckte er den Kopf aus der Öffnung des Zeltes.

Sein Pferd zerrte an dem Strick, welcher es an einem nahen Baum fesselte.

Irgendetwas war da draußen. Oder irgendjemand.

Er musste der Sache auf den Grund gehen.

Sein unerwarteter Aufbruch blieb nicht unbemerkt.

Mit der Nase zum Himmel gerichtet, versuchte der Werwolf mögliche Gefahren anhand des Geruches auszumachen. Es war noch immer mitten in der Nacht. Fast alle Waldbewohner schliefen zu dieser Zeit. Ein Schwarm Fledermäuse war auf der Jagd nach Insekten. Ihre Klickgeräusche im Ultraschallbereich klingelten in Clays Ohren wie ein Orchester Hundepfeifen und machten ihn fast Wahnsinnig. Es war eine Erleichterung, als sie sich so weit entfernten, dass er sie nicht mehr hören konnte. Eine Eule nutzte ebenfalls die Nacht, um sich den Bauch vollzuschlagen. Am Fuße eines Baumes, in etwa hundertfünfzig Metern Entfernung, machte sich der Siebenschläfer an einem Pilz zu schaffen, der aus einem morschen Baum empor geschossen war. Und südlich des Lagers wühlte ein Igel nach köstlichen Regenwürmern.

Soweit deutete nichts auf eine Bedrohung hin.

Clay schlich weiter um das Lager herum.

Plötzlich veranlasste ihn ein Geräusch zu einem hektischen Sprung zur Seite. Er wich im letzten Moment einem versilberten Dolch aus. Das Wurfgeschoss zog einen bekannten Geruch hinter sich her. Sie ist es, dachte Clay voller Erregung.

Irgendwo im Blattwerk hielt sich die Attentäterin verborgen. Er bot sich ihr als Ziel an.

Ein weiterer Dolch folgte auf seine Einladung.

Dank seiner schnellen Reflexe, wich er auch dieser Bedrohung aus. Verstohlene Tritte und leises Knacken von Ästen veranlassten ihn, sein Messer zu ziehen. Hinter ihm sprang eine schwarz gekleidete Gestalt aus einem Busch und stürzte sich auf ihn. Clay wehrte den Angriff mit seinem Häutungswerkzeug ab.

Jäger und Beute durchbohrten einander mit stechenden Blicken.

Clay musterte das Äußere der Frau. “Ihr seid nicht von hier”, stellte er anhand ihres Äußeren fest. Rote Augen, rote Haare, aschfahle Haut und leicht spitz zulaufende Ohren.

Die Rothaarige tat die Aussage ihres Ziels mit einem Brummen ab und sprang in einem hohen Salto nach hinten weg. Dabei versetzte sie Clay einen Tritt gegen den Unterkiefer, welcher seinen Kopf unfreiwillig nach oben neigte. Sie landete anschließend ein gutes Stück entfernt wieder sicher auf dem Boden.

Clay duckte sich in letzter Sekunde weg, als seine Gegnerin einen weiteren Angriff an ihre Kombination anfügte, wie ein Glied an einer Kette. Mehrere Dolche bohrten sich hinter ihm in einer Reihe in einen Baumstamm. Als er wieder zu der Fremden sah, konnte er sie erst nirgends mehr ausmachen. Sie war unglaublich flink.

Er konzentrierte sich. Ein Rascheln! Über ihm!

Die Attentäterin stürzte sich aus den Baumwipfeln auf ihn.

Geistesgegenwärtig packte Clay ihre Arme und warf sie über seinen Kopf hinein in einen Busch. Danach tauschte er sein Messer gegen den Bogen ein und spannte ihn mit einem Pfeil aus dem Köcher.

Die Rothaarige rappelte sich umgehend wieder auf und wollte ihren Angriff auf Clay fortsetzen, bevor er den Pfeil loslassen konnte, nur um mitten im Sprung kehrt zu machen. Das Echo eines metallischen Klingen wurde von den Stämmen und Blättern der Bäume zurückgeworfen. Sie parierte den Versuch eines anderen, sie zu erschießen.

“Gastraphetes, nachladen!”

Clay und die Fremde sahen sich um.

Nebula stürmte plötzlich zwischen einigen blattreichen Sträuchern hervor, die schwarze Armbrust auf die Angreiferin gerichtet. “Eure Reflexe sind ausgezeichnet, Cerise!”, lobte die Blondine.

“Vielen Dank für das Kompliment”, erwiderte die Rothaarige.

“Moment mal!”, hakte Clay ein. “Du kennst diese Frau?”

“Allerdings!”, erklärte Nebula und warf ihrem Begleiter einen kurzen Blick zu. “Das ist Cerise. Sie verfolgt mich schon eine Weile!” Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut der blassen Rothaarigen zu. “Ihr steckt also auch hinter den Angriffen auf Clay. Ich hätte es mir denken können. Wieso vergreift Ihr Euch jetzt an meinen Begleitern?”

Cerise lockerte sich und wechselte aus der Kampfbereitschaft in eine aufrechte, aber entspannte Haltung. “Vergreifen ist so ein hartes Wort...” Ihre Arme ließ sie locker zur Seite herunterhängen. “Nehmt doch nicht gleich immer alles so persönlich.”

Jedes ihrer Worte klang in Nebulas Ohren wie eine Provokation. Sie schoss einen Bolzen direkt vor Cerises linken Fuß in den Boden. “Haltet Euer vorlautes Mundwerk, Ihr rothaarige Hexe!” Sie richtete die Waffe erneut auf Cerises Oberkörper. “Gastraphetes, nachladen!”

Die Armbrust gehorchte.

“Aber wenn ich meinen Mund halte, kann ich nicht antworten.”

Clay erwiderte mit einem drohenden Knurren.

“Ich erhielt den Auftrag, diesen entlaufenen Flohzirkus auszuschalten.”

“Warum?”

“Was interessiert mich das?”

“Ihr wollt ihn töten, ohne einen Grund zu haben?!”

“Ein Auftrag ist ein Auftrag. Wir stellen keine Fragen nach dem Grund.” Schnell - zu schnell für Clay und Nebula - riss Cerise eine Kugel aus ihrem Gürtel und warf sie schwungvoll auf den Boden. Sofort breitete sich dichter weißer Rauch aus, der alles verhüllte.

Nebula schoss sofort in die Richtung, in der sie Cerise vermutete, hatte aber nicht das Gefühl, sie getroffen zu haben. Clay wollte es ihr gleichtun, doch die Sehne riss.

Als sich der Rauch gelegt hatte, war Cerise verschwunden.

“Wo ist das Miststück?”, machte Nebula ihrem Ärger Luft.

“Sie ist weg”, sagte Clay nach einem ausgiebigen Atemzug durch sein Werwolfriechorgan.

“Euer Bogen!”, bemerkte Nebula.

“Das kann man reparieren”, meinte der Waidmann.

Als sie sich sicher waren, dass die Gefahr vorüber war, entspannten sich beide und kehrten zum Lager zurück.
 

Am Morgen setzten die Vier ihre Reise fort. Annemarie saß, zusammen mit dem Gepäck, auf Clays Pferd, während der Jäger es am Zaumzeug führte.

Nach einigen Stunden erreichten sie Ewigkeit.

Aus jeder Himmelsrichtung führte eine lange Brücke über den See, in dessen Zentrum Ewigkeit, die Hauptstadt von Morgenstern, auf einer Insel lag. Des Werder gewaltiges Felsmassiv wurde von mächtigen Festungsmauern eingefasst. Ehrfürchtig betrachteten Henrik und Annemarie das Stadttor. Beide hatten noch nie so hohe Mauern gesehen.

“Wow!”, staunte Henrik.

“Wohnen hier Riesen?”, fragte Annemarie unbedarft.

Clay amüsierte die Naivität des Kindes.

“Das ist immerhin unsere Hauptstadt”, sagte Nebula.

Vor und nach ihnen drängten Menschen und Wagen hinein in die Stadt. Ein Aufkommen, das selbst für die Hauptstadt außergewöhnlich war. An den Toren kontrollierten Wachen die Papiere der Reisenden.

“Was wollen die ganzen Menschen hier?”, fragte Annemarie.

“S-Sie veranstalten vielleicht ein T-Turnier”, mutmaßte Henrik.

Endlich erreichte Nebulas Gruppe das Stadttor.

Der Wächter beäugte sie skeptisch. Ihr Gesicht kam ihm so bekannt vor. “Eure Papiere!”, forderte er schließlich nach einer kurzen Denkpause.

Nebula reichte ihm einen Brief.

Der Wächter rollte das Schriftstück auf und machte große Augen. Verunsichert gab er ihr den Brief zurück. “Ihr könnt passieren.”

Die vier durchschritten das Tor.

Hinter der Mauer befand sich rechts vom Tor eine Stallung. Sie hatten Glück und bekamen den letzten freien Platz für ihr Pferd.

Beschlagene Hufe klapperten auf dem gepflasterten Platz und Rösser wieherten, als unerwartet eine Kutsche vorfuhr. Sie kam genau vor der Gruppe zum Stehen.

“W-Was macht denn diese Kutsche hier?”, wunderte sich Henrik über ihr Erscheinen.

Der Kutscher schwang sich von seinem Sitz und kam der Gruppe entgegen. Er ging umgehend zu Nebula. “Willkommen, Herrin!”, sprach er und verbeugte sich. “Ihr und Eure Begleitung seid herzlich eingeladen zu einer Stadtrundfahrt!”

“Wer hat das veranlasst?”, fragte die Blondine misstrauisch.

“Die Prinzessin, Herrin”, antwortete der Kutscher. “Als sie erfuhr, dass Ihr in Begleitung kommt, veranlasste sie diese Fahrt. Es ist ihr Willkommensgeschenk.”

Sie stiegen ein, um die Sehenswürdigkeiten von Ewigkeit gezeigt zu bekommen.
 

Wie durch ein Wunder fasste die kleine Passagierkabine sie alle vier.

Das Gefährt setzte sich in Bewegung und Sehenswürdigkeiten kamen in Sichtweite.

Als erstes passierten sie ein mehrstöckiges quadratisches Gebäude, dessen Dach in der Mitte eine große Kuppel besaß. Zwischen zehn Meter hohen Säulen befanden sich die langen und schmalen Eingangstüren. “Zu Euer Rechten seht Ihr die große Bibliothek”, erklärte der Kutscher. "In ihr werden verschiedene Werke der Literatur aufbewahrt. Ein jeder, der wissbegierig ist, ist es gestattet, ihr Angebot zu nutzen.”

Als nächstes durften sie ein großes Gotteshaus bestaunen. Es besaß gleich vier Glockentürme mit weit in den Himmel hinauf ragenden spitzen, an deren Enden goldene Kreuze befestigt waren, in deren Mitte sich Ringe befanden. Die Front zierte ein wunderschön gestaltetes Rosettenfenster, dessen Ausmaße alles übertrafen, das Henrik bisher gesehen hatte. “Bestaunt zu Eurer Linken den Dom von Ewigkeit", fuhr der Kutscher fort. "Seit jeher werden hier die Herrscher gekrönt. Eigentlich wurde der Dom jedoch zu Ehren des namenlosen Gottes errichtet.

Nebula war diese Stadtrundfahrt offenkundig zu langweilig. Sie lag mehr auf ihrem Sitz, als dass sie saß, und schlief. Der sperrangelweit offene Mund ermöglichte Henrik, das Vibrieren ihres Gaumens zu beobachten, während sie nach Herzenslust schnarchte. Henrik wollte seinen Blick erst nicht von ihr lassen. Doch dann weckte eine marmorne Drachenstatue seine Aufmerksamkeit. “Kutscher!”, rief der Junge daraufhin. “Was hat es mit der Statue auf sich?"

“Ein Geschenk von Aschfeuer”, antwortete der Mann. “Nach Ende des Krieges hat das Imperium uns dieses Ding zum Geschenk gemacht. Für sie hat der Drache eine besondere Bedeutung. Manche sagen, im Krieg hätten die Spitzohren echte Drache gegen Morgenstern ins Feld geführt.”

“Echte Drachen?!”

“Keine Angst! Das ist nur ein Ammenmärchen. So etwas wie Drachen gibt's doch gar nicht! Oder habt Ihr schon mal einen gesehen.”

“N-Nun, nicht w-wirklich.” Dennoch beunruhigte Henrik die Erscheinung des Ungetüm. Sie wirkte so lebensecht.

“Nur die Ruhe, Junge”, beruhigte dieser. “Es ist ja nicht so, dass die Statue eines Tages zum Leben erwacht und in der Stadt Amok läuft." Der Mann setzte ein Grinsen auf, das man in der Kabine allerdings nur erahnen konnte.

Die Kutsche erreichte die letzte Sehenswürdigkeit. Auf dem großen Platz vor dem Königspalast kam sie zum Stehen.

“Sind wir schon da?”, fragte Annemarie.

“Jawohl, wir haben unser Ziel erreicht”, verkündete der Kutscher.

“Hey, N-Nebula”, sprach Henrik sachte und stupste sie leicht an. “Wir sind da.”

Doch sie reagierte nicht.

“So wird das nichts, Kleiner!”, sagte Clay. Daraufhin versetzte er Nebula einen heftigen Ruck. Sie schreckte auf, rutschte vom Sitz, kam auf den Knien auf und stützte sich am Sitz gegenüber ab. Dadurch war ihr Kopf unfreiwillig zwischen Henriks Beine geraten.

Erschrocken riss der Junge die Arme in die Luft.

Nebula lief rot an, als ihr bewusst wurde, zwischen wessen Schenkeln sie sich befand. Sie fuhr auf, nur um Henrik eine Ohrfeige zu verpassen. “Lustmolch!”, schimpfte sie.

“A-Aber ich…”, versuchte sich der Braunhaarige zu rechtfertigen.

Amüsiert musste sich Clay beim Lachen den Bauch halten.

Der Kutscher öffnete die Tür und die Vier stiegen aus.

Ein atemberaubender Springbrunnen mit Wasserspeiern verschiedenster Art schmückte das Zentrum des Platzes. Unzählige Fontänen schossen nach Oben und zur Seite. Ein langer Weg führte vom Platz ab, links und rechts überspannt von den Ästen der Zierkirschen. Am Ende des Weges erwartete sie der Eingang des Schlosses. Ein pompöses Portal, welches eindeutig geschaffen wurde, um zu gefallen. Ein von Säulen gestützter Überbau mit zinngefassten Butzenfenstern umspannte den gesamten Innenhof in Hufeisenform. An den Wänden kletterte der Efeu empor und Moos hing von den Wasserspeiern mit Dämonenfratzen. Am Eingang auf der anderen Seite wurden sie bereits erwartet.
 

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Die Palastwachen geleiteten die Gruppe hinein ins Innere.

Der Fußboden des royalen Herrschersitzes wurde von Bodenplatten aus dunklem Marmor bekleidet. Vier Säulen durchzogen den Eingangsbereich in der Mitte und stützten die mächtige Deckenkonstruktion. An jeder von ihnen stand eine Wache. Unterschiedliche Zierobjekte waren an und um die Säulen gruppiert. Hinter ihnen schlang sich eine gebogene Treppe auf zwei Seiten hinauf in das erste Obergeschoss. Links und rechts durchbrachen Passagen zu den Seitenflügeln die Mauern. Licht fiel durch die Fenster und die gewaltige Kuppel über ihren Köpfen ein. Von der Mitte der Kuppel hing ein gewaltiger Kronleuchter herunter, gehalten von einer langen Kette.

Nebula schaute aus, als ob sie etwas bedrückte.

Henrik fühlte sich von der schieren Größe eingeschüchtert.

Clay versuchte, die unbehaglichen Gerüche nach Wachs und Ruß auszublenden.

Annemaries Augen funkelten vor Entzückung über all den Glanz und Prunk.

Gemeinsam schritten sie die Treppe auf der linken Seite hinauf. Der eigentliche Thronsaal wurde von Licht aus überlebensgroßen Fenstern geflutet. Ein roter Teppich lag auf den Marmorplatten und führte ankommende Besucher zum Herrschaftssitz des Monarchen. Der König saß in seinem Thron und rechts von ihm stand eine junge Frau. Doch der Sitz der Königin war schon seit langer Zeit unbesetzt. Die Wände verschönerten Wappenbanner und Gemälde einstiger Herrscher. Über dem Thron hing ein ganz besonderes Bild. Es zeigte den König und die Königin. Die Gemahlin an der Seite des Herrschers, hielt ein kleines Bündel von Menschlein in den Armen.

Nebula konnte die Darstellung ihrer Mutter nicht länger ertragen. Obwohl sie daran glaubte, dass man nicht missen konnte, was man nicht kannte, übermannte sie die Sehnsucht nach mütterlicher Zuwendung.

Sie war bei Nichten die einzige, deren Gefühlswelt von diesem Kunstwerk wie von einem brutalen Sturm auf See durcheinandergewirbelt wurde. Für einen Moment glaubte sie, ein bösartiges Knurren zu vernehmen. Aber just in dem Moment, als sie sich schickte, seine Ursache zu finden, verstummte es.

Die junge Frau neben dem König stürmte plötzlich auf Nebula zu und umarmte sie. “Schön, dass du gekommen bist!”, begrüßte sie sie.

Henrik verblüffte der Anblick der beiden Mädchen, die sich fast glichen, wie ein Ei dem anderen. Nur das Haar der einen war um einiges länger. Und da war noch etwas, das sie unterschied. Doch es wollte ihm partout nicht einfallen, was es war.

Ob sie Schwestern waren?

“Ich lasse dich nicht an deinem großen Tag im Stich”, erklärte Nebula.

“Du hast Freunde am Hof?”, wollte Clay wissen.

Nebula und die Fremde lösten sich. “Das ist Prinzessin Emelaigne”, erklärte Nebula. “Wir sind seit langer Zeit Freunde.”

“F-Freut mich, Eure B-Bekanntschaft zu m-machen”, sprach Henrik. Die Anwesenheit von gleich zwei wunderschönen Mädchen verunsicherte ihn.

“Sie wird bald einen Prinzen heiraten.”

“Deshalb ist die Stadt so in Aufruhr”, erkannte Clay.

“Sie heiratet einen Prinzen aus Aschfeuer.”

“Aschfeuer?!”

“Ein Botschafter wird kommen, und die Einzelheiten aushandeln.”

“Och, eine Hochzeit!”, gluckste Annemarie freudig. “Darf ich das Blumenmädchen sein? Bitte, bitte, bitte, bitte…”

“Na klar darfst du”, sagte die Prinzessin. “Nebulas Freunde sind auch meine Freunde!”

“Juhu!” Der Rotschopf hüpfte verzückt auf und ab.

“Doch Nebula und der König müssen noch etwas besprechen”, nahm Emelaigne der Kleinen den Wind aus den Segeln. “Außer Nebula mögen alle den Thronsaal umgehend räumen.” Sie sah zu einer der Wachen. “Zeigt ihnen ihre Gemächer!”

“Jawohl, Eure Hoheit!”, bestätigte dieser und geleitete die anderen hinaus.

Nebula und Emelaigne schritten derweil zum Thron und begannen ein langes Gespräch mit dem Herrscher von Morgenstern.
 

Nachdem ihnen ihre Zimmer gezeigt wurden, beschlossen Henrik, Annemarie und Clay den Rest des Tages damit zu verbringen, über die Märkte zu ziehen. Annemarie wünschte sich Spielzeug und Henrik begleitete sie. Clay konnte nicht viel mit den Kindern und ihren Sehnsüchten anfangen. Darum trennten sich ihre Wege. Auch, weil er einen wichtigen Weg gehen musste. Sein Bogen war noch immer kaputt. Die Hauptstadt von Morgenstern musste doch mit einem anständigen Bogner aufwarten können!

Endlich entdeckte er ein entsprechendes Geschäft.

Der Besitzer war ein älterer Mann mit blassem Teint und engen Augen. Er trug höchst eigentümliche Kleidung, wie sie weit im Osten üblich war. Er musste einst von weit her gekommen sein. Vielleicht sogar von den legendären östlichen Inseln.

Der Mann kam sofort auf Clay zu, als dieser sich der Bogenmacherei näherte. “Einen interessanten Bogen habt Ihr da”, eröffnete er und streckte die Hände aus. Er hatte einen deutlichen Akzent. In der Stimme hallte zudem die Lebenserfahrung des Mannes wieder. “Aber er singt nicht mehr.”

“Das ist leider wahr”, gestand Clay ein. “Wie Ihr seht, die Sehne ist gerissen” Er übergab die Waffe.

“Wollen wir schauen, was wir tun können.” Der Mann ging zu seiner Werkbank und spannte Clays Bogen in den Schraubstock ein, sodass die beiden Enden mit der Sehne nach oben zeigten. “Wisst Ihr”, sprach der alte Mann, während er sich am Jagdwerkzeug zu schaffen machte. “Es ist schon eine Weile her, dass ich einen Bogen aus meiner Heimat gesehen habe. Zuletzt als kleiner Bub in der Lehre meines Vaters. Wie kommt ein westlicher Jäger zu so einer Waffe?”

“Sie ist ein Familienerbstück.”

“Dann habt Ihr vielleicht Vorfahren aus meiner alten Heimat?”

“Vielleicht.”

Den Bogen hatte er einst vom Vater seiner Frau bekommen. Er war das einzige, das er bei seiner Flucht bei sich hatte und das einzige, was ihn mit seinem alten Leben verband.

Der alte Mann arbeitete schnell und effizient und so war die Sehne gewechselt und eingespannt. “Es ist vollbracht.” Er löste den Bogen aus dem Schraubstock und übergab ihn seinem Besitzer. “Das macht dann fünf Schilling.” Er hielt die Hand auf und lächelte dabei, genau wie man es den kleinen Männern aus dem Osten nachsagte.

Nachdem er den Bogener für seine Dienste entlohnt hatte, bedankte sich Clay und verließ das Geschäft mit einer runderneuerten Waffe über der Schulter.
 

Ungesehen von der getriebenen Menschenmasse zu ihren Füßen, schlich Cerise unter schwarzer Kutte verborgen über die Dächer. Es war ein helllichter Tag, doch der rothaarigen Schattengestalt gelang es trotzdem, für die Augen der anderen unsichtbar zu sein. Eine sanfte Briese streichelte ihr Gesicht. Sie verfolgte ihr Ziel entgegen dem Wind. Diesmal würde er sie nicht verraten können. Ihr Atem, ihre Schritte, jedes verräterische Geräusch, ging unter in einem Meer aus Tumult und Tamtam, in dem jeder Laut zu monotonem Rauschen verkam.

Das Ziel bog an einer Kreuzung ab.

Die Verfolgerin sprang vom Dach auf ein hölzernes Geländer und von ihm aus über die schmale Gasse auf das Geländer des Balkons eines gegenüberliegenden Hauses. Mit der Hilfe einer Lampe, schwang sich die Rothaarige um die Kurve und landete sicher auf einem weiterem Geländer. Sie balancierte in gehockter Haltung auf ihm, bis sich eine Trennwand vor ihr auftat, welche den einen Balkon von dem direkt nebenan abgrenzte. Das kam ihr wie gerufen. An ihr kletterte sie zurück auf das Dach und setzte die Verfolgung fort.
 

“Die will ich haben!”, strahlte Annemarie und präsentierte die Puppe, welche ihr Herz erobert hatte.

Henrik sah sie sich an. Sie trug ein besticktes blaues Kleid, kleine schwarze Pantoffeln und hatte goldene Haare aus Stroh.

“Findest du nicht, sie sieht aus wie Nebula?”, grübelte der Rotschopf.

“W-Was?!”, schreckte Henrik auf. Er musste sich unweigerlich vorstellen, wie die Söldnerin darauf reagieren würde, mit einem Kinderspielzeug verglichen zu werden. Vermutlich würde sie der Puppe umgehend den Kopf abreißen. Und danach ihm, weil er sie Annemarie gekauft hatte. Er war nicht bereit, dieses Risiko zu tragen. “T-Tue sie besser w-wieder zurück”, schlotterte er vor Furcht.

Annemarie stülpte die Unterlippe über die Oberlippe und Feuchtigkeit quoll aus ihren Augen. Sie war drauf und dran, jeden Moment zu weinen.

“Na sch-schön!”, ließ sich der Junge erweichen.

“Juhu!”, freute sich Annemarie. Sie war sofort wie ausgewechselt. Die Tränen innerhalb eines Wimpernschlages getrocknet.

Noch bevor Henrik zum Tresen des Spielwarenladen schreiten konnte, fiel sein Augenmerk auf das Preisschild. Sofort wurde ihm schwindlig. Da waren eindeutig zu viele Zahlen! “Nein, das kann ich nicht kaufen!”, stieß er aus.

Wieder machte Annemarie ein Gesicht, als ob der Weltuntergang unmittelbar bevorstünde, und nur dieses Spielzeug war im Stande, ihn abwenden.

“N-Na schön!”, ließ sich Henrik abermals erweichen. Er nahm seinen Geldbeutel und zählte das bisschen Gold, das er noch übrig hatte. “Ab heute nur noch E-Essen wie im Knast...”, murmelte er. “W-Wasser und hartes Brot...” Er kramte seine Münzen zusammen und erfüllte den Herzenswunsch des Mädchens.
 

Sicher lag die Armbrust in den Händen der gedungenen Mörderin, als sie mit geneigtem Kopf und zugekniffenem rechten Auge ihr Ziel fixierte. Die mit einer Silberlegierung überzogene Spitze des Bolzen zeigte direkt auf den großen muskulösen Mann und folgte jeder seiner Bewegungen. Er schlenderte ahnungslos inmitten einer Menschenmenge. Kein Geruch und kein Laut warnte ihn vor seinem bevorstehenden Ableben. Als Cerise sich ihres Schusses sicher war, betätigte sie den Abzug und der Bolzen ging auf die Reise.

Das Geschoss bahnte sich seinen Weg durch den Raum.

Plötzlich schreckten die Massen eilig zur Seite, als eine Kutsche in einem Mordstempo über die Straßenkreuzung bretterte, ohne jede Rücksicht auf Verluste. Genau im rechten Moment, sodass der Bolzen im hölzernen Rahmen der Passagierkabine stecken blieb und das Leben des Mannes verschont wurde.

Als sie ihren Schuss ins Leere gehen sah, setzte sich die Rothaarige wieder in Bewegung. Sie durfte ihr Ziel keinesfalls aus den Augen verlieren. Heute würde die Beute zu ihren Füßen liegen!

Ein weiteres Mal legte sie an.

Doch das Glück war ihr nicht hold und auch dieser Versuch scheiterte, als sich der Mann genau in dem Moment nach den Senkeln seiner Stiefel bückte, als sie den Abzug betätigte. Der Bolzen verfehlte und wart nie mehr gesehen.

Vom Pech verfolgt, beschloss die Rothaarige, zu ihrem Ziel aufzuschließen. Wenn es ihr nicht gelang, ihm aus der Entfernung auszuschalten, so würde es im Schutz der Menschenmasse garantiert gelingen. Das sicherste Versteck für einen Attentäter war der Präsentierteller. Zwischen den Passanten konnte sie sich ungesehen anschleichen. Sie sprang vom Dach hinab in einen Heuwagen am Straßenrand und rollte sich aus ihm heraus. Eilig tauchte sie im Gedränge unter und schmiegte sich zwischen den Körpern der Fußgänger hindurch, immer näher ihrem Ziel entgegen. Ihr Stilett war unter dem langen Ärmel der schwarzen Kutte verborgen und bereit, tief in das Fleisch ihres Opfers hinein zu schneiden.

Aber dann geschah etwas, worauf sie nicht vorbereitet war.

Unerwartet drehte der Wind und riss ihren Geruch mit sich.

Ihr Duft stieg dem Ziel in die Nase und veranlasste seine Flucht.

Ein weiterer Fehlschlag!

Es war, als wollte eine höhere Macht verhindern, dass dieser Mann heute durch ihre Hand sterben würde. Sie hatte schon viele Leben genommen, doch noch nie hatte eines ihrer Ziele einen vollbesetzten himmlischen Chor von Schutzengeln auf seiner Seite, welche nicht nur in jeder erdenklichen Oktave sangen, sondern auch über es wachten. Welche Erklärung gab es sonst dafür, dass ihr keiner ihrer Anschläge gelingen wollte?

Sie ließ sich dazu hinreißen, dem Mann zu folgen. Eigentlich würde sie niemals vorstürmen, ohne vorher die Lage zu prüfen, doch ihre anhaltende Pechsträhne nagte an ihren Nerven. Sie wollte diesen verdammten Lykantrophen endlich zum Teufel schicken!

Schubsend und schiebend ging es nur langsam voran, bis sie endlich aus der homogenen Masse auszubrechen vermochte. Eine Menschenmenge stellte nicht nur die perfekte Tarnung dar, sondern konnte gleichermaßen ein unüberwindbares Hinderniss sein, wenn es einmal schnell gehen musste. Zwischen erbosten Rufen und verdutzten Blicken vorbei, schob sich Cerise ins freie, wo sie ihr Ziel gerade noch in eine leere dunkle Gasse einbiegen sah.
 

Ein wohlbekannter Duft erregte Clay. Er wusste nun, dass er verfolgt wurde. Eilig verließ er die Straße und flüchtete in eine Gasse. Er gedachte der Attentäterin eine Falle zu stellen und legte sich auf die Lauer. Es war genug! Heute würde er ihr Spiel von Katz und Maus beenden. Er musste nicht lange warten, bis sein Jagdmesser endlich zum Zuge kam.

Jemand war hinter ihm.

Er griff an.

Eilig wich Cerise zurück. Dass er die Dreistigkeit besaß, ihr eine Falle zu stellen, war unerhört! “Ihr wollt Euch mir im Messerkampf entgegenstellen?!”, fragte sie mit gewohnt provokanten Unterton in ihrer Stimme. “Wollt Ihr Euch nicht lieber freiwillig hinlegen und sterben?”, setzte sie ihr Sticheln fort. “Ich hatte heute einen echt beschissenen Tag und das macht es für uns beide leichter!”

“Wieso wollt Ihr mich töten?”, fragte Clay.

“Könnt Ihr Euch das nicht selbst beantworten?”

Ein verstimmtes Brummen verließ seinen Mund.

“Ihr seid der Jäger, der seine Frau und Kinder gefressen hat. Mehr muss ich nicht wissen. Mir persönlich ist das egal, aber für jemanden ist es Grund genug, Euch töten zu lassen.”

Clay machte sich auf einen Frontalangriff gefasst, als Cerise unvermittelt auf ihn zu stürmte. Er streckte seinen Arm nach vorn aus, um zuzustechen. Die Attentäterin trat zurück, streifte ihre Kutte ab und warf sie auf Clay. Während er sich aus dem Kleidungsstück befreite, eilte sie um ihn herum, um ihn hinterrücks zu erstechen. Clay setzte Cerises abgelegte Kutte gegen sie ein und schlug sie ihr entgegen.

Das Stilett entglitt Cerises Griff und fiel zu Boden.

Clay sah seine Chance, packte die Rothaarige an beiden Armen und drückte sie an eine nahegelegene Hauswand. Er machte sie vollkommen bewegungsunfähig, als er seine Knie gegen ihre Schenkel presste.

Entgeistert sah Cerise ihr Opfer an. Sie war ihm ausgeliefert. Sie spürte das harte Mauerwerk in ihrem Rücken und der Atem des Mannes auf ihrer Haut. Das Gesicht des Mannes dem ihren so nah, fragte sie sich, wie es so weit kommen konnte. Ließ sie sich tatsächlich von ihm wie eine blutige Anfängerin überrumpeln? Sie verstand nicht, was mit ihr geschah. “Sagt mir wieso!”, forderte sie eine Antwort. “Wieso kann ich Euch nicht töten?”

“Was redet ihr da?”, fragte Clay unverständig und zugleich erregt vom Objekt seiner Begierde direkt vor seinen Augen. Das Biest in ihm wollte der Frau die Kleider vom Leib reißen und es auf offener Straße sofort schamlos mit ihr treiben.

“Jeder Anschlag auf Euch ist schief gegangen.” Clay glaubte, so etwas wie Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören, als sie ihn fragte: “Mit welcher Hexerei habt Ihr mich verwunschen, um Euch vor dem Tod zu bewahren?”

“Ich habe nichts dergleichen getan!”

“Aber wieso will es mir nicht gelingen, Euch umzubringen?”

Beide sahen sich einen Moment lang in die Augen. Eine Spannung, stark genug, um eine moderne Großstadt mit Strom zu versorgen, lag in der Luft.

“Habt Ihr schon mal daran gedacht, dass Ihr mich gar nicht töten wollt?”

Cerise antwortete nicht auf diese Frage.

“In Faringart hattet Ihr Eure Chance.”

Die Rothaarige schwieg noch immer.

“Ihr hättet nur zusehen müssen, wie mich der andere Werwolf zerfleischt.”

Kein Wort verließ Cerises Lippen.

“Doch Ihr habt stattdessen ihn getötet und mich gerettet!”

Die Augen der attraktiven Attentäterin weiteten sich. Sie hatte nicht erwartet, mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. “Ich gestatte niemanden, mir zuvorzukommen!", rechtfertigte sie sich. "Euer Leben gehört mir!”

“Warum nehmt Ihr es dann nicht?” Clay löste seinen Griff um sie und breitete seine Arme aus. “Los, nehmt Euch, was Euch gehört!!”

Cerise fand darauf keine Worte mehr.

In jenem Moment gab es nur eine passende Antwort.

Sie umschloss Clay mit ihren Armen und küsste ihn leidenschaftlich. Als sich ihre Lippen trafen, schoss ein elektrisches Gefühl durch ihrer beider Körper. Clay packte sie und drückte sie zurück an das harte Mauerwerk. Danach setzten ihre Zungen den Kampf von eben auf einem gänzlich anderen Schlachtfeld fort.
 

🌢
 

Die Kutsche des wichtigsten Gastes überquerte die südliche Brücke der Hauptstadt. Zuvor hatte die Stadtwache für freies Geleit gesorgt. Pechschwarze Pferde zogen das Gefährt. Die Kabine bestand aus Ebenholz, verziert mit Ornamenten aus Blattgold und dunkle Gardinen verhinderten jeden Blick hinein in ihr Inneres. Die Kutsche erhielt Geleit von einem Reitergeschwader der Armee von Morgenstern.

Eine Hand öffnete zaghaft einen Spalt und gab so einen Ausschnitt der Außenwelt preis.

“Wir sind also in Ewigkeit?”, fragte eine Frauenstimme in der Dunkelheit. Sie gehörte Lezabel, der Prinzessin von Aschfeuer.

“Das ist die Hauptstadt der freien Menschen”, bestätigte ein junger Mann. Sein Name war Alaric und er bekleidete den Rang des zweiten Prinzen des Imperiums.

Die Frau pfiff abfällig. “Ich hatte sie mir opulenter vorgestellt, lieber Bruder. Doch was rede ich, es sind immerhin nur Menschen.”

Derweil fuhr die Kutsche vor dem Palast vor.

Der Kutscher stoppte das Gefährt und öffnete danach seinen Passagieren die Tür.

Alaric wagte als erster seinen fahrbaren Untersatz zu verlassen. Sein Haupt verbarg er unter einer schwarzen Kapuze. Er schaute hinauf in den Himmel und wurde von der Sonne geblendet. Schützend hielt er die Hand vor das Gesicht.

“Gebt acht, wir sind hier nicht in Vanitas!”, riet die Schwester.

“Ich vermisse die Wolken! Diese Sonne ist furchtbar!”

Drei Gestalten entstiegen der Kutsche und folgten ihm. Offenbar sollten sie seine Leibwache darstellen.

“Hoffentlich ist diese Menschenfrau so minderwertig, wie der Rest dieser niederen Rasse”, spuckte Lezabel aus. “Dann kann unser Bruder ruhigen Gewissens eine richtige Frau heiraten und befleckt unsere Blutlinie nicht mit dieser Rassenschande!”

Alaric wandte sich der Kutsche zu. “Wenn diese Frau Ehre besitzt”, führte der Prinz aus, “so will ich sie in unserer Familie willkommen heißen. Die Rasse spielt keine Rolle! Es sind die Taten eines Individuums, auf die es ankommt.”

“Wenn Ihr meint…”

“Wollt Ihr gar nicht aussteigen?”

“Habt Ihr mal Euren Spaß auf diesem... Bankett. Ich muss noch einen alten Freund von mir besuchen.”

Lezabel streckte ihre Hand aus der Passagierkabine und signalisierte dem Kutscher, er solle die Tür wieder schließen und weiterfahren. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und verschwand in Begleitung der Reiter alsbald vom Platz.

Zusammen mit seiner Leibwache, schritt der Prinz an dem dekorativen Brunnen vorbei, unter den Kirschbäumen hindurch, dem Portal des Palastes entgegen.
 

Nebula lud ihre Begleiter zu einem lehrreichen Mittagessen ein. Henrik und Annemarie waren der Einladung gefolgt, aber Clay ließ schon seit heute Morgen nichts mehr von sich hören. Ungeduldig und gereizt klopfte die Blondine mit den Fingern im Takt auf der Tischplatte. “Wo bleibt er?”, fragte sie zornig in die Runde.

“I-Ihm wird doch ni-nichts passiert sein?”, sorgte sich Henrik.

“Unsinn! Wir sind hier am sichersten Ort in ganz Morgenstern!”

“Ich denke, ihm geht es gerade richtig gut!”, versicherte Annemarie.

“W-Woher, willst d-du das wissen?”, erkundigte sich Henrik.

“Das ist nur so ein Gefühl”, antwortete der Rotschopf, “aber ich fühle, das er gerade sehr viel Spaß hat.”

“Wenn du das sagst”, flötete Nebula ingrimmig. "Gott soll ihm gnädig sein, wenn er später noch auftaucht!" Sie hoffte für Clay, dass er eine verdammt gute Ausrede parat hatte, um seine Abwesenheit zu entschuldigen.
 

Ein schummriger Schein war alles, was die roten Gardinen passieren ließen. Er erhellte das kleine Zimmer einer zweitklassigen Absteige irgendwo in der Stadt in zwielichtigen Ambient. Ein Bett, ein Beistelltisch und ein Schrank befanden sich in diesem Raum. Das Nötigste, wenn man hier zu nächtigen gedachte.

Doch einen Ort wie diesen sucht man aus anderen Gründen auf.

Lustvolles Stöhnen hallte von den Wänden wieder. Clay kniff die Augen zusammen und seine Finger gruben sich in das Bettlaken ein. Heiliger Rubertus, flehte er in Gedanken, während sich die angestaute Energie entlud. “Was habt Ihr dort unten für Teufelszeug getrieben?”, fragte er außer Atem und völlig am Ende seiner Kräfte, als die Reizüberflutung ausgestanden war.

Unter der Decke erhob sich eine Wölbung. Sie kroch an ihm hinauf, bis sie das Ende erreichte. Lange, kirschrote Strähnen kamen zum Vorschein und hingen hinunter in sein Gesicht, als sich Cerise beidarmig über ihn stützte. Ihre Haartracht war nicht mehr in einem Pferdeschwanz gebunden, sondern hing frei herunter. Sie berührten ihre Schultern, ihren Nacken und ebenfalls ihre Schlüsselbeine.

Clay wollte den Blick nicht mehr von ihr lassen.

Sie fuhr mit ihrer Zunge über die Oberlippe. “Ich verstehe mich nicht nur auf das Töten”, entgegnete die blasse Schönheit. “Einen guten Mord muss man feiern können.”

“Es gab doch gar keinen Mord.”

“Aber ich bin zum Sterben schön.”

“Wenn Ihr so weitermacht, wird es mich noch töten!”

“Wäre das nicht ein wundervoller Tod?” Cerise ließ sich langsam auf den muskulösen Mann unter ihr sinken. Clay fühlte die Erregung wie Blitze durch seinen gesamten Körper schießen, als seine Haut erneut mit jener der Attentäterin in Kontakt kam. Er umschlang sie mit seinen Armen und drückte ihre Brust an die seine. “Und was wollt Ihr dagegen tun?”, fragte Cerise ihn anschließend. Sie hauchte dem Schwarzhaarigen ins Ohr. “Mich beißen?” Nach diesen Worten entzog sie sich seiner Umarmung und erhob ihren Körper wieder.

Plötzlich wurde sie von Clay gepackt und auf den Rücken gedreht.

Sie stieß ein katzenartiges Geräusch aus. “Wollt Ihr mich gleich noch einmal nehmen?”

Der Mann brachte sich über ihr in Stellung. “Solange ich keinen Pelz trage, kann ich Euch beißen, so viel ich will!” Er senkte sein Haupt und knabberte an Cerises Ohrläppchen herum.

“Ist das ein Angebot?”, fragte sie erregt. “Da willige ich freudig ein! Ja, beißt mich, mein Wölfchen! Bitte, beißt mich!”

Nur allzu gern erhörte er ihr Flehen.
 

Nebulas Ungeduld erreichte eine neue Qualität. Sie wollte nicht mehr länger auf einen Mann warten, der nicht mehr erscheinen würde. Die Kerzen im Kronleuchter über dem Tisch waren auch schon zur Hälfte herunter gebrannt.

“A-Also ich gl-glaube, der k-kommt heute nicht mehr!”, warf Henrik ein.

Er konnte nicht ahnen, dass Clay gerade ganz andere Dinge im Kopf hatte, als mit diesem Übungsessen seine Tischmanieren zu trainieren.

“Dann fangen wir ohne ihn an!”, erhob Nebula ihre Stimme erbost. “Wisst ihr, was das vor euch ist?” Sie deutete auf den gedeckten Tisch.

“M-Messer und Ga-Gabeln?”, fragte Henrik.

“Teller und Becher?”, ergänzte Annemarie.

“Falsch!”, erwiderte Nebula. “Das sind nicht nur Messer und Gabeln, Teller und Becher. Vor euch ist der Tisch eingedeckt für ein ausgelassenes Festmahl.”

“Wir haben Hunger”, begann Annemarie unerlaubt zu singen, “haben Hunger, haben Hunger haben Durst! Ich will jetzt essen!”

Zornesadern traten aus dem sonst so hübschen Gesicht der Blondine hervor.

“W-Was hast d-du, Nebula?”, versuchte Henrik vorsichtig den Grund für ihre Erregung in Erfahrung zu bringen, da er sie sich nicht erklären konnte.

“Dies ist eine Übung!”, antwortete sie. “Wenn ihr es bis heute Abend nicht schafft, euch die grundlegenden Benimmregeln zu Tisch anzueignen, dann werde ich euch nicht auf das Bankett mitnehmen!”

“Was?!”, entrüstete sich Annemarie.

“Der Botschafter ist niemand geringeres als der zweite Prinz von Aschfeuer”, fuhr Nebula fort. “Ich werde nicht zulassen, dass ihr in seiner Anwesenheit Schande über mich und den Gastgeber bringt! Ihr werdet nun als erstes Lernen, welches Besteck zu welchem Gang benutzt wird.”

“Warum sind da überhaupt so viele Gabeln und Messer?”, überlegte Annemarie.

“R-Reichen nicht d-die Hände?”, grübelte Henrik.

Nebulas Laune wurde durch diese Aussage nicht besser.

“W-Was ist?”

Die Blondine atmete schwer. “Also gut, hört mir zu”, sprach sie ein wenig gefasster. “Der Teller ist das Zentrum des Mahls. Um den Teller wird alles gruppiert, das man zum gediegenen einnehmen der Mahlzeit benötigt. Rechter Hand beginnend mit dem Suppenlöffel, folgt dann das Messer für die Vorspeise und anschließend jenes für den Hauptgang. Zur linken Hand habt ihr analog die Gabeln für Vorspeise und Hauptgang. Links davon der Brotteller. Das Besteck für die Nachspeise findet ihr über eurem Teller.”

“W-Welchen Teller jetzt?”, unterbrach Henrik verwirrt.

Nebula stöhnte genervt.

“Na der direkt vor deiner Nase”, sagte Annemarie.

Wenigstens schien sie mitzudenken. Das beruhigte Nebula etwas. “Die Becher für die Getränke werden, beginnend bei dem Alebecher, über den Messern platziert. Dort seht ihr also von rechts nach links Alebecher, Weissweinbecher und Rotweinbecher.” Nebula atmete kurz durch. “Auf dem Tisch befinden sich ebenfalls Wasserschalen, um die Hände von Speiseresten zu reinigen. Die Finger werden nicht - und ich wiederhole - NICHT an der Tischdecke abgewischt!”

Entgeistert sackte Henrik zusammen. “W-Wie soll i-ich mir das alles merken?”, fragte er niedergeschlagen in die Runde.

Die Teller und Becher sprangen in die Höhe, als Nebula aus Verzweiflung ihren Kopf auf die Tischplatte schlug.
 

Clay lag noch immer zufrieden im Bett des abgelegenen Gasthauses und genoss den Anblick, als die verführerische Rothaarige ihren nackten Körper allmählich verhüllte. Er hatte bei weitem nicht genug. Sein Hunger nach ihr war noch lange nicht gestillt. Am liebsten würde er sie sofort noch einmal nehmen. Nichts in der Welt würde mit diesem Feuersturm der Leidenschaft konkurrieren können. Doch er fühlte sich von angenehmer Müdigkeit ans Laken gefesselt.

Cerise spürte seine lüsternen Blicke. “Ihr seid wirklich ein Biest”, kommentierte sie sein Glotzen. “Stunde um Stunde und Ihr seid immer noch nicht vollends befriedigt?”

“Wundert es Euch?”, erwiderte der Jägersmann.

“Eigentlich nicht.” Vollkommen bekleidet, band sie nun ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. “Ich könnte mir selbst auch nicht widerstehen.”

“Wieso habt Ihr das getan?”

“Was getan?”

“Mit mir geschlafen.”

“Weil ich es wollte! Behauptet jetzt nicht, es hätte Euch nicht gefallen!”

“Wie soll es nun mit uns weitergehen?”

“Was, werdet Ihr jetzt etwa anhänglich?” Sie legte Stück für Stück ihre Waffen an. Es dauerte lange, denn es waren viele an der Zahl. “Wir hatten Spaß zusammen. Nicht mehr. Deshalb muss man nicht gleich heiraten.”

“Ich meine, ob Ihr mich immer noch töten wollt?”

Ein Grinsen erschien auf ihren Lippen. “Nicht, wenn Ihr mich weiter so gut unterhaltet.”

“Habt Ihr keinen Auftraggeber, den Ihr Bericht erstatten müsst?”

“Mir wird schon was einfallen.”

Nach diesen Worten und dem Befestigen der Armbrust an ihrem Rücken verließ die Attentäterin das Zimmer und ließ Clay allein zurück.
 

🌢
 

Am Abend versammelte sich die Festtagsgesellschaft im linken Flügel des Palastes.

Die Tafel wurde in Hufeisenform aufgebaut, sodass die Mitte des Ballsaales für Tänze zur Verfügung stand. Musikanten und Barden standen für die akustische Untermalung bereit. Nebula und ihre Begleiter hatten einen Platz am rechten unteren Ende der Tafel erhalten. Auf ihren Wunsch. Sie wollte sich nicht auf den Präsentierteller setzen. Während sie es vorzog, sich erneut unter einer Kutte zu verbergen, wenn auch eine des Anlasses angemessene, saßen Henrik und Annemarie in ungewohnt feiner Gewandung zu Tisch. Auch Clay war zu ihnen gestoßen. Allerdings hatte er ihnen weder verraten, wo er all die Stunden verbracht hatte, noch was ihm in dieser Zeit widerfahren war. Die anderen hatten es widerwillig hingenommen, um keine Szene zu machen.

Clay saß links neben Nebula, Annemarie rechts. Und neben dem Mädchen hatte Henrik seinen Platz gefunden. Er war froh, Annemarie zwischen sich und Nebula zu haben. Sein Herz würde sonst explodieren. Am Kopf der Tafel saßen der König und die Prinzessin mitsamt den royalen Beratern. Neben der Prinzessin war ein Platz frei. Er gebührte dem Ehrengast, dem Botschafter des Kaiserreichs. Alle anderen Gäste fanden entweder auf der linken oder der rechten Seite Platz.

Die Tür zum Ballsaal öffnete sich und ein Mann trat ein, um die Ankunft jenes Botschafters anzukündigen. “Der zweite Thronfolger des Kaiserreichs Aschfeuer:”, sprach er, “Begrüßt mit mir unseren durchlauchtigsten Gast, Prinz Alaric von Aschfeuer!” Er trat beiseite und verneigte sich so tief er konnte, ohne dass ihm das Kreuz brach.

Ein Mann mit langem Mantel und einer schwarzen Kapuze betrat in Begleitung mehrerer Leibwächter den Saal. Er setzte seine Kopfbedeckung ab und enthüllte seine spitzen Ohren, welche zwischen seiner aufgewühlten Frisur vom Schädel abstanden. Die Gäste beäugten ihn perplex. Viele hatten nicht damit gerechnet, dass der Botschafter tatsächlich eines der Kinder des Kaisers seien würde. Alaric streifte seinen Mantel ab und Übergab ihn an einen seiner Leibwächter. Danach nahmen dieser und die anderen eine Position nah des Ausgangs ein, und warteten auf weitere Befehle ihres Meisters.

Eine Palastwache trat an Alaric heran. “Eure Hoheit, darf ich um Eure Waffe bitten?”, fragte er so respektvoll wie möglich und deutete auf dessen Schwert, welches nun durch das Fehlen des Mantels für alle sichtbar geworden war. “Hier sind Waffen nicht gestattet.”

“Meine Waffe?!”, entrüstete sich der Elf. “Wollt Ihr mich beleidigen? Sie ist ein Zeichen meiner Ehre! Verlangt Ihr von mir, meine Ehre abzulegen?!”

“Aber natürlich nicht! Aber die Regeln-”

Der König signalisierte mit einer Handbewegung, dass es dem Gast gestattet war, seine Waffe zu behalten. Daraufhin verneigte sich die Wache und trat beiseite.

“Ich glaube, er geht sogar mit dem Ding ins Bett”, lästerte Nebula.

Henrik hielt sich die Hand vor den Mund, um einem Lachen vorzubeugen.

Alaric sah sich um. Sein Gesichtsausdruck wirkte wenig begeistert. Seine Erwartungen an das Königreich der Menschen waren sowieso niemals besonders hoch gewesen, doch offenbar wurden sie noch bei weitem unterboten. Seine Ehre gebot es, dass er es schweigend hinnahm, um den Gastgeber nicht zu beleidigen. Er schritt rechter Hand um das Hufeisen herum und kam so an Nebula und den anderen vorbei. Alarics und Nebulas Augen trafen sich für einen Moment. Ein seltsames Gefühl überkam beide gleichermaßen. Nachdem sie kurze Blicke ausgetauscht hatten, setzte er seinen Weg fort und nahm seinen angestammten Platz neben der Prinzessin ein.

Das Festmahl konnte nun beginnen.
 

Nachdem die Nachspeise serviert und verzehrt war, begannen die Tänze.

Entgegen Nebulas Befürchtungen, war es ihren Begleitern gelungen, halbwegs anständiges Verhalten zu Tisch an den Tag zu legen. Zwar verwechselte Henrik die Salat- mit der Fischgabel, doch war dieses Malör niemandem aufgefallen. Während Henrik und Annemarie sich nun auf der Tanzfläche austobten, sah Nebula zum Stuhl der Prinzessin und dem des Botschafters. Dies war das Ergebnis einer Kette von Ereignissen, die vor drei Jahren ihren Anfang nahm.

Das wilde Treiben kam allmählich zu einem Ende. Mindestens eine halbe Stunde hatten sie getanzt. Nun räumten die Paare nach und nach die Tanzfläche, um für das große Finale des Banketts Platz zu schaffen: Dem Tanz des Botschafters mit der Prinzessin. Henrik und Annemarie waren die letzten, die zu ihren Sitzen zurückkehrten.

Prinz Alaric erhob sich und reichte Prinzessin Emelaigne die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Gemeinsam schritten sie um die Tafel herum und betraten die Mitte der Tanzfläche. Dort angekommen, reichten sie einander die rechte Hand und begannen sich zu umkreisen. Sie sprangen dabei abwechselnd mit dem linken und dem rechten Bein ab und kamen sich dabei mal näher, und mal entfernten sich. Die Musikanten spielten ihre Instrumente und die Gäste klatschten verzückt im Takt.

Plötzlich stoppte Alaric in seiner Bewegung. Er sah seine Tanzpartnerin mit ernstem Blick an, legte eine Hand auf ihre Wange und neigte dabei ihren Kopf ein Stück. “Wie ist es um Eure Ehre bestellt?”, fragte er sie unerwartet.

Sie verstand nicht.

“Wenn man etwas verspricht, sollte man es auch halten. Habe ich nicht Recht?” Er ließ ihre Wange los, streckte seinen Arm zur Seite aus und spreizte die Finger seiner Hand. “Und meinem Bruder wurde die Prinzessin versprochen!”

Nebulas Augen weiteten sich. Diese Pose kannte sie nur zu gut. Von sich selbst. Als plane der Prinz aus Aschfeuer vor versammelten Gästen eine böse Macht zu entblößen.

“Trenne Körper und Geist!”, sprach der Elfenprinz, “Anima!”

Sein Arm hüllte sich in blaue Flammen ein. Zwischen ihnen schimmerte etwas schwarz Glänzendes hervor. Fast wie ein lebendiges Wesen wand es sich an Ober- und Unterarm hinunter. Alarics Hand umklammerte das Teilstück unter der Spitze. Eine lange schwarze Kette war nun um seinen Arm gewickelt und kam einfach nicht zur Ruhe. An ihrem Ende befand sich eine metallene Klinge. Sie wirkte und handelte fast wie eine Schlange.

Also verfügte er tatsächlich über vergleichbare Kräfte?

Angsterfüllt trat die Prinzessin zurück.

Alaric stieß die Kette zu seiner Tanzpartnerin. Sie durchdrang Emelaigne, ohne ihr einen körperlichen Schaden zuzufügen. Doch auf ihren Weg riss sie etwas mit sich. Eine weiße Energie entwich ihrem Körper und sammelte sich in Alarics linker Hand. Anima hatte ihre Seele aus ihr herausgezogen.

Vollkommen versteift blieb das Mädchen stehen und zeigte keinerlei Bewegung mehr.

Laute des Entsetzens fuhren durch die Festtagsgesellschaft. Alle waren wie gelähmt. Einem der Musikanten entglitt die Laute. Einem Adligen fiel der Becher aus der Hand, sodass sich der Rotwein über die Tischdecke ergoss. Ein anderer fiel vom Stuhl, bei seinem Versuch aufzustehen und Schutz zu suchen. Die Wachen umklammerten ihre Waffen und posierten hilflos in Drohgebärden, um ihre eigene Furcht zu verbergen.

Nebula wollte aufspringen und einschreiten. Doch Annemarie verhinderte es, indem sie ihre rechte Hand umklammerte.

“Was soll das?!”, stellte sie sie zur Rede. Dabei fiel ihr Blick unvermittelt auf das Gesicht des Mädchens und sie sah dessen angstvoll geweiteten Augen. Sie wirkten, als seien sie auf die Größe von Untertassen angewachsen. Sie spürte das Schlottern des Mädchens. So hatte sie Annemarie noch nie erlebt.

“Nein!”, wimmerte der Rotschopf. “Du darfst nicht gegen ihn Kämpfen! Er ist zu stark!”

“Ich kann doch nicht-”

“NEIN! Du wirst verlieren! Du wirst-!”

“Aber ich-”

Sie stockte, als laut Handflächen auf der Tischplatte aufschlugen. Der König hatte sich erhoben. Nun deutete er mit zitternden, nacktem Finger und Beben in der Stimme auf den Prinzen der Schwarzelfen. “Wachen! Ergreift ihn!” Auch ihn plagte die Furcht. Doch Angst zu haben, war ein Luxus, den er sich als Herrscher von Morgenstern nicht erlauben durfte. Wenn er Angst zeigte, wer sollte dann seinen Untertanen Zuversicht spenden?

“Betrug ist unehrenhaft!”, verkündete Alaric derweil lauthals und wandte sich den Besuchern zu, von denen nur wenige fassten, was sich vor ihren Augen zutrug. “Das ist nicht Emelaigne Morgenstern! Lasst euch nicht von eurem eigenen König an der Nase herumführen!”

Als die Wachen dem Befehl ihres Königs Folge leisten und Alaric gefangen nehmen wollten, stellten sich ihnen die Leibwächter des Prinzen kampfbereit und mit gezogenen Schwertern, entgegen. “Schützt den Prinzen!”, sagte einer von ihnen.

“Männer, ihr seid im Weg!”, tadelte Alaric. “Seht zu, dass ihr Land gewinnt, oder wollt ihr ebenfalls eure Seelen verlieren?!”

“Jawohl, Eure Hoheit!” Die Leibwächter manövrierten sich an den Palastwachen vorbei, während sie es nicht unterließen, sie weiter mit ihren Waffen zu bedrohen.

Als seine Männer nicht mehr in Reichweite waren, schwang Alaric seine Waffe und vollzog eine volle Drehung. Dabei fuhr Anima durch die Körper seiner Gegner, wie zuvor durch jenen der falschen Prinzessin, und abermals entriss sie eine weiße Energie, welche der Prinz in seiner linken Hand konzentrierte.

“Ich sagte, ergreift ihn!”, forderte der König.

Doch seinem Befehl leistete keiner mehr Folge. Alaric stand im Zentrum eines Zirkels aus Wachsfiguren. Männer, starr und steif in ihrer Bewegung eingefroren, standen da und Umklammerten noch immer ihre Waffen. Ihre Augen fischig, matt und ohne Glanz.

Alaric gab seinen Leibwächtern ein Zeichen und setzte zum Gehen an. “Kommt, wir verlassen diese Scharlatane!”, sprach er zu seinen Begleitern. Und es hatte ganz den Anschein, als würde es niemand mehr wagen, ihn aufzuhalten.

Die zuerst in sich gekehrte, stille Angst der Gäste erwuchs rasch zu ausgeprägter, geräuschvoller Panik. Sie wollten fliehen, aber wohin? Der einzige Ausgang des Ballsaals war auch der, den Alaric von Aschfeuer nahm.

Noch immer gefesselt vom eisernen Griff des zierlichen, kleinen Mädchens, sah sich Nebula zur Untätigkeit verdammt. “Lass mich los, du Göre!”, tobte sie. Es war ihr gar nicht aufgefallen, dass Annemarie ihre Hand ergriffen hatte. Aber inzwischen ließ sie sie nicht mehr los.

“Nein!”, weigerte sich das verängstigte Kind. “Wenn ich das tue, wirst du sterben.” Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und starrte sie voller Verzweiflung an.

“W-Was ist hier e-eben p-passiert?”, haspelte Henryk einen Satz zusammen, als er endlich seine Sprache wiederfand.

“Ich weiß es nicht”, antwortete Clay. Die Haare auf seinen Armen hatten sich aufgestellt. Jede einzelne Faser rief “Gefahr” und seine tierischen Instinkte befahlen ihm, den Palast und die Stadt auf dem schnellsten Wege zu verlassen. Nicht wegen des Elfenprinzen. Er spürte noch etwas viel Böseres.

Arngrimir, der Hofzauberer, hielt nichts mehr auf seinem Platz.

Beinahe unmöglich agil für einen Mann seines Alters, sprang der Hofzauberer von seinem Stuhl. Er eilte zur still und starr verharrenden falschen Prinzessn und nahm sie in Augenschein. “Interessant!”, sagte er, während er mal in die eine, mal die andere Richtung um sie herum schritt und dabei jeden Millimeter ihres Körpers musterte. Er berührte ihre Hand und bewegte ihre Finger. Sie ließen sich anstandslos in eine andere Position bringen und behielten ihre neue Lage bei. Das Gleiche, als er ihren Kopf packte und vorsichtig neigte. “Höchst interessant!”

Als nächstes sah er in ihre Augen. Sie hatten noch immer ihre Farbe, doch ihr Glitzern war erloschen. Wie ein Feuer, dem der Brennstoff fehlte. Es hatte den Anschein, als würden sie einfallendes Licht schlucken. Als falle es in eine Untiefe hinein. In ein bodenloses Loch, das kein Ende nahm.

“Wie Bitte?!”, eschauffrierte sich Nebula. “Was ist daran interessant!” Sie gab noch nicht auf, ihre Freiheit von Annemaries Hand zurückzuerlangen, und zerrte weiter.

Aber die ließ sie einfach nicht los.

Nebula funkelte das Mädchen mit ihren rotglühenden Augen an. “Lasse sofort meine Hand los oder ich hacke deine ab!”, schüchterte sie das Kind ein.

Und es wirkte. Annemaries griff lockerte sich.

Nebula riss sich von dem Rotschopf los und eilte der Erstarrten entgegen. Sie drängte den neugierigen Zauberer bei Seite und umarmte ihre Freundin. “Was ist mit dir?”, fragte sie sie. Natürlich erhielt sie keine Antwort.

Derweil mühten sich die übrigen Palastwachen auf Befehl des Königs, die aufgescheuchte Festtagsgesellschaft zu beruhigen.

Der Zauberer sah sich derweil ihre unglücklichen Kameraden an, die ebenfalls das Schicksal teilten, erstarrt zu sein. Er konnte auch bei ihnen identische Symptome bestätigen. “Das ist wirklich sehr interessant”, murmelte er immer wieder.

“Könnt Ihr noch etwas anderes sagen?!”, fauchte Nebula den königlichen Berater an.

“Oh, vergebt mir!”, entschuldigte sich Arngrimir. Das Phänomen dieser vermeintlichen Versteinerung hatte ihn so sehr in seinen Bann gezogen, dass er nicht in Betracht zog, wie seine Aussagen auf andere wirken könnten.

“Was ist mit ihnen geschehen?”

“Ich bin mir nicht sicher.” Der Zauberer zog weitere Kreise um die Opfer des Prinzen. “Aber er könnte ihnen die Seele gestohlen haben.”

“Dieses spitzohrige Dreckschwein!” Vorsichtig legte Nebula die vermeintliche Prinzessin auf den Boden und kniete sich neben sie. “Ich werde dich retten!” Sie erhob sich und trat Arngrimir gegenüber. “Wie kann ich ihnen helfen? Wie ist es überhaupt möglich, jemanden die Seele zu stehlen?”

“Er hatte eine Teufelswaffe.” Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein.

“Trenne Körper und Geist”, wiederholte Nebula Alarics Worte. “So hat er sie beschworen.” Während sie in die Leere starrte, sah sie die Abläufe vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Sie fixierte den bärtigen Mann im Magiergewand. “Wenn ich Euch seine Hand bringe, könnt ihr sie dann retten?”

“Es wäre möglich.”

“Wäre auch eine klare Aussage möglich?”

“Die Seelen müssen nicht zwangsläufig in seiner Hand verbleiben.”

Nebula Augen funkelten abermals rot auf. “Dann schleife ich eben seinen stinkenden, massakrierten Kadaver zu Euch.”
 

Zwei mutige Wachen wurden von Anima durchdrungen, als sie versuchten, den Prinzen von Aschfeuer aufzuhalten. Auch ihre Energien sammelte Alaric auf. Nun waren die Männer Teil dieses Wachsfigurenkabinett des Grauens, wie schon die anderen vor ihnen.

“Eure Hoheit”, sprach einer seiner Leibwächter Alaric unvermittelt an. “Darf ich fragen, warum Ihr vorhin im Thronsaal-”

“Nein darfst du nicht!”, fiel ihm der Prinz ins Wort.

“Entschuldigt, Eure Hoheit!”

“Diese Frau war nicht die Prinzessin”, antwortete er nun doch auf die Frage. “Sie haben uns belogen. Und wer lügt, ist ehrlos! Wenn ich etwas verabscheue, ist es Ehrlosigkeit!”

“Verzeiht die Frage, aber woher wusstet Ihr es?”, fragte ein zweiter Leibwächter.

“Prinzessin Emelaigne von Morgenstern soll einen Leberfleck unter dem linken Auge haben”, erklärte Alaric. “Und diese hatte k-”

Er stockte.

Plötzlich kam es ihm wieder in den Sinn. Er erinnerte sich, dass er in der Tat jemanden gesehen hatte, auf den diese Beschreibung zutraf.

“Was ist, Eure Hoheit?”

“Diese Frau unter der Kutte!”

Er war schon im Begriff, sich umzudrehen, als er etwas näher kommen fühlte. Und es war ihm keineswegs freundlich gesonnen. Jemand kam im rasantem Tempo aus dem Thronsaal gerannt. Dabei handelte es sich um seine Bekanntschaft von vorher. Nur ihre Kutte hatte sie abgelegt. Die Ähnlichkeit mit der jungen Frau, deren Seele er genommen hatte, war erstaunlich. Ihre Hände umklammerten den Griff eines riesiges Schwert. Es war so gewaltig, dass es den Anschein hatte, sie könne es kaum tragen. So gewaltig, dass es den Boden entlang schliff, den Teppich aufschlitzte und den Steinboden zertrümmerte. “Bastard!”, schrie sie ihm mit wehklagender Stimme entgegen.

Die Leibwächter brachten sich vor Alaric in Position, doch ihr Schutzbefohlener wollte ihre Dienste nicht, quetschte sich zwischen ihnen hindurch und fing den Hieb des riesigen Schwertes mit der Kette von Anima ab, welche er zwischen beiden Händen spannte. Trotz dessen breitete sich hinter ihm eine Druckwelle aus, welche seine Männer von den Füßen riss, bis zum Ende des Ganges jedes einzelne Fenster zerschmetterte, den Staub der letzten Dekade aufwirbelte und sämtliche Fackeln löschte, sodass es finster wurde. Einzig die erstarrten Wachen blieben stehen. Alaric und die Frau starrten sich an. Rote glühende Augen sahen in rote glühende Augen. “Beeindruckend”, erkannte der Prinz die Fähigkeiten seiner Gegnerin an. Sie war die Trägerin des Muttermals. Sie war die, die er suchte. Er konnte sein Herz vor Aufregung und Freude klopfen hören, angesichts eines weiteren ehrenvollen Kampfes. “Ihr seid also die Echte!”
 

Inzwischen war die kleine Annemarie in Tränen ausgebrochen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Der Gedanke, sie nicht aufgehalten zu haben, quälte sie. Die Zukunft ihrer Freundin lag an einem finsteren Ort, von dem es keine Wiederkehr gab.

Henrik umarmte das Kind. “D-Das war schr-schrecklich, ich weiß”, versuchte er sie zu trösten. “A-Aber alles wird gut!”

Clays Riechorgan nahm erneut diesen merkwürdigen Geruch nach altem Pergament bei dem Mädchen war. Warum rochen ihre Ausdünstungen wie eine ganze Bibliothek? Dieses Kind war ihm schon vom ersten Moment an suspekt.

“Gar nichts wird gut”, flennte Annemarie.

“S-Sag sowas n-nicht!”

Annemarie schlang ihre Arme um Henrik und legte ihren Kopf auf seine Schulter. “Sie wird sterben!”, weinte sie. Die Tränen, die aus ihren Augenwinkeln quollen, waren seltsam dunkel, fast wie Tinte.

“B-Blödsinn!”, versicherte Henrik, der sie nicht sehen konnte. “N-Nicht unsere fachmännische A-Arschaufreißerin!”

Das Mädchen wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, sodass keine Spur von ihnen blieb. Es löste die Umarmung und ergriff Henryks Hände. Ein flüchtiges Lächeln zuckte über Annemaries Lippen, als sie ein weiteres Bild der Zukunft empfing. Sie sah Henryk tief in die Augen. “Es gibt nur einen, der sie retten kann. Und das bist du!”

“W-Was, i-ich?”, stotterte der braunhaarige Junge ungläubig.

Tod und Wiedergeburt - Teil 1


 

🌢
 

Alaric und Nebula kreisten mit ihren Waffen verkeilt umeinander, während die Leibwächter nur untätig zusehen konnten. Ihnen war bewusst, wenn er einem anderen Waffenmeister gegenüberstand, wären sie nur im Weg. “Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Land einen so starken Waffenmeister hervorbringen könnte”, bemerkte Alaric. “Und dann ist es auch noch die Thronerbin. Ihr werdet meinem Bruder ehrenhafte Söhne gebären. Hervorragend!”

“Schaut, wie hervorragend ich Euch in Stücke hacken kann!”, drohte Nebula. Sie konnte es auf den Tod nicht ausstehen, auf eine Gebärmaschine reduziert zu werden.

“Ach wirklich?!”

So schnell, wie Alaric sein Bein anhob und nach ihr trat, konnte sie nicht reagieren. Seine Kraft stieß sie gegen die Wand hinter ihr. Schmerz lähmte sie und machte es ihr unmöglich, die folgenden Tritte abzuwehren.

“Ihr schwingt große Reden”, belehrte Alaric, während er nicht aufhörte, Nebula mit seinem Stiefel zu malträtieren. “Lernt zuerst Euch selbst zu schützen!” Er erdreistete sich, ihr altkluge Ratschläge zu geben, wie einen Rekruten in der Soldatenschule.

Sie konnte spüren, wie sich die Kraft der Tritte durch ihren ganzen Leib fortsetzte, um sich letztlich auf die Wand hinter ihr zu übertragen. Risse breiteten sich allmählich im Gemäuer aus. Als der Elf mit einem letzten Stoß nachlegte, brachte es die Wand hinter Nebula zum bersten und sie stürzte hinaus in den menschenleeren Hof. Auf dem Weg nach unten, streifte sie die Krone eines Kirschbaums, riss ein paar Äste mit sich und schlug dann begleitet von Trümmerteilen zu seinen Wurzeln auf dem Boden auf.

Alaric trat an das Loch in der Mauer heran. Er war überrascht festzustellen, dass die Prinzessin noch nicht überwältigt war. Sie hielt sogar noch immer ihre Waffe. Die ganze Zeit hatte sie sie nicht losgelassen. Ein ehrenhafter Krieger lässt bis zum bitteren Ende nicht von der Waffe ab! Er sprang nun selbst hinunter und landete ein paar Meter von ihr entfernt.

Nebula versuchte aufzustehen. Sie drehte sich auf den Bauch und musste husten. Dabei brachte sie ihr schwarzes Blut zum Vorschein.

Alaric beobachtete ihre gequälten Versuche, wieder aufrecht zu stehen. “Ich muss zugeben, Eure Willenskraft ist beeindruckend.”

“Spart Euch den Atem!”, giftete die Blondine, während sie Quake als Stütze nutzte und sich an ihm nach oben zog.

“Bitte ergebt Euch, Prinzessin Emelaigne. Eine Niederlage einzusehen, ist keine Schande. Es zeugt von Besonnenheit! Ich möchte es vermeiden, Euch zu töten.”

“Und wie nennt Ihr das eben?”, fragte sie, als sie wieder fest auf dem Boden stand.

“Von den paar Tritten sterben die unseren nicht. Also bitte, wahrt Eure Ehre und ergebt Euch, bevor ich zu letalen Mitteln greifen muss. Ich möchte meinem Bruder nicht erklären müssen, warum ich die Braut erschlagen habe.”

“Ihr hört nicht auf von Ehre und Euer eigenen Überlegenheit zu reden und seid trotzdem nichts weiter als ein feiger Hund. Oder habt Ihr nicht im Ballsaal eine hilflose Frau angegriffen? Ist das vielleicht ehrenhaft?!”

“Ihr meint diese Hochstaplerin? Lügner haben keine Ehre und verdienen keine Gnade.”

“Erspart mir gefälligst Euren Ehrenkomplex!” Sie erhob Quake und stürmte auf Alaric zu.

Doch der Prinz wehrte den Angriff ab, wie den anderen zuvor. Die Wucht des Aufpralls breitete sich hinter ihm im Innenhof aus, wühlte Staub auf und ließ Blätter tanzen. Während er Quake mit Anima parierte, drückte er Nebulas Arme nach oben und trat sie erneut gegen den nun ungeschützten Oberkörper. Der Stoß katapultierte sie durch die Luft. Sie prallte rücklings gegen eine Säule und fiel anschließend auf die Knie. Keuchend stützte sie sich abermals auf ihr Schwert.
 

Eine leichte Briese spielte mit Prinzessin Lezabels Haaren und ließ es in Strähnen um ihre langen, spitzen Ohren tanzen. Die Dunkelheit der Nacht war für sie viel erträglicher als der unerbittliche Sonnenschein des Tages. Sie musste sich nicht mehr vor der grellen Sonne im Inneren der Kutsche verstecken. Die Kühle der späten Stund tat ihr gut. Nahezu wie ihre von dunklen Wolken verhangene Heimat, in der niemals ein Sonnenstrahl den Boden berührte und sämtliches Licht aus der Erde selbst an die Oberfläche trat.

Sie hatte sich vor der Drachenstatue eingefunden. Das Friedensgeschenk von Aschfeuer, nachdem die Kampfhandlungen mit dem Reich der freien Menschen aufgrund eines tragischen Vorfalls eingestellt wurden. Dieser Drache war ein wertvolles Geschenk. Nichts bedeutete der kaiserlichen Familie mehr, als ihr Machtsymbol. Es war nun höchste Zeit, einen alten Freund zu treffen. Jemanden, der lange in dieser Stadt die Stellung wahrte und ihre Rückkehr mit absoluter Sicherheit ersehnte.
 

Hustenreiz und übler metallischer Geschmack auf ihrer Zunge überkamen Nebula bei dem Versuch, sich aufzuraffen und wieder aufzustehen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, nur um erneut blutigen Auswurf vorzufinden, als sie sie wieder herunter nahm.

Er ist zu stark, gestand sie sich ein.

Doch nichts lag ihr ferner, als aufzugeben.

Das Leben - nein die Seele - ihrer besten Freundin stand hier auf dem Spiel!

“Habt Ihr denn immer noch nicht genug?”, fragte Alaric selbstsicher, während Nebula sich quälte, zu stehen. “Ihr gebt nicht auf, Prinzessin. Das rechne ich Euch hoch an!” Er musste unbedingt verhindern, dass sie zu sehr ihrer Wut verfiel. “Aber bitte, gebt endlich auf, bevor Ihr eine Grenze ohne Wiederkehr überschreitet!”

“Ich verzichte auf Eure Besorgnis!”, spie sie verächtlich aus. Keuchend richtete sich die Blondine auf. Sie versiegelte Quake und hob den Arm. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!”

Ein Blitz fuhr von oben herab und schlug in ihrer Hand ein.

Alarics Augen weiteten sich. “Ihr besitzt eine weitere-”, wollte er in Verwunderung ausstoßen, wurde jedoch mitten im Satz unterbrochen, als seine Gegnerin plötzlich verschwand, hinter ihm wieder erschien und um ihn herum die Elektrizität zuckte und knackte. Ein paar Schnitte taten sich auf. An seinem Arm, an seiner Brust und auf der Wange. Keine dieser Wunden war wirklich tief. Nebulas Angriff fehlte es an Kraft. Der Elf wandte sich zu ihr, sah sie taumeln und um Gleichgewicht ringen. Es war offensichtlich, dass sie ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

Zornig wandte sie sich zu ihm hin. “Gebt sie mir zurück!”, forderte sie energisch. “Gebt mir Caroline zurück!”

“Ist das der Name der Hochstaplerin?”

“Sie ist keine Hochstaplerin!”

“Was habt Ihr eigentlich mit ihr zu schaffen?”

“Schnauze! Gebt sie mir zurück!!”

Kopflos und ohne nachzudenken, stürmte sie auf den Prinzen zu.

Alaric schwang Anima und stieß es ihr entgegen. Als es eigentlich mit ihr in Berührung hätte kommen müssen, geschah nichts. Doch als sie ihn passierte, bemerkte sie, dass sich nur noch Luft dort befand, wo zuvor eine Waffe war. Sie wandte sich ihrem Gegner zu und musste feststellen, dass ihre Waffe von der immer länger werdenden Kette festgehalten wurde. “Was?” Nebula starrte fassungslos ihre leeren Hände an.

“Anima vermag es, Geist und Körper zu trennen.”, erklärte der Prinz. “Ich besitze die Fähigkeit, weiße Seelen zu absorbieren. Deshalb nennt man mich Soul Eater.” Alaric blieb völlig ruhig, während er sprach. “Leider ist es mir nicht möglich, Eure Waffen ebenfalls aufzunehmen.” Er wiederholte seinen Angriff von eben und entriss Nebula fast ihr gesamtes Arsenal mit einem einzigen Streich. Gastraphetes, Mirage und Quake hingen zusammen mit Gungnir und einigen anderen Teufelswaffen, die Nebula noch nie zuvor zeigte, aufgereiht wie bei einer Perlenschnur an Anima. “Wie kann sie mehr als eine...” Die schiere Menge an Teufelswaffen überraschte den Elf. Den Meisten gelang es nur eine, vielleicht zwei zu beherrschen. Diese Frau besaß sieben und konnte frei zwischen ihnen wechseln.

Nebula war am Ende ihrer Kräfte. Die gewaltsame Abtrennung der Teufelswaffen, schwächte sie zusätzlich. Ihre Arme fühlten sich schwer wie Blei an und ihre Beine trügen sie wohl nicht viel länger. Sie sah sich einem Feind gegenüber, welcher sie mühelos in die Tasche stecken konnte. Die Wut begann die Kontrolle zu übernehmen. Ein erbarmungsloses Feuer in ihrem Herzen wollte sie verschlingen. Dieses Gefühl! Es war genau wie damals. Nebula spürte einen pochenden Schmerz in ihrem Kopf und presste beide Hände an ihr Gesicht. “Arrrrrgh!”, schrie sie auf. Zwischen ihren Fingern blitzte das Rubinrot ihrer Augen hervor. Die Pein ließ ihre Knie wackelig werden. Sie bewegte sich Rückwärts, während sie die Wellen des Schmerzes durchlebte.

Alaric beobachtete das Geschehen mit Sorge.

Das abscheuliche Kreischen Nebulas verebbte. Ihre Arme fielen schlaff zur Seite und sie ließ den Kopf hängen. “TöTEn!”, sagte sie. Ihre Stimme war nicht wiederzuerkennen. Sie hob ihr Haupt an. Pulsierende schwarze Adern entstellten ihr Gesicht. “IcH wERdE DiCH TöTEn!!!” Die Kraft kehrte in ihre Gliedmaßen zurück. In ihren beiden Händen konzentrierte sich schwarze Masse und formte jeweils entartete Klingen.

Alaric hatte dies noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen, aber er wusste, was es zu bedeuten hatte. Nun ist sie verloren, erkannte er betrübt.

Ohne Vorwarnung attackierte Nebula ihn. Eine violette Aura vergrößerte die Länge ihrer schwarzen Schwerter auf das Dreifache. Sie prügelte ohne Verstand auf den Prinzen ein. “StIRb! STirB! StIRb!” Sie realisierte in ihrem Wahn nicht einmal mehr, dass Alaric alle ihre Schläge parierte. Erst der Schock eines stechenden Schmerzes holte sie in die Realität zurück. Die schwarzen Adern in ihrem Gesicht verschwanden und ihre Schwerter lösten sich auf. Ein Blick nach unten verriet ihr den Grund für das eisige Gefühl von Kälte, welches sie urplötzlich durchdrang. All der Schmerz war so unwirklich, wie das Schwert des Elfen, welches bis zur Parierstange in ihrer Brust steckte und schwarz benetzt aus ihrem Rücken austrat. Sie war heimgekehrt, nur um nun hier zu sterben? Einfach absurd! Sie würde lachen, täte es nicht so unglaublich weh.

“Ihr habt mir keine Wahl gelassen, Prinzessin”, bedauerte Alaric. “Der Tod ist besser, als das, was Ihr im Begriff seid zu werden!”

Seine Worte klangen in ihren Ohren nach Heuchelei.

Dann ging er einen Schritt rückwärts und zog dabei sein Schwert aus ihrem Körper.

Leblos fiel die Geschlagene zu seinen Füßen.

Alaric ließ Anima verschwinden und gab so Nebulas Waffen frei. Sie stürzten im Kreis um sie herum zu Boden. Alaric hockte sich neben die Geschlagene und drehte sie auf den Rücken. Er sah in ihre starren blauen Augen. “Wirklich eine Verschwendung”, kommentierte er. “Warum musste es soweit kommen?” Dann schloss er ihre Lider und erhob sich wieder. Es gab keinen Grund mehr für ihn, hier noch länger zu verweilen.

Er kehrte zurück zum Palasteingang.

Als er ihn erreichte, kamen ihm seine Leibwächter entgegen. “Eure Hoheit”, sagte einer.

“Was seid ihr für Leibwächter?”, tadelte sie Alaric. “Ich habe mich um das Problem bereits selbst gekümmert!”

Die anderen zwei zerrten just in jenem Moment einen Jungen mit braunen Haaren zur Tür heraus. Er wirkte schwächlich und dachte nicht im Traum daran, Widerstand zu leisten. “Eure Hoheit, den haben wir aufgegriffen, als er versucht hat, uns zu folgen”, erklärte einer von ihnen. “Was sollen wir mit ihm machen?”

Der Elfenprinz sah ihn sich genau an. “Was willst du?”, fragte er.

“Ich will z-zu ihr. Z-Zu Nebula.”

“Nebula?” Gab sich die Prinzessin diesen Namen? “Du meinst-?”

“Ja. W-Warum h-hat sie Euch n-noch nicht den A-Arsch aufgerissen?”

“Was ist das für eine Ausdrucksweise? Haben dir deine Eltern nie Manieren beigebracht?” Alaric grübelte erneut. Er gab seinen Leuten das Zeichen, Henrik loszulassen. “Sie war eine ehrenhafte Frau. Sie kämpfte für das, was sie liebte.”

“W-War?” Sofort rannte der Junge los, an Alaric vorbei, der Prinzessin entgegen.

“Wieso habt Ihr ihn gehen lassen?”, fragte ein Leibwächter verwirrt.

“Was ist mein Sieg wert, wenn ich ihr den letzten Respekt ihres Gefolgsmann verwehre?” Insgeheim wünschte er sich wenigstens einen Untertanen, welcher seiner Familie nicht aus Zwang, sondern aus freien Stücken, so treu ergeben war, wie dieser Junge der Prinzessin.

Unterdessen erreichte Henrik Nebula. Er sah die Teufelswaffen, die sich im Kreis um Nebula gruppiert hatten. In ihrem Zentrum lag sie in einer immer größer werdenden schwarzen Pfütze. Ihr Blut! Henriks Gesichtsausdruck verfinsterte sich und seine Schritte wurden langsamer. Als er sie endlich erreichte, hockte er sich neben sie. Seine Schenkel tauchten platschend in die Lache ein und er nahm sie in den Arm. Presste ihren reglosen Körper an sich und begann bitterlich zu weinen.
 

🌢
 

Drei Jahre zuvor am königlichen Hof von Ewigkeit.

Ein Grau verhüllte den Thronsaal, als sei auch er unter einem gewaltigen Leichentuch bedeckt. Der König von Morgenstern saß geistesabwesend in seinem Thron. Erst seine Frau und nun seine Tochter. Es war mehr, als ein Mann aushalten konnte. Seitdem man ihm vom Mord an Prinzessin Emelaigne in Kenntnis gesetzt hatte, fühlte er sich innerlich tot.

Vor dem erhobenen Königssessel kniete Lord Greymore mit gesenktem Haupt auf dem roten Teppich. “Lasst mich nach Spuren suchen, Eure Majestät”, bat er den König. “Ich werde den Mord an Prinzessin Emelaigne rächen!” Er wagte nicht, sein Haupt zu heben und seinem Lehnsherrn seine Tränen aufzubürden.

Der König reagierte nicht auf ihn.

“Eure Majestät!”, machte Greymore erneut auf sein Anliegen aufmerksam. “Als König von Morgenstern ist es Eure Pflicht-”

Er wurde jäh von einem metallischen Klingen unterbrochen. Graymore hob den Kopf und sah, dass die Königskrone auf ihn zurollte. Unverstanden sah er seinen Lehnsherren an.

“Wenn Ihr so viel besser wisst, wie sich der König nach dem Mord an seiner einzigen Tochter zu verhalten hat, solltet vielleicht Ihr der König sein, Greymore.”

Der Ritter wischte sich die Tränen aus den Augen. “Ich will Euer Handeln in keinster Weise kritisieren, Eure Majestät.”

Der König erhob seine Stimme. “Dann haltet Eurer altkluges Mundwerk und geht mir aus den Augen!”

Greymore konnte den Schmerz des Königs vollkommen nachvollziehen. Als ein wahrer Mann, steckte er die wütenden Schreie des Königs weg und ergriff die Krone. Er erhob sich und brachte sie dem König zurück. “Eure Majestät, die ist Euch wohl heruntergefallen.”

Der König riss ihm sein Herrschaftssymbol aus der Hand.

Greymore verneigte sich. “Ihr entschuldigt mich.” Dann machte er kehrt Marsch und verließ den Thronsaal. Auch wenn der König ihn nicht unterstützen wollte oder konnte, beschloss er, den Auftraggeber der Meuchelmörderin ausfindig zu machen. Solange der Strippenzieher hinter dem Mord an seiner Verlobten nicht seine Klinge zu spüren bekommen hätte, würde er keine Ruhe mehr finden.

Schnaubend stiefelte Greymore die gewundene Treppe hinunter und ging an den Säulen in der Mitte der Eingangshalle vorbei. Er durchquerte den Innenhof und schwang sich auf sein Pferd, das er auf dem Platz vor dem Palast zurückgelassen hatte. Er ritt auf dem kürzesten Weg zum Ausgang der Stadt. Auf sein Signal hin öffneten die Wachen das Tor und Greymore begann seinen Rachefeldzug auf eigene Faust, an dessen Ende nichts als Verderben auf ihn warten sollte.
 

Ein gequälter Schrei hallte durch das Schloss.

Wo bin ich?

Wer bin ich?

Was ist geschehen?

Wirre Gedanken schossen durch den Kopf der Prinzessin.

Alles war in einen roten Schleier getaucht. Blut sickerte aus den Fugen an der Wand und ergoss sich auf den Boden. Emelaigne erinnerte sich noch an den Weg in ihr Gemach und stieg die Treppe hinauf, dem blutigen Sturzbach zum Trotz. Angekommen im Gang, der zu ihren Räumlichkeiten führte, schmerzen die unglaublich hell leuchtenden Fackeln in ihren Augenhöhlen, als wollten sie sie ihr herausbrennen.

Endlich erreichte sie die Tür und riss sie aus den Angeln.

Das Brett fiel zu Boden.

Das unverständliche Flüstern einer schwarzen Silhouette lockte sie zu ihrem Spiegel. Rubinrot glänzende Augen funkelten sie aus ihr heraus an.

“Komm!”, säuselte die Stimme in der Finsternis.

Vorsichtig näherte sich Emelaigne dem Spiegel.

Die Silhouette nahm Gestalt an.

Bald erkannte sie ihr eigenes Spiegelbild. Es trug, im Gegensatz zu ihr, nicht ein mit Blut besudeltes Brautkleid, sondern ein feuerrotes Gewand. Die Haare waren schneeweiß. Ungläubig befühlte sie ihr Abbild. “Bin ich das?”, fragte sie ihre eigene Projektion, als ob sie eine Antwort erwartete.

Plötzlich bewegten sich die Mundwinkel ihres Spiegelbildes und die flüsternde Stimme sprach erneut zu ihr. “Ich halte dir den Spiegel vor.”

Fassungslos wich die Prinzessin vom Spiegel zurück und führte ihre Hände an ihr Gesicht heran. Wie war es möglich, von dem eigenen Spiegelbild eine Antwort zu erhalten? Bang blickte sie zwischen den Fingern ihrer Hand hindurch.

Das konnte nicht wirklich sein!

Sie musste träumen!

“Es gibt keinen Grund es zu leugnen! Du willst das Blut in Strömen fließen sehen!”

“Niemals! Ich bin kein Monster!”

“Glaubst du das wirklich? Schau, Blut klebt bereits an deinen Händen!”

Emelaigne nahm die Hände aus dem Gesicht und erkannte, dass die Stimme aus dem Spiegel die Wahrheit sprach. Sie waren rot, getränkt in Blut.

“Nein!”, wimmerte sie voll des Entsetzens.

“Sieh dich um und erkenne die Wahrheit!”

"Aahhhrrr!" Sie schrie den Spiegel an.

Die sprechende Reflektion verstummte, als der Spiegel urplötzlich Risse bekam und zersprang. Der mattrote Schleier vor ihren Augen löste sich auf und das Blut, welches bis eben hoch zu ihren Waden stand, versickerte im Boden, als sei es nie da gewesen. Nur von ihren Händen wollte es nicht weichen. Erst jetzt bemerkte sie, dass das besudelte Brautkleid in Fetzen gerissen an ihrem Leib hing. Emelaigne tat, wie das Spiegelbild ihr geheißen hatte, und sah sich um. Sie entdeckte mehrere übel zugerichtete Leichen. Es handelte sich um die königlichen Palastwachen. Eine lag an der Tür, weitere verstreut in ihren Gemächern. Emelaigne erinnerte sich nicht, doch sie spürte, dass sie sie umgebracht hatte.

Verängstigt kauerte sie sich in Fötusstellung zusammen und weinte.

In jenem Moment stürmten weitere Wachen den Raum und umzingelten Emelaigne. Die Wachen streckten ihr ihre Waffen entgegen, doch die Prinzessin nahm es nicht für voll. Sie war zu sehr mit der Furcht vor sich selbst beschäftigt.
 

Inzwischen war eine Woche vergangen.

Eine Magd trug einen Eimer mit Wasser einen spärlich ausgeleuchteten Gang entlang. In ihm schwamm ein Schwamm. In der anderen Hand hielt sie ein Stück Seife. Links und Rechts waren die Wände mit vergitterten Türen versehen. Sie trennten die Kerkerzellen von dem Gang ab. In ihnen hatte man den Abschaum des Königreiches eingesperrt. Am Ende des Ganges bewachten zwei schwer bewaffnete Männer eine massive eiserne Tür mit einem winzigen Sehschlitz, der sich nur von außen öffnen ließ.

“Was willst du hier, Dienstmagd?”, fragte der eine Wächter unfreundlich.

“Die Gefangene bekommt keinen Besuch!”, verwies der andere.

“Ich bin auf Befehl des Hofzauberers Arngrimr hier!”, entgegnete die blonde Magd. “Ich soll sie waschen und sie für die Vorführung vorbereiten.”

“Wenn dem so ist”, sagte der erste Wächter und erlaubte ihr zu passieren.

Ein Lichtstrahl fiel in die finstere Kammer ein, als die Eisentür geöffnet wurde.

Eine schemenhafte Gestalt hielt sich schützend die zusammengeketteten Hände vor das Gesicht, um nicht geblendet zu werden. Ein Wächter trat ein und hing eine Fackel in eine Halterung an der Wand. Sofort wurde die winzige Zelle ausgeleuchtet. Die Magd folgte und begab sich umgehend zu der Gefangenen. Sie stellte den Eimer ab und begann sich an den schmutzigen und zerfetzten Gewandung des apathischen weiblichen Wesens vor ihr zu schaffen zu machen. Ein versifftes und zerrissenes Kleid. Unmöglich zu sagen, wie es einmal ausgesehen haben möge.

Doch dann stoppte sie ihr Tun und sah den Wächter böse an.

“Was ist, Magd. Mache weiter!”, befahl der Mann.

“Wollt Ihr dabei zusehen, wie ich sie wasche?”, empörte sich die Blondine. “Fehlt es Euch gänzlich an Anstand?”

Der Wächter trat aus der Zelle heraus. “Wenn du fertig bist, klopfe drei mal.” Dann schlug er die Tür zu.

Die Magd setzte ihre Arbeit fort. Sie entkleidete das Mädchen vor sich, welches weder Widerstand leistete, noch sie unterstützte. Kurz überlegte sie, wer sie wohl war und warum sie in schweren Ketten lag. Doch dann besann sie sich ihrer Aufgabe zurück und begann den Dreck und das eingetrocknete, verkrustete Blut abzuwaschen. Darunter kam eine wunderschöne und zarte Haut zum Vorschein, was die Neugier der Bediensteten um die Identität der jungen Frau nur noch weiter anheizte.
 

Noch immer lag eine bedrückende Stimmung in der Luft und erstickte den Thronsaal.

“Hört auf Euer grausames Spiel mit mir zu treiben, Arngrimr!”, forderte der König.

“Mein König”, sprach der alte Mann in langen Gewändern und mit einem zotteligen Bart. “Es ist wahr! Die Bestie, die vor ein paar Tagen im Schloss wütete, ist Eure Tochter.”

“Aber sie ist tot!”, rang der mittelalte Mann mit der Fassung. “Mein Kind ist tot!”

“Es muss wie ein Scherz klingen. Aber eine höhere Macht hat sie aus dem Totenreich zurückgeholt. Ihr wisst, ich studiere die Teufelswaffen. Es ist gewiss kein Ammenmärchen. Ich glaube, es war dieser Dolch. Wir haben ihn nicht bei ihr sicherstellen können, als die Wachen sie gefangen genommen haben.”

“Ihr wollt mir also sagen, dass mein kleines Mädchen jetzt ein Monster ist?”

“Nein, Eure Majestät. Legenden sagen, es gibt Menschen, die eine Teufelswaffe führen können. Die Prinzessin scheint jedoch ein außergewöhnlicher Fall zu sein...”

“Dieser Teufel soll umgehend ausgetrieben werden. Ruft den Exorzisten!”

“Verzeiht, aber ein Priester wird hier nicht helfen können.”

“Gibt es noch eine Hoffnung für meine Tochter?”

“Sie ließ sich ohne weiteren Widerstand festnehmen. Deshalb denke ich, dass es für ihre Seele noch nicht zu spät ist. Ich ließ sie sicherheitshalber in verwunschene Ketten legen, die die Finsternis im Zaun halten.”

“Ihr habt meine Tochter in Ketten gelegt, Arngrimr?!”

“Ich versichere Euch, das geschah nur zu ihrem Besten.”

“Das hoffe ich für Euch! Ich will sie sehen! Sofort!”

“Ich ließ bereits alles in die Wege leiten. Sie sollten jeden Moment eintreffen.”

Wie auf ein Stichwort kamen zwei Frauen, begleitet von mehreren Wachen, die Treppe hinauf. Die eine war besagte Königstochter. Schwere Ketten hielten ihre Hände zusammen. Sie schaute leer, wie innerlich tot. Die Frau neben ihr war die Magd, welche der Hofzauberer damit beauftragt hatte, Emelaigne zu waschen und später neu einzukleiden.

Erst jetzt, wo die Prinzessin vom Schmutz und Dreck befreit war, wurde einem erst bewusst, wie ähnlich sie und die Magd sich sahen.

“Ihr habt tatsächlich die Wahrheit gesprochen!” Bis jetzt wollte es der König nicht glauben. "Und ich fürchtete, Ihr hättet den Verstand verloren."

Die Wachen führten die Magd und die Prinzessin näher zum Thron, hielten jedoch einen Sicherheitsabstand ein. Sie ließen Emelaigne nicht aus den Augen.

“Und wer ist die andere?”

“Sie ist eine Magd am Hof”, erklärte der Zauberer.

“Sie sieht ihr so ähnlich...”

“Aus diesem Grund habe ich sie ausgewählt, Eure Hoheit. Bis Eure Tochter wieder zu sich selbst findet, müssen wir der Öffentlichkeit einen Ersatz präsentieren. Gerüchte über einen Anschlag auf die Prinzessin haben die Runde gemacht. Nun verlangt das Volk nach einem Lebenszeichen. Darum suchte ich eine Frau, welche der Prinzessin möglichst ähnlich sieht, Eure Hoheit.” Er sah die Magd an. “Für’s erste wirst du den Platz der Prinzessin einnehmen!”

Sprachlos starrte die blonde Frau den Hofzauberer an.

Davon hatte er zuvor kein Wort gesagt!
 

In der Nähe der Hauptstadt, in der Residenz eines einflussreichen Adligen, trug sich derweil schändliches zu.

Ein Wächter drehte die Augen in den Höhlen und würgte, als er Graymores Schwert zu spüren bekam. Die Klinge hatte ihn vollkommen durchdrungen.

Greymore zog seine Waffe heraus und ließ den Kadaver zu Boden fallen.

Der Weg zu seinem Ziel stand ihm nun frei.

Zitternd und zusammengekauert hockte ein Mann an der Wand des Raumes, neben dem Kamin. Die Flammen der brennenden Holzscheite warfen flackernde Schatten auf ihn. Er war ein einflussreicher Adliger. Doch seine Macht und sein Geld konnten ihm nun auch nicht mehr helfen, da er sich dem Zorn eines trauernden Racheengels entgegen sah.

Graymore ließ die Spitze seines blutverschmierten Langschwertes auf dem Boden schleifen. Sein stechender Blick fuhr seinem Gegenüber durch Mark und Bein.

“W-Was wo-wo-wollt Ihr?”, stotterte der Mann verängstigt. “Gold? Ich habe Gold!”

Greymore zeigte keine Reaktion.

Dem Adligen ran das Leben durch die Finger wie Sand in einem Stundenglas.

Graymore baute sich vor ihm auf und erhob seinen Schwertarm.

“Wollt Ihr Macht?”, versuchte der Adlige zu dem Ritter durchzudringen. “Macht kann ich Euch verschaffen! Große Macht!”

“Ich will Euer Gold nicht!”

“Kein Gold! Eine Waffe. Stark genug, um Euch jeden Wunsch zu erfüllen.”

Greymore hielt inne und war bereit, seinen Worten zu lauschen. Er senkte sein Schwert. “Sprecht!”, forderte er ihn auf. “Und gnade Euch Gott, wenn Ihr meine Zeit verschwendet!”

“Gewiss nicht! Gewiss nicht!”

“Dann raus mit der Sprache!”

“Habt ihr schon einmal von den Teufelswaffen gehört?”
 

🌢
 

Zurück in der Gegenwart.

Mit einem heftigen Atemstoß erwachte Nebula in der Leere. Ein Ort, an dem es kein Licht und keine Schatten gab. Eine endlose schwarze Weite umgab sie.

Vorsichtig stand sie auf. Wo bin ich?, überlegte sie.

Egal wo sie auch hin sah, kein Licht, kein Schatten.

Sie fühlte keine Schmerzen mehr.

Dieser Ort, dachte sie. Hier war ich schon einmal.

Es war der Limbus.

Dann sah sie zu ihren Stiefeln herab. Obwohl es hier nichts gab - nicht einmal einen Boden - fanden ihre Füße halt. Vorsichtig verschaffte sie sich einen Überblick. Sie sah alles und dennoch nichts. Denn es gab nichts, das sie hätte sehen können. Allmählich kam die Erinnerung zurück. Sie hatte dieses Nichts in der Tat schon einmal gesehen. Dieser Ort war jener, an dem sie sich in der Nacht vor drei Jahren wiederfand, als man ihr das erste Mal das Leben nahm.

“Hey!”, schrie sie hinaus in das Nichts, als erwarte sie eine Antwort.

Das Schweigen überraschte sie wenig.

“Was ist das für ein schlechter Witz?”, fügte sie in Zimmerlautstärke an.

Allerdings war ihr klar, dass es keiner war.
 

Allmählich dämmerte es Henryk, dass die Frau, für die er bereitwillig alles aufgegeben hatte, um ihr zu folgen, nun an einem Ort war, an dem er sie nicht erreichen konnte.

Sie würde ihm nicht mehr sein Essen wegessen. Ihn nicht mehr als Perversling bezeichnen. Ihn nicht mehr einen Idioten schimpfen oder sich über seine Tollpatschigkeit aufregen. Ihn keinen Staub mehr bei Übungskämpfen schlucken lassen. Ihn nicht mehr zwingen, das Gepäck zu tragen, obwohl sie viel stärker war als er. Und er müsste auch nicht mehr ihre Versuche zu kochen hinunterwürgen.

Nichts davon.

Nie wieder.

“A-Aber ich b-brauche dich doch!”, wimmerte er. “B-Bitte, komm zu mir zurück!”

Seine Tränen tropften auf ihr Gesicht.
 

Seit einer gefühlten Ewigkeit wanderte Nebula bereits in der Finsternis umher. Ob es in Wirklichkeit nur eine Stunde oder schon ein Jahrhundert war, konnte man nicht feststellen. Im Limbus gab es nichts, woran man das Voranschreiten der Zeit festmachen konnte. Wahrscheinlich gab es hier nicht einmal die Zeit selbst. Wer an diesem Ort angelangte, war dazu verdammt, bis auf alle Ewigkeit durch die Leere zu wandern.

In der Vorhölle gab es keine Flammen und keine Folterknechte.

Weder kochten unreine Seelen im eigenen Sud noch rührte die Großmutter des Teufels in der Suppe der Verdammnis.

Hier durchlebte man - wenn man das Leben nennen wollte - eine andere Tortur.

Die Abwesenheit jeglicher Reize treiben jeden früher oder später in den Wahnsinn.

Und dann wurde man ein Teil der Finsternis.

Ein Schicksal, das nun auch Nebula bevorstand.

Plötzlich fühlte sie etwas an ihrer Wange hinunterlaufen.

Verwirrt sah sie sich um.

Über ihrem Kopf hatte sich doch nicht etwa plötzlich eine Schlechtwetterfront zusammengezogen.

Nichts.

Nur noch mehr leere Schwärze.

Eine Flüssigkeit tropfte erneut auf ihre Wange.

Nebula berührte den Tropfen mit ihrem Zeigefinger und steckte ihn in den Mund.

Ein salziger Geschmack breitete sich auf ihrem Gaumen aus.

Tränen?, dachte sie spontan.

Aus unbekanntem Grund verliehen sie ihr die Kraft, nicht zu verzweifeln.

Aber woher kamen sie?

“A-Aber ich b-brauche dich doch!”

Das war Henrik!

Seine Stimme drang irgendwie an diesen von allen guten Geistern verlassenen Ort.

“B-Bitte, komm zu mir zurück!”

Nebula horchte auf.

Plötzlich flutete ein grelles weißes Licht die Schwärze. Es wurde immer stärker, bis es augenscheinlich den gesamten Limbus verschlang.
 

Er soll doch der Einzige sein, der Nebula noch retten kann.

Das hatte Annemarie gesagt.

Aber hier konnte niemand mehr helfen. Das Gefühl seiner Machtlosigkeit traf Henrik wie ein fallender Baum. Er kauerte hier neben der Leiche seiner ersten Liebe. Diese Erkenntnis fühlte sich an, als wäre auch sein Herz stehen geblieben. Ein Dolchstoß bis tief hinein in seine Seele. Und sie war noch immer so schön. Wäre nicht all das Blut, könnte man glauben, sie hätte sich nur zum Schlafen niedergelegt und würde jeden Moment die Augen aufschlagen. Alles, was er jetzt wollte, war wenigstens einmal ihre Lippen zu spüren. Er beugte sich hinunter, schloss seine Augen und küsste sie auf den Mund.

Derweil hatte sich die Blutlache bis hin zu den Teufelswaffen ausgebreitet. Langsam begann die schwarze Substanz, sie zu zersetzen. Das, was getrennt wurde, fand wieder zusammen. Das Blut begann zurück in Nebulas Körper zu fließen.

Henrik küsste noch immer ihre Lippen.

Für einen Augenblick machte eine Explosion aus Weiß die Nacht zum Tag.

Als das Licht schließlich verebbte, erwachte Henrik aus seiner Trance und fühlte Hände, wie sie seinen Rücken umschlossen. Wie Nebula seinen Kuss zaghaft erwiderte. Vorsichtig löste er sich von ihren honigsüßen Lippen und öffnete seine Augen, nur um sich anschließend im tiefen Blau ihrer zu verlieren.
 

Als das grelle Licht durch die Fenster in den Ballsaal einfiel, schreckten die Gäste abermals angstvoll wie aufgescheuchtes Federvieh zurück. Was bisher passiert war, reichte scheinbar noch nicht aus. Eine Explosion aus Licht, wie am jüngsten Tag. Der namenlose Gott musste in dieser Nacht einen schlechten Tag gehabt haben. Dann versiegte der Schein. Was konnte das nur gewesen sein?

Annemaries Weinen fand endlich ein Ende. Sie strahlte stattdessen fröhlich und lächelte von einem Ohr zum anderen.

Clay gefiel die plötzliche Änderung ihres Verhaltens nicht. Menschen wechseln ihre Stimmung nicht von einem Moment auf den anderen, als betätige man einen Schalter. “Wieso bist du auf einmal so ausgelassen, Kleines?”, fragte er.

“Weil nun alles gut wird”, antwortete sie.

Clay wünschte, er könnte die Zuversicht des Kindes teilen. Er wurde dieses Gefühl einfach nicht los. Diese Ahnung, dass noch etwas viel Schlimmeres passieren würde. Wie Vögel, die schon Stunden vor einer Katastrophe die Flucht ergreifen.

Oder vielleicht wurde er nur allmählich verrückt.
 

Der grelle Blitz ließ Alaric in der Bewegung einfrieren.

Er und seine Leibwachen hatten den Platz vor dem Palast schon zur Hälfte passiert, gerade eben den reichlich verzierten Springbrunnen hinter sich gelassen, als plötzlich die Nacht taghell und heller wurde. Wenn auch nur für einen Moment. Eine große Macht strömte von dem Ort, dem sie eben erst den Rücken gekehrt hatten. Aber es war nichts Böses. Einzig ein Gefühl von Wärme.

Liebe.

Alaric konnte es nicht einordnen.

Er spürte, wie Emotionen eines Anderen in seinen Körper strömten.

Ehrfürchtig sah er sich um.

Zurück zum Eingang des Palastes.
 

Cerise musste sich geblendet abwenden.

Heimlich hatte sie sich aus einer Ahnung heraus zum Palast geschlichen, ohne entdeckt zu werden. Nun hockte sie oben auf dem Dach. So war ihr das Drama keineswegs entgangen, aber einzugreifen wäre Selbstmord gleichgekommen. Als das Licht erloschen war und sie wieder etwas sehen konnte, traute sie ihren Augen nicht. Das musste sie sich genauer ansehen, auch auf die Gefahr, vielleicht in einen Kampf verwickelt zu werden. Schnell kletterte sie vom Dach des Palastes herunter. Sie musste aus der Nähe betrachten, wie Lazarus dem Grab entstieg.
 

Henrik und Nebula sahen einander in die Augen. Die Tränen quollen dem braunhaarigen Jungen nun noch stärker als zuvor. Doch dieses Mal waren es keine Tränen der Trauer, sondern von ausgelassener, ehrlicher und purer Freude.

Sie war am Leben!

Noch einmal beugte er sich nach vorn, um ihr einen weiteren Kuss zu geben.

Nebulas Trunkenheit verflog. Als sie bemerkte, was Henrik im Schilde führte, nahm sie die Hände von seinem Rücken, legte sie auf seine Brust und stieß ihn von sich. “Das reicht jetzt aber!”, waren ihre ersten Worte nach der wundersamen Auferstehung.

Henrik ließ sie los, fiel wortlos nach hinten und landete auf seinem Gesäß.

Derweil stand die wieder frisch unter den Lebenden weilende auf und betrachtete ihren Körper. Alle Wunden aus dem Kampf mit dem Prinzen waren spurlos verschwunden, als hätten sie nie existiert. Ebenso der Schmerz. Einzig ein schmaler ovaler Spalt in ihrem Oberteil zeugte davon, dass es nicht nur ein böser Traum war.

Das sie tatsächlich gestorben war.

“Aber, Nebula!”, stieß Henrik beunruhigt aus.

“Wie kann das sein?”, fragte sie ihn. “Was hast du... Ich war doch...”

"Tod!", vollendete eine wohl bekannte Stimme. Cerise betrat die Bühne. “Ich habe es mit angesehen. Auch das Geflenne von dem da.” Sie deutete auf Henryk.

“Na großartig!”, grämte Nebula zu sich selbst. “Von den Toten auferstanden, um jetzt diese Plage am Hals zu haben!”

“Am Besten hat mir gefallen, wie der Junge Euch geküsst hat.”

Fassungslos sah Nebula Henrik an. “Du hast mich geküsst?!” Offenbar war ihr entfallen, dass sie den Kuss ihrerseits erwidert hatte. Oder vielleicht wollte sie es nicht wahrhaben.

“Ä-Ähm...”, stotterte der noch immer hilflos auf seinem Hintern sitzende Jüngling. “I-Ich… E-Entschuldigung!”

Nebula lief rot an.

Henrik war diesbezüglich nicht besser.

Beide schwiegen und mühten sich krampfhaft, aneinander vorbei zu sehen.

“Wirklich?!”, entrüstete sich die rothaarige Halbelfe über das Verhalten der anderen beiden. “Habt ihr zwei gerade keine anderen Probleme, als einen Kuss?”

Fragend sahen sie beide an.

“Zum Beispiel die Typen da drüben.” Cerise zeigte auf die anrückende Bedrohung.

Alaric kam, begleitet von seinen Stiefelleckern, auf die drei zu. Anima zuckte bereits in blaue Flammen gehüllt über ihren Köpfen.

Tod und Wiedergeburt - Teil 2


 

🌢

 

Angelockt von dem Lichtspektakel kehrten Alaric und seine Leibwächter zum Schauplatz des Kampfes zurück. Anstatt einer Leiche fand er die Frau, welche er besiegt und erschlagen glaubte, lebendig vor. Und nicht nur das. Auch der Junge von vorhin und eine ihm bis dato unbekannte Person befanden sich bei ihr. Es verlangte ihn nach Aufklärung. Er beschwor Anima als Drohgebärde, bevor er sie zur Rede stellte. “Wie kann das sein?”, entfuhr es ihm. “Ich erschlug Euch!”

“Tja, die ist nicht totzukriegen”, kommentierte die Fremde.

Alaric musterte daraufhin die Rothaarige genauer. Die unzähligen Dolche und Wurfmesser, welche überall an ihrer Kleidung angebracht waren und ihre unverkennbare Gewandung, exponierten sie als Attentäterin. “Und wer seid Ihr?”

Sie vollführte einen damenhaften Knicks. Nicht aus Respekt, sondern vielmehr aus Spott. “Cerise von den Schattenschwestern.”

“Und wem wollt Ihr das Leben nehmen, Assassine?”

“Wenn Ihr schön artig bleibt, dann niemandem.” Sie betrachtete ihre Hände und pulte den Dreck unter den stählernen Krallen an ihren Handschuhen hervor, der vom herabklettern der Palastmauer zurückgeblieben war, anstatt ihre Aufmerksamkeit dem Prinzen zu widmen. “Ich bin eigentlich auch nur auf der Durchreise.”

“Genug geredet!”, unterbrach Nebula. Sie streckte ihre beiden Arme aus und versuchte zu widerholen, was ihr bereits zuvor unter Einfluss der dämonischen Macht gelungen war, und zwei Waffen gleichzeitig zu führen. “Erstehe auf aus der Glut, Embershart!” In ihrer linken Hand nahm ein Schwert Gestalt an, das sofort wieder verglühte. “Durchstoße die Herzen meiner Feinde, Lancelot!” In ihrer rechten Hand entstand eine Lanze. Nebula sprang Kampfschrei schmetternd auf den Elfenprinzen zu. Sie landete vor ihm und den Leibwächtern, welche für sie aussahen, als bewegten sie sich in Zeitlupe, und versetzte Alaric einen heftigen Tritt. Die Kraft ihres Angriffs lehrte Alaric das Fliegen und katapultierte ihn durch den Hofeingang und Meter weit über den Platz, hinein in den großen Springbrunnen. Das Anima in seinen Händen zog eine Spur aus blauen Flammen hinter sich her. Bevor die Leibwächter auch nur reagieren konnten, stieß sich die Blondine erneut vom Boden ab, um den Kampf zum feindlichen Prinzen zu tragen.

“Was war denn dass gerade?”, verlangte Cerise nach Aufklärung.

“I-Ich habe nicht d-den blassesten Schimmer!”, antwortete Henrik. Er war nicht in der Lage, den Bewegungen zu folgen.

Alarics Leibwächter schienen etwas hilflos. Doch dann beschlossen sie, Alaric den Kampf gegen die Blonde zu überlassen, da es ihnen sowieso nicht möglich war, dieses Niveau zu halten. Stattdessen zogen sie ihre Waffen und griffen Cerise und Henrik an. Gegen die beiden rechneten sie sich bessere Chancen aus.

Der Junge suchte Schutz hinter einem der Kirschbäume.

Die Attentäterin hingegen zückte einen Dolch und machte sich Kampfbereit.

Die Männer stürmten zu dritt auf die Rothaarige zu und versuchten sie mit ihren Schwertern zu erstechen. Cerise wich jedem Angriff geschickt aus. Henrik beobachtete sie. Für ihn sah es aus, als tanze sie mit den Schwertern ihrer Gegner. Aber dann gelang es doch einem, sie zu treffen. Ein Schnitt erschien auf ihrem Oberarm.

Aus ihrem Spiel mit den Männern wurde Ernst.

Cerise sprang ein Stück zurück und inspizierte die Verletzung. “Aua!”, sagte sie. Diese schwertschwingenden Grobiane, denen es an jeglichem Feingefühl fehlte, und die wahrscheinlich auch zu dumm waren, sich ohne Anweisung ihres Herren selbst den Hintern abzuputzen, hatten es tatsächlich geschafft, sie zu verletzen. Diese Tatsache war unvereinbar mit ihrem Stolz, welcher so groß war, dass er mit Leichtigkeit den Palast überragte. “Genug gespielt! Nun seid ihr dran!” Mit diesen Worten rannte sie auf die Männer zu, wich dem Schwerthieb des ersten Leibwächters aus und schlitzte fast gleichzeitig dem zweiten die Kehle auf. Als der dritte sein Schwert auf sie richten wollte, drehte sie sich blitzschnell um die eigene Achse, packte den ersten beim Kragen und stieß ihn in die Klinge des dritten. Als dieser nun versuchen wollte, sein Schwert aus seinem Kameraden zu ziehen, sprang sie mit einem einzigen Satz hinter ihn, packte seinen Kopf und brach ihm mit einem hässlichen knackenden Geräusch das Genick.

Fast gleichzeitig schlugen die Körper der drei Männer auf dem Boden auf.

“Unfassbar!”, staunte Henrik aus seinem Versteck heraus.

“Kleinigkeit!”, kommentierte die Rothaarige. “Davon werde ich nicht mal warm.”

Plötzlich stürmten einige der Wachen aus dem Palasteingang heraus.

Cerise wandte sich ihnen zu. “Ihr kommt auch erst dann, wenn die Party vorbei ist!”

 

Unterdessen bezogen Nebula und Alaric während ihrer Auseinandersetzung den gesamten zur Verfügung stehenden Raum vor dem Palast mit ein. Sie bekämpften sich quer über den Platz.

Nachdem der Prinz zuvor im Brunnen gelandet war, konnte er gerade noch ausweichen, bevor die Prinzessin ihre Waffen in ihn treiben konnte. Stattdessen zerstörte sie das Becken des Brunnen, weshalb sich seither sein kühles Nass über die Pflastersteine ergoss und den Boden in eine rutschige Schlitterpartie verwandelte.

Alaric hatte seine Mühen, die wilden Hiebe der Blonden abzuwehren.

Eben erst machte sein Oberarm Bekanntschaft mit dem Spezialangriff des Embershart. Eine Wolke aus Glut umhüllte ihn und äscherte den linken Ärmel seiner noblen Kleidung ein. Auf seiner Haut blieben schmerzhafte Verbrennungen zurück.

“Überschallstoß!”

Der Elfenprinz formte mit der Kette seines Anima eine Barriere, mit der er den Angriff seiner Gegnerin abblockte. Die Wucht des Stoßes mit Lancelot schleuderte Alaric dennoch rücklings gegen eine Hauswand. Mit aller Macht wirkte er der Kraft entgegen und befreite sich aus seiner misslichen Lage, indem er im rechten Moment zur Seite sprang. Mit dieser Teufelswaffe zuzustechen kam dem Schuss mit einer Kanone gleich.

Diese Frau war nicht nur auferstanden, sondern hatte auch einiges an Stärke und Schnelligkeit zugelegt. Auch wenn ihre Bewegungen etwas unbeholfen und plump wirkten. Sie schien den Kampf mit zwei Waffen zu improvisieren.

Alaric entschied sich dazu, sein Schwert zu Hilfe zu nehmen, welches er den schmerzenden Brandwunden zum Trotz mit der linken Hand führte, während die rechte die Teufelswaffe Anima bewegte. Er stürmte vor und konfrontierte Nebula im Nahkampf, da ihm bewusst war, dass er auf Distanz gegen die Stoßkraft des Lancelot unterliegen würde. Als es ihm gelang, beide Waffen gleichzeitig zu parieren, nutzte er die Zeit, um mit seiner Gegnerin ins Gespräch zu kommen.

“Wie macht Ihr das?”, fragte er. “Erst kehrt Ihr von den Toten zurück und nun seid ihr nicht nur viel stärker, sondern könnt zwei Waffen gleichzeitig führen.”

“Ach das ist ungewöhnlich”, spottete Nebula. “Ich dachte, das ist immer so!”

“Macht Euch nicht über mich lustig!”, forderte Alaric. “Manche haben versucht mehrere Waffen zu führen, doch sie sind fast alle wahnsinnig geworden.”

“Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wovon Ihr da redet!”

“Seid Ihr niemals darin unterwiesen worden, eine Teufelswaffe zu führen?”

Alaric spürte sein Schwert nachgeben. Er musste sich aus seiner misslichen Lage befreien, bevor das passierte, und trat nach Nebula. Sie wurde meterweit durch die Luft katapultiert, konnte jedoch sicher landen. Als ihre Füße aufsetzten, ließ sie die Kraft des Trittes noch ein ganzes Stück auf den glatten Pflastersteinen schlittern.

“Dreckskerl!”

Alaric holte bereits mit Anima aus.

Nebula entschied sich, mit Lancelot zu kontern.

“Dann lasst uns sehen, welche Waffe stärker ist!”, schrie Alaric.

Die beiden Teufelswaffen, welche beide ihre Länge zu variieren vermochten, stießen mit voller Wucht zusammen. Weder Alaric noch Nebula gedachten daran nachzugeben, bis ein lauter Krach ertönte und Anima und Lancelot voneinander abprallten. Der Rückstoß ließ beide Kontrahenten ins Taumeln geraten.

Nebula fing sich zuerst und tauschte die Lanze gegen ihren den Donner beherrschenden Speer ein. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!” Wie ein Blitz stürmte sie auf Alaric zu.

Dieser wollte gerade ihren Angriff parieren, als Nebula plötzlich verschwand. Zu spät dämmerte es ihn. Er wandte sich um und versuchte vergeblich, sich mit Anima zu schützen, als ihn die Wolke aus heißer Glut traf und Embershart nicht nur seine Kleidung versenkte, sondern ihm überall schmerzvolle Brandwunden zufügte.

Nebula zog ihren Arm zurück und verfestigte Embershart dabei zu einer gewöhnlichen Klinge. Sie holte in einer vollen Drehung Schwung, zog die Teufelswaffe diagonal über Alarics Körper und schlug ihm gleichzeitig Anima aus der Hand. Dabei erwischte sie ebenfalls den Kopf des Elfen.

Blutend und um sein rechtes Auge beraubt, torkelte Alaric rückwärts.

Wie konnte er nur so kläglich versagen?

Möglicherweise hatte er zuvor auf dem Bankett tatsächlich seine eigene Ehre beschmutzt und dies war nun die Strafe.

Nebula nutzte seine Schwäche und tauschte beide Waffen gegen Mirage aus, welches sie mit der rechten Hand führte. “Entfessele die Angst, Mirage!” Sie griff Alaric ein letztes mal an. “Ich wünsche Euch süße Träume!”, sagte sie triumphierend, als sie den Dolch in seine Eingeweide trieb, wohl wissend, welches Leid ihm diese Waffe in den letzten Momenten seines Lebens zufügen würde. Der Hofzauberer würde mit seiner Leiche schon was anzufangen wissen. Ihre Augen funkelten und die süße Vergeltung ließ ein Lächeln ihr Gesicht zieren. Alaric torkelte rückwärts und streckte seinen Arm nach ihr aus. Sein blutverschmiertes Gesicht war von Angst entstellt. Welche Albträume ihn Mirage zeigte, würde für immer sein Geheimnis bleiben. Er fiel zu Boden.

Die blauen Flammen des Anima erloschen zusammen mit dem Glanze in seinem Auge.

Sie hatte gewonnen.

Es war vorbei.

 

Ein abscheuliches Gebrüll hallte durch ganz Ewigkeit.

Im Thronsaal schreckte Clay auf. Seine Ohren waren nicht nur in der Lage, das immer näher kommende monströse Geräusch zu vernehmen, sondern auch das Lodern von Flammen und das Schlagen von mächtigen Schwingen. Was da kam, war kein normales Ungeheuer. Die Angst lähmte ihn.

“Was hast du?”, fragte ihn Annemarie.

“Es kommt!”, antwortete der Werwolf verstört.

 
 

🌢

 

Drei Jahre zuvor.

Eerika schlenderte mit einem großen geflochten Weidenkorb auf ihrer Schulter über den Marktplatz. Sie hatte ockerblonde geflochtene Haare. Es war Einkaufstag und wenn ihr Gatte von der Arbeit heimkehren würde, wollte sie ihm etwas frisches zum Abendbrot kredenzen.

Einige Äpfel, etwas Brot, einen Fisch und eine Käseecke hatte sie bereits erstanden.

Sie brauchte noch etwas Lauch und einen Salatkopf.

Auf den Markt fand sich auch der ein oder andere Gemüseverkäufer. Aber Eerika hatte ihren Stand, den sie regelmäßig aufsuchte. Der glatzköpfige Mann überzeugte mit seinem Angebot. Es war ihr noch nie untergekommen, ein welkes Blatt an seinen Waren auszumachen. Er verkaufte die frischeste Ware in ganz Ewigkeit.

“Guten Morgen, Eerika”, grüßte der freundliche Mann, der inmitten des Gemüses auf Kundschaft wartete, seine Stammkundin. “Sagt, wie geht es den deinem Tarben?”

“Schuftet sich den Rücken krumm”, antwortete sie.

“Also alles wie gehabt?”

“Ich sage andauernd, er solle seinen Meister bitten, ihm die extra Arbeit zu entlohnen.”

“Aber er hat es noch nicht getan?”

“Er fürchtet sich, dass sein Meister ihn hochkant hinauswirft.” Eerika berührte mit der linken Hand ihren leicht konvexen Bauch. “Er hat Angst davor, unsere kleine Familie nicht ernähren zu können.”

“Dennoch kann es so nicht weitergehen!” Dann schwenkte der Mann vom Smalltalk zum Verkaufsgespräch um. “Was darf es denn sein?”

“Einen Kohl und einen Lauch.”

“Ich habe heute Morgen erst eine frische Lieferung von Bauer Knut erhalten.”

Die Hausfrau sah sich die Waren an und traf ihre Wahl. Dann ging sie zum Verkäufer zurück und Münzen wechselten den Besitzer. Sie wollte sich gerade verabschieden, als etwas ihre Wange streifte. Sie spürte Blut ihre Wange hinunter laufen.

Der freundliche Gemüseverkäufer fiel nach hinten um.

Die Marktbesucher verstreuten sich panisch in alle Himmelsrichtungen.

Erst jetzt wurde Eerika bewusst, was sich vor ihren Augen zugetragen hatte. Ein schwarzer Bolzen hatte ihre Wange gestreift und den Mann genau zwischen die Augen getroffen. Nun lag er tot hinter seinen ausgestellten Waren auf dem Boden. Die Furcht keimte in ihr auf. Sie verlor das Gleichgewicht und setzte sich vor Schreck auf ihr Hinterteil. Sie konnte sich noch abstützen, doch die Waren in ihrem Korb verteilten sich überall auf dem Boden. Sie verschwendete keinen Gedanken daran sie aufzuheben und floh ebenfalls vom Schauplatz des Mordes.

 

Sie hatte sich nach drei Wochen noch immer nicht daran gewöhnt, jetzt den Platz der Prinzessin eingenommen zu haben, ihre Kleider aufzutragen und Befehle zu erteilen, wo sie sie einst nur empfangen hatte. Alle wurden angewiesen, sie so zu behandeln, als sei sie Emelaigne Morgenstern, als sei sie die rechtmäßige Thronerbin, und nicht irgend eine Magd von niederem Stande. Währenddessen hockte die echte Prinzessin noch immer in der finsteren Isolationszelle.

Bei dem Gedanken, Emelaigne allein im Verlies versauern zu lassen, wurde der Aushilfsprinzessin ganz flau im Magen. Sie beschloss ihr einen Besuch abzustatten. Sie nahm sich erneut einen Eimer und füllte ihn mit Wasser. Sie legte einen Schwamm ins kühle Nass und besorgte sich ein Stück Seife. Genauso wie an jenem Tag, an dem sie sie das erste Mal sah. Als man ihr auftrug, sie zu waschen. Doch dieses mal tat sie es aus freien Stücken.

Als erlebe sie ein Dejavu, versuchten die Wachen sie zu stoppen. “Was wird das?!”, mahnte der eine. “Hier hat niemand Zutritt!”

“Lasst mich herein!”, forderte die geadelte Bedienstete. “Ich will die Gefangene waschen!”

“Unsinn!”, meinte der andere. “Wir können Euch nicht durchlassen! Arngrimr hat-”

“Ihr sollt meinen Anweisungen Folge leisten”, erinnerte die blonde Frau die Männer an ihre Befehle. “Ich verlange, dass ihr mich herein lasst!”

“Aber-”

“Sie hat Recht. Wir müssen ihr gehorchen. Auf Geheiß des Königs.”

Die Kerkerwachen öffneten widerwillig die Tür und ließen sie eintreten. Danach wurde die Eisentür wieder verriegelt. Sie kannte die Losung: Drei mal klopfen.

Emelaigne saß in der Mitte des Raumes. Sie war noch immer mit den verwunschenen Ketten Arngrimrs gefesselt, welche angeblich die Macht besitzen sollten, die böse Energie zurückzuhalten.

“Wie geht es Euch?”, fragte die Besucherin.

Emelaigne sah der Stimme entgegen.

“Mein Name ist Caroline.”

Emotionslose Augen starrten die Magd im Prinzessinengewand an.

“Du bist Emelaigne. Die Prinzessin.”

“Prinzessin”, wiederholte Emelaigne. Es war seit Langem das erste Wort, das sie sprach.

“Genau! Du bist die Prinzessin.”

“Ich habe sie alle umgebracht!” Emelaigne schlug die Arme über dem Kopf zusammen. Die Ketten rasselten. Ihr Gesicht war gezeichnet von Grauen und Abscheu. Dann bemerkte sie den Eimer in Carolines Hand und entriss ihn ihr. Sie zog sich mit ihrer Beute in eine Ecke zurück und begann wie wild mit dem Schwamm auf ihren Händen zu rubbeln.

“Was machst du da?”, fragte Caroline.

Kurz unterbrach Emelaige ihr tun. “Ihr Blut klebt noch immer an meinen Händen!”, antwortete sie mit Wahnsinn in ihrer Stimme.

Caroline konnte aber kein Blut ausmachen. “Da ist keins!”

“Ich muss es abwaschen!” Emelaigne begann erneut zu reiben. Und sie tat so, bis ihre Hände wund wurden.

"Du tust dir weh!"

Aber Emelaigne hielt nicht inne.

Caroline hatte Mitleid mit der Prinzessin. Sie musste ihr helfen aus diesem Loch zu entkommen. Aber dafür müsste sie ihr zuerst helfen, mit ihren Taten klar zu kommen.

 

In den letzten Wochen gab es immer wieder willkürlich anmutende Mordanschläge in Ewigkeit. Diese Meldung ließ sich nicht mehr länger geheim halten. Kunde von den Taten eines vermeintlich wahnsinnigen Mörders hatten inzwischen auf Umwegen auch das Ohr des Königs erreicht. Er hatte den Hauptmann der Wache zu sich rufen lassen.

Der bärtige Mann mit den dunkelbraunen Haaren kniete vor seinem Herren.

“Steht auf!”, befahl der Herrscher. “Ich ziehe es vor, meinem Gegenüber in die Augen zu sehen, wenn ich ein Gespräch führe.”

“Verzeiht, mein Herr!”, sagte der Hauptmann und leistete Folge.

“Lasst mich Euch eine Frage stellen, Sir Anthony.”, eröffnete der König. “Wie kann es sein, dass meine Untertanen in Furcht vor einem Wahnsinnigen leben und der Hauptmann der Wache mir gegenüber kein Sterbenswörtchen darüber verliert, sodass ich es hinten herum von einem meiner Pagen erfahren muss?”

“Mein Herr, gestattet Ihr mir offen zu sprechen?”

“Ich bitte darum! Tut wie Euch beliebt.”

“In den letzten Wochen ist viel geschehen. Ihr wart nicht mehr wiederzuerkennen. Drum dachte ich, ich könnte Euch wenigstens diese Sorge ersparen.”

“Es ist nicht an Euch zu entscheiden, was ich mir zumuten kann und was nicht!” Aber der König musste sich wohl oder übel eingestehen, dass es stimmte. “Dennoch will ich Euch für Eure Umsichtigkeit danken.”

“Die Stadtwache hat keinen Stein auf den anderen gelassen. Wir werden den Verantwortlichen zur Strecke bringen, Eure Majestät!”

Sir Anthony wandte sich ab und verließ den Thronsaal.

Ein blondes Gewitter huschte an ihm vorbei.

Caroline trat an den Thron heran und kniete vor dem Herrscher nieder. “Mein König.”

“Caroline!” Das Erscheinen des Mädchens wunderte ihn.

“Verzeiht, aber ich habe den Wachen befohlen, mich herein zu lassen.”

Der König zeigte sich wenig Begeistert über diese Störung.

“Hört mich an, bitte.”

“Was bedrückt dich?”

“Eure Tochter. Ist Euch klar, wie sie dort unten gehalten wird?”

Der König sah Tränen in vorwurfsvollen Augen. “Steh auf!”, befahl er in herrischen Tonfall. “Meine Tochter würde niemals vor mir knien!”

Caroline leistete Folge.

“Natürlich weiß ich, wie es Emelaigne dort unten geht. Aber was bleibt mir übrig? Sie ist gefährlich. Meine Leute leben in Furcht vor ihr. Sie bleibt in dieser Zelle, bis sie keine Gefahr mehr darstellt!”

 

Es vergingen weitere Wochen.

Der Hofzauberer kam von Zeit zu Zeit und versuchte mit mystischen Beschwörungen und magischen Tinkturen den Teufel aus Emelaigne auszutreiben. So behauptete er zumindest. In Wahrheit befriedigte er seine wissenschaftliche Neugier an seinem unfreiwilligen Versuchsobjekt. Die Studien an einem echten Waffenmeister waren zu verlockend. Ihm fiel auf, dass die regelmäßigen Besuche der Doppelgängerin einen Effekt auf den Geisteszustand der Prinzessin hatten. Daraufhin erlaubte er dem Mädchen, Emelaigne einmal täglich einen Besuch abzustatten.

Es war wieder an der Zeit.

Die Tür wurde entriegelt.

Einen Menschen zu haben, mit dem sie über ihre Erlebnisse sprechen konnte, half ihr mehr als alles andere. Emelaigne berichtete Caroline im Verlauf der letzten Wochen von dem Mord an ihr, von der finsteren Schwärze der anderen Seite und von der Stimme in ihrem Kopf, die ihr andauernd abscheuliche Taten schmackhaft machte.

Caroline trat ihr gegenüber. “Hallo Emmi!”, grüßte sie.

“Hallo, Caro!”, erwiderte die Prinzessin.

Inzwischen waren sie sich so nah gekommen, dass sie sich vertraut und ohne Scheu mit Kurzformen ihrer Namen ansprechen konnten.

“Ich muss dir unbedingt etwas erzählen”, eröffnete Caroline. “Heute ist es endlich so weit! Ich werde zum ersten mal an deiner Stelle vor das Volk treten.”

“Schön für dich! Ich habe diese Vorführungen früher immer gehasst!”

“Und jetzt ist das nicht mehr so?”

“Ich würde gern unter das Volk treten.” Sie hob ihre gefesselten Arme an. “Doch wie soll ich das hier bitte erklären?”

“Dafür hast du ja mich!” Carolines Gesichtsausdruck verfinsterte sich. “In Zeiten wie diesen, braucht das Volk seine Prinzessin erst Recht. Es wird ihnen Hoffnung geben.”

“Danke, Caro!”

“Hast du noch einen Rat für mich?” Sie hob ihrerseits die Hände an. Sie zitterten. “Ich bin tierisch aufgeregt!” Caroline zwang sich ein Lächeln auf, welches ihre Angst jedoch nicht zu verbergen vermochte.

“Sei einfach du selbst! Wenn die Prinzessin urplötzlich die Etikette achtet, würde das Volk es nicht glauben. Ich tat es nie.”

“Danke, Emmi. Ich werde es beherzigen!”

Sie wechselten das Thema und sprachen über allerlei verschiedene Dinge.

Die Zeit verging wie im Fluge.

 

Vor dem Eingang des Palastes hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Nachdem die Gerüchte über den angeblichen Tod der Prinzessin den Umlauf gemacht hatten, zog es sie alle her. Es verlangte ihnen danach, die Prinzessin zu sehen. Die Besucher waren so zahlreich, der Platz vor dem Palast war vollkommen überfüllt und die Wachen hatten ihre Mühen, die Ordnung zu wahren.

“Wo ist die Prinzessin?”, verlangte ein Mann Auskunft.

“Zeigt uns de Prinzessin!”, skandierte ein anderer, welcher hörbar aus Faringart stammte. “Mia hom a Recht auf de Wahrheit!”

Die Stimmen wurden immer lauter.

Bis sich endlich die Türen des Palastes öffneten.

 

Der Heckenschütze von Ewigkeit hatte sich im Glockenturm einer nahegelegenen Kirche verschanzt. In seinen Händen hielt er eine massive schwarze Armbrust. Er folgte jeder Bewegung des jungen Mädchens, welches er für die Prinzessin hielt.

Wenn ich die Prinzessin erschieße, dachte er, werde ich berühmt.

Er grinste zufrieden über sich selbst und seine eigene Genialität, während er auf die passende Gelegenheit wartete, den tödlichen Schuss abzugeben. Er würde treffen. Selbst zweihundert Metern Entfernung waren kein Problem. Alles was er brauchte, war ein Ziel. Und das hatte er. Er fixierte den hübsch frisierten Kopf ihrer Hoheit.

Gastraphetes würde es schon richten.

Emelaigne saß unbeteiligt an der Wand neben der Tür gelehnt und ertrug vollkommen teilnahmslos die Einsamkeit, bis sich die Tür erneut öffnen und ihr Abendessen gebracht werden würde - sofern man diesen Fraß als essbar bezeichnen wollte.

Man hielt sie wie einen Verbrecher!

Aber war es so unangemessen und widersprüchlich, sie so zu behandeln? Nach allem Leid und Tod, das sie zu verantworten hatte? Mehrere der Wachen, welche durch ihre Hand den Tod fanden, hatten Familie. Sie hätte ein solches Monster längst töten lassen, anstatt es ins Verlies zu werfen. Sie war doch nichts weiter als ein bissiges Tier, welches Menschen anfiel! Vater sollte keine Gnade zeigen.

Plötzlich riss sie das Gespräch der Wachen vor der Tür aus ihrer Selbstgeißelung.

“Und, was glaubt Ihr?”, plauderte der eine Wächter ungezwungen drauf los. “Wird der Attentäter heute wieder zuschlagen?”

“Das kann durchaus sein”, bestätigte der andere Wächter genervt.

“Ich meine, er hat in den letzten Wochen immer wieder jemanden umgenietet”, setzte der erste seine Rede unverfroren fort.

“Ja, da habt Ihr Recht.” Der zweite wurde immer brummiger. Er konnte sich schönere Dinge vorstellen, als darüber zu spekulieren, wann ein Verbrecher das nächste mal zuschlagen und jemanden ermorden würde.

“Es würde mich nichtmal wundern, wenn er heute mitten in die Menge schießt.”

Emelaigne horchte auf.

“Vielleicht tut er das.”

“Oder vielleicht erschießt er gleich die Prinzessin!”

Der andere lachte. “Das dürfte ihm schwer fallen. Die hockt immerhin hinter dieser Tür.”

Emelaigne war sofort klar, dass sich Caroline in ernster Gefahr befand. Sie musste sofort aus dieser Zelle raus! “Wachen! Lasst mich raus!”, rief sie ihnen zu.

“Als ob wir eine Mörderin rauslassen würden!”, antwortete der erste Wächter.

“Ich bitte Euch! Ich will sie retten!” Die Angst um Caroline trieb Emelaigne dazu, um ihre Freilassung zu flehen. Sie stellte sich an die Tür und begann zu klopfen.

“Das können wir leider nicht verantworten!”, antwortete der zweite Wächter.

“Bitte!”, wimmerte sie während das dumpfe Schlagen an das Metall allmählich an Kraft verlor. Aber die Männer reagierten nicht mehr auf ihre Rufe. Emelaigne sackte zusammen und kniete vor dem Ausgang. Wenige Zentimeter Metall trennten sie von der Freiheit. Sie betrachtete die Ketten. Sie musste ihre Fesseln abstreifen. Eilig ging sie zur Wand und schlug ihre Handgelenke so fest sie konnte immer und immer wieder gegen den Stein, bis die Schellen brachen und von ihren Armen fielen.

“Die spinnt doch!”, entrüstete sich der erste Wachmann über all dem Lärm aus der Zelle hinter ihm. “Als ob wir dieses Monster freiwillig raus lassen wür-”

Ein gewaltiger Knall.

Eine deutliche Delle erschien in der Tür.

Ungläubig starrten beide Wachen auf das verbogene Metall.

Mit einem weiteren Knall sprang die Tür zwischen ihnen aus den Angeln. Die Männer fühlten einen starken Luftzug entweichen, als jemand in Windeseile an ihnen vorbei rannte. Ängstlich hielten sie ihre Fackeln in die schwarze Kammer und schauten nach, nur um festzustellen, dass die Prinzessin nicht mehr in ihr war.

 

Der Wind stand günstig.

Es war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte.

Der Heckenschütze vertraute vollends in das düstere Mordwerkzeug in seinen Händen. Er stoppte seinen Atem, korrigierte ein wenig den Winkel und wollte den Abzug betätigen. Aber dann überkam ihn das ungute Gefühl, nicht allein zu sein. Anstatt zu schießen, wandte er sich um. Er stellte fest, dass er tatsächlich nicht allein war. Ein blondes Mädchen in Lumpen stand vor ihm, das haargenau so aussah wie die Prinzessin. Ihre Augen glühten rot und in ihrer rechten Hand hielt sie ein schwarzes Schwert.

Ihre Erscheinung ängstigte den Mann so sehr, dass seine zitternden Hände ungewollt die Armbrust abfeuerten. Der Bolzen traf das Mädchen in die rechte Schulter. Unbeeindruckt zog sie das Projektil heraus und warf es weg. Noch im Flug verschwand es. Sie nutzte die Starre des Heckenschützen aus und stürmte vor. Mit einem geschickten Schwung schlug sie ihm den Arm ab. Das Blut spritzte und Gastraphetes viel zusammen mit dem Unterarm zu Boden. Noch bevor er den Verlust seiner Gliedmaße realisierte, hatte das Mädchen ihn bereits mit dem schwarzen Schwert durchbohrt.

Sie kannte keine Gnade!

Nur die Klinge hielt den Körper noch aufrecht. Das Mädchen stemmte ihre Fuß gegen den Brustkorb und befreite ihr Schwert von der Last. Der Heckenschütze von Morgenstern stürzte in die Tiefe und schlug mit einem dumpfen Plopp auf dem Boden auf. Unter ihm breitete sich eine Blutlache aus.

 

Unterdessen hatte sich die Kunde von Emelaignes Ausbruch im ganzen Schloss verbreitet. Die Wachen brachten die falsche Prinzessin in Sicherheit und lösten die Versammlung auf.

Caroline vernahm nur gedämpfte Schreie einiger Besucher. Der Zufall leitete ihre Augen zur Turmspitze der Kirche, wo sie glaubte ihre Freundin Emelaigne zu sehen, welche just in diesem Moment eine schwarze Masse in sich aufnahm.

 

Emelaigne trat an die schwarze Armbrust heran. Diese bizarre Waffe rief ein befremdliches und doch so vertrautes Gefühl in ihrem Inneren hervor. Es war, als würde diese Waffe zu ihr sprechen. Sie glaubte, ein leises Flüstern zu hören. Verhalten säuselte ihr die Armbrust ins Ohr, sie solle sie aufheben. Ohne weiter zu zögern, griff Emelaigne nach ihr und nahm sie an sich. Genau in jenem Moment büßte die Waffe ihre feste Form ein und lief als Flüssigkeit ihren Arm hinunter. Dabei trat ihrerseits eine schwarze Flüssigkeit dampfend aus ihrem Arm hervor, um sich mit der anderen zu vereinigen. Bald bildete sich eine homogene Masse, welche sich ins Körperinnere zurück zog.

Emelaigne nahm ihren ausgestreckten Arm herunter und führte ihn in ihr Sichtfeld.

Es war keine Spur mehr von der schwarzen Flüssigkeit auszumachen.

In ihrem Inneren fühlte sie eine noch bösartige Energie als zuvor. Eine Finsternis, welche ihre Substanz ins Wanken brachte. Ein Fremdkörper hatte begonnen sich in den kläglichen Rest ihrer Seele hineinzufressen. Sie wollte nicht noch einmal die Kontrolle verlieren! Sie spürte mit jeder Faser das Fortschreiten des Prozesses. Ein stetig heftiger werdender Schmerz schoss wellenartig durch ihren Schädel. Der Widerstand gegen die Finsternis wurde Sekunde um Sekunde unerträglicher.

Sie presste ihre Hände an ihren Kopf. Ihre Finger vergruben sich in ihren Haaren. Mit zusammengekniffenen Augen schritt sie umher, ungeachtet, das sie sich noch immer oben im Glockenturm der Kirche befand und es kein Geländer gab.

Als der Schmerz so stark wurde, dass sie ihn nicht mehr spüren konnte, versagten ihr die Beine. Sie stieß mit dem Kopf gegen die Glocke und ging zu Boden.

 
 

🌢

 

Zurück in der Gegenwart.

Der seltsame Krach ließ auch Nebula sofort aufhorchen, welche noch immer wie hypnotisiert auf die schwarze Kettenwaffe herab blickte. Sie sah sich um und entdeckte etwas am dunklen Nachthimmel. Es hatte Flügel und wirkte wie ein viel zu groß geratener Vogel. Doch die schliefen Nachts. Als es plötzlich sein Maul aufriss, trieb es eine weite zylinderförmige Stichflamme vor sich durch die Luft. Es kam näher und endlich erkannte sie, was es für eine Kreatur war. Ein Untier, dass es eigentlich nur in Sagen und Erzählungen geben dürfte. Bedeckt von Kopf bis Fuß mit Schuppen. Eine geflügelte Echse. Ein leibhaftiger Drache.

Die Kreatur kam auf Nebula zu und landete nicht weit von ihr.

Als der Drache landete, ließ die Erschütterung des Bodens sie fast das Gleichgewicht verlieren. Mit Mühe hielt sie sich selbst aufrecht, bis sie der Schwanz des Monsters voll erwischte und von den Füßen riss.

Henrik und Cerise hatten alles beobachtet und eilten ihr zu Hilfe, während die Palastwachen nicht wusste, was sie tun sollten. Henrik und Cerise waren erleichtert zu sehen, dass der Schlag Nebula nicht verletzt hatte und es ihr gut ging.

“Mein Gott!”, keuchte die Blondine, als sie aufstand. “Fast hätte ich noch Mal den Löffel abgegeben.”

“E-Ein Dr-Dra-Drache!”, stotterte Henrik ängstlich. Er konnte nicht aufhören das Ungetüm anzustarren.

Cerise schwieg. Sie wirkte nicht zu überrascht.

Oben auf den Schultern des Monstrum saß eine Person. Eine Frau mit langen glänzenden schwarzen Haaren und einem ebenfalls langen gewundenen Stock mit einer großen Perle aus Bernstein an seinem Ende. Die Perle hatte einen schwarzen Einschluss, der sie bald wie eines der Augen des Drachen wirken ließ. War es vielleicht eine Art Zauberstab? Der Drache senkte seinen Kopf, sodass sie mühelos absteigen konnte. Sie trug ein enges Korsett, lange, schwarze Gewänder mit einem Pelzkragen, einen welligen Rock und hohe Stiefel. Sofort zog es sie zur Leiche von Alaric. “Was haben sie dir angetan, Bruder?”, monologierte sie.

Nebula, Cerise und Henrik kamen vorsichtig näher.

Als der Drache es bemerkte, fauchte er sie an, sodass ihnen ein heftiger Windstoß ins Gesicht blies. Sein Mundgeruch war schlimmer, als jeder Feuerodem hätte seien können. Ein Gestank, der sich gewiss aus den zahllosen Überresten unglückseliger Opfer der Bestie zusammensetzte, welche sich noch immer in den Zwischenräumen seiner Reißzähne befinden mussten. Die Übelkeit in ihren Mägen, stoppte die Drei abrupt.

Derweil vollführte die Unbekannte merkwürdige Bewegungen, welche zum Ziel hatten, die gesammelten Seelen zu übernehmen. Es war der Tanz der Seelen. Die Essenzen aller Opfer von Anima übertrugen sich von Alaric auf sie und sammelten sich in einem leuchtenden Orb, welcher über ihrer Hand schwebte. Sie sah sie an, prüfte ihre Qualität und verzog angewidert das Gesicht. “Wiederlich!”, sagte sie und ließ daraufhin die meisten von ihnen frei. Ihre Energien bewegten sich zum Palast und durchdrungen seine Mauern. Derweil bestaunte sie die eine, welche sie noch in ihrem Besitz behielt. “Diese hier ist perfekt.” Sie hockte sich neben Alaric und drückte die Energiekugel in seinen Brustkorb hinein. Der leuchtende Orb verschwand und Alarics Wunden schlossen sich. Allerdings blieb sein rechtes Auge weiterhin unbrauchbar.

Blaue Flammen entzündeten sich, fast als ob auch Anika zu neuem Leben erwachte. Alaric schreckte auf. Er blickte durch sein verbleibendes Sehorgan in das Gesicht der Frau, die ihn ins Reich der Lebenden zurückgeholt hatte. “Sch...wester”, sprach er noch immer schwach.

“Was habt Ihr getan?”, stellte Nebula die Frau zur Rede.

“Warst du das?”, erwiderte sie wütend. “Hast du dich an meinem Bruder vergriffen?”

“Beantwortet meine Frage!”

“Sonst was? Vielleicht sollte ich Fafnir befehlen, dich vorlautes Menschlein zu rösten! Sein Mundgeruch reicht offenbar nicht aus, dich mit Ehrfurcht zu erfüllen. Erst wagst du Hündin es, die Hand gegen die Elfenrasse zu erheben und jetzt bist du auch noch vorlaut! Ich habe meine Bestien schon wegen geringerem Städte niederbrennen lassen!”

“Seid Ihr etwa Prinzessin Lezabel?”, fragte Cerise.

Die Frau musterte sie. Sah ihre nicht ganz so spitzen Ohren und die blasse Haut. Dann spuckte sie vor Abscheu auf den Boden, als wäre sie es nicht Wert, dass sie ihr antwortete.

“Raus mit der Sprache, wer seid Ihr?”, wiederholte Nebula.

“Mein Name ist Lezabel von Aschfeuer. Ich bin die älteste Tochter des Kaisers. Ich bin für die Sicherheit meines Bruders während seines Besuchs verantwortlich.”

“Dann waren die Schießbudenfiguren tatsächlich nur reine Ablenkung”, erkannte Cerise.

Lezabel überging ihren Kommentar. “Eigentlich hätten wir euch Würmer schon lange ausrotten können. Zu eurem Glück gibt es wichtigere Dinge in der Welt, welche die Aufmerksamkeit meines Vaters erfordern. Und ihr seid die Mühe sowieso nicht wert!” Danach half sie Alaric auf den Rücken von Fafnir.

“Wie habt Ihr Euren Bruder wieder ins Leben zurückgeholt?”, fragte Nebula.

Lezabel setzte sich nun selbst auf den Rücken ihres Drachens, vor ihren Bruder. Der umklammerte ihre Taille, da er fürchtete, sonst herunter zu fallen. Daraufhin schlug Fafnir seine Schwingen und erhob sich in die Lüfte. Der Druck der Luftverwirbelungen ließ Henrik nach hinten kippen, während die beiden Frauen stehen blieben.

“Ich weiß nicht, warum ich dir Rede und Antwort stehen sollte, Menschlein.”, rief die elfische Prinzessin von oben herab. “Aber dein primitives Primatenhirn wird es sowieso nicht verstehen, also kann ich es dir auch sagen. Man nennt mich auch Soul Charmer. Ich gebiete über weiße Seelen. Wenn die Seele rein ist, ist sogar ein Untermensch wie ihr noch etwas Wert. Ich bot eine Seele im Austausch für die meines Bruders an. Sie nahm seinen Platz im Limbus ein. Und nun entschuldige mich. Ich muss meinem Vater berichten, das die Hochzeit abgesagt ist.” Sie signalisierte Fafnir, das er losfliegen solle. Doch gehen, ohne bleibenden Eindruck zu hinterlassen, kam für Lezabel nicht in Frage. Auf ihrem Weg über die Stadt, spieh der Drache mehrfach Feuerbälle auf die Häuser von unbeteiligten Zivilisten und steckte so, nur zum Vergnügen seiner Herrin, ein ganzes Stadtviertel in Brand. Die schwachen Proteste des kraftlosen Alarics, der sie ermahnte, dass ihre Taten ehrlos und feige seien, kümmerten sie nicht im Geringsten. Als Lezabel genug Verwüstung verursacht hatte, zog der Drache endlich davon.

Lezabels hexenhafte Lache hallte noch lange in den Gassen Ewigkeits wieder.

 

Die Nacht war rot erleuchtet.

“Zieht eine Feuerschneise!”, hallte ein Befehl.

Die Flammen fraßen sich wie ein ausgehungertes Ungeheuer in die hölzernen Balken des Wohnhauses und verbrannten sie im rapidem Tempo zu Asche. Als es Feuer vom Himmel regnete, traf es das Dach und brachte es zum einstürzen. Die gesamte obere Etage war mit lautem Getöse unter dem Druck zusammengebrochen und auf das Erdgeschoss herabgefallen. Nun erfasste die Gluthitze sofort jeden Winkel. Brennende Trümmerteile schnitten Wege ab, versperrten Ausgänge und separierten, was eigentlich eins war.

Zwischen Flammen und Schutt saß ein kleines Mädchen fest. Von Angst gelähmt, kauerte es inmitten der Feuersbrunst und klammerte sich an die Lieblingspuppe, deren Haare, die aus Stroh gefertigt waren, bereits an ihren Enden begonnen hatten, zu versengen.

Auf der anderen Seite einer unüberwindbar heißen Wand aus Feuer, versuchte eine etwa dreißigjährige Frau verzweifelt sich dem Griffen eines Mannes zu entziehen. Ihr mütterlicher Instinkt befahl ihr, das Mädchen zu retten, ungeachtet der Konsequenzen für sie selbst. Der Mann gehörte zur Feuerwacht und war ebenfalls bemüht, Leben zu retten. Zuerst musste sie aus der Gefahr gebracht werden. Aber ihr lebhafter Protest, ließ ihn seinerseits verzweifeln.

“Lasst mich zu meinem Kind, Ihr Bastard!”, schrie die Frau. Sie war der Situation geschuldet nicht in der Lage, die Absichten des Mannes zu verstehen. “Lasst mich los!”

“Gute Frau”, versuchte er sie zu beschwichtigen. “Das Haus wird jeden Moment einstürzen! Ihr müsst sofort hier heraus!”

“Aber mein Kind! Was wird mit meinem Kind?”

“Zuerst müsst Ihr Euch zusammenreißen! Sonst sterben wir alle!”

Das Kind streckte die Hand nach der Mutter aus. “Mama!”, kreischte es. “Mama, hilf mir!”

Dem Feuerwächter gelang es, dank seiner ihr weit überlegenen Kraft, die Frau gegen ihren Willen aus dem brennenden Haus herauszuziehen. Im nächsten Moment stürzte ein Teil der Decke herab und versiegelte den letzten Fluchtweg aus dem Inferno mit einer weiteren Wand aus Feuer.

“Nein!”, rief die Frau und streckte nun ebenfalls ihre Hand aus, als versuche sie die ihrer Tochter aus der Distanz zu ergreifen.

Die Schreie erregten die Aufmerksamkeit von Nebula und Henrik. Sie hatten sich umgehend an den Rettungsarbeiten beteiligt, nachdem der Drache am dunklen Horizont verschwunden war. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um das Drama um das in einer brennenden Hausruine eingeschlossene Kind glimpflich zu beenden.

“Was hat sich hier zugetragen?”, fragte Nebula die Frau.

“Mein Kind!”, rief diese immer wieder. “Mein Kind!”

“Ich konnte sie gerade noch retten”, erklärte der Feuerwächter. “Aber ihre Tochter ist noch immer dort drin und-”

Nebula wollte nicht mehr auf das Ende des Satzes warten und stürmte Hals über Kopf hinein in das Flammenmeer. 

“D-Das ist Wa-Wahnsinn!”, rief ihr Henrik hinterher.

Aber Nebula hörte ihn schon nicht mehr.

In gebückter Haltung schlich sie an den brennenden Trümmerteilen vorbei, während der heiße Qualm über ihr in den Nachthimmel entwich. Sie packte einen umgefallenen Balken an einer Stelle, welche noch nicht brannte, und warf ihn zur Seite, als wöge er nichts. So verfuhr sie mit weiteren Trümmern, bis der Weg zu dem Mädchen endlich frei war. Sie schnappte es, klemmte es wie ein Paket Wurst unter die Schulter, und eilte dem Ausgang entgegen, ungeachtet den Protesten des Kindes, welches unbedingt noch die Puppe aus den Flammen gerettet wissen wollte. Kurz bevor die Ruine endgültig dem Feuer nachgab und in sich zusammen stürzte, entkamen Nebula und das Kind aus den Flammen. Beide waren wohl auf, wenn auch von schwarzem Ruß bedeckt.

Henrik fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn er sie noch immer für lebensmüde hielt.

Die Blondine setzte das Mädchen ab und hockte sich vor ihm hin. Sie sah ihm ernst in die Augen. “Deine Puppe kann man ersetzen.”, belehrte sie. “Dein Leben aber nicht!” Bevor sie das Mädchen zu seiner Mutter zurück schickte, wollte sie ihm einen letzten Ratschlag fürs Leben mitgeben. “Übe lieber mit dem Schwert, statt mit Puppen zu spielen.” Danach ließ sie es zu seiner Mutter zurückkehren. “Los, deine Mutter wartet!”

Beide fielen sich in ausgelassener Freude in die Arme.

In dieser Nacht verloren sie ihr Hab und Gut, ihr Heim, aber wenigstens nicht einander.

Der Feuerwächter kam und legte anerkennend seine Hand auf Nebulas Schulter. “Ihr seid eine wahrhaft mutige Frau”, sprach er und musterte ihre Gesichtszüge. Das Muttermal unter ihrem linken Auge erregte sein Aufsehen. “Moment mal, Ihr-”

Sie unterbrach ihn, bevor er seine Ausführung vollenden konnte. “- helft, wo Hilfe gebraucht wird”, beendete sie den Satz für ihn. Danach wandte sie sich an Henrik. “Komm, sehen wir, wo wir noch helfen können!” Beide rannten davon, noch bevor ein Dank ausgesprochen werden konnte.

 

Nach einer anstrengenden Nacht, kehrten alle wieder im Palast ein. Auch Clay, der sich den Rettungsmaßnahmen im brennenden Stadtviertel später noch angeschlossen hatte, nachdem er es irgendwie vollbrachte, Annemarie zum Schlafen zu überreden. Von ihm erfuhren Nebula und Henrik, das alle ihrer Seele beraubten Palastwachen das Bewusstsein zurück erlangten. Die von Prinzessin Lezabel als “widerlich” aussortierten Seelen, kehrten von selbst in ihre Körper zurück, nachdem sie freigelassen wurden. Den Männern blieb, außer einer heftigen Migräne, kein erkennbarer Schaden zurück. Es würde ihnen sicher bald wieder gut gehen.

Nur einer Seele war noch immer nicht zurückgekehrt.

Am frühen Morgen des dritten Tages nach dem Angriff, entschloss sich Nebula ihrer Freundin einen Besuch abzustatten. Zuvor hielt sie Schuld und Scham davon ab. Nun kniete sie neben Caroline und hielt todtraurig ihre Hand. Es forderte ihr alles ab, nicht sofort in Tränen auszubrechen. Weinen? Sie? Das kam für sie gar nicht in die Tüte! Man hatte Caroline inzwischen in einem mit feinsten Stoffen ausgelegten offenen Sarg aus Eichenholz zur Ruhe gebettet und sie in ihren Gemächern aufgebahrt. Wie eine echte Prinzessin, die seit einhundert Jahren schlief und den Kuss ihres Prinzen erwartete.

Lezabel benutzte Carolines Seele, um Alaric zurückzuholen, das stand zweifelsfrei fest. Nebula fühlte sich so machtlos. Für was hatte sie dem Tod ins Auge geblickt, wenn doch alles umsonst gewesen ist? Rückblickend, tat ihr nichts so weh, wie es sie schmerzte, ihre Freundin in diesem Zustand zu sehen. Ihre Rettung in endlos weite Ferne gerückt. Davon getragen von den Schwingen einer mystischen Bestie.

Unerreichbar.

Über diese Gedanken verlor sie nun doch die Kontrolle über ihre Emotionen.

Ein Glück, dass es niemand sah.

Die kalte Schulter


 

🌢

 

Zur Geisterstunde blieb Nebula die nächtliche Ruhe verwehrt.

Frost und Kälte krochen in Arme und Beine und hielten sie vom schlafen ab. Als habe sie ihre Glieder in eiskaltes Wasser getaucht. Ihre Decke bot ihr keinen Schutz vor der Kälte, denn das Gefühl schien aus ihrem Inneren nach Außen zu strahlen. Als sie ihre Beine berührte, wirkten diese allerdings wohl temperiert zu sein. Sie gab den Kampf um den Schlaf noch nicht auf. Unruhig wälzte sich die Prinzessin in ihrem Himmelbett. Ihr Geist versuchte den Körper zu überreden, sich endlich der Müdigkeit geschlagen zu geben. Der Erfolg ließ weiter auf sich warten. Letztlich setzte sie sich entnervt auf und zog den Schleier zur Seite. Ihr Haar war völlig durcheinander gewirbelt und der linke Träger ihres Nachthemd hing lose über ihren Oberarm. Sie blickte auf, dem Fenster entgegen. Der weiße Schein des Mondes fiel hindurch und traf auf sie und ihre hochherrschaftliche Schlafgelegenheit.

Weil es mit dem Einschlafen einfach nicht klappen wollte, beschloss Nebula aufzustehen und sich die Zeit damit zu vertreiben, den Erdtrabanten zu bewundern. Sie tastete nach ihren Pantoffeln und schlüpfte hinein. Langsam erhob sie sich und ging zur Garderobe. Durch die trüben Fensterscheiben konnte sie den Mond nicht richtig sehen, so entschied sie sich für einen kleinen Nachtspaziergang durch den Palast. Sie wählte einen ihrer Mantel, streifte ihn über und verließ ihr Zimmer. Sie folgte dem Gang bis zu einer mäßig ausgeleuchteten Abzweigung, welche sie zu einem Aufgang führte. Sie nutzte die Wendeltreppe und erklomm die Dachterrasse des linken Palastflügels. Hier lag der Blick auf den Mond frei.

Sie ließ ihre Gedanken schweifen.

Ihre Begleiter wusste nun, wer sie wirklich war. Wie mussten sie mit anderen Augen sehen. Sie wollte keine Sonderbehandlung, nur weil sie eine Prinzessin ist. Aus diesem Grund beabsichtigte sie niemals es ihnen zu offenbaren. Hätte sie ihr Vater nicht dazu gezwungen, wäre dieses Geheimnis weiter gewahrt geblieben. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre Kindheit. Sie war niemals allein und die anderen Kinder spielten mit ihr. Jedoch merkte sie schnell, dass sie sie immer zuvorkommend behandelten. Sie wollte ernst genommen werden, aber die anderen Mädchen versuchten stets sich bei ihr beliebt zu machen. Darum prügelte sie sich lieber mit den Jungen. Sie hoffte so wenigstens von ihnen akzeptiert zu werden. Doch den Makel falschen Lächelns wurden ihre Freundschaften niemals los.

Caroline war ihre erste echte Freundin.

Aber was hatte ihr das eingebracht?

Und ihre neuen Freunde? Sie dachte an ihre Begleiter.

An Clay, den Jäger.

Der Versuch den Ort, welchen er seine Heimat nannte, vor einem Monster zu bewahren, hatte ihm eben jene Heimat gekostet. Er musste auf die harte Tour lernen, dass Menschen meist die größeten Monster sind und andere oft vorverurteilen ohne weiter nachzudenken. Nebula grübelte, warum sie ihn in ihre Gruppe aufgenommen hatte. War es aus Mitleid mit ihm oder nicht doch aus Mitleid mit sich selbst. Immerhin war sie jetzt nicht mehr länger das einzige Monster der Gruppe.

An Cerise, die Attentäterin mit dem losen Mundwerk, dachte sie auch.

Wie weit konnte sie einer Frau trauen, welche angeheuert wurde, einen ihrer Begleiter zu töten, nur um dann die eigene Sache zu verraten und die Geliebte eben dieses Mannes zu werden? Einer Frau, der ihr fleischliches Verlangen offenbar wichtiger war, als jeder schwur. Denn zu glauben, dass es tatsächlich Liebe sein sollte, widerstrebte ihr. Könnte Cerise ihnen nicht jederzeit aus einer Laune heraus in den Rücken fallen?

Annemarie, das obdachlosen Mädchen, kam ihr in den Sinn.

Sie war noch ein Kind, welches gern Märchen las. Es war unverantwortlich sie überall hin mitzunehmen. Nebula hatte sie aus selbstsüchtigen Gründen aufgenommen und nun reiste sie mit ihnen. Sie konnte sich nützlich machen und in die Zukunft sehen. Außerdem meinte der Hofzauberer, dass sie ein Talent für Magie habe. Aber entschuldigte das, sie in Gefahr zu bringen? Nebula grübelte, ob sie eigentlich nur an ihren eigenen Vorteil dachte und die Kräfte des Mädchens für die Suche nach den Teufelswaffen missbrauchte.

Und was war mit Henrik?

Ein naiver Junggeselle, der ins Verderben und wieder zurück rennen würde, wenn es nur bedeute, er könne bei ihr bleiben. Das hatten spätestens die Ereignisse des Bankett deutlich gemacht. Ohne ihn wäre sie nicht mehr hier. Er vollbrachte ein Wunder. Sie stand in seiner Schuld. Ein Junge in seinem Alter sollte sich jedoch in ein normales Mädchen verlieben, mit ihr eine normale Familie gründen und ein hoffentlich langes friedvolles Leben führen. Er sollte nicht auf der Suche nach mythischen Waffen die Lande bereisen und seinen Hals für etwas riskieren, was er nicht verstand. Sie verstand es ja selbst nicht völlig. Ihr lag etwas an ihm, das konnte sie nicht leugnen. Vielleicht liebte sie ihn auch. In jedem Fall musste sie ihm vor sich selbst beschützen. Besser es tat einmal kurz weh, als wenn er weiterhin auf einen Abgrund zusteuerte. Vielleicht konnte sie ihn als Schmied in Ewigkeit oder einer anderen Stadt unterbringen. Aber vorher würde sie ihn gründlich untersuchen lassen, um Spätfolgen seiner Zauberei auszuschließen.

Gleich morgen früh wollte sie zu Arngrimir gehen und sich untersuchen lassen.

Das war die Gelegenheit, Henrik im Anschluss genauestens unter die Lupe zu nehmen.

 

Am nächsten Morgen setzte sie ihren Plan in die Tat um.

Ohne das sie eine klare Aussage gemacht hatte, veranlasste es den Zauberer hektisch in seinem Labor umherzueilen, um seine drei Jahre alten Unterlagen zusammen zu tragen. Er studierte seine Notizen und grübelte, wie er seine Patientin untersuchen sollte. Dann kam ihm eine zündende Idee. “Ich würde gern etwas versuchen.” Er griff in seine Robe und holte ein Messer hervor. “Erlaubt  Ihr, Prinzessin?”

“Na los, macht schon!”

Das ließ sich Arngrimir nicht zweimal sagen. Er packte Nebulas rechten Arm und fügte ihr eine tiefe Schnittwunde zu. Schwarzes Blut quoll hervor doch gleichzeitig begann sich die Wunde sofort wieder zu schließen. “Wie ich es erwartet habe!”, behauptete der Zauberer und verstaute das Messer wieder in seinen Gewändern. “So schnell sind Eure Wunden früher nicht verheilt. Ihr habt Euch in der Tat verändert. Was ist in dieser Nacht mit Euch geschehen?”

Nebula schwieg.

“Wenn ich Euch helfen soll, müsst ihr den Mund aufmachen!”

Die Prinzessin versuchte mit ihren Blicken den Fragen auszuweichen. Sie wollte nicht antworten, denn sie wollte sich nicht daran erinnern müssen.

“Bitte teilt euch mit.”

Nebula seufzte.

“Was ist passiert?”

“Na schön!”. Sie atmete durch, um sich selbst zu beruhigen. “Der Prinz aus Aschfeuer hat... mich umgebracht.” Sie verspürte den Drang davonzulaufen aber gehorchte ihm nicht. “Ich fand mich an einem dunklen Ort wieder. Dann sah ich auf einmal dieses grelle weiße Licht. Im nächsten Moment l-lag ich in Henriks Armen.”  Der letzte Teil ihrer Aussage viel ihr unglaublich schwer und bei dem Gedanken an ihren Austausch von Zärtlichkeiten, errötete sie. “... er küsste mich.”

“Und hat Euch so von den Toten zurück geholt?”

“Ich weiß, das klingt Lächerlich. Aber ich schwöre, ich spreche die Wahrheit!”

“Henrik sagtet Ihr heißt der Bursche, richtig Prinzessin?”, fragte Arngrimir sicherheitshalber noch einmal nach und bekam es durch zaghaftes Nicken bestätigt. “Er hat Euch wiedererweckt? Mit einem Kuss. Das ist äußert... märchenhaft!”

“Seither haben sich meine Waffen verändert. Sie fühlen sich viel leichter an als zuvor.”

”Wirklich?” Arngrimir zupfte sich an seinem Bart. ”Das ist höchst interessant!”

“Kann das vielleicht Henrik verursacht haben?”

“Das vermag ich nicht zu beantworten. Vielleicht sollte ich den Jungen auch einmal untersuchen! Schickt Henrik bitte zu mir.”

 

Achtlos warf Cerise einige stumpf geschliffene hölzerne Übungswaffen auf einen Haufen. Sie hatte die anderen bereits in der Vergangenheit kämpfen sehen und war wenig von deren Performance angetan. Aus diesem Grund trieb sie ein paar Holzschwerter auf, um Clay und Nebula etwas Nachhilfe in der Kampfkunst zuteil werden zu lassen. Denn sie glaubte, das die beiden es bitter nötig hatten. Der Übungsplatz der Kaserne schien ihr für dieses Vorhaben ausreichend zu sein.

Da sie sowieso nichts besseres zutun hatte, während der Hofzauberer den Jungen auf links drehte, willigte Nebula zu diesem Vorhaben ein. Es versprach ein lohnender Zeitvertreib zu werden, der Rothaarigen beim Training die eine oder andere mitzugeben.

Clay wusste, dass er kein Nahkämpfer war und sich das so schnell auch nicht ändern würde. Er war ein Jäger. Und die jagen meistens mit einem Bogen aus der Entfernung. Ihm war klar, dass er in einem Nahkampf untergehen würde.

Cerise nahm sich eine der Übungswaffen. “Na los, jetzt greift euch auch welche!”, forderte sie die anderen auf. “Das Prinzesschen darf zwei nehmen.”

“Gebt mir gefälligst keine Kosenamen, oder es setzt was!”, forderte Nebula.

“Ich habe Euch in der Nacht des Angriffs mit zwei Waffen auf den Elf einprügeln sehen.”

“Immerhin habe ich gewonnen.”

“Nachdem Ihr Euch zuerst habt erschlagen lassen. Das war einfach nur peinlich! Da macht mir Eure Drohung wenig Angst.”

“Wollt Ihr mich beleidigen?!”

“Es sah aus, als wolltet ihr Schnitzel klopfen.”

Nebula brachte ihr Missfallen durch ein kurzes grimmiges Brummen zum Ausdruck und nahm sich zwei Holzschwerter vom Stapel.

Clay nahm sich ebenfalls eins.

Dann begaben sich alle drei zu einem bereits abgesteckten Kampfbereich.

“Auf diese Weise wird seit Generationen jungen Schattenschwestern die Kampfkunst gelehrt”, begann Cerise zu erklären. “Früh übt sich, was ein guter Mörder werden will!” Sie deutete auf den mit einem Stock in den Staub gemalten Kreis, welcher einen Durchmesser von fünf Metern hatte. “Das ist ein Kampfspiel. Ziel ist es, den Gegner entweder aus dem Ring zu drängen, bewusstlos zu schlagen oder drei Punkte durch Treffer zu erzielen.”

“Euch bewusstlos zu schlagen, hört sich verlockend an”, giftete Nebula.

“Es steht Euch frei, es zu versuchen.”

“Und wie erlangen wir drei Punkte?”, fragte Clay.

“Es gibt einen Punkt für Arme und Beine. Zwei für Bauch oder Rücken. Und drei für Brust und Kopf.”

“Und wie viele, wenn ich Euch den Arsch versohle?”, erkundigte sich Nebula.

“Keine! Außer Clay. Er bekommt so viele er will... wenn er es schafft.” Cerise glaubte ihr Hinterteil nicht in unmittelbarer Gefahr. “Punkte werden nur für Treffer mit Waffen gezählt. Allerdings darf der ganze Körper zum Einsatz kommen.” Die Rothaarige senkte die Übungswaffe. “Teufelskräfte und starkes Haarwachstum ist nicht gestattet! Und jetzt haben wir genug geplaudert!” Sie streckte sdie unbewaffnete Hand aus und machte eine Geste, welche die anderen aufforderte, sie anzugreifen. “Zeigt mal, wie lange ihr durchhaltet!”

Clay und Nebula sahen sich erst ratlos an, folgten dann aber der Einladung.

 

Eine Stunde verging.

Die Sonne wanderte über das von Wolken befleckte Blau des Himmels.

Erschöpft ließ sich Nebula rücklings mitten in den Ring auf den Boden fallen. Der Aufprall wirbelte eine kleine Wolke aus Staub auf. Ihre Arme und Beine spreizte sie von ihrem Körper ab. Die Holzschwerter entglitten ihrem Griff. “Ich bin KO!”, stöhnte sie entkräftet. Sich die ganze Zeit auf zwei Waffen zu konzentrieren war geistig sehr belastend.

Clay war ebenfalls völlig fertig. Nicht körperlich, sondern moralisch. Er würde lieber aus sicherer Entfernung seiner Beute auflauern, als im Nahkampf mit einem Gegner zu rangeln. Er suchte sich ein schattiges Plätzchen, setzte sich auf den Boden und versuchte sich schöne Gedanken zu machen. “Das war wirklich intensiv”, meinte er.

Cerise stand noch immer aufrecht in Kampfpose. Kein Zeichen von Anstrengung verunstaltete ihr Gesicht. “Was denn, war’s das schon?”, stichelte die Attentäterin.

“Mir tun Muskeln weh, von denen ich nicht wusste, dass ich sie habe!”, klagte die Kriegerprinzessin.

“Wenigstens von Euch erwarte ich mehr Ausdauer, Clay!”

“Wieso konnten wir keinen einzigen Punkt erzielen?”, grübelte Clay. 

Cerise entspannte ihre Körperhaltung. “Weil die eine ihre beiden Waffen so schlecht aufeinander abstimmt, wie ein grottiger Barde Gesang und Lautenspiel und der andere einfach viel zu vorsichtig und defensiv kämpft.” Cerise wandte sich an Nebula. “Ihr habt zwei Arme und zwei Waffen. Dennoch benutzt ihr sie nie gemeinsam. Zwei Waffen bedeuten nicht automatisch doppelte Chance auf einen Treffer.” Sie fuhr mit der Analyse von Clay fort. “Clay, Ihr fühlt Euch nicht wohl, wenn Ihr nicht mit einem Bogen schießen könnt. Im Nahkampf seid Ihr zu zögerlich und versteckt Euch hinter der Waffe. Durch bloße Verteidigung gewinnt man aber keinen Kampf.”

Nebula stülpte die Unterlippe über die Oberlippe und blies Luft aus, sodass ihr Pony aufgewirbelt wurde. Sie fühlte sich belehrt, wie damals als kleines Mädchen. Aber es zu leugnen, half ihr nicht. Ihre Fertigkeiten beim Kampf mit zwei Waffen ließen stark zu wünschen übrig.

Clay schien seinen Frust überwunden zu haben. Er senkte den Kopf und ließ die Worte der Rothaarigen auf sich wirken.

Nebula erhob sich und klopfte den Staub von ihrer Schokoladenseite. “Nein, das lasse ich so nicht stehen!” Sie loderte vor Kampfeswillen.

“Ihr gebt niemals auf”, bemerkte Cerise. “Das ist eine gute Eigenschaft für die Heldin einer Geschichte. In der Realität sollte man aber wissen, wann Schluss ist.” Sie warf die Übungswaffen auf den Boden. “Ich werde es Euch einfacher machen.” Erneut nahm sie eine kämpferische Pose ein. “Versucht, mich zu treffen!”

Cerise musste sie verspotten wollen. “Mit Vergnügen!”

Nebula stürmte brüllend auf Cerise zu, als wolle sie sich selbst beweisen, dass doch nichts an den Worten der Rothaarigen dran war. Geschickt wich die Attentäterin allen Stößen aus. In einem günstigen Moment ergriff sie beide Arme ihres Gegenübers und beendete so den Angriff ihrer Gegnerin.

“Lasst mich los!”, beschwerte sich Nebula.

Cerise seufzte. “Ihr habt es immer noch nicht verstanden!”

 

Eine Ewigkeit ließ ihn der Hofzauberer das Kunststück des Messer verbiegens vorführen, als seie er ein Schausteller und gebe eine Privatvorstellung. Dabei beäugte Arngrimir jede Bewegung des Jungen mit Argusauge. Zwar erhielt Henrik eine Erklärung, was der Mann mit dem zotteligen Bart damit bezweckte, doch wirklich begriffen hatte er es nicht. Danach untersuchte Arngrimir jede nur erdenkliche Körperflüssigkeit. Ohne Befund. Man konnte dem alten Mann zumindest nicht vorwerfen, nicht gründlich zu sein. Schlussendlich war die Suche nach Auffälligkeiten ein Fehlschlag.

Die Quelle von Henriks Kraft verblieb ein Mysterium.

Nachdem Arngrimir Henrik sich selbst überlassen und sich aus Frust über ein Rätsel, welches er nicht zu lösen vermochte, in seinem Labor verbarrikadiert hatte, um seinen Studien nachzugehen, wollte Henrik nach Nebula sehen. Er fand sie zusammen mit Clay, Cerise und einer frostigen Stimmung auf dem Übungsplatz vor.

Nebula riss sich von Cerises Händen los und bewegte sich auf ihn zu.

Henrik las in ihrem Gesicht eine gewaltige Unzufriedenheit ab. Er fragte sich, wie ihr Training verlaufen war. Scheinbar nicht so gut. Vielleicht wollte sie darüber sprechen. “H-Hallo”, grüßte er und winkte verhalten.

Doch sie ging einfach wortlos an ihm vorbei, ohne ihn weiter zu beachten.

Schon wieder ließ sie ihn einfach stehen.

“H-Hey, warte!”, rief er und lief ihr nach. “Was hast du?” Vorsichtig streckte er seinen Arm, als er sie einholte, und legte die Hand auf ihre Schulter.

Nebula wandte sich ihm in einer Drehung zu und verpasste ihm gleichzeitig einen Schlag, der den Jungen sofort zu Boden warf. “Höre auf mir nachzulaufen, du Klette!”, schrie sie ihn an, während er sich langsam aufrichtete.

Henrik sah angstvoll und unverständig in ihre roten Augen, während er allmählich den Schmerz seiner geplatzten Oberlippe bemerkte. Er schmeckte den metallischen Anklang seines eigenen Blutes, welches in seine Mundhöhle eindrang.

Nebula wandte sich wieder ab und setzte ihren Weg fort.

Henrik blieb sitzen und befühlte die Wunde in seinem Gesicht.

 
 

🌢

 

Während die Überfahrt nach Eldora geplant wurde, nutzte die Gruppe die Zeit, um Kräfte zu sammeln und zu trainieren.

Nebula konnte einfach nicht ertragen, wie Cerise sie vorgeführt hatte und trainierte Tag ein Tag aus den Kampf mit zwei Waffen. Die Kammerdiener munkelten, man könne sie selbst im Schlaf dabei beobachten, die Bewegungen auszuführen.

Clay übte mit seinem Bogen, damit er nicht aus der Übung gerit. Training für den Nahkampf ging er jedoch gekonnt aus dem weg. Trotz seiner Muskeln wurde er einfach nicht damit warm. Ihn plagten sowieso andere Sorgen. Der Zyklus des Mondes schritt unaufhaltsam voran.

Wenn Cerise nicht bei ihrem Liebhaber war, machte sie sich rah. Keiner außer ihr wusste, wo sie sich heimlich herumtrieb.

Und Henrik versuchte der Prinzessin so gut es ging aus dem Weg zu gehen.

So verging die Zeit wie im Fluge.

Noch immer konnte Henrik an nichts anderes denken und war ganz durcheinander.

Er wollte Nebula wirklich nicht auf die Nerven gehen. Aber sie hatte so traurig und frustriert ausgesehen. Als habe sie das Bedürfnis mit jemanden zu sprechen. Und er wollte für sie da sein. Ein Irrtum. Er war so naiv! Man konnte kein Wunder erleben und gleich darauf noch eins erwarten. Kein Gott der Welt war so großzügig. Sein Kiefer tat ihm immer noch weh. Der Schmerz sollte ihm ein Lehrmeister für die Zukunft sein. Auch wenn er sie liebte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie die gleichen Gefühle für ihn hegte.

Nun lag er im Bett und starrte die Streben an der Decke an.

Der alte Mann mit dem Zottelbart hatte ihn für Morgen erneut in dessen Labor bestellt. Vermutlich wartete noch mehr Besteck, das verbogen werden wollte.

Über seinen Kummer schlief Henrik ein.

 

Auf einem langen stabilen Tisch reihten sich unterschiedliche Klumpen aus Gestein. Jeder von ihnen wies eine andere Färbung auf. Sie hatten alle ein unterschiedliches Gewicht und etwa die Größe einer kleinen Melone. In ihnen befanden sich Minerale. Die Oberfläche der meisten Stücke glänzte im dem durch die Fenster einfallenden Sonnenlicht. Langsam trugen zwei Handlanger einen weiteren Klumpen heran und wuchteten ihn auf den Tisch zu den anderen. Dieser war viel schwerer. Vermutlich ein sehr dichtes Material.

Nach getaner Arbeit verließen die Bediensteten das Labor des Hofzauberers.

Im nächsten Moment klopfte es an der Tür. “H-Hallo!”, sprach es kaum verständlich hinter ihr. “K-Kann ich eintreten?”

Arngrimir erkannte die Stimme seines schüchternen Versuchsobjekt. “Aber natürlich”, gestattete er. “Kommt herein, Junge!”

Die Tür öffnete sich und Henrik betrat das Alchemielabor.

Er sah sich um, und bemerkte, es war aufgeräumt worden. Von der Unordnung des Vortages konnte er keine Spur mehr ausmachen. Die blubbernden Gläser und Schläuche der Destillen waren verstummt und störende Bücher auf andere Tische am Rand verbannt worden. Ebenso befanden sich die schweren Kessel nun dort, wo sie niemandem mehr im Weg standen. Der große Tisch in der Mitte des Raumes war jedoch neu und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Das Labor, der Ort an dem sonst ein Element in ein anderes transmutiert oder magische Tränke hergestellt wurden, war nicht mehr wiederzuerkennen.

Gemeinsam schritten Henrik und Arngrimir an den großen Tisch.

“Sind das Erze?”, fragte Henrik unbedarft.

“Hervorragend! In der Tat. Es handelt sich um Brocken verschiedener Erze.”

“W-Was soll ich d-damit anfangen?””

“Ich möchte sehen, welche Arten von Metall und Mineral Ihr kontrollieren könnt.”

“W-Warum?”

“Wir wollen beide diese Kraft verstehen lernen.”

“I-Ich habe bereits S-Silbererz geformt.”

“Dann sollte diese Aufgabe kein Problem für Euch sein.”

 

Stunden zuvor arbeitete Arngrimir noch an einem anderen Experiment.

Die Kammer füllte sich mit dem Kondenswasser, welches aus dem unter kleinem Feuer erhitzten Kolben entwich. Spät in der Nacht war ein Experiment im Gange. Es war die entscheidende Phase. Der finale Schritt, welcher über Erfolg oder Scheitern entscheiden würde. Ein kleiner Fehler könnte die Arbeit von Wochen zunichte machen. Tief in seine Gedanken versunken, wartete der Hofzauberer vor seiner Destille mit einem angekippten Laborglas auf den richtigen Moment, die kochend heiß siedende Flüssigkeit im Kolben mit jener aus dem Glas in seiner Hand zu vereinen.

Er wollte gerade vorsichtig einen Tropfen zugeben, als plötzlich die Tür hinter ihm unsanft mit lautem klopfen traktiert wurde. Mitten in der Nacht erdreistete sich jemand ihn zu stören. Was für eine Unverschämtheit! Er erschrak derart, dass ihm das Glas entglitt. Hektisch versuchte er es zu ergreifen, denn es durfte keinesfalls mehr als ein Tropfen der Flüssigkeit in den Kolben geraten. Trotz all seiner Mühen das Experiment zu retten, entzog sich das Glas mehrfach seinem Griff und letztlich scheiterte er.

Der gesamte Inhalt ergoss sich in den Kolben und über den Labortisch.

Es folgte eine Verpuffung.

Arngrimir stand entgeistert vor seinem gescheiterten Experiment.

Einen Augenblick später ging er zur Tür seines Labor und öffnete sie. Hinter ihr erblickte er die Prinzessin.

“Störe ich?”, fragte Nebula. Als die Blondine den Mann erblickte, erkannte sie, dass er frontal in Gänze mit Ruß bedeckt und sein zotteliger Bart nun vollends zerzaust und versengt war. Es roch verbrannt und ein bläulich-gräulicher Dunst hing schwer in der Luft. Nebula konnte sich bei diesem Anblick ein Lachen nicht mehr verkneifen.

Arngrimir stampfte wütend auf wie Rumpelstilzchen. “Das war ein wichtiges Experiment!”, grämte er. “Ein bedeutender Fortschritt für die Alchemie. Und dann kamt Ihr und habt alles ruiniert!”

“Entschuldigung!”

“Nichts ‘Entschuldigung’! Was wollt Ihr überhaupt hier? Ich bestellte Euch erst für Morgen in der Früh. Wisst Ihr, wie spät es ist?!” Der Bärtige beäugte die Prinzessin. Unter ihrem Mantel guckte der Saum ihres Nachtgewand hervor. Sie musste spontan aufgestanden und zu ihm gekommen sein. Er seufzte. Es musste etwas wichtiges sein. “Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Lady Emelaigne?”

“Es geht um Henrik”, eröffnete sein Gegenüber.

“Dann kommt herein.” Er geleitete die Prinzessin in sein Labor. “Es ist kalt um diese Zeit. Ich sollte Euch einen Tee bereiten, damit Ihr Euch aufwärmen könnt.”

 

Henrik stand mit geschlossenen Augen vor einem der Erzklumpen und hatte beide Hände darauf gelegt. Der Brocken bestand aus dunkelgrauem Gestein und wurde von orangefarbenen Adern durchzogen. Vermutlich handelte es sich bei diesem Exemplar um eine Probe Eisenerz.

Arngrimir beobachtete die Mühen des Braunhaarigen, der ein Gesicht machte, als wäre er inmitten einer anstrengenden Sitzung auf dem Abort. Schon eine Weile mühte sich Henrik ab - bisher nicht von Erfolg gekrönt. Auf diese Weise konnte das nichts werden. Der Junge war viel zu angestrengt und verklemmt, wo er es einfach passieren lassen musste.

Henrik spürte unerwartet die Hand des alten Mannes auf seiner Schulter und unterbrach sein angestrengtes drücken auf der Oberfläche des Gesteins. Er wandte sich vom Tisch ab.

“Versucht Euch zu entspannen, Junge”, riet Arngrimir.

“Wieso s-soll ich mich dabei entspannen?”, fragte Henrik. “I-Ich war nie entspannt, w-wenn ich diese Kraft eingesetzt habe.”

“Zaubersprüche und Formeln mögen vom Verstand kommen, doch die Magie selbst kommt vom Herzen.”

“U-Und wie soll mir das helfen?”

“Ihr müsst es fühlen. Fixiert Euch nicht zu sehr auf die Sache. Wenn Ihr wollt, das dieser Stein Euch gehorcht, hilft es, an etwas zu denken, dass Euch Kraft gibt.”

Henrik wandte sich wieder dem Gestein zu. Was mir Kraft gibt, grübelte er und legte danach beide Hände entspannt auf den Klumpen vor sich. Natürlich wusste er sofort, was er wollte. Vor seinem geistigen Auge erschien niemand anderes als die Prinzessin. Henrik stellte sie sich ihn freundlich anlächelnd vor, auch wenn ihm gerade nicht klar war, ob sie ihn jemals angelächelt hatte. Vor seinem geistigen Auge verfielen beide einander in einem nicht enden wollenden leidenschaftlichen Kuss.

An Fantasie mangelte es ihm zumindest nicht.

Plötzlich riss ihn das Klatschen des Hofzauberers aus seiner Trance.

“Heureka!”, rief dieser.

Henrik öffnete seine Augen und der Stein, welcher soeben noch einen halben Meter über der Tischplatte schwebte, stürzte nun auf sie herab. Henrik sah er Bestätigung suchend den Hofzauberer an, als wolle er wie ein kleiner Junge hören, das er es richtig gemacht hatte.

“Hervorragend!”, lobte der Hofzauberer. Viel mehr vermochte er aber nicht zu sagen. Was er da sah, war keine gewöhnliche Telekinese. Dieser Junge besaß ein einzigartiges Talent, welches er nur allzu gern weiter untersuchen würde.

 

Nachdenklich saß Nebula auf der Bank unter dem großen Baum auf der kleinen Insel inmitten des Teiches im Schlosspark. Mit gesenktem Kopf betrachtete sie ein blaues Buch. “Volkes Märchen” stand auf seinem Deckel geschrieben. Es war jenes Werk, mit dem sich Henrik selbst das Lesen beigebracht hatte. Dazu wäre es wohl nie gekommen, wäre er ihr nicht begegnet. Sie hatte sein Leben bereits verändert. Doch stand es ihr zu, ihn noch weiter ihrem Einfluss auszusetzen?

Wäre das überhaupt gut für ihn?

In Gedanken versunken bemerkte sie nicht, wie Clay auf sie zu kam.

“Prinzessin!”, sprach dieser sie an.

Nebula sah zu ihm auf. “Du sollst mich nicht Prinzessin nennen!”

“Wie du möchtest, Nebula.”

“Was machst du hier?”, fragte die Blondine.

“Ich bin deiner Fährte gefolgt.”

“Meiner Fährte? Ich bin nicht irgendeine Beute!” Sie verhielt sich ihm gegenüber abweisender als eine antihaftbeschichtete Bratpfanne. ”Was willst du von mir?!”, fuhr sie ihn an. Heute schien sie wieder besonders mies gelaunt zu sein.

Clay setzte sich unaufgefordert neben Nebula auf die Bank. “Es geht um dein Verhalten Henrik gegenüber. Hat der Junge das wirklich verdient?”

“Er ist ein Idiot und Schläge auf den Hinterkopf helfen beim denken.”

“Du hast sein Gesicht getroffen.”

“Kann man ja mal verwechseln.”

“Mache dir etwas vor, solange du willst. Es ist offensichtlich, dass er dir wichtig ist!”

Nebula wandte sich Clay zu, um ihm deutlich zu verstehen zu geben, was sie von seiner Einmischung hielt. “Was erdreistest du dich?! Kümmere dich um deinen eigenen Kram!” Sie verspürte den Drang den Behauptungen des Waidmanns aus dem Weg zu gehen, klappte das Buch zu und wollte aufstehen. Doch Clay packte ihren Arm. “Hey!”

“Hier geblieben, Mädchen!” Er zog sie zurück auf die Bank und mit dem Gesichtsausdruck eines bockingen Kleinkindes setzte sie sich wieder auf den Hosenboden, und musste weiter seiner Predigt lauschen. “So leicht kommst du nicht davon!”

Nebula legte das Buch neben sich auf der Bank ab.

”Du willst ihn von dir wegstoßen, weil du Angst hast, zu deinen Gefühlen zu stehen.”

Sie wandte ihren Kopf ab. Ein verleugnendes “Pfff” entwich ihren Lippen.

“Warum hast du ihn mitgenommen?”

“Er kann kochen.”

“Das ist doch nicht alles. Du weißt genau, dass du ihn brauchst.”

“Ja, als Koch!”

“Sei doch einmal ehrlich zu dir selbst!”

Einem weiteren “Pfff” folgte nur noch schweigen. Er konnte froh sein, nicht Henrik zu sein, sonst hätte sie ihm schon den Einband des Buches über den Schädel gezogen.

Clay fuhr indes unbeirrt mit der Analyse ihrer Gefühlswelt fort, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. “Deine Gefühle sind ein Bär und du hockst auf einen Baum, an dem die Bestie rüttelt. Der Junge kann das Biest besänftigen. Darum hast du ihn mitgenommen.”

Die Blondine wandte sich grimmig ihrem Begleiter zu. “Halt doch endlich deine Klappe! Du hast doch keine Ahnung!”

“Wenn einer weiß, wie du dich fühlst, dann bin ich das! Schau!” Er deutete nach oben zum Himmel. ”Weißt du, was heute nacht ist?” Er pausierte kurz, um ihr die Gelegenheit zu geben, sich konstruktiv an der Unterhaltung zu beteiligen. Doch sie ließ sie ungenutzt verstreichen. “Vollmond!”, antwortete er schließlich auf die eigene Frage. Er nahm den Arm wieder herunter. ”Dann werde ich mich im Kerker anketten und hoffen, dass die Fesseln und Stäbe halten und ich nicht ausbreche und im Wahn irgendjemanden in Stücke reiße.” Er pausierte um durchzuatmen. “Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt, allerdings in vertauschten Rollen. Erinnerst du dich? Damals hast du mir geholfen und ein neues Zuhause gegeben, nachdem ich alles verloren hatte. Nun will ich dir helfen, bevor du das von dir stößt, was dir wichtig ist.”

Nebula begann vorsichtig zu schluchzen, aber verbarg es. Still und heimlich versuchte sie ihre Emotionen mit sich selbst auszumachen und zu verstecken, als habe sie Angst bei etwas Verbotenem erwischt zu werden. Sie sah Clay noch immer an, als sie das Verlangen zu Weinen mit Wut kompensierte. “Ich sagte doch, du hast keine Ahnung!” Sie ballte ihre Faust und begann auf Clays Brust einzuschlagen. “Keine Ahnung!”, wiederholte sie.

Der großgewachsene Muskelmann legte seine Hand auf ihren Rücken und drückte sie an sich. Er hatte kein Problem damit, sie zu beruhigen.

Und wie durch ein Wunder hatte sie keins damit, es zuzulassen.

Bald schon stellte sie das kraftlose Schlagen ein.

 

Falls es sein Ziel war ihn zu verwirren, so war es ihm Gelungen.

Kurz nachdem Henrik den Stein schweben ließ, hatte der Zauberer bereits eine neue Idee. Henrik sollte versuchen, einen Gegenstand zu erschaffen. Also sammelte er sich und konzentrierte sich auf die ihm gestellte Aufgabe. Aus dem vorhandenen Material konnte er nicht viel machen. Er entschied sich für etwas, seiner Zunft entsprechend. Eine Waffe. Aus dem kleinen Eisenbarren vor ihm schuf er zuerst eine glühende Kugel und formte dann aus ihr die Spitze eines Speeres. Als das Werkstück Gestalt angenommen hatte, erfasste es die Schwerkraft und es hinein in die Hand des Jungen.

Interessiert trat Arngrimir heran und nahm Henrik das Erzeugnis aus der Hand. Er führte es vor sein kritisches Auge. Viel Verstand er nicht von der Schmiedekunst Doch die Speerspitze war solide geschmiedet und rasiermesserscharf, soviel konnte er sagen. Und das, obwohl Henrik weder Hammer und Ambos noch Schleifstein zur Verfügung hatte. Als einziges Hilfsmittel hatte er seinen eigenen Willen. Arngrimir ließ Henrik das Experiment mehrfach wiederholen.

Mit jedem Versuch wurde es einfacher für ihn und der Prozess beschleunigte sich.

Henrik spürte, wie er besser und besser wurde.

Arngrimir nahm sich den Braunhaarigen zur Seite. “Junge, Ihr habt ein außerordentliches Talent für Magie”, eröffnete er. “So einen wie Euch trifft man nicht alle Tage.” Dann sah er ihm bedeutungsvoll in die Augen. “Könntet Ihr Euch vielleicht vorstellen, in Zukunft mein Gehilfe zu werden?”

“A-Also i-ich…”, stotterte Henrik. “I-Ich glaube, i-ich...” Er war überfordert. Wollte ihn der Zauberer tatsächlich als seine rechte Hand anheuern, obwohl er eigentlich überhaupt nichts von Magie verstand?

“Ich würde Euch alles lehren, was ich weiß. Und Lehrlingsgeld müsstet Ihr auch nicht zahlen. Überlegt es Euch gut! Ihr hättet bestimmt das Zeug dazu, eines Tages an meiner statt der Hofzauberer zu werden. Was sagt Ihr?”

“I-Ich…” Der schüchterne Braunhaarige konnte das unmöglich quasi zwischen Tür und Angel entscheiden. Er brauchte dringend frische Luft und die verschaffte er sich auch, als er wie von der Tarantel gestochen aus dem Labor flüchtete.

Er rannte eine ganze Weile ohne nachzudenken.

Mit der Zeit wurde er langsamer und merkte, dass ihn seine Beine in den Schlossgarten getragen hatten. Er war zu sehr beschäftigt mit seinen Gedanken, um sich noch daran zu erinnern, wie er hierher gekommen war. Als Lehrling hätte er die Aussicht, eines Tages der nächste Hofzauberer zu werden. Es hörte sich verlockend an. Bisher wagte er nicht zu träumen, in irgendeiner Form wichtig zu sein. Aber um das Angebot wahrzunehmen, müsste er Nebula und die anderen verlassen. Das kam gar nicht in Frage!

Er schritt weiter durch den Schlossgarten und hoffte, dass die kühle Luft seine Gedanken für ihn aufräumen würde. Auf einmal hörte er Stimmen. Sie kamen ihm bekannt vor.

Zögernd folgte er einem Weg zwischen Hecken hindurch, bis er einen Durchgang erreichte. Zaghaft lugte er hindurch und seine Augen weiteten sich. Er sah einen Weg, welcher zu einer Brücke führte. Die Brücke verband eine Insel auf einem kleinen künstlichen See mit dem Rest der Anlage. Auf ihr befand sich ein großer Baum und unter ihm eine Bank. Henrik glaubte nicht, was er dort sah. Auf der Bank saßen Nebula und Clay. Und zum Entsetzen des Jungen schien sich die Blondine an den starken muskelbepackten Oberkörper des bärtigen Schwarzhaarigen zu kuscheln. Im nächsten Moment streckte sich Nebula und küsste Clay auf den Mund.

Eilig zog Henrik seinen Kopf ein und brachte sich hinter der Hecke in Sicherheit.

Langsam formte sich ein niederschlagendes Bild in seinem Kopf. Er glaubte nun zu verstehen. Das war die Erklärung, wieso sie so abweisend zu ihm war. Wieso sie seine Gefühle nicht erwidern konnte. Er musste der Wahrheit ins Auge sehen. Sie interessierte sich nicht für ihn. Muskelberge warn es, was sie anzog.

Und damit konnte er nicht dienen.

Hier konnte er nicht mehr länger sein.

Er musste erneut die Flucht ergreifen

Vanitas


 

🌢

 

Die Truppen des Foedus Lucis versammelten sich.

Der Bund von Elfen, Menschen und Zwergen unter der Führung von Antrium, dem Reich der Weißelfen aus den fluoreszierenden Wälder, stellte die einzige ernstzunehmende Bedrohung für das Kaiserreich Aschfeuer dar. Seit der Reichsspaltung, einem Ereignis von solchen Ausmaß, dass es vor langer Zeit das Ende der ersten Ära einläutete, trennte die Front einer Feuerschneise gleich den Kontinent Eldora in Ost und West. Der Konflikt zwischen den Großmächten verlief seit vielen Jahre friedlich. Doch die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit entfachen die alten Flammen des Zorns von Neuem. Seither gab es immer wieder größere und kleinere Konfrontationen an der Grenze.

Die jüngsten militärischen Erfolge Aschfeuers drängten die Gegenseite in die Enge, sodass sich die Mitglieder des Bundes gezwungen sahen, in die Offensive zu gehen. Erst kürzlich fiel Ruckenach, eine weitere Grenzprovinz, an die Schwarzelfen. Angeblich gab es auf Seiten des Bundes keine Überlebenden. Aus diesem Grund hatten die Führer der Mitgliedstaaten beschlossen, vereint unter einem Banner gegen den tyrannischen Kaiser und seine Streitmacht ins Feld zu ziehen, um den Status Quo wiederherzustellen. Wenn es wirklich der Wahrheit entspräche, was man sich erzählte, und es nicht nur eine Schauergeschichte war, mit der man nachts Kinder ängstigte, stand der Armee des Bundes hier im Schaanwald ihre bisher härteste Schlacht bevor.

Es war der Morgen vor dem Gemetzel mit den Schergen des Imperiums. Die Befehlshaber der teilnehmenden Truppen vollendeten just in diesem Moment ihren Schlachtplan.

Allmählich brachten sich die Bataillone in Stellung und formten eine Armee.

In vorderster Front stand eine Phalanx aus für den Krieg eingezogenen Menschen der Vasallenstaaten von Antrium. Männer jeden Alters, die für ihre Lehnsherren Kriegsdienst leisten mussten. Sie bildeten einen Schildwall, in dem die Männer der ersten Reihe ihre massiven dreieckigen Schilde, welche sie an den linken Arm festgegurtet hatten, in den Boden rammten und sich mit der linken Körperhälfte dagegen stemmten. Zwischen der Mauer aus zum Teil wunderschönen Wappen und Verzierungen, steckten sie ihre mit Stahl bewährten beidhändig geführten Spieße hindurch. Die beiden hinteren Reihen taten es ihrem Vordermann mit ihren Spießen gleich.

Um die verwundbaren Flanken dieser unbeweglichen Formation zu schützen, befanden sich hünenhafte, kampfeslüsterne Berserker aus Frys an ihren Rändern. Sie gehörten nicht zu den Vasallen, sondern suchten auf dem Schlachtfeld nach Gold und Ruhm. Die beidhändig geführte Streitaxt jener Waräger flößte schon aus der Distanz Respekt ein. Die Aufgabe dieser Söldnereinheiten war es, feindliche Infanterie vom Angriff aus den sumpfigen Wäldern abzuhalten, welche für die Reiter des Kaiserreich unpassierbar waren. Man wollte den Feind dazu provozieren, stattdessen einen Frontalangriff mit der Reiterei zu starten, der bei dem Versuch den Schildwall zu durchbrechen, vielen Gegnern das Leben kosten würde. Hinter den Speerträgern lauerten die Bogenschützen der Elfen auf ihre Ziele. Der Bund führte selbst keine Reiter ins Feld. Stattdessen leisteten die Zwerge aus den Tiefstädten ihren Beitrag in Form ihrer gefürchteten Golems - riesige mechanische Krieger, deren Funktionsweise den anderen Bündnispartnern wie Magie anmutete. Doch sie begrüßten diese Machina Mobile in ihren Reihen. Krieger, die niemals Müde wurden, da sie kein Herz hatten und die keine moralischen Fragen quälten, da es ihnen einer Seele ermangelte.

Wie es vor der Schlacht Sitte war, ritten die Befehlshaber ihre Untergebenen ab und heizten sie für den bevorstehenden Kampf auf.

Die Armee des Feindes erschien allmählich am Horizont und rückte Näher.

Das Aufeinandertreffen schien unvermeidlich.

Die Anspannung in der Luft fast schon greifbar.

Doch dann blieben die feindlichen Truppen grundlos stehen, ohne sich einen weiteren Schritt zu rühren. Einige Zeit sah es so aus, als spielten sie mit der Geduld ihres Gegners. Als wollten sie den Kampf aussitzen oder versuchten, kopfloses Vorstürmen der Armee des Foedus Lucis zu provozieren.

Bis eine einsame Gestalt auf die Truppen der Allianz zu kam.

Es war ein Mann unter einer Kutte. Die Heerführer vermuteten, dass es sich um einen Schwarzelf handelte. Eine Rasse, welche die Sonne verabscheute, da sie in ihrer Heimat nur die Aschewolken des Elendsschlund kannten. Und der leuchtende Feuerball am Himmel nutzte die letzten Tage des goldenen Herbst, um noch einmal unerbittlich seine Hitze von oben herab auf die Erde nieder gehen zu lassen. Welches Ziel verfolgte das Kaiserreich mit der Entsendung eines einzelnen. War es ein Abgesandter? Wollten sie zuerst einem Ambassadeur den Vortritt lassen und den diplomatischen Weg beschreiten?

 

Der Drache trug seine Passagiere sicher zurück nach Vanitas.

Die Hauptstadt des Kaiserreich befand sich am Fuße des Elendsschlund, dem größten Vulkan der bekannten Welt. Von hier aus gebot Kaiser Volturian über sein Reich. Das lebensfeindliche Aschland wurde schon von jeher durch die Schwarzelfen beherrscht. Über Kilometer transportierten gewaltige Aquädukte Wasser aus fruchtbareren Gegenden des Reiches und machten die Ödnis urbar. In Vanitas liefen gleich fünf von ihnen zusammen und schufen ein Paradies in der Aschewüste. Aus der Luft betrachtet wirkte die Stadt wie ein sechszackiger Stern, dessen verbleibender Arm eine gewaltige steinerne Brücke über einen Lavasee war, welche zu einem Gebäude mit langen spitzen Türmen führte. Die Architektur betonte die überwältigende Höhe des Konstruktes, das wie bei einer Kirche an den Seiten von Strebewerk gestützt werden musste, weil es sonst sein eigenes Gewicht nicht tragen könnte. Man nannte es den “Schwarzen Palast”. Grund dafür war das Material aus dem es bestand und die Farbe die es ihm verlieh. Man hatte den Kaisersitz und seinen einzigen Zugang vollkommen aus vulkanischem Basaltgestein errichtet.

Diesen Palast steuerte die geflügelte Echse an.

Unter dem von Aschewolken verhangenen Himmel diskutierten die Geschwister noch immer. Den Drachen konnte man angesichts des Streites, der auf seinem Rücken ausgetragen wurde, nur bedauern. Alaric von Aschfeuer war nicht Müde geworden, das unehrenhafte Verhalten seiner großen Schwester anzuklagen.

“So stellt endlich Eure pausenlosen Appelle an mein Ehrgefühl ein!”, forderte Lezabel ihren Bruder genervt zum Schweigen auf. “Solch Ballast besitze ich nicht.”

“Bei Euch kommt jeder Appell zu spät, liebe Schwester”, meinte dieser. “Völlig grundlos die Zivilbevölkerung anzugreifen, ist nicht nur ehrlos, sondern auch feige und hinterhältig!”

“Die Menschlein waren frech. Sie hatten eine Lektion verdient.”

“Man hat uns betrogen, in der Tat. Aber das ging nicht vom Volk aus.”

“Ihr seid zu nachsichtig! Wir müssen sie züchtigen, sonst tanzt uns bald jeder auf der Nase herum!”

“Wir reden nicht von kleinen Kindern, die man erziehen muss!”

“Nein, wir reden von wertlosen Kreaturen”, verteidigte Lezabel ihr Handeln. “Würmer die in schmutzigen Löchern kriechen, die sie Städte nennen und blutige Ritterturniere und Gladiatorenkämpfe als eine Form von Kultur verstehen. Sie fahren auf Raubzüge, saufen vergorenen Honig und rauchen ungehemmt Kraut. Sie kennen keine Dichtkunst, keine Musik, keine Dramen, sind der Münze und der Lüge zugewandt und beten zu falschen Götzen. Wieso sollte man mit so etwas nachsichtig sein?”

“Ihr werft unverfroren alle Menschen des Kontinents in einen Topf und rührt einmal kräftig um! Menschen leben in allen Teilen der Welt anders. Und sie haben sehr wohl eine Kultur. Ihr könnt sie nicht über einen Kamm scheren!”

“Was interessiert es mich, in welchen Teilen der Welt sie welchem Frefel nachgehen?”

“Es sollte Euch interessieren. Vielleicht können sie Euch noch etwas lehren.”

“Das wage ich zu bezweifeln!”

“Rasse, Herkunft oder Geschlecht spielen keine Rolle. Der Wert einer Person definiert sich durch ehrenhafte Taten. Letztlich sind auch wir nur Menschen mit spitzen Ohren.”

“Das habt Ihr jetzt nicht wirklich gesagt?!”

“Wieso hasst Ihr die Menschen so sehr?”

“Das fragt Ihr noch, verehrter Bruder? Ihr wisst nur zu gut, was damals passiert ist! Wen sie uns genommen haben!”

“Nicht nur Ihr leidet darunter. Ich und unser Bruder fühlen den gleichen Schmerz. Wir vermissen sie alle Gleichermaßen. Auch wenn ich kaum eine Erinnerung an sie habe. Es war ein tragisches Unglück.”

“Unglück…”, Lezabel spuckte vor Abscheu hinab in die Tiefe. “Unsere Mutter starb durch die Hand eines Menschen.”

“Es war ein Überfall von Barbaren.”

“Alle Menschen sind Barbaren.”

“Morgenstern hatte mit dem Überfall nichts zu tun. Auch sie mussten Verluste beklagen.”

“Was interessiert mich irgendein totes Menschlein?”

“Es war nicht irgend ein Menschlein.” Alaric seufzte. Es lagen noch etwa fünf Minuten Flugzeit vor ihnen und die wollte er nicht im Streit verbringen. Er sparte sich jedes weitere Wort, da seine Schwester ihre Ansichten sowieso niemals ändern würde. Dafür war ihm sein Atem zu schade.

 
 

🌢

 

Die mächtigen Schwingen des Ungetüms wirbelten Staub auf, als es seine Destination erreichte und im Hof des Schwarzen Palastes zur Landung ansetzte.

Lezabel und Alaric saßen von Fafnir ab. Die Prinzessin streichelte ihren Drachen kurz und schickte ihn dann mit einer Handbewegung davon. Danach traten sie an die opulente Pforte heran. Die Wachen öffneten ihnen den Weg in das Innere. Gemeinsam begaben sich Alaric und Lezabel hinein in den Palast. Sie waren ihrem Vater, dem Kaiser, immerhin noch ihren Bericht schuldig.

Aus dem Eingangsbereich zweigten drei Wege ab. Die Geschwister wählten den mittleren. Ein langer Korridor folgte. Die Wände waren mit zahllosen Spiegeln verkleidet. Während die Geschwister gemeinsam den Thronsaal entgegen schritten, wurden ihre Spiegelbilder bis in die Unendlichkeit von den gegenüberliegenden Spiegelflächen vervielfältigt, immer dann wenn sie eines der Paare passierten. Zwischen den Spiegeln befand sich ab und an ein Zwischenraum, welcher für einen Wandleuchter reserviert war. Die hellroten Flammen der Leuchtkörper tauchten das kalte Gestein in warmes Licht. Der Boden wurde von Ornamenten und Schriftzeichen verziert, deren Bedeutung sich nur jenem erschloss, der die Sprache der Elfen zu lesen vermochte.

Während sie den Spiegelkorridor durchschritten, war es Alaric für einen Moment so, als habe er jemanden seinen Namen flüstern hören. “Alaric!” Er sah sich um und entdeckte im Augenwinkel eine dritte Person zwischen ihren Spiegelbildern. Doch schon einen Wimpernschlag später war sie nicht mehr sichtbar und kehrte auch nicht zurück. Sie verschwand viel zu schnell, als das Alaric in der Lage gewesen wäre, sie zu erkennen. Das Flüstern verstummte ebenfalls. Vermutlich war es nur eine Einbildung. Ein Trugbild. Ein Streich, den sein Verstand ihm spielte.

Am Ende des Ganges weitete sich der Korridor in einen kleinen Vorraum, welcher abermals mit einer von Soldaten bewachten Pforte abschloss. Die Wachen öffneten die Tür, als sich die Kinder des Kaisers näherten, und ermöglichten ihnen ohne Unterbrechung hindurch zu schreiten.

Der Thronsaal selbst erstreckte sich mehrere Stockwerke in die Höhe. Für jeden Meter den der Raum in die Breite ging, reichte er gleich drei in die Höhe. Aus langen engen Fenstern viel das spärliche Licht des umliegenden Ödlands ein. Auch hier versorgten Fackeln an den Wänden den Raum mit zusätzlichem Licht. In regelmäßigen Abständen schossen tragende Mauerpfeiler in die Höhe. An dem Punkt, an dem sie mit der Deckenkonstruktion aus ineinander greifenden Kreuzstreben zusammen trafen, bildeten mit Drachenrelief verzierte Kapitelle den Abschluss. Der Thron befand sich ganz am Ende an der Wand. Besucher, welche eine Audienz bei dem Kaiser erwirken konnten, mussten eine lange Treppe hinauf zu einer Plattform schreiten, von der aus sie mit dem Herrscher sprechen durften. Von jener Plattform ging eine weitere Treppe hinauf bis an das Podest des Throns. Hinter ihm wanden sich goldene Drachenskulpturen die Wand entlang, um einander schlussendlich zu berühren. Aus der Ferne schluckten die Ausmaße den einzelnen.

Auf dem Drachenthron saß eine von Mantel und Kapuze aus feinstem Gewebe verhüllte Gestalt.

Es war der Kaiser von Aschfeuer.

Volturian.

Es hieß, dass diesen Mann niemand bezwingen konnte. Geschichten über seine dämonischen Kräfte verbreiteten überall dort, wo sie erzählt wurden, Angst und Schrecken unter allem das atmete.

Alaric und Lezabel betraten die Plattform und knieten vor ihrem Vater.

Der Kaiser sprach kein Wort.

“Vater, wir wünschen Euch zu berichten”, eröffnete Lezabel ungewohnt ehrfürchtig und zurückhaltend. Bei diesem Mann wagte sich niemand, der noch bei Verstand war, auch nur ein Zeichen von Aufmüpfigkeit oder fehlendem Respekt. “Wie Ihr es verfügt habt, sind ich und mein verehrter Bruder nach Morgenstern aufgebrochen und haben die Braut in Augenschein genommen.”

Noch immer hüllte sich Volturian im Schweigen.

“Leider kam es zu unerwarteten Problemen”, fuhr Alaric fort. “Man versuchte Euch zu betrügen und setzte uns eine Doppelgängerin als Braut für Euren Sohn vor.”

Der Kaiser lauschte weiterhin stumm den Ausführungen seiner Kinder.

“Wir sahen uns deshalb gezwungen, die Vereinbarung zum Ehebündnis aufzukündigen”, fügte die Prinzessin an. “Wir haben es ihnen deutlich genug zu verstehen gegeben, sodass selbst sie es verstanden haben sollten. Für ihre freche Unverfrorenheit ließen wir die Menschlein entsprechend bezahlen, das versteht sich von selbst.”

Volturians Lippen blieben versiegelt.

“Allerdings mussten wir auch feststellen, dass es in der Königsfamilie einen Waffenmeister gibt”, berichtete Alaric. “Wir kreuzten die Klingen und die Auseinandersetzung endete... sagen wir in einem Unentschieden.”

“Und dieser Waffenmeister ist niemand geringeres als Prinzessin Emelaigne von Morgenstern selbst”, ergänzte Lezabel.

Auf einmal fuhr die verhüllte Gestalt wie von unerwartetem Schmerz im Hinterteil geplagt auf und entledigte sich der Kapuze. Die Kaiserkinder kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn das Gesicht, welches unter ihr zum Vorschein kam, war nicht das, was sie erwarteten. Auf dem Thron saß nicht etwa ihr Vater, sondern stattdessen ihr Bruder Ammon  von Aschfeuer. Er war mitte zwanzig und das zweite Kind von Volturian und dessen verstorbener Gattin. Seine Schwester Lezabel war zwar die erstgeborene, jedoch kein Mann und somit würde er eines Tages den Kaiser beerben. So zumindest verlangte es die Sitte. Jedoch orientierte sich der Kaiser lieber an den Leistungen seiner Kinder, was einen Konkurrenzkampf zwischen den beiden älteren Geschwistern zur Folge hatte. Jeder wollte den anderen überbieten. Und Ammon würde sich niemals von einer Frau um den Thron bringen lassen! Nicht einmal wenn diese Frau über die Drachen gebot.

“Liebster Bruder!”, stieß der zweite Prinz voll Verwunderung aus.

“Ihr kleiner-!”, schimpfte Lezabel stattdessen.

“- verehrter Bruder, wolltet Ihr gewiss sagen”, stichelte der vermeintliche Thronfolger.

“Wieso sitzt Ihr auf dem Thron und gebt Euch als unser Vater aus?”, fragte Alaric.

“Ich gebe mich nicht als Vater aus. Ich vertrete ihn, während er auf Reisen ist”, erklärte Ammon.

“Wo ist er?”, fragte Lezabel ungeduldig.

“Er sagte, er wolle sich um ein lästiges Ärgernis im Osten kümmern.”

“Was für ein Ärgernis meint Ihr?”, verlangte Alaric zu wissen.

“Einen Dorn in unserer Seite. Ich weiß nichts genaues. Ihr wisst doch, wie unser Vater ist. Er liebt seine Geheimnisse und behält vieles für sich.” Ammon von Aschfeuer betrachtete das Gesicht seines Bruders. “Alaric, was ist Eurem Auge widerfahren?”

Das jüngste der Kaiserkinder befühlte die tiefe Furche in seinem Gesicht, welche direkt über sein ruiniertes rechtes Auge verlief. “Nichts. Narben zeugen von ehrenhaften Taten.”

“Ihr verkehrt zu oft mit den primitiven Holzköpfen aus Frys!” Hochherrschaftlich schritt Ammon die Treppe hinab zu seinen Geschwistern. “Mich dürstet es nach Details zu eurem Bericht. Insbesondere was ihr über die Prinzessin von Morgenstern sagtet. Sie besitzt eine Teufelswaffe und weiß sie auch zu führen? Und ihr sagt die Hochzeit ab?!”

“Sie wollten uns betrügen!”, klagte Alaric an.

“Und wenn schon! Solch einen Schatz würde ich auch nicht aus der Hand geben. Ihr wisst, dass ich noch eine Gemahlin brauche, um mit ihr einen Erben zu zeugen. Erst dann wird Vater abdanken und ich kann selbst den Thron besteigen. Und für mich, den Meister des Zwillingsschwert, gibt es kein besseres Weib als ein solches, das selbst eine Teufelswaffe führen kann.” Ammon wurde unvermittelt laut und bestimmend. “Ich will sie! Ihr werdet das umgehend rückgängig machen, hört ihr! Oder ich lasse euch Spüren, warum man mich Soul Tormentor nennt!”

“Diesen Aufriss, obwohl sie nur ein Menschlein ist?”, fragte Lezabel voller Abscheu. “Ihr plant unser stolzes reines Blut mit dieser Mischlingsbrut zu verdrecken, die aus dieser Verbindung hervorgehen würde.”

“Ihr seid doch nur neidisch, liebe Schwester. Neidisch wegen der Geschichten über die Schönheit dieser Frau. Goldene Haare, himmelblaue Augen, ein wohlgeformter Körper und pralle Brüste. All das, woran es Euch ermangelt.”

“Hört auf mit Eurem Schwanz zu denken!”

“Könnt Ihr die Missgunst dieser Schlange hören, lieber Bruder?”, wandte sich Ammon an das jüngste Kaiserkind. “Liebe Schwester, warum sonst teilt Euer Gemahl lieber mit Huren das Bett, als mit Euch?”, provozierte er Lezabel.

Die konnte die Wut nicht mehr zurückhalten, welche in ihr aufstieg. Sie machte sich kampfbereit. “Bändige die Bestie, Draco Oculus!” In der Fläche ihrer rechten Hand entstanden unzählige schwarze Schmetterlinge und breiteten sich aus, um einen langen gewundenen Stab zu formen. Am einem Ende bildete sich eine Speerspitze, am anderen eine bernsteinfarbene Perle, welche von den Auswüchsen der Windungen gehalten wurde. “Streut weiter diese Lügen und Ihr werdet die Vorspeise meiner Drachen!”

Ammon tat es seiner großen Schwester gleich und rief ebenfalls seine Waffen herbei. Er öffnete die rechte Hand. “Erhelle die Finsternis, Corona!” In einem gleißenden Licht materialisierte sich ein schneeweißes Schwert. Gleichzeitig öffnete er die linke Hand. “Verdunkele den Tag, Blackmoon!”. Ein weiteres Schwert erschien. Es schluckte sämtliches Licht, wodurch es wie ein konturloses schwarzes Gebilde erschien. “Lasst uns die Erbfolge gleich hier und jetzt festlegen, liebe Schwester!”

Alaric wollte nicht tatenlos mit ansehen, wie seine Geschwister den Stammbaum stutzten. “Vielleicht atmen wir alle einmal tief durch und beruhigen uns!”, schritt er ein. “Mit Eurem Kleinkrieg beschmutzt Ihr die Ehre unseres Namens!”

Das Temperament der anderen beiden begann abzukühlen und sie ließen ihre Waffen wieder verschwinden.

Lezabel wandte sich ab und schritt die Treppe hinunter. “Ich habe sowieso besseres zu tun, als mich mit diesem schwanzgesteuerten Proleten abzugeben!”, kommentierte sie ihren eigenen Abgang.

“Ja, geht Euch bei Euren schuppigen Freunden ausheulen!”, rief ihr Ammon nach. “Euer Gatte liegt bestimmt schon in den Armen seiner Hure.”

Lezabel reagierte, indem sie ihm den ausgestreckten Mittelfinger über ihre Schulter zeigte.

Ammon wandte sich ebenfalls ab und ging zum Thron zurück. Nachdem er erneut Platz genommen hatte, wollte er weitere Informationen aus seinem kleinen Bruder herausholen. “Und nun erzählt Ihr mir noch ein bisschen von Prinzessin Emelaigne!”, befahl er Alaric. “Habt Ihr unter Umständen ihre Maße in Erfahrung bringen können? Schließlich muss noch ein Hochzeitskleid geschneidert werden.”

Der jüngere Bruder hatte kaum eine andere Wahl, als Folge zu leisten und die Fantasien seines Bruders weiter zu befeuern.

 

Die Schlacht endete, bevor sie begann.

Wo man auch hinsah, bedeckten Leichenteile und die zerschmetterten mechanischen Körper der Golems den Boden.

Blut vermischte sich mit Schmiermittel.

Der Mann unter der Kutte wandte sich vom Feld des Verderbens ab und schloss wieder mit der Armee auf, aus deren Mitte er gekommen war. Die Truppen des Foedus Lucis waren geschlagen. Jeder Mann getötet, jeder Golem zerstört. Das Kaiserreich hatte dank des geheimnisvollen Mannes den Sieg davon getragen, ohne dass seine Soldaten auch nur einen Finger rühren mussten.

 
 

🌢

 

Zurück in Morgenstern.

Die langen Gänge des Palastes glichen verschlungenen Pfaden in einem Labyrinth. Wie sollte Henrik Nebula hier nur ausfindig machen? Zwar gab man ihm eine Wegbeschreibung, welche ihm jedoch kaum weiter half. Für ihn sah hier alles gleich aus. Sie wollte das Mädchen besuchen, welches nicht wieder aufgewacht war. Die Prinzessin, welche vom Botschafter als Fälschung bezichtigt wurde. Die Gemächer der höhergestellten Persönlichkeiten befanden sich in den oberen Etagen des rechten Palastflügels. Dort begann er seine Suche. Auf seinem Weg entdeckte der Braunhaarige einen großen und wunderschön ausgestatteten Raum. Würdig, um einen König zu beherbergen. Aber niemand war hier.

Henrik beschloss sich umzusehen.

Ein Himmelbett, ein Bücherregal, ein großer Spiegel, seidene Gardinen und ein sorgsam gewebter Teppich. Das alles fiel ihm auf dem ersten Blick auf. Seine Augen erblickten noch nie solch einen Luchs. Auch das ihm im Palast zugewiesene Quartier bot nicht, was dieser Raum zu bieten hatte. Damals in Bärenhag stellte ihm sein Lehrmeister nur einen verstaubten Raum im Dachgeschoss der Schmiede bereit. Da gab es keine Möbel, außer dem zerlumpten Bett, auf dem er schlafen musste, und den Regalen, in denen Rohstahl gelagert wurden. Das änderte sich, als er an die Stelle seines Meisters treten musste, nachdem dieser überraschend das Zeitliche segnete. Dennoch war es weit von dem hier entfernt.

“Was machst du da?!”

Henrik war gerade eben vor das Bücherregal getreten und schreckte wie ein beim Stehlen erwischtes Straßenkind zurück, als er die empörte Stimme Nebulas vernahm.

“N-Nichts”, versicherte er nervös.

“Geh da weg!”, forderte Nebula todernst, als sie eintrat.

Er gehorchte sofort. Auf keinen Fall wollte er ihren Zorn auf sich ziehen.

Derweil inspizierte sein Schwarm das Regal. Die Märchenbücher standen aneinander gereiht, so wie sie es gewohnt war. Doch dann fiel ihr auf, dass eines fehlte. Das Fabula Tenebris stand nicht am angestammten Platz am rechten Ende des Regals. “Du hast das schwarze Buch genommen!”, bezichtigte sie Henrik im kühlen Ton. Diese Lektüre war ihr früher immer ein Rätsel gewesen. Ein ganzes Buch, in dem nur wenige Seiten beschrieben waren. Es erzählte seine Geschichten keineswegs über das geschriebene Wort.

“N-Nein! I-Ich vergreife mich n-nicht an den Sachen von a-anderen!”, verteidigte er sich.

“Nein, so etwas machst du nicht. Das Dienstmädchen muss es verlegt haben.”

Seit sie wieder im Palast war, ist sie so oft hier gewesen. Aber das Fehlen des Buches war ihr nicht aufgefallen. Sie hatte jedoch auch nicht explizit nach ihm gesehen. Wenn sie genau darüber nachdachte, hatte sie auch nicht das Gefühl, welches sie früher zu dem Buch hinzog. Konnte es sein, dass es schon länger verschwunden war? Wann mochte es abhanden gekommen sein?

“I-Ich habe nach dir g-gesucht”, informierte der braunhaarige Junge.

“So? Im Bücherregal war ich nicht”, spottete Nebula.

“N-Nein.” Er sah peinlich berührt nach unten und stieß seine Zeigefinger zusammen. “D-Der König hat uns alle bestellt. Da dachte ich, i-ich hole dich.”

“Dann hast du jetzt deinen Zweck erfüllt.”

Nebula wandte sich ab und verließ die Gemächer.

Henrik blieb wie angewurzelt steht und sah ihr nach. Wie ein Paket, bestellt und nicht abgeholt. Sie war so kalt zu ihm. Er verstand nicht warum. Hatte er etwas falsch gemacht?

 

Nebula betrat im schnellen Schritt den Thronsaal. Zuvor stiefelte sie sichtlich ungehalten an einigen Wachen vorbei, die gewundene Treppe hinauf. Den Grund für ihren Ärger behielt sie für sich. Die Wachen hatten keine andere Wahl, als ihren empörten Gesichtsausdruck hinzunehmen. Als sie den Anwesenden im Thronsaal in die Augen sah, versuchte sie ein neutrales Gesicht aufzusetzen, um sie nicht unnötig zu verwirren.

Neben dem König, dem Hofzauberer und ein paar Wachen, waren außerdem Annemarie und Clay anwesend. Und rechts von dem großgewachsenen Jägersmann eine Person, von der sie dachte, sie hätte bereits die Stadt verlassen. Die halbelfische Attentäterin mit den kirschroten Haaren: Cerise. “Was macht Ihr denn hier?!”, tat sie ihrer Verwunderung Kund. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Cerise direkt neben Clay, dem einstigen Ziel ihrer Anschläge, stand. Sie zog ihr Schwert und drohte mit ihm. “Finger weg von meinen Gefährten!”

Cerise schmiegte sich an Clay heran und streichelte über seinen muskulösen Oberkörper, welcher zwar von Kleidung bedeckt aber dennoch deutlich zu spüren war. “Meint Ihr vielleicht so?”, provozierte sie. “Ihr seid wirklich sehr Besitzergreifend!”

“Clay, was ist hier los?”

“Wir haben unsere… Meinungsverschiedenheiten friedlich beigelegt”, meinte der Jäger.

“Wie Ihr über mich hergefallen seid, bezeichnet Ihr als friedlich?”

Wäre ein Spiegel in der Nähe gewesen, hätte Nebula ihren Kiefer bei der Fahrt zu Tale beobachten können.

“Was schaut Ihr so?” Cerises Hand wanderte von Clays Brustkorb auf den Rücken. “Neidisch?” Die andere Hand leistete Gesellschaft. Zusammen rutschen sie, dem Rückrad folgend, hinunter bis auf sein Hinterteil und bearbeiteten es, wie zwei Hälften einer Zitrone in der Presse. “Es wäre doch eine Schande, dieses Prachtexemplar zu ermorden!”

Nebula fand keine Worte mehr.

Ein lautes Räuspern unterbrach die Darbietung der Attentäterin.

Der König hatte es sich nun lange genug angesehen.

Sofort ließ das Pärchen voneinander ab.

“Verzeiht, mein König!”, entschuldigte sich Clay, anstelle der Rothaarigen.

Nebula widerstrebte dieses Verhalten. Unzüchtiges Treiben vor den Augen eines jungen Mädchens. “Es sind Kinder anwesend!” Dennoch beruhigte sie es auch. Wollte Cerise ihrem Gefährten immer noch töten, hätte sie bestimmt mehr als eine Gelegenheit dazu gehabt. Nebula steckte erleichtert die Waffe an ihren Bund. Offensichtlich wollte die Attentäterin ihm nicht mehr ans Leder, sondern nur noch an die Wäsche.

Im nächsten Moment kam Henrik hinein gestürmt.

“N-Nebula!”, rief er ihren Namen.

“Er folgt Euch, wie ein Schoßhund seiner Herrin”, kommentierte Cerise. “Wie süß!”

“Hütet Eure giftige Zunge!”, ermahnte Nebula.

“Da wir nun vollzählig sind”, eröffnete der König so laut, dass sich ihm alle zuwandten, und sprach anschließend in normaler Lautstärke weiter, “können wir nun beginnen!”

Er räusperte sich ein weiteres Mal. “Denkt Ihr nicht, dass es an der Zeit ist, dass sie die ganze Wahrheit erfahren?”, fragte er und sah dabei zu Nebula.

Henrik, Clay und Annemarie blickten sie verwirrt an. Wieso sprach der König so vertraut mit ihrer Gefährtin?

Cerise schien mal wieder alles egal zu sein.

Als Nebula immer noch nicht reagierte, brachte der Herrscher von Morgenstern zum Ausdruck, dass es sich dabei nicht um eine Bitte handelte. “Mein Kind!”

Widerwillig begab sich Nebula zum König und setzte sich auf den leeren Thron ihrer Mutter neben ihm. Sie schlug die Beine übereinander, lastete ihre Unterarme auf den Lehnen und nahm eine hochherrschaftliche Pose ein.

Zufrieden genoss der König den Anblick der jungen Frau. Margaret, dachte er. Der Anblick unseres Mädchens auf dem Thron würde dich mit Stolz erfüllen!

“Ich bin die echte Emelaigne von Morgenstern”, offenbarte Nebula ihren Begleitern. “Ich bin die Prinzessin.”

“D-D-Du bist d-die Pr-Pri-Prinzessin?”, radebrach Henrik unverständlich.

“Och, du bist eine echte Prinzessin?”, staunte Annemarie. “Wie im Märchen?”

“Ich wusste, an dir ist noch mehr faul, als nur das Teufelszeug!”, entgegnete Clay.

“Oh, was für eine schockierende Wendung in der Handlung”, kommentierte Cerise übertrieben ironisch - immerhin wusste sie es schon - legte den Handrücken auf die Stirn und tat, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

“Zur Schauspielerin taugt Ihr jedenfalls nicht”, konterte Nebula - oder vielmehr Prinzessin Emelaigne.

“Und wie sollen wir Ihre Hoheit nun ansprechen?”, fragte Clay.

“Brich dir keinen ab!”

“D-Du bi-bist die Prinzessin! I-Ich h-ha-habe die Prinzessin g-ge-geküsst?!”

“Mann, komm klar, Kleiner”, stöhnte Cerise genervt.

“Du hast meine Tochter geküsst, Junge?”, ergründete der König im ernsten Tonfall.

“J-Ja.” Henrik zog eingeschüchtert den Kopf ein. “T-Tut mir L-Leid, Eure Ma-Majestät!”

Der König beäugte das Häufchen Elend skeptisch, das die Behauptung aufstellte, seiner Tochter einen Kuss gestohlen zu haben. “Der hat dich wirklich geküsst?”, fragte er begriffsstutzig und beugte sich dabei zu seiner Tochter herüber. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass dieser zurückhaltende schüchterne Junge so etwas wagen würde.

Die Reaktion ihres Vaters machte es der Prinzessin nicht leichter nicht beschämt rot anzulaufen. “D-Da-Das waren… besondere Umstände”, umschrieb sie es.

Der König wandte sich wieder seinen Gästen zu. “Da wir nun geklärt haben, wer hier wen küsst und wen nicht, kommen wir zum ersten Punkt der Tagesordnung.” Er signalisierte seinem Zauberer, das er beginnen solle. “Arngrimir!”

Der Mann im langen Magiergewand vollführte einige exotische Handbewegungen, wobei sich blaue Partikel um die Hände sammelten. Er verband sie zu einer türkis-weißlich leuchtenden Kugel und schleuderte sie inmitten der Versammlung, sodass diese zwischen den Gästen in der Luft schwebte.

Die Kugel dehnte sich auf die Größe eines Gymnastikballs aus. Sie war Umgeben von funkelnden Partikeln.

“Woah!”, freute sich Annemarie. “Wie schön!” Sie streckte die Hand aus und versuchte die Oberfläche zu berühren. Allerdings konnte sie sie nicht fassen.

“Heute vor drei Tagen”, begann der Hofzauberer seine Ausführungen, “während des Banketts, kämpfte Prinzessin Enelaigne gegen den Botschafter des Kaiserreichs, Prinz Alaric von Aschfeuer, welcher zuvor angegriffen und die Seelen einiger Anwesender gestohlen hat. Wie der Kampf ausging, ist bekannt. Wichtig ist, was danach passierte. Ein Drache ist aufgetaucht und hat die Stadt angegriffen. Aber wo kam er her?”

Der Zauberer machte eine wischende Bewegung und inmitten der Kugel erschien das Bild eines leeren Sockels, umgeben von Trümmerteilen.

“Dies war bis vor Kurzem noch der Ort, an welchem das Friedensgeschenk des Imperiums seinen Platz hatte. Die Drachenstatue. Doch nun ist sie fort. Was sagt uns das? Es muss der Delegation gelungen sein, diese Statue zum Leben zu erwecken. Oder vielleicht war es niemals eine Statue.”

“Kommt zur Sache...”, forderte Emelaigne gelangweilt von Arngrimirs Performance.

“Offenbar brachte das Kaiserreich es fertig, eine ihrer Bestien mit einer List in das Herz des Königreichs einzuschleusen, nur um den Drachen einzusetzen, falls es irgendwann notwendig werden sollte. Das sie tatsächlich Drachen befehligen, wurde nach Kriegsende als Ammenmärchen abgestempelt. Der König hat Unsummen ausgegeben, damit Zeugen schweigen und keine Panik ausbricht.”

“Was nun nicht mehr funktionieren wird”, ergänzte die Prinzessin.

“Wenn sie eine Kreatur wie einen Drachen für Jahre entbehren können”, warf Clay ein, “wirft dies die Frage auf, wie mächtig Aschfeuer wirklich ist.”

“Sehr guter Einwand!”, lobte der Hofzauberer.

Abermals wischte Arngrimir in der Luft und das Bild der Kugel wechselte. Nun zeigte es eine Karte von Morgenstern, welches auf einer Insel im Westen lag, und Teile einer großen Landmasse, auf der rechten Seite. Dazwischen ein Ozean, welcher den Rest bedeckte. Eine Spur aus kleinen Feuern zog sich von der Position von Ewigkeit, welche mit einer Krone mit einem Unendlichkeitssymbol darin gekennzeichnet war, bis zur Ostküste der Insel.

“Dies ist die Karte von des Königreichs. Morgenstern liegt auf der Insel Wesruth, westlich des Festlandes von Eldora. Das Kaiserreich beansprucht große Teile des Kontinents für sich. Auf den Weg in ihre Heimat, haben unsere Gegner alles angezündet, was dem Drachen vor den Schlund kam. Früher oder später steht uns ein richtiger Angriff bevor.”

“Das wage ich zu bezweifeln”, widersprach Cerise dem Hofzauberer. “Ich, der Bengel und Prinzesschen haben alle gehört, dass die Meisterin des Drachen sagte, der Kaiser hätte wichtigeres zu tun, als sich mit Morgenstern abzugeben.”

“Und deshalb hat Lady Emelaige auch vorgeschlagen, den ersten Zug zu machen.”

“W-W-Was?”, stotterte Henrik drauf los.

“Nicht sofort”, klärte ihre Hoheit auf. “Wir werden die Zeit nutzen und Kräfte sammeln. Trainieren, weitere Teufelswaffen finden und-”

“-ganz viel wilden Sex haben!”, unterbrach Cerise völlig unverfrohren und befummelte erneut ihren Bettgespielen. Dem stand ins Gesicht geschrieben, dass er diese Situation alles andere als angenehm empfand.

“Und erst dann vorstoßen!”, vollendete Emelaige.

“Ich entsende euch nicht auf ein Selbstmordkommando!”, versicherte der König. “Es soll eure Aufgabe sein, die wahre Stärke Aschfeuers in Erfahrung zu bringen. Und meine Tochter wird mit Hilfe ihrer ‘Gabe’ so viele feindliche Teufelswaffen sicherstellen, wie möglich.”

“Und Caroline retten!”, fügte die Prinzessin hinzu.

Es folgte der zweite Tagesordnungspunkt

Klartext


 

🌢

 

Erst wusste er nicht, wie ihm geschah.

Die süßen Lippen des hübschen Mädchens in seinen Armen fühlten sich falsch für ihn an. Clay wurde von Nebulas Vorstoß vollkommen überrumpelt. Verstehe jemand dieses Frauenzimmer. Erst beleidigte und beschimpfte sie ihn und nun das!

“Was soll das?!” Entsetzt stieß er sie von sich. “Sag mal, hast du den Verstand verloren?!”, inquirierte er. “Wieso küsst du mich?”

Doch als seine empfindlichen Ohren die Geräusche eines verborgenen Zuschauers vernahmen, welcher gerade dabei war, sich aus dem Staub zu machen, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Beobachter entfernte sich in großen Schritten. Clay erkannte ihn anhand der Art, wie er rannte und wie er atmete. Es musste sich um Henrik handeln. Da gab es gar keinen Zweifel. Nebula hatte ihn irgendwie zuerst bemerkt, und führte nun dieses Theaterstück für den heimlichen Zuschauer hinter der Hecke auf. 

Unbeeindruckt nahm Nebula das Märchenbuch an sich und erhob sich von der Bank.

“Hast du gar nichts dazu zu sagen?!”, konfrontierte Clay, als die Prinzessin sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung setzte.

“Nein!”

“Henrik war hier! Und du hast es gewusst.”

Nebula blieb unvermittelt stehen.

“Weißt du, was du dem Jungen antust?”

Die Blondine wandte ihr Antlitz dem Jäger zu. “Ich weiß nicht, wovon du redest!” Danach schenkte sie ihm keinerlei Beachtung mehr und verließ die Anlage auf direktem Wege.

 

Bartlett war schwer damit beschäftigt die Sandkartoffeln aus Nahost zu entladen.

Die Lieferung mit der sehnlichst erwarteten Delikatesse aus der Wüste Yjasul kam ganze drei Tage später als erwartet. Auf dem langen Weg aus dem Kalifat nach Morgenstern musste es ein unerwartetes Hindernis gegeben haben. Eigentlich war es dem dicken Koch vollkommen egal, warum die Ware zu spät kam. Für ihn zählte nur, dass sie zu spät ankam. Er war für das leibliche Wohl der Bewohner und Gäste des Königs zuständig und er musste die letzten Tage improvisieren, da die Sandkartoffeln nach dem großen Bankett ausgegangen waren. Jetzt endlich konnte er die Küche neu bestücken, doch musste er es allein machen. Er hatte seinem Küchenjungen Roe den Tag zuvor erst frei gegeben, da dieser nichts mehr zu tun hatte.

Jetzt könnte er ihn zum tragen helfen gut gebrauchen.

Aber Zeit zu gehen und ihn zu holen war auch nicht.

Heute Abend musste das Essen wieder auf dem Tisch stehen. Ein Koch, welcher die Gäste des Königs nicht bewirten kann, wirft ein schlechtes Licht auf das ganze Reich. Und er hatte keine Lust am Pranger zu landen.

Er nahm eine Kiste auf und streckte die Wirbelsäule nach hinten, um den schweren Behälter tragen zu können. Gerade als er sich umdrehte, rammte ihn etwas. Er verlor das Gleichgewicht und die wertvollen Sandkartoffeln verteilten sich auf dem Boden, als der Koch von der unbekannten Kraft umgerissen wurde.

Bartlett besann sich wieder und bemerkte, dass ein Junge neben ihm auf dem Boden saß. Er musste der Übeltäter sein, welcher ihn umgerissen hatte. “Bist du des Wahnsinn, Tollpatsch?!”, fuhr er ihn wütend an.

“E-Entschuldigung!”, bat der Braunhaarige um Vergebung.

“Nichts Entschuldigung! Was willst du überhaupt hier?”

“Ich wusste nicht, w-wo ich hin sollte. A-Also bin ich einfach gerannt.”

“Mit geschlossenen Augen?”

“Ähm. I-Ich-

“-Wie dem auch sei, du wirst mir jetzt helfen!”

“H-Helfen?”

Der korpulente Küchenchef hievte sich unter Einsatz beider Arme zurück auf die Beine. “Siehst du nicht die Sauerei, die du veranstaltet hast?” Er deutete auf die überall verstreut liegenden Kartoffeln. “Du hilfst mir jetzt sie aufzusammeln und die Kisten in das Lager zu bringen!” Bartlett sah den Jungen bestimmend an.

Der konnte nicht anders, als eingeschüchtert zu Boden zu schauen.

“Na los, packe mit an!”

“J-Ja, ist gut!”

Gemeinsam sammelten sie die Sandkartoffeln ein und legten sie zurück in die Kiste. Gemeinsam trugen sie Stück für Stück die Ladung des Wagens ins Lager.

“Sag mal”, fragte der dicke Koch, als sie fertig waren. “Wie heißt du eigentlich?”

“H-Henrik.”

“Falls du gerade nichts vor hast, Henrik: Ich brauche dringend eine Küchenhilfe." Wieder sah er ihn fordernd an.

Sein autoritärer Blick schürte Ängste im Schiedeburschen. Sein Meister hatte früher auch immer so geguckt. So konnte er nicht anders, als einzuwilligen. “A-Aber sicher doch!”

“Großartig!” Bartlett geleitete seine neue Aushilfe hinunter in die Palastküche, wo bereits ein Haufen Arbeit auf Henrik wartete.

 

Reges Treiben herrschte auf dem Chaiselongue.

Nachdem Clay sich von Nebula für ihre Zwecke missbrauchen ließ, damit sie Henrik den Schreck seines Lebens verpassen konnte, verlangte es ihm nach Ablenkung, welche ihm Cerise nur allzu gern verschaffte. In eng umschlungener Umarmung, wälzten sich ihre Körper zum Takt der Leidenschaft. Die ungebundenen kirschroten Haare der Halbblutelfe bedeckten das Gesicht des Jägers, während er ihren Hals bearbeitete.

Cerise fühlte sich völlig ausgehungert. Als Sklavin der Leidenschaft tat sie alles für jeden einzelnen Moment. Für sie waren schon ein paar Tage ohne Ausleben ihrer fleischlichen Lust eine Zumutung. Die reinste Folter. Zu groß war die Anziehung, welche sie beide verspüren. Wie konnte er es nur so lange ohne sie aushalten? Nun war sie dabei einzufordern, was ihr zustand. Doch etwas war seltsam. Es fühlte sich an, wie einstudiert. Wo war die Spontanität der vorherigen Male, als sie Liebe machten? Das Gefühl, wonach sie so süchtig war, fehlte. Sie entzog sich den starken Armen ihres Partners und richtete sich auf. “Ihr seid nicht bei der Sache!”, mäkelte sie an.

“Ihr habt meine Leistung noch nie bemängelt”, widersprach Clay dem Tadel der schönen Frau auf seinem Schoß.

“Euch beschäftigt etwas. Jetzt spuckt es schon aus!”

“Leugnen ist wohl zwecklos.”

Die Rothaarige ließ sich wieder zu ihm hinab sinken. “Das habt Ihr richtig erkannt.” Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und begann mit ihrem Finger auf seiner Haut entlang zufahren. Dabei hielt sie Blickkontakt. “Und jetzt sagt Ihr mir, was los ist!”

“Es ist wegen der Prinzessin.”

Cerise kicherte. “Was hat sie gemacht? Euch des Hofes verwiesen?”

“Sie hat mich geküsst.”

Die Augen der Rothaarigen weiteten sich. “Wirklich?” Nach erster Verwunderung kehrte ihr Gesicht zum Normalzustand zurück. ”Ich bin durchaus imstande zu teilen. Ich habe auch nichts gegen traute Dreisamkeit einzuwenden.”

“So ist das nicht! Sie hat mich wie einen Esel vor ihren Wagen gespannt.”

“Hat sie das?”

“Sie will Henrik vergraulen.”

“Verständlich. So eine Wurst bringt es auch nicht im Bett.”

“Sie braucht ihn mehr auf emotionaler Ebene. Ich habe ihr das gesagt. Wenn sie ihn trotzdem wegstoßen will, von mir aus. Ich lasse mich nur nicht gern benutzen!”

Cerise setzte einen eindeutig erotischen Unterton auf. “Aber wenn ich Euch benutze, gefällt es Euch doch auch.”

Der Jäger erzählte von seiner Begegnung mit Nebula. Wie sie sich über Gefühle und Liebe unterhielten und sie dabei den Tränen nah war. Plötzlich sei sie über ihn hergefallen und habe ihn geküsst. Das musste Henrik mit angesehen haben. Clay merkte an, ihn davonlaufen gehört zu haben. Nebula musste gewusst haben, dass er zusah und nutzte die Gelegenheit schamlos aus.

“Prinzesschen ist durchtriebener, als ich es ihr zugetraut hätte”, pries die Attentäterin.

“Findet Ihr das etwa lobenswert?”

“Allerdings. Sie beseitigt ihn effektiv und ohne große Sauerei.”

“Sie vergisst, dass sie damit vor allem sich selbst weh tut...”, grübelte Clay.

“Lasst uns uns nicht länger mit Dingen beschäftigen, die uns nichts angehen. Stattdessen sollten wir die Zeit nutzen, und uns weiter hemmungslos lieben, bevor Ihr Euch anketten müsst”, schlug Cerise vor.

Der Gedanke an den bevorstehenden Schmerz und die Qualen weckten in ihm unbehagen, welches er schnellstmöglich aus seinem Kopf verbannen musste. “Da sage ich nicht nein.”

“Hervorragend. Ich kenne da noch die ein oder andere Stellung...”

So gaben sie sich wieder ihrer Leidenschaft hin.

 

Inzwischen half Henrik schon ein paar Stunden in der Palastküche aus.

Bartlett staunte nicht schlecht. Noch nie hatte er einen dahergelaufenen Jungen gesehen, welcher so viel vom Kochen verstand, wie dieser Henrik. Jedem anderen hätte er erklären müssen, wie Sandkartoffeln zubereitet werden mussten, damit sie ihren markanten süßlichen Geschmack behielten. Man durfte sie keinesfalls geschält in den Kessel werfen. Dann würden sie ihr gesamtes Aroma verlieren. Das Kochwasser entzüge ihnen praktisch sofort alle Nährstoffe und sie würden im handumdrehen zu einer geschmacksneutralen Sättigungsbeilage verkommen. Stattdessen müssen sie immer mit Schale gekocht werden. Nach etwa fünfzehn Minuten konnte man sie vom Feuer nehmen und auf dem Teller zurecht machen. Unter der Schale würde die angestaute Hitze weiter arbeiten.

Henrik kümmerte sich gerade um den Wildschweinbraten, als sich Bartlett ihm unvermittelt zuwand. “Sag mal, Junge”, begann er, “bist du zufällig Koch?”

“D-Das nicht”, verneinte Henrik. “Ich bin eigentschlich Sch-Schmied.”

“Kloppen die nicht nur auf Metall rum? Wieso kannst du dann so gut kochen?”

“Ich weiß es nicht. V-Vielleicht, weil es auch mit Feuer zu tun hat.”

“Was hast du bisher gemacht?”

“Ich b-bin mit einer Söldnerin umhergezogen. W-Was sie gekocht hat, verdiente die B-Bezeichnung Essen nicht. Da habe ich d-den Kochlöffel selbst in die Hand genommen.”

“Genau!”, tönte Bartlett voller Überzeugung. “Selbst ist der Mann!”

“J-Jedenfalls... i-ich...”

“Du bist doch in sie verschossen, Junge. Gib es zu!”

“J-J-Ja.” Henrik sah bedrückt zu Boden. “A-Aber sie liebt mich nicht. Unserer Gruppe gehört noch ein hünenhafter Mann an. Der h-hat Arme wie Baumstämme. Ich h-habe gesehen, wie sie sich geküsst haben.”

“Was findet die nur an dem? Kann der etwa noch besser kochen?”

“N-Nein. Der isst sein Fleisch gern roh.”

“Ist der ein Barbar?! Wie dem auch sei: Junge, du musst kämpfen für das, was du willst. Feige trübsal blasen ist ganz und gar nicht männlich!” Als er bemerkte, dass der Braunhaarige drauf und dran war, die Arbeit niederzulegen, musste er noch etwas anfügen. “Aber erst, nachdem das Abendessen fertig ist!”

 
 

🌢

 

Die Kerkerwachen schlugen mit mächtigen Hämmern die langen Bolzen der Halterungen in die Wände. Sie mussten besonders fest sitzen, wenn sie der Kraft einer wütenden Bestie widerstehen sollten. Die Prinzessin hatte den König schon kurz nach der Schicksalsnacht von Clays kleinem Problem mit Vollmondnächten berichtet. Ihr Vater war damit einverstanden, dass der Werwolf in der Stadt verbleiben durfte, unter der Bedingung sich in besagten Nächten anketten zu lassen. Ein Schritt, den Clay voll und ganz verstehen konnte und auch selbst erbeten hätte, wäre ihm der König nicht zuvor gekommen.

Nun beobachteten er und Cerise die Arbeiten.

Die Rothaarige war gar nicht wiederzuerkennen ohne ihre ungezählten Dolche und Messer. Aber bewaffnet hätte man sie nicht hier herunter gelassen.

Clay sah in die Isolationszelle hinein. Ein fensterloser finsterer Raum. Und ohne zu wissen, was sich hier zugetragen hatte, spürte er, das dieser Ort einige Geschichten erzählen könnte, hätte er einen Mund zum sprechen. Als die Wachen ihre Arbeit vollendet hatten, zogen sie sich aus der Zelle zurück. Anschließend trat Clay ein, um sich selbst zu fesseln.

Cerise stand derweil wie angewurzelt an Ort und Stelle. In ihrem Gesicht zeichnete sich eine bis dato unbekannte Emotion ab. Solange Clay abgelenkt war und sie nicht sehen konnte, warf sie ihm wehleidige Blicke zu. Es war nicht fair, dass er so leben musste. Jede Vollmondnacht weggesperrt wie ein wildes Tier. Am morgen danach ohne Erinnerungen an die Stunden zuvor aufzuwachen und nicht zu wissen, ob ihm nicht doch ein Unschuldiger zum Opfer gefallen war.

Cerise schloss die Kerkertür.

Gab es wirklich nichts, was sie tun konnte?

 

Henrik schmeckte das Abendmahl nicht, obwohl er es selbst zubereitet hatte.

Er musste pausenlos an Nebula denken, welche sich entschuldigen ließ und nicht in den Speisesaal gekommen war. Sie wollte ihm wohl nicht in die Augen sehen müssen. Als Gäste seiner Majestät durften er und Annemarie an der Tafel Platz nehmen, doch das ließ den faden Geschmack des Essens nicht vergehen. Dabei war es eigentlich wunderbar angerichtet worden. Doch das Chaos in seinem Kopf betäubte den Wohlgeschmack der Speisen. Da Essen zu verschwenden eine Sünde war, drückte er sich seine Portion hinein und entschuldigte sich anschließend selbst.

Es verlangte ihm danach, Nebula zur Rede zu stellen. Allerdings kam es nicht so weit, da ein unüberwindbares Hindernis zwischen ihnen stand. Vor der Pforte zu ihrem Gemächern stand ein grimmig guckender Wächter, den Henrik nicht wagte anzusprechen. Unverrichteter Dinge ging er weiter und kehrte in seinem Zimmer ein. Dabei verfluchte er sich selbst und seine eigene Feigheit.

 

Der Erdtrabant stand in voller Pracht am Firmament.

In Kontrast zu diesem malerischen Bild, hallten die gequälten Schreie des Jägers Clay durch das dunkle Verlies, wo man nichts von des Mondes Schönheit mitbekam. Die anderen Gefangenen konnten nur mutmaßen, was in der Isolationszelle vor sich ging.

Cerise wusste aus Erzählungen, wie schmerzhaft die Verwandlung in einen Wolf sein musste, allerdings war sie noch nie bei einer dabei. Hinter der eisernen Tür lid Clay Höllenqualen. Mutig trat Cerise an die Tür heran und öffnete den Sehschlitz. Der Innenraum der Zelle wurde von der Fackel an der Wand spärlich beleuchtet. Es genügte ihr, um das Wesentliche zu erkennen.

Ihr Liebhaber kauerte nackt bis auf die Unterhose auf dem Boden und der Pelz fing schon an zu sprießen. Seine Extremitäten waren gerade in Begriff ihre Form zu verändern. Ruckartig, mit lautem Knacken, bogen sich seine Knie nach hinten. Weitere Gelenke und sogar Knochen folgten geräuschvoll dem Beispiel. Begleitet von seinen Schmerz erfüllten Schreien, versetzte es Cerise in die Lage, seine Pain beinahe am eigenen Leib zu spüren. Dennoch sah sie keine Sekunde weg. Auch nicht, als Clays Mund zur Reißzahn bewährten Schnauze wurde und sein Gesicht zur Wolfsfratze verkam.

Ein lautes Heulen tat wenig später von der Vollendung der Verwandlung Kund.

Clays Körper war nun vollständig transformiert. Er wirkte ein ganzes Stück größer und die zuvor zu großen Fesseln saßen nun wie angegossen. Sein schwarzes Fell schluckte das schwache Licht der Fackel. Wütend knurrend zerrte die Bestie, zu der er nun geworden war, an den Fesseln und versuchte, sich um jeden Preis zu befreien. Er konnte noch immer den Duft der rothaarigen Halbelfe riechen. Allmählich verlor sein Zerren an Intensität und erregtes Knurren ging über in sehnsüchtiges Jaulen.

Auf der anderen Seite der Tür beobachtete Cerise noch immer. Die Veränderung seines Verhaltens entging ihr nicht. Es war untypisch für ein Werbiest, mitten in einer erzwungenen Verwandlung zahm zu werden. Für sie erweckte es den Anschein, dass Clay vielleicht in der Lage wäre, die Bestie unter Kontrolle zu bringen. Vielleicht brauchte es nur noch einen kleinen Schubser. Möglicherweise könnte sie ihm tatsächlich helfen.

Links und rechts neben der Eisentür schoben die Wachen ihren Dienst.

Cerise schloss den Sehschlitz.

Die Wachen trauten ihren Ohren nicht, als sie im nächsten Moment die Stimme der Frau vernahmen. “Lasst mich dort sofort rein!”, forderte diese.

“Seid Ihr wahnsinnig?!”, entrüstete sich einer der Männer.

“Ich kann ihm helfen das in den Griff zu bekommen!”

“Ihr werdet höchstens herausfinden, in wie viele Stücke er Euch reißen kann, bevor Ihr sterbt!”, belehrte der andere.

“Das ist mir egal. Ich will da rein!”

“Aber…”

Als die Männer nicht auf ihre Forderung einging, sah sich die Rothaarige dazu gezwungen, andere Seiten aufzuziehen. Blitzschnell bewegte sie sich hinter einen der Männer, packte ihn und hielt ihm einen Dolch an die Kehle, den sie trotz Abtasten irgendwie in den Kerker schmuggeln konnte. Der Mann traf dieser Angriff so unvorbereitet, dass ihm glatt die Hellebarde entglitt. “Ich sagte, lasst mich sofort da rein!” Um ihrer Drohung mehr Gewicht zu verleihen, versetzte sie der Haut ihrer Geisel einen leichten Schnitt.

Der andere Wächter ließ nun ebenfalls seine Waffe fallen und kramte sein Schlüsselbund hervor, während er beschwichtigende Gesten zeigte. “Ist ja schon gut, ich schließe auf.” Er tat, was er ankündigte und entfernte sich anschließend von der entsperrten Tür.

Cerise schleifte ihre Geisel noch bis zum Zelleneingang und entledigte sich dann des Mannes mit einem Tritt in den Allerwertesten. Danach verschwand sie in der Finsternis und ließ die Tür zufallen. Nun stand sie der Bestie gegenüber.

Hinter ihr öffnete sich erneut der Sehschlitz. “Kommt zur Tür, Frau”, versuchte einer der Männer auf sie einzureden. “Es ist noch nicht zu spät! Beeilt Euch und ich lasse Euch schnell wieder heraus.”

“Haltet Euer Maul!”, rief sie ihm über die Schulter zu und ging dann langsam und vorsichtig auf den verwandelten Clay zu.

Der knurrte sie erst an und versuchte sie mit seinen klauen zu erreichen, was ihm allerdings, der Ketten geschuldet, nicht gelang.

“Ganz ruhig, Clay!” Cerise kam immer näher, bis sie und der Werwolf sich gegenüberstanden. “Es gibt keinen Grund mich zu beißen!”

Clay schien sich immer mehr zu beruhigen. Anstelle zu versuchen, nach ihr zu schnappen, streckte er nur seine Schnauze zu ihr und schnüffelte. Saugte ihren Duft so tief ein, wie er konnte. Was ihn in menschlicher Gestalt wild und animalisch werden ließ, hatte nun eine ins Gegenteil verkehrte Wirkung.

Cerise konnte seine Atemstöße in ihrem Gesicht spüren.

Plötzlich jaulte der Werwolf erneut wie unter Qualen auf.

Der Rotschopf schreckte kurz zurück.

Doch wie sich herausstellte, bestand keine Gefahr für ihr Leben. Clay kauerte sich zusammen und allmählich setzte der ebenso schmerzhafte Prozess der Rückverwandlung ein. Die Schnauze bildete sich zu einem Mund zurück. Die Gelenke und Knochen nahmen ihre alte Form wieder an. Das schwarze dichte Fell wich ebenfalls zurück, bis Clay wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte. Schwer atmend und zuerst besinnungslos, wälzte er sich auf dem kalten Boden der Zelle. Langsam wurde er sich wieder sich selbst bewusst und sein verschwommenes Sichtfeld klarte auf. Sein Blick fiel in Cerises Gesicht. Noch verwirrt, setzte er sich auf.

“Ihr habt es geschafft!”, verkündete die Rothaarige selten euphorisch.

Der Schädel des Jägers brummte. “Cerise, was tut Ihr hier?”, fragte er und presste eine Hand gegen die Stirn. “Bin ich noch in meiner Zelle?” Er schreckte hoch. “Bin ich etwa ausgebrochen?”

“Nein, ich bin eingebrochen!”

“Wieso tut Ihr sowas? Wolltet Ihr gefressen werden?!”

Cerise schmiss sich an Clay heran. “Mhmm… ich weiß, wie unersättlich Ihr sein könnt.”

“Wie seid Ihr überhaupt hier herein gekommen? Was ist mit den Wachen?”

“Die sind beide blöd wie ein Eimer. Ein Eimer für beide!”

“Ist denn schon morgen?”

“Nicht ganz.” Cerise half Clay auf.

Der Wächter hatte das Schauspiel um die Rückverwandlung durch den Sehschlitz mit angesehen. Sprachlos öffnete er auf das Klopfen der Beiden die Tür. Er war viel zu geschockt, um noch einen Groll wegen Cerises Angriff wenige Minuten zuvor zu hegen. Und viel zu verwirrt, um auch nur ein Wort zu sprechen. Schweigend ließen beide Wachen Cerise und Clay ziehen.

Gemeinsam bestiegen sie einige Zeit später die Dachterrasse des Palastes und schauten Seite an Seite in den Nachthimmel.

Vorher machten sie halt, um Clay etwas Kleidung zu organisieren.

Oben auf dem Dach angekommen, realisierte Clay erst wirklich, dass es mitten in der Nacht war. Der Vollmond schien auf ihn herab, ohne einen Effekt zu erzielen. Ungläubig starrte der Jäger seine Hand an, welche er dem Erdtrabanten entgegengestreckt hatte. Er konnte sie immer noch fühlen. Die Bestie tief in ihm drin. Aber unverständlicherweise gehorchte sie ihm. Er brauchte eine Weile, um es zu begreifen. “Wie ist das möglich?”, fragte er die Rothaarige. Dann nahm er die Hand wieder runter. “Woher wusstet Ihr, dass ich Euch nicht einfach nur umbringe?”

“Ich wusste, dass so eine Schönheit wie ich, einfach mit allem durchkommt.”

“Könnt Ihr einmal ernst sein?!”

“Sagen wir so, ich habe durch gründliche Beobachtung herausgefunden, dass meine Präsenz Euch beruhigt. Und da dachte ich, dass das vielleicht klappen könnte.”

“‘Vielleicht’ ist nicht genug! Ich hätte mich losreißen können! Täte ich noch einer Unschuldigen das Leben nehmen, würde ich nicht mehr leben wollen.”

“Manchmal muss man halt etwas riskieren, um etwas zu gewinnen!” Dann ergriff Cerise den starken Arm des Mannes neben ihr und schmiegte sich an ihn. “Außerdem bin ich jetzt wirklich nicht unschuldig!”

Gemeinsam brachten sie eine lange Zeit auf der Dachterrasse zu.

 
 

🌢

 

Drei Jahre zuvor am Hofe von Ewigkeit.

Ein wohlig weiches Gefühl umschloss ihren Körper. Feinster Stoff liebkoste ihre Haut. Daunenweich, nicht zu vergleichen mit dem harten Boden der Isolationszelle. Es verströmte einen angenehmen Duft von Rosenblüten. Zurückhaltend öffnete Emelaigne ihre Augen. Sie erblickte die Decke eines Himmelbettes. Von vier Seiten hingen seidene Tücher herunter und schirmten den Schlafbereich vom Rest des Raumes ab. Emelaigne überlegte, wie sie hierher gekommen war. Das letzte, woran sie sich noch erinnerte, waren diese fürchterlichen Kopfschmerzen, als hätte ihr Schädel in tausend Teile zerspringen wollen. Sie musste das Bewusstsein verloren haben. Nun waren die Schmerzen verflogen, aber dafür viele Fragen zurückgeblieben. Was war geschehen? Hatte der Wunsch, Caroline zu beschützen, ihr die notwendige Kraft verliehen, die Finsternis in ihrem Herzen zu bändigen?

Bei dem Gedanken an ihre Freundin wurde sie unruhig.

Ging es ihr gut?

Emelaigne wollte aufstehen. Sie schlug die Decke zurück und stellte fest, dass sie jemand umgezogen hatte. Sie trug nun ein Nachthemd. Ungeachtet davon, schob sie den Stor zur Seite und setzte die entblößten Füße auf dem Boden auf. Sie tastete instinktiv nach etwas und bekam Pantoffeln zu fassen. Wenn nicht der Blick in das Zimmer, dann hätten spätestens sie ihr gesagt, dass sie zuhause war.

“Was geht hier vor?”, zweifelte sie an der Situation.

Nachdem sie in ihre Hausschuhe geschlüpft war, stand sie auf und sah sich im Zimmer um. Es bestand kein Zweifel, dass es sich hierbei um ihre Gemächer handelte. Die Beschädigungen des schicksalhaften Abends vor ihrer Hochzeit waren beseitigt und das Mobiliar ausgetauscht, doch sie erkannte es trotzdem wieder.

Das alte Bücherregal war noch immer an seinem Platz. Hier reihten sich die Märchenbücher. Etwas in ihm übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus, sodass sie nicht anders konnte, als an es heranzutreten. Es war das Werk ganz am rechten Ende. Ein schwarz eingebundenes Buch. Fabula Tenebris. Emelaigne erinnerte sich. Dieses Buch erzählte ein düsteres Märchen über die Tränen eines gefallenen Engel und wie sie den Menschen die Gewalt beibrachten. Als ihre Finger den Einband berührten, schossen ihr verschwommene Bilder von Fremden Leuten durch den Kopf, die sie nicht kannte.

Ein Klopfen an der Tür vertrieb die Bilder.

“Mistress!”, rief es hinter der hölzernen Pforte. “Ihr müsst aufstehen.”

Emelaigne lies das Buch los und ging zur Tür.

Sie kannte diese Stimme nur zu gut.

Die Tür öffnete sich und eine ergraute Dame trat ein.

“Liselotte!”, rief das blonde Mädchen freudig. Sie stürmte auf die alte Frau zu und umschlang sie liebevoll mit ihren Armen.

“Sachte, ich bekomme keine Luft! Wie ich sehe, seid Ihr schon wach!”

“Liselotte, was geht hier vor? Ich-”

Die Alte legte ihren Zeigefinger auf Emelaignes Lippen. “Es ist alles gut.”

“Aber-”

“Man fand Euch bewusstlos auf dem Glockenturm einer Kirche.”

“Geht es Caro gut?”

“Natürlich.” Liselotte gluckste. “Warum auch nicht?”

Emelaignes rastloser Geist kam nicht zur Ruhe. “Wieso seid Ihr gekommen?”

“Ich möchte Euch bei der Kleiderwahl unterstützen, Mistress.”

“Denkt Ihr nicht, das ich alt genug bin, das selbst zu können?”

“Gewiss. Ich sollte Euch das sagen, falls Ihr fragt.”

“Und was wollt ihr dann?”

“Man hofft, dass ein vertrautes Gesicht Euch hilft-”

“-bei Verstand zu bleiben?”

Liselotte schwieg.

“Sagt mir die Wahrheit! Wer hat das veranlasst?”

“Der Hofzauberer, Mistress.”

“Arngrimir…! Ist es mir erlaubt, das Zimmer zu verlassen?”

“Gewiss. Nach Eurem… Ausflug neulich glaubt niemand mehr daran, dass man Euch aufhalten kann.”

“Dann werde ich dem Hofzauberer einen Besuch abstatten.”

 

Die Soldaten der königlichen Garde von Ewigkeit trainierten ihre Kampffertigkeiten auf dem Übungsplatz der Kaserne. Er bot alles, was sie für ihre Übungen benötigten. Ziele für die Schützen und Strohpuppen für die Nahkämpfer. Sogar einige mechanische Automaten, welche auf die Angriffe des Trainierenden reagierten, sobald sie sie trafen, und entsprechend hölzernen Schild anhoben und mit hölzernem Schwerd stießen, um die Illusion eines echten Gegners zu erwecken.

Skeptisch beobachtete Arngrimir das Treiben der Milizen.

Etwa eine halbe Stunde zuvor war er noch in seine Experimente vertieft gewesen. Flüssigkeiten wurden destilliert und so wirkungsstarke Elixiere gebraut. Doch all dies endete, als die Prinzessin in sein Labor gestürmt kam. Mit einem fordernden Tonfall und einem bestimmenden Gesichtsausdruck hatte sie seine Hilfe verlangt. Er sollte ihr beibringen, die Kraft, welche sie nun besaß, in den Griff zu bekommen. Mit ihrem Eindringen war sowieso jede Konzentration verflogen, also willigte er ein.

Nun wurden die zum Wehrdienst eingezogenen Junggesellen dazu angetrieben, die Übungsgeräte zusammenzutragen und eine Apparatur zu improvisieren, welche sich hoffentlich imstande sehen konnte, der Kraft von Emelaigne standzuhalten.

An einer Wand lehnend, mit gesenktem Kopf, wartete die Prinzessin nachdenklich  auf die Fertigstellung des Konstruktes. Sie trug inzwischen kein Nachthemd mehr, sondern ihre Jagdbekleidung. Ein hübsches besticktes Kleid mit Schmucksteinen und Wespentaille wäre für das Kommende unangebracht gewesen.

Endlich hatten die Milizen Arngrimirs Befehle ausgeführt.

“Prinzessin!”, forderte der Hofzauberer die Aufmerksamkeit des blonden Mädchens.

Emelaigne sah auf und zog eine Augenbraue an.

An der Wand des Übungsplatzes befand sich ein mit Stahlplatten verstärktes, überlebensgroßes Gebilde mit einer Lanze und einem großen Rundschild.

“Dies wird Euer Gegner sein”, erklärte Arngrimir. “Versucht den Automaten auseinander zu nehmen. Ihr dürft alles einsetzen, was Ihr habt.”

Das Mädchen schritt dem Gebilde entgegen und blieb kurz vor ihm stehen. “Das ist nicht Euer ernst”, tat sie ihre Skepsis kund. Sie hatte Arngrimir gebeten, dass er ihr einen Weg zeigen solle, mit dieser Kraft umzugehen. Und das war seine Vorstellung davon. Eine riesige Puppe. Die Zeiten, in denen sie mit ihnen spielte, waren lange vorbei! Sie ging tief in sich, ballte die Faust und holte weit aus. Mit aller Wucht, die sie aufbringen konnte, stieß sie ihren Schlagarm nach vorn und ihre Faust traf auf der Oberfläche auf.

Stille.

Auf einmal zog die Prinzessin ihre Hand zurück und schüttelte sie. “Aua!”, rief sie aus. Wie sollte ihr diese Übung dabei helfen, ihre Kraft in den Griff zu bekommen? Sie ging zurück zu Arngrimir.

Der schüttelte nur den Kopf.

Fragend sah Emelaigne ihn an.

“Mit Eurer Kraft ist es nicht anders als mit jeder anderen Magie”, meinte der Hofzauberer. “Versucht, Euch auf Euch selbst zu besinnen.”

“Auf mich selbst?”

“Der Schlüssel sind Eure Gefühle”, setzte der Mann mit dem zotteligen Bart fort. “Übersinnliche Fähigkeiten sind oft an Emotionen gekoppelt. Erinnert Euch an Euren Ausbruch. Erinnert Euch an das, was Euch dazu verleitet hat. Und dann hört auf die Stimme in Eurem Herzen.”

Die Stimme in ihrem Herzen… Nun war sich Emelaigne sicher, das der Hofzauberer zu lange an seinen Fläschchen geschnüffelt hatte. Ein Herz kann nicht sprechen. Aber sie hatte keine andere Wahl, als es zu versuchen. Wenn schon niemand vermochte, sie von diesem Fluch zu erlösen, wollte sie wenigstens das Beste daraus machen. Sie stellte sich dem gepanzerten Übungsapparat gegenüber und schloss die Augen.

Ihr Atem wurde langsam und gleichmäßig.

Bis sie ihr Herz schlagen hören konnte.

Doch sprechen wollte es nicht mit ihr.

Geduldig beobachtete Arngrimir jede Bewegung seiner Schülerin. Für eine lange Zeit stand sie stumm auf dem Platz, ohne sich zu rühren. So sehr er es begehrte, ihren nächsten Zug zu sehen, hielt er sich doch zurück und übte sich bescheiden in Geduld. Dann endlich wurde sein Warten belohnt.

Emelaigne streckte den rechten Arm aus.

“Koche in meinen Venen, Bloodbane!”

Eine schwarze Flüssigkeit trat hervor und formte eine Klinge.

Arngrimir gefiel offenkundig, was er da sah, denn er frohlockte vor Begeisterung. “Großartig, Eure Hoheit!”, lobte er. “Großartig!”

Emelaigne riss ihre Augen auf. Bloodbane, das war der Name, welchen sie vernommen hatte. Just in jenem Moment sprengte eine Energie das Material des Ärmels ihres Oberteils ab und umgab die Klinge, wie ein Mantel. Eine Aura, welche das Schwert bald dreimal so lang erscheinen ließ.

Die noch anwesenden Wachen schreckten vor dem bösartigen Druck zurück, der sich pulsierend im Hof der Kaserne auszubreiten begann.

Der Prinzessin wurde der Arm schwer, so nahm sie den linken zur Hilfe. Schreiend ging sie auf die Apparatur los. Von Überkopf ließ sie die Klinge auf die Maschine herabregnen. Die Aura schnellte nach vorn, als sie den Boden berührte, und schnitt sowohl durch den Apparat als auch durch die Mauer hinter ihm, wie ein heißes Messer durch Butter. Splitter aus Holz, Metall und Stein flogen durch die Luft und die Anwesenden erhoben die Hände zum Kopf, um sich vor diesen Geschossen zu schützen. In der Bahn der bösen Energie konnte nichts widerstehen und es blieb eine Schneise der Verwüstung.

Ein solches Ausmaß von Zerstörung hatte selbst der Hofzauberer nicht erwartet.

Plötzlich krümmte sich Emelaigne vor Schmerzen und weitere schwarze Klingen durchstießen ihren Arm und ihren Rücken.

Sie schrie entsätzlich und mit verzerrter Stimme.

Ihre Augen glühten rot wie die Abendsonne.

Aber mit einem Mal war der Spuck vorbei und Emelaigne kollabierte. Vorsichtig näherten sich ein paar Wächter und stießen den augenscheinlich leblosen Körper vorsichtig mit dem stumpfen Ende ihrer Hellebarden an. Sie zeigte keine Regung. Einzig die Klingen zogen sich in ihren Körper zurück.

 

Emelaigne erinnerte sich nicht mehr genau, wie viel Zeit vergangen war, doch wenig war es keinesfalls. Sie lag rücklings auf ihrem Bett und starrte die Unterseite des Dachs ihres Himmelbettes an. Ihre Füße standen noch immer auf dem Boden, flankiert von ihren Pantoffeln. Ihre instabilen Kräfte hatte sie inzwischen durch die Weisungen von Arngrimir unter Kontrolle gebracht. Am ersten Tag ihres Trainings, setzte sie zu viel Kraft frei. Der Zauberer meinte, ihr Nervensystem wäre mit dem Schock nicht zurecht gekommen. Es erwischte sie kalt und warf sie aus den Latschen, noch bevor sie die erwachende Finsternis übermannen konnte und sie ein zweites mal Amok lief. Sie musste versprechen, nie wieder so weit zu gehen, ihr volles Potential einzusetzen. Denn es war viel zu gefährlich, auch für sie selbst! Und die Prinzessin gedachte dieser Weisung zu folgen. Das Gefühl, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren, zu wüten wie eine Furie und unschuldige Menschen zu gefährden, wollte sie nie wieder spüren müssen.

Die Tatsache, das sie inzwischen eine zweite Teufelswaffe besaß, war ähnlich beunruhigend wie die, dass es noch mehr von ihnen geben könnte. Der Fall des Heckenschützen zeigte, dass Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt diesen Waffen verfallen konnten und sich zur Gewalt verleiten ließen. Er zum Beispiel, streifte durch die Stadt und erschoss willkürlich ausgesuchte Ziele, ohne einen erkennbaren Grund. Wahrscheinlich nur um des Tötens selbst Willen, mutmaßte man im Nachhinein. Doch sicher sein konnte man sich nicht und die Toten pflegten selten ihr Schweigen zu brechen.

Sie hätte ihn nicht gnadenlos niedermetzeln dürfen!

Emelaigne dachte in der jüngsten Vergangenheit immer öfter an die Geschichte, die ihr als Kind vorgelesen wurde. Was wäre, spräche das Märchen die Wahrheit? Dann gäbe es sechshundertsechsundsechzig von diesen verfluchten, dämonischen Waffen, verstreut über die ganze Welt. Vielleicht waren es in Wirklichkeit viel weniger, doch jede von ihnen für sich war bereits eine zu viel. Sie versuchte die Geschichte in ihrem Kopf zusammen zu setzen. Doch es gelang ihr nicht. Sie trat an das Bücherregal heran und griff nach dem schwarzen Buch  Fabula Tenebris.

Kaum berührt, schon begann es erneut Bilder in ihren Kopf zu übertragen.

Dieses Mal war es eine undeutliche Silhouette eines Berges, welcher eine kerzengerade Säule von Asche und Glut ausspie.

Sie verdrängte die Vision des Vulkans und begann zu lesen.

 

Im Thronsaal waren neben dem König und Arngrimir noch einige Wachen anwesend, welche ihren Dienst verrichteten. Die Worte, die ihr Herrscher mit seinem Hofzauberer wechselte, interessierten sie allerdings nicht.

Ihre Unterhaltung wurde jäh gestört, als jemand die Pforte zum Thronsaal aufstieß.

Eine Gestalt mit schweren Schuhen und dem Gesicht verborgen unter einer Kapuze, trat ein und schritt den roten Teppich entlang.

Der König erhob sich von seinem Thron. “Was hat das zu bedeuten? Wer seid Ihr?”

Doch der Fremde scherte sich nicht darum zu reagieren.

“Wachen!”

Die Soldaten umzingelten den Unbekannten.

“Ihr seid selten unentspannt, Vater!”

Die Kapuze viel und der König erkannte seine Tochter.

“Beruhigt Euch, ich bin es doch nur.”

Der König signalisierte mit einem Handzeichen, dass die Wächter sich zurückziehen sollen. Sie gingen zurück an ihre angestammten Plätze. “Wieso habt Ihr Euch so angehost, Tochter?”, stellte er anschließend sein Kind zur Rede.

“Verzeiht mir, aber ich habe eine Entscheidung getroffen”, sprach die Prinzessin.

“Was für eine Entscheidung?”

“Ich werde das Schloss verlassen!”

“Verlassen?!”

“Ich will niemanden einer Gefahr aussetzen. Aber solange dieser Fluch durch meine Venen schießt, bin ich eine lebendige Waffe, die nichts als Unheil bringt. Und nicht die einzige, wie es scheint.”

“Was wollt Ihr dadurch gewinnen, Tochter?”

“Ich will mich auf die Spuren der Teufelswaffen begeben.”

“Die sechshundertsechsundsechzig Tränen, die zu Waffen wurden!”, ergänzte Arngrimir.

“Bitte, lasst mich nicht dumm sterben. Wovon sprecht ihr?”

“Die Legenden, die ich studierte…”, grübelte der Mann in unvollständigen Halbsätzen und zupfte seinen Zottelbart.

“Der Heckenschütze nutzte ebenfalls eine dieser Waffen”, erklärte sich Emelaigne. “Stellt Euch vor, wie viel Schaden diese Waffen anrichten können, wenn sie in den falschen Händen sind. Ich will dieser Legende nachgehen, um sie alle zu finden, Vater. Ich werde das Leben, das mir geschenkt wurde, nicht vergeuden! Und wenn ich tatsächlich bis zum Ende der Welt reisen muss, wie es das Märchen schreibt.”

“Wer hat Euch diese Flause in den Kopf gesetzt! Das erlaube ich nicht!”

“Ich bitte Euch, Vater!”

“Lasst Euch wenigstens von meinen Rittern begleiten!”

Emelaigne streckte den Arm zur Seite aus. “Koche in meinen Venen, Bloodbane!” Die Klinge erhörte ihren Ruf. Die Prinzessin ließ ihren Vater keinen Moment aus den Augen während sie ihre Waffe kerzengerade nach oben aufrichtete. “Sagt mir, Vater, welcher unserer Ritter mir nicht nur im Wege stehen würde!” Sie ließ wieder Bloodbane verschwinden.

“Ich will Euch nicht schon wieder verlieren!”

“Ihr könnt mich sowieso nicht aufhalten!” Emelaigne wandte ihrem Vater den Rücken zu. “Und vielleicht werde ich ihn auf meiner Reise wieder sehen”, flüsterte sie.

Der König musste hilflos mit ansehen, wie seine Tochter ihres Weges ging. “Ich kann Dich vielleicht nicht aufhalten”, sprach er als sie den Thronsaal bereits verlassen hatte. “Aber ich kann Dich beschatten lassen.” Er sah zu seinem Hofzauberer. “Arngrimir, ich überlasse es Euch, kompetente Handlanger für diese Aufgabe auszuwählen.”

“Ich werde meine Kontakte spielen lassen.” Der Zauberer grinste.

 

Caroline war enttäuscht.

Zwar hatte ihre Freundin ihr von ihrem Vorhaben erzählt, hielt es aber dennoch nicht für nötig, noch einmal zu ihr zu kommen und ihr Lebewohl zu sagen. Darum nahm sie ihr Schicksal selbst in die Hand und lauerte Emelaigne vor dem Eingang zum Innenhof des Palastes auf. Als sie sie kommen hörte, sprang sie hinter der Mauer hervor, wie ein Strauchdieb, und stellte sich ihr mit verschränkten Armen in den Weg.

“Caro!”, wunderte sich die Prinzessin.

“Hast du nicht was vergessen?”, fragte sie vorwurfsvoll. “Denkst du, ich erlaube, dass du dich einfach so davon stiehlst? Warum verabschiedest du dich nicht von mir?”

“Ich-”

Doch Caroline erlaubte ihr nicht den Satz zu vollenden. Stattdessen öffnete sie ihre Arme und umarmte ihre Freundin. Sie war nicht wirklich sauer. Sie hatte verstanden. “Ich weiß Bescheid. Ich mag Abschiede genauso wenig.”

“Gut das du es mir nicht unnötig schwer machst!”

Caroline gab Emelaigne frei. “Na los, geh schon! Finde diese Dinger. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.”

 “Vielen Dank, Caro!” Sie setzte ihre Kapuze auf und durchschritt das Portal.

Ihre Suche nach den Teufelswaffen begann.

 
 

🌢

 

Zurück in der Gegenwart.

Nebula trat durch das Tor in der Hecke in die Zieranlage ein. Sie folgte den Anweisungen einer Nachricht, welche sie am Morgen vor dem Eingang ihrer privaten Räumlichkeiten fand. Mutmaßlich wurde der Zettel irgendwann in der Nacht von Cerise unter dem Türschlitz durchgeschoben. Auf ihm fand sich eine Herausforderung:

Kommt morgen nachmittag in den Schlossgarten!

Eure Revenge wartet, Prinzesschen.

Vergesst nicht die Übungswaffen!

Sonst versohle ich Euch den Hintern!

Auf dem breiten mit Ziersteinen gesäumten Weg der Anlage begrüßte sie bereits ein Kreis von fünf Metern Durchmesser, welcher offenbar erst kürzlich in die Erde geritzt worden war. Die Prinzessin trug in jeder Hand ein Holzschwert und war bereit für einen Kampf. Doch von ihrer Gegnerin gab es weit und breit keine Spur. Wo steckt sie?, dachte Nebula. Aber sie setzte ihren Weg unbeirrt fort und betrat den Kreis. Sie blieb stehen und wartete einfach ab.

Plötzlich vernahm sie ein Geräusch.

In einer Drehung wandte sie sich der Quelle zu und streckte ihren Schwertarm aus. Doch die Spitze des Übungsgerätes zeigte nicht auf die Person, welche sie erwartet hatte.

Erschrocken zuckte Henrik zurück.

“Was machst du denn hier?!”, pflaumte ihn Nebula an.

“D-Du hast mir doch diesen Zettel unter der T-Tür durchgeschoben”, behauptete Henrik. “Darauf stand, dass es dir Leid tut und du dich entschuldigen willst. Und das du mir etwas sehr wichtiges zu sagen hast.”

“Was?! Nein! Ich habe die Nachricht erhalten, dass Cerise mir eine Revenge anbietet. Ich solle hier herkommen und keinesfalls diese Holzschwerter vergessen.” Die Blondine stöhnte entnervt. “Dieser verdammte Wolf!”

“W-Was? W-Wer?”

Nebula nahm ihre Übungswaffe wieder herunter. “Clay, der elende Mistkerl! Das ist auf seinem Mist gewachsen.”

 

Hinter der Heckenwand entstiegen verstohlen die Verschwörer ihren Verstecken und begaben sich zum Durchgang, damit sie ihr Werk bewundern konnten. Cerise und Clay positionierten sich auf je einer Seite und spionierten den zerstrittenen Turteltäubchen hinterher. Würde ihr Plan fruchten?

“Meint Ihr, das funktioniert?”, fragte Cerise leise.

“Na klar”, antwortete Clay flüsternd. “Wie Ihr seht, reden sie miteinander.”

“Das ist immerhin ein Anfang.”

“Hoffentlich verprügelt sie ihn nicht.”

“Am Ende gefällt es ihm…”

 

Henrik war überrascht. “Aber wieso sollte er das tun?”

“Ist doch offensichtlich. Er will, das wir uns aussprechen.”

“U-Und was machen wir jetzt?”

“Wenn wir schon mal hier sind…” Nebula atmete tief ein und wieder aus. “Vielleicht ist es einfacher, wenn ich dir die Wahrheit sage.”

Sie geleitete ihn über die Brücke auf die Insel zur Bank vor dem großen Baum. Beide nahmen Platz, jedoch mit einer Armlänge Abstand zwischen ihnen.

“Die Wahrheit?” Henrik schaute betrübt auf den Boden zwischen seinen Schuhen. ”Ich h-habe schon verstanden, dass du ihn willst.”

Auf die Aussage ihres Begleiters hob die Blondine eine der Übungswaffen und schlug mit der Kante auf Henriks Kopf. “Idiot!”

“Aua!”, beschwerte sich der Braunhaarige. “Lass das!”

“Idiot! Idiot! Idiot!” Jedem Wort folgte ein weiterer Schlag.

Henrik hielt schützend die Hände über seinen Schädel, musste aber feststellen, das es eigentlich gar nicht wirklich weh tat, wenn ihn der hölzerne Gegenstand traf. Nebula schlug ihn gar nicht, sondern berührte ihn nur. So gab es keinen Grund mehr sein Haupt zu schützen. “Ich habe doch gesehen, wie ihr euch g-geküsst habt!”, äußerte er, als Nebula ihrem Arm eine Pause gönnte.

“Das heißt nicht, dass er es auch wollte.”

“W-Wie bitte?”

“Ich habe irgendwie gespürt, dass du hinter der Hecke stehst. Warum, weiß ich nicht. Ich habe dir nur etwas vorgespielt. Ich wollte, dass du mich hasst.”

Henrik verstand die Welt nicht mehr. “A-Aber wieso machst du sowas? Du solltest wissen, dass i-ich das gar nicht kann!”

“Wie soll ich dich sonst dazu bringen, mir nicht mehr zu folgen?”

“Du willst mich loswerden? Warum?”

“Klappe! Das ist am Besten für dich.”

“I-Ich will nicht, d-das wir getrennte Wege gehen!”

“Meine Mission ist zu gefährlich für dich!”

“Ich w-will das selbst entscheiden! Außerdem nimmst du Annemarie auch mit. Ist das für sie nicht noch viel gefährlicher?”

“Stimmt! Die muss ich auch noch irgendwie loswerden...”

“H-Höre endlich auf damit!” Die Situation machte Henrik Angst, doch er musste jetzt stark sein und all seinen Mut zusammen nehmen. “I-Ich will bei dir bleiben! I-Ich muss d-dir etwas sagen… I-Ich…” Die Sprache blieb ihm in der Kehle stecken, also versuchte er es heraus zu schreien. “W-Weil…! I-Ich liebe dich!”

Nebula zuckte verdutzt zurück. Es war so unwirklich, dass der schüchterne Junge tatsächlich genug Mut aufgebracht hatte, es auszusprechen. Als sich ihre Verwunderung legte, erhob sie erneut ihren Arm und ließ das Holzschwert auf Henriks Haupt fallen. “Du Idiot!”, tadelte sie. “Das weiß ich doch schon längst.”

Henrik hielt sich den Kopf. Dieses Mal war es keine sanfte Berührung. Das hatte wirklich weh getan! “AUA!!” Entweder bildete er sich das ein, oder unter seiner Haartracht wuchs tatsächlich eine gewaltige Beule heran.

Nebula legte endlich die Übungswaffen neben sich auf die Bank. Henrik atmete auf, glaubte sich sicher, keine Schläge mehr zu bekommen. Sie wandte sich erneut ihrem Gegenüber zu und begann ihm tief in die Augen zu sehen. Erst schwieg sie, doch ihr Blick sprach Bände. “Ich weiß es”, sagte sie schließlich mit sanfter Stimme. Daraufhin rückte sie näher zu Henrik heran.

Der tat nichts, außer sie anzustarren wie eine Ikone, die er nicht wagte zu berühren.

Seine Zurückhaltung trieb Nebula eine Zornesfalte auf die Stirn. “Jetzt küss mich endlich, du Trottel!”, funkelte sie ihn ungeduldig an.

Endlich verstand Henrik und tat, wie ihm geheißen ward.

Der euphorische Vorstoß des Braunhaarigen war seinem Gegenüber jedoch zu viel. Sie glaubte, seine Zunge bis fast in den Magen zu spüren und entzog sich ihm. Es setzte eine Ohrfeige. “Wer hat dir erlaubt, deinen Lappen so tief in meinen Rachen zu schieben?!”, beschwerte sie sich.

Henrik hielt sich die Wange. “E-Entschuldigung!”

Doch schon im nächsten Moment schien alles vergessen und sie verschlangen einander gegenseitig in einem Kuss. Es war, als ob die Zeit stehen blieb und dieser Moment für sie Äonen anhalten könnte.

 

In seinem Versteck hinter der Hecke, ballte Clay triumphierend die Hand zur Faust. “Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!”, lobte sich der Jäger selbst. Ein breites und zufriedenes Grinsen zog sich dabei über sein ganzes Gesicht.

“Das wurde ja mal Zeit!”, pflichtete Cerise ihm bei. “Sie scharwenzelten eine halbe Ewigkeit umeinander. Ein ausgiebiges Vorspiel hat zwar einiges für sich, aber man will auch zum Höhepunkt kommen.”

“Seid Ihr imstande, noch an etwas anderes zu denken?”

Darauf hatte sie nur eine Antwort: “Nein.” Die Rothaarige streckte ihre Arme aus, griff nach dem starken Mann und schmiegte sich an ihn. “Diesen Erfolg sollten wir feiern!”

Der Schwarzhaarige wusste gewiss, was sie ihm sagen wollte, doch behielt seine gewohnte stoische Ruhe bei. “Ihr habt Recht. Wir sollten ihnen ihre Privatsphäre gönnen. Der Junge ist unerwartet unversehrt aus der Sache herausgekommen...”

Cerise streckte sich zu Clays Gesicht und küsste ihn kurz auf den Mund. “Ihr seid immer so anständig”, meinte sie im Anschluss. “Das mag ich so an Euch.”

Gemeinsam entschwanden sie in die Gemächer

Mittags um Zwölf


 

🌢

 

Einige Wochen zogen seit seiner Liebeserklärung ins Land.

Henrik glaubte noch immer einem Hirngespinst verfallen zu sein. Es war einfach zu unwirklich. Es musste ein Traum sein. Aber er erwachte einfach nicht, wenn er sich in den eigenen Arm kniff. Folglich war es wider Erwarten doch real.

Fast jeder versuchte, während die Vorbereitungen zum Übersetzen auf den Kontinent im vollem Gange waren, die eigenen Schwächen auszumerzen und die Stärken auszubauen. Clay ging hinaus in den Wald, wo er sich am wohlsten fühlte, und versuchte seine Nahkampffähigkeiten zu verbessern. Nebula trainierte von früh bis spät den Kampf mit zwei Waffen, mit dem Ziel, eines schönen Tages Cerises großes Mundwerk mit ihnen zu stopfen. Henrik ließ sich vom Hofzauberer in der Kontrolle seiner Kräfte unterweisen. Auch wenn der Ursprung seiner Macht noch immer ein Rätsel war. Und Annemarie ließ sich ebenfalls die Zauberei näher bringen. Sie wollte auch aktiv helfen, weshalb Arngrimir sie Heilkunst lehrte. Nur die rothaarige Attentäterin sah einfach keinen Anlass, die Perfektion in Menschengestalt weiter zu verbessern.

Nach einem weiteren anstrengenden Tag, trafen sich die Prinzessin und der Handwerksgeselle oben auf der Dachterrasse des Palastes zum Sternegucken. Händchen haltend, saßen sie aneinander geschmiegt auf einer steinernen Bank und gaben sich dem oralen Austausch von Körperflüssigkeiten hin. Mehr als ausgiebiges Küssen war jedoch nicht drin. Henrik fürchtete auf das übelste massakriert zu werden, täte er zu weit gehen.

Aber Nebula quälte ihn zu gern!

Urplötzlich umschlang sie ihn und hievte sich auf seinen Schoß, bis sie mehr auf ihm lag als saß. Sie war vielleicht klein, aber nicht unbedingt leicht! Das zusätzliche Gewicht bekam Henrik sofort zu spüren. Die extra Last löste einen unangenehmen Druck in seiner Hose aus. Peinlich berührt hoffte er, dass sie es nicht bemerkte.

Doch Nebula sah ihn mit großen Augen an. “Kleiner Perversling!”, schimpfte sie ihn. Allerdings war der Klang ihrer Stimme frei von der üblichen Entrüstung, welche sie früher stets an den Tag legte. Daraufhin stützte sie sich links und rechts von Henrik an der Lehne der steinernen Bank ab und setzte sich kerzengerade auf. Der Braunhaarige versuchte der verlockenden Aussicht zu trotzen, welche sich nun vor ihm auftat. Es war jedoch hoffnungslos und sein Blick fiel hinein in das tiefe Tal ihres Ausschnitts. Henrik fragte sich, ob ihr Gewicht von den Teufelswaffen in ihrem Blut ausging oder doch ihre großen Brüste daran schuld waren.

Nebulas Zeigefinger fuhr unter sein Kinn und richtete sein Gesicht zu dem ihren aus. “Hier oben spielt die Musik!”

Der Braunhaarige sah sich außerstande ihrem verheißungsvollen Blick zu widerstehen. Seine Arme umschlossen den Körper der Prinzessin und pressten ihn ganz fest an den seinen. Dabei rutschten Henriks Hände immer weiter herunter, bis sie das Gesäß der Blondine umfassten.

Plötzlich fuhr Nebula hochrot im Gesicht auf, als habe sie etwas gestochen, und gab dabei Laute eines aufgeschreckten Huhns von sich. “Perversling!”, schimpfte sie, dieses Mal in gewohnter Tonlage. Im nächsten Moment hatte Henrik eine sitzen und ihm wurde klar, dass er jetzt zu weit gegangen war.

Bald darauf tat es Nebula schon wieder leid. “Vergib mir!”

Beide ließen peinlich berührt voneinander ab und beschlossen vorerst zum weniger offensiven Händchenhalten zurückzukehren.

 

Der Tag der Abfahrt rückte immer näher.

Nebula weigerte sich, ihrem Vater lebewohl zu sagen, denn sie beabsichtigte diesmal zurückzukommen. Außerdem hasste sie Abschiede wie die Pest! 

Die Gruppe musste nun aufbrechen. Das Ziel war der Hafen von Bonnamar, wo sie ein Schiff besteigen würden. Henrik bestand jedoch darauf, einen Umweg zu machen. Neben ihm begleiteten Nebula noch Annemarie, Clay und Cerise. Der Tross bestand unter anderem aus Clays Pferd und einem Karren. Das Gefährt transportierte eine Fracht, welche Nebula besonders am Herzen lag. Es war Carolines Sarg. Während sie den Kontinent erkundeten, wollte die Prinzessin nach einem Weg suchen, ihre Freundin zu retten. Sie musste sie stets bei sich wissen.

Nach etwa eineinhalb Wochen Reise erreichten sie den Ort, um den Henrik gebeten hatte: Bärenhag, seine Heimat. Der dichte Wald wirkte so friedlich. Doch Clay hob die Nase in die Luft. Irgendetwas war faul im Forst!

“Was habt Ihr?”, fragte Cerise, als der Jägersmann unverhofft stehen blieb.

“Ich rieche Blut!”, antwortete Clay.

Blut. Dieses Wort besaß die Macht auch den Rest der Gruppe zum anhalten zu bewegen.

“I-Ist jemand verletzt?”, fragte Henrik besorgt.

“Oje! Da müssen wir helfen!”, sprach Annemarie im gewohnt unschuldigen Gehabe. Die Aussicht das Gelernte einsetzen zu können, freute sie.

“Kannst du riechen, wo es herkommt?”, erkundigte sich Nebula.

“Es kommt von dort hinten.” Clay deutete auf eine Gruppe von Büschen.

“Lasst uns nachsehen!”, ermutigte Nebula.

Cerise zog einen Dolch, Clay spannte den Bogen und Nebula beschwor eine ihrer Teufelswaffen. Dann betraten sie die Büsche, während die anderen zurück blieben. Auf dem Boden entdeckten sie nach wenigen Schritten eine Spur aus geronnenem Blut.

“Ist das Menschenblut, Clay?”, fragte Cerise.

Der Waidmann bemühte seinen inneren Wolf, nahm einen tiefen Atemzug und verneinte. Sie folgten weiter der blutigen Spur. Vor ihnen tat sich eine gewaltige Lache auf, in der der Kadaver eines Braunbären lag. Sofort fiel ihnen auf, dass dem Tier etwas fehlte.

“Der Bär hat keinen Kopf!”, stellte Nebula fest.

Cerise sah genauer hin. “Und die Tatzen fehlen auch!”

“Vermutlich waren das Wilderer”, erklärte Clay.

“Ich bring sie um!”, drohte Cerise. “Unschuldige Tiere quälen.”

“Davon habe ich gehört. Bärenjagd ist im Fürstentum Bärenhag verboten”, verriet Nebula.

“Viele Hochwohlgeborene hängen sich gern Trophäen an die Wand, um von ihrem Jagdgeschick zu prahlen. Dabei haben sie noch nie einen Bogen in die Hand genommen.”

“Die bringe ich auch um!”, erweiterte Cerise den potentiellen Opferkreis.

Plötzlich spitzte Clay die Ohren. Ein verstörtes Wimmern hallte aus einem der Büsche. Als der Jäger näher kam, raschelten die Blätter und aus dem Wimmern erwuchs ein Brummen. Clay hockte sich vor den Busch und sprach dem Wesen gut zu, welches sich in ihm versteckt hielt. “Wir tun dir nichts!”

Vielleicht lag es an seinen Worten oder daran, dass auch in ihm ein Tier wohnte. Jedenfalls kam die Kreatur aus dem Busch heraus und zeigte sich. Es handelte sich um einen kleinen Bären. Ein Jungtier. Vermutlich gehörte der Kadaver, den sie just fanden, seiner Mutter. Vorsichtig entfernte sich Clay, indem er rückwärts ging. Der kleine Bär trat an den Körper des Muttertieres heran und stupste ihn unentwegt mit der Nase an.

“Es reicht! Ich bringe sie alle um!”, kommentierte Cerise. Der Anblick des verzweifelten Jungtieres war zu viel für die sonst so taffe Auftragsmörderin.

“Was machen wir mit dem Kleinen?”, fragte Nebula.

Erwartungsvoll sahen die beiden Frauen den Jäger an.

 

Henrik fand sich in der Gasse wieder, in der er einst gearbeitet hatte.

Die anderen waren noch einmal kurz aus den Büschen hervor gekommen und hatten ihn und Annemarie schon einmal vorausgeschickt. Danach waren sie wieder in ihnen verschwunden. Was sie dort trieben, behielten sie allerdings für sich. Er hatte sich derweil um alles gekümmert. Dem Pferd suchte er in einen Stall, er fand einen sicheren Platz für den Wagen mit Carolines Sarg und Annemarie brachte er schon mal in einem Gasthaus unter. Das Mädchen war in letzter Zeit öfters allein. Das würde schon funktionieren, da war er sich sicher. Für sich und die anderen mietete er ebenfalls Zimmer. Er nutzte seins, um sein Gepäck einzuschließen, damit er nicht alles durch die Stadt schleppen musste.

Nun stand er vor seiner ehemaligen Schmiede. Noch immer zierte ein Schild mit der Aufschrift ‘Zum glühende Hammer’ den Eingang. Der neue Besitzer schien den Namen nicht geändert zu haben. Henrik beobachtete die Mühen des kahlköpfigen Mannes in der braunen Schürze. Er hämmerte auf einem glühenden Eisen herum. Als er Henrik bemerkte, stellte er das Hämmern ein und blickte ihn grimmig an, als wolle er sagen “Was starrst du mich an, Bengel?!” Eingeschüchtert wendete sich der Braunhaarige ab. Als sich der Schmied nicht mehr beobachtet fühlte, setzte er seine Arbeit fort. Henrik ging weiter. Er wollte dringend jemanden besuchen.

 

Cerise, Clay und Nebula saßen auf Baumstümpfen an einem massiven Tisch, als der Jäger, dem sie den Vorfall gemeldet hatten, vor ihnen eine Karte ausbreitete. Im Zentrum der Zeichnung befand sich die Stadt Bärenhag, wie sie auf dem Hügel über das Land thronte. Umgeben wurde sie von Wäldern. Mehrere Stellen wurden durch rote Kreuze markiert. Annemarie würde bestimmt eine Schatzkarte vermuten, wäre sie hier, doch die Markierungen birgten mit Sicherheit keine verborgenen Reichtümer.

“Hier seht Ihr die Orte, an denen ich bereits tote Bären fand”, sprach der Waidmann.

“Und dahinter steckt ein einzelner Wilderer?”, erkundigte sich Clay.

“Ich habe nur ein Paar Fußabdrücke gefunden.”

“Aber wie kann ein Mann so viel wildern und dabei ungesehen bleiben?”, fragte Nebula.

“Das kann ich Euch nicht beantworten. Bestimmt ist er mit dem Teufel im Bunde!”

“Bei seinen Taten könnte man das bald glauben”, kommentierte Cerise.

“Was wird mit dem kleinen Bären?”, erkundigte sich Nebula.

“Ich kann Euch nicht versprechen, dass das Kleine durchkommt. In diesem Alter fressen sie zwar schon Fleisch, allerdings säugt die Bärin ihre Jungen bis zu eineinhalb Jahre. Ich kann es nur mit Fleisch füttern und beten, dass es überlebt.”

“Ihr kümmert Euch um den Bären und wir uns um den Wilderer.”

“Wo sollen wir mit der Suche beginnen?”, fragte Clay. “Er wird seine Beute sicher nicht auf dem Marktplatz veräußern.”

“Er vielleicht nicht, aber er könnte einen Mittelsmann einsetzen”, warf Cerise ein. “Ihr seid bestimmt nicht der einzige Jäger, hab ich nicht recht?” Sie sah den Mann am anderen Ende des Tisches an.

Ihr Gegenüber nickte.

“Ihr meint, ein anderer Jäger könnte sich durch den Verkauf von illegalen Jagdtrophäen etwas dazuverdienen?”, überlegte Nebula.

“Klar. Das funktioniert prinzipiell genauso wie Geldwäsche.”

“Und wie werden wir vorgehen?”, fragte Clay.

“Wir nehmen jeden unter die Lupe, der Jagdtrophäen verkauft.”

“Gut”, bestätigte Nebula. “Und sobald wir aus diesem Hehler herausbekommen haben, von wem er die Waren bezogen hat, suchen wir den Wilderer und-”

“- bringen ihn um!”, viel die Rothaarige ins Wort.

“Übergeben ihn der Stadtwache!”

Cerise wirkte daraufhin fast wie ein Kind, dem man das Spielen untersagt hatte.

Die drei verabredeten sich sogleich den Markt aufzusuchen.

 
 

🌢

 

Eigentlich wollte er nur einmal kurz ‘Hallo’ sagen, doch er wurde sofort dazu verdonnert, sich an den Tisch zu setzen. Nun wartete Henrik auf den berühmten Eintopf seiner Mutter. Derweil hatte sich sein Vater ihm gegenüber gesetzt und versuchte ihn mit seinen strengen Blicken zu durchbohren. “Wie ist es dir ergangen, Sohn?”, fragte der Vater.

“G-Gut!”, antwortete der Sohn verhalten.

“Schön!”

Während die männlichen Familienmitglieder karge Worte austauschten, stand die Mutter am Kessel, rührend und summend.

“Warst du schon bei der Schmiede, Sohn?”

“J-Ja, Vater!”

Der Mann sah dies als Einstiegspunkt, eine wahre Schimpftirade auf seinen Sohn niedergehen zu lassen. “Das du es nicht mal hinbekommen hast, sie zu verkaufen, ohne das ich helfen musste, beschämt mich! Wann wird aus dir endlich ein Mann?!”

Henrik sah unterlegen auf die Tischplatte.

“Schau mich an, wenn ich mit dir rede!”

Sofort gehorchte der Sohn.

“Du hattest kürzlich Geburtstag. Mit achtzehn Jahren solltest du keine Memme mehr sein! Was habe ich nur falsch gemacht?”

Geburtstag? Stimmt! Das war ihm komplett entfallen. Henriks Kopf sank. Er hatte nicht nur seinen Geburtstag vergessen, sondern es auch versäumt, ihn den anderen mitzuteilen. Kein Wunder, dass auch niemand sonst daran gedacht hatte!

“Ich sagte, du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede!”

Die stetig vorwurfsvollere Stimme seines Vaters ließ ihn erneut aufschrecken.

“Hast du auf deinen Reisen überhaupt irgend etwas erreicht, oder bist du nur zurückgekommen, um deine Füße wieder unter meinen Tisch zu stellen?!”

“I-Ich habe jetzt ein M-Mädchen!”, polterte Henrik los, ohne nachzudenken.

Ein lautes Platschen. Der Mutter war vor Schreck der Kochlöffel in den Kessel gefallen.

Der Vater musste sich auch erst einmal sammeln. “D-Du hast ein Mädchen?”, fragte er mit so viel Unglauben in der Stimme wie einhundert Ketzer.

“J-Jawohl, V-Vater!”

Derweil fischte die Köchin den Löffel mit hilfe eines weiteren aus dem Kessel heraus.

“Das ist löblich! Ist sie denn hübsch?”

“So hübsch wie eine Prinzessin”, prahlte der Braunhaarige.

“Wirklich? Willst du sie mir nicht vorstellen?”

“I-Ich...” Henrik wurde in diesem Moment klar, dass Nebula dem niemals zustimmen würde. Sie wollte nie unnötiges Aufsehen erregen, wenn sie in einer Stadt war. Schließlich sollte sie niemand durch Zufall als Tochter des Königs erkennen. Sie würde sicherlich für einen Antrittsbesuch bei den Schwiegereltern in spee niemals zur Verfügung stehen.

“Oder willst du mir einen Bären aufbinden?”

“D-Das würde ich niemals tun, V-Vater!”

“In der Tat. Dazu fehlen dir die Eier!”

“S-Sie ist eine Söldnerin. S-Sie hat bestimmt k-keine Zeit.”

“Was, eine Frau die kämpft? Was für ein Weib hast du dir denn da angelacht, Sohn?! Nun, vielleicht schafft sie, wo ich versagt habe, und macht einen Mann aus dir!”

Henrik traute sich nicht, etwas gegen seinen Vaters zu erwidern.

Plötzlich meldete sich die Mutter zu Wort, welche bisher geschwiegen und ihrem Gatten das Wort überlassen hatte. “Heute abend kommt Finja zu Besuch”, sagte sie. “Vielleicht kannst du dein Mädchen mitbringen?”

“Das ist eine hervorragende Idee”, lobte der Vater.

Henrik wusste, dass er nun ein Problem hatte. Wie könnte er Nebula dazu überreden? Vielleicht sollte er gar nicht kommen. Aber die Chance, seine große Schwester wiederzusehen, wollte er sich auch nicht entgehen lassen.

 

Kaum das sie den Markt von Bärenhag betraten, wurden Nebula und die anderen auch schon von den Krämern umworben. Die Bedeutung von persönlichen Freiraum hatten sie noch immer nicht verstanden. Nebula blickte kurz über den Marktplatz. Er war genauso überfüllt wie beim ersten Mal. Zusammen würde es bestimmt sehr lange dauern, alles abzulaufen und zu überprüfen. “Wir sollten uns trennen”, schlug sie daraufhin vor.

“Alles klar”, bestätigte Clay. “Ich nehme mir die Südseite vor.”

“Dann steige ich auf das Dach und verschaffe mir einen Überblick”, kündigte Cerise an und war bald darauf auch schon verschwunden.

Für Nebula blieb nur noch die Nordseite übrig, also ging sie los.

Nachdem sie sich eine Weile durch die Menschenmassen geschoben hatte, entdeckte sie einen Stand, an dem Felle und Trophäen verkauft wurden. Sie näherte sich und warf vorsichtig einen Blick auf die ausgestellten Waren. Sie konnte jedoch keine Körperteile von Bären ausmachen.

“Kann ich Euch behilflich sein?”, fragte der Verkäufer.

“Ich bin auf der Suche nach Trophäen von Raubtieren”, behauptete die unter ihrer Kutte verborgene Blondine. “Vielleicht könnt Ihr mir dabei behilflich sein.” Sie holte ihren prall gefüllten Goldbeutel hervor.

“Ihr seid ein Kenner.” Der Verkäufer sah sich mehrfach um. Dann bückte er sich, nur um sich mit dem präparierten Kopf eines Bären als Hehler erkennen zu geben. “Dieses schöne Stück wurde mir heute Mittag erst geliefert.

Nebula schmetterte den Sack auf die Fläche des Marktstandes, sodass das Holz nachgab. “Wollt Ihr mir auch verraten, wer Euch beliefert hat?”, fragte sie mit Nachdruck.

Dem Mann ging ein Licht auf. Er ließ das Präparat fallen und versuchte zu fliehen.

Nebula steckte schnell den Beutel wieder ein und nahm die Verfolgung auf. “Hiergeblieben, du Mistkerl!” Gewaltsam Leute beiseite schubsend, bahnte sich der Hehler seinen Weg zur Südseite des Marktes. Er war ausgesprochen schnell und wendig und Nebula hatte ohne Einsatz von Teufelskräften ihre Probleme, Schritt zu halten. Während der wilden Jagd viel ihre Kapuze herunter und die blonden Haare wehten im Wind. Gerade als sie glaubte ihn niemals einzuholen, entdeckte sie Clay. “Hey, Clay! Schnapp ihn dir!” Beinahe wäre ihr entfläucht “Fass!”...

Der Schwarzhaarige reagierte sofort und griff den Flüchtenden an.

Dieser wehrte sich jedoch, indem er von einem nahen Obststand die Schagen herunter riss und seinem Verfolger in den Weg schleuderte.

Clay stolperte über die Hindernisse und riss einen der Schaulustigen mit sich. Er rappelte sich anschließend wieder auf, aber der Hehler war schon zu weit weg. Als es gerade so aussah, als ob er entkommen würde, ging er plötzlich, getroffen von einem unverhofften Schlag, zu Boden.

Nebula und Clay sahen sich um.

Als ihr Blick schließlich auf ein Gebäudedach viel, entdeckten sie Cerise, welche mit einem Dachziegel in der Hand posierte und frech grinste, als wolle sie sagen “Erwischt!”. Dann stieg sie vom Dach herunter.

Die Drei versammelten sich um ihren Verdächtigen.

“Ob der nochmal aufsteht…”, zweifelte Nebula.

 

Am Abend saß Henrik am reichlich gedeckten Esstisch und wartete.

Es klopfte an der Tür und seine Mutter ging, um sie zu öffnen. Eine junge Frau und ein nicht mehr ganz so junger Mann traten ein. Es handelte sich um seine große Schwester Finja und ihren Gatten Aksel. Die Mutter umarmte ihre Tochter. Henrik hielt nichts mehr auf seinen vier Buchstaben und auch er umarmte Finja.

Wenig später saßen sie alle zusammen am Tisch und aßen.

“Wie geht es dir, Brüderchen?”, fragte die Brünette.

“G-Gut!”, antwortete dieser und stopfte sich sogeil wieder den Löffel in den Mund.

“Er hat jetzt ein Mädchen”, verkündete die Mutter stolz.

“Wirklich?”, freute sich Finja für das kleine Geschwisterchen. “Du wirst erwachsen.”

“Ich seh kein Mädchen”, zweifelte Aksel.

“S-Sie ist eine vielbeschäftigte Frau”, verteidigte sich Henrik.

“Natürlich ist sie das…”

Während sie weiter aßen, verblieb die Stimmung gedrückt. Henrik fragte sich, was diesen Tiefpunkt verursachte, als ihm auffiel, dass seine Schwester stets ihr linkes Auge mit ihrem dichten Haar bedeckte. “Was ist mit deinem Auge?”, fragte er daraufhin geradezu.

“N-Nicht!”, blockte Finja ab.

“Das geht Bengel wie dich nichts an!”, fauchte Aksel dazwischen.

Henrik entschied sich dazu, lieber zu schweigen.

Als Finja und Aksel gingen, brachte Henrik kurz darauf eine Ausrede hervor, um ebenfalls gehen zu können. Anstatt in den Gasthof einzukehren, wie er es behauptet hatte, folgte er seiner Schwester und ihrem Gemahl. Das fiel ihm nicht besonders schwer, denn er wusste genau wo sie lebten. Als sie in ihr Haus gegangen waren, schlich er sich an das Fenster und beobachtete das Geschehen.

Kaum das die Tür ins Schloss gefallen war, näherte sich Aksel seiner Frau an und bedrängte sie. “Lass das!”, forderte ihn Finja auf. Doch der Mann mit dem kalten Blick lenkte nicht ein. Er schmiss sich noch offensiver an sie heran. Finja stemmte sich mit Leibeskräften gegen ihn, doch sie war machtlos. “Nein!” Während sie sich gegen ihren Mann zur wehr setze, der nur eins von ihr wollen konnte, verrutschten ihre Haare und Henrik konnte deutlich die lilafarbene Augenhöhle erkennen. Aksel packte Finja, warf sie auf einen Tisch und begann ihr die Kleider vom Leib zu reißen. “Du bist mein Weib!”, schrie er. “Wenn ich es will, hast du die Beine breit zu machen!” Die verzweifelten Tritte seiner Frau mussten für ihn nichts weiter als lästige Mückenstiche sein. Er löste den Gürtel und öffnete seine Hose. Dann packte er ihre Unterschenkel und riss sie gewaltsam auseinander.

Henrik konnte nicht mehr länger untätig dabei zusehen und eilte zur Tür. Doch von Außen konnte er sie nicht öffnen. Er rüttelte und rüttelte, während die Schreie seiner Schwester immer lauter wurden. Als er schon verzweifeln wollte, kam ihm eine der Unterrichtsstunden des Hofzauberers in den Sinn. Er ließ von dem Knauf ab, stellte sich in sicherem Abstand vor die Tür und streckte seine Hand aus. Nun befreite er sich von allen störenden Gedanken - so schwer es ihm in dieser Situation auch fiel - und konzentrierte sich nur noch auf das Hindernis zwischen ihm und seiner Schwester. Der Knauf drehte sich allmählich und endlich sprang die Tür auf. Im nächsten Moment drang Henrik in das fremde Haus ein, zerrte Aksel von seiner Schwester herunter und verpasste dem gewalttätigen Kerl eine. “N-Nimm deine dreckigen H-Hände von meiner Schwester!”, schrie er.

Aksel taumelte etwas benommen von dem Schlag.

Sofort wandte sich Henrik seiner Schwester zu, deren Kleider vollkommen zerrissen waren. “Was hast du getan?!”, fragte sie Henrik entsetzt. Trotzdem ihr Ehemann sie offenkundig mishandelte, nahm sie ihn noch in Schutz. “Das hier ist allein mein Problem!”

“Ist es nicht!”, wies der Bruder zurück. “D-Dazu hat er nicht das Recht!”

Derweil rappelte sich Aksel wieder auf. “Hab ich nicht?!”, fragte er ungehalten. “Finja ist mein Weib. Sie hat mir zu gehorchen!” Dann setzte er seinen gewohnt kalten Blick auf. “Was dich angeht, du Bengel… Du bist in mein Haus eingebrochen und hast mich geschlagen. Dafür sollte man dich in Ketten legen! Aber ich habe eine viel bessere Idee. Wir werden das wie echte Männer klären! Ich fordere dich zum Duell!” Es war durchaus üblich und gesellschaftlich akzeptiert bei gekränktem Stolz ein Duell zur Wiedergutmachung zu verlangen. Doch unter diesen Umständen war es blanker Hohn. ”Wir kämpfen morgen um zwölf auf dem Markt.”

 
 

🌢

 

Als der nächste Morgen anbrach, hatten Nebula und die anderen endlich die Informationen, welche sie benötigten. Der Hehler hatte gesungen wie ein Vögelchen.

Sie begaben sich sofort in die Wälder, wo Clay aufgrund seines Geruchssinns einen Bären vermutete. Es dauerte nicht lange, bis er einen Kothaufen und ein paar Pfotenabdrücke fand. Diese Spuren bewiesen, dass sich tatsächlich ein solches Raubtier herumtrieb. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Aussicht auf fette Beute den Wilderer anlocken würde, und er sich an dem Bären vergehen tät, war immens. Also legten sie sich in sicherem Abstand zu Meister Petz auf die Lauer und warteten darauf, den Kriminellen zu stellen. Während Clay und Nebula auf dem Boden verblieben, zog es Cerise in die Baumwipfel.

Ein Platschen ertönte, als ob jemand ins Wasser getreten wäre. Cerise sah sich um und entdeckte, dass eine schlammigen Pfütze kurz ausgehöhlt wurde, wie von einem unsichtbaren Stiefel.

Clay hatte das Geräusch ebenfalls vernommen und Nebula das Signal zum Angriff gegeben. Gemeinsam umzingelten sie mit gezogenen Waffen die Stelle, an der sie die in den Schatten wandelnde Person vermuteten. Clay konnte ihn riechen und Nebula fühlte die Anwesenheit einer Teufelswaffe. Auch wenn sie beide niemanden sehen konnten, wussten sie genau, dass dort jemand war.

Plötzlich spürte Nebula einen heftigen stoß und anschließend stechenden Schmerz im Bauch, der ihr die Knie weich werden ließ. Bevor es sie zu Boden zwang, entließ sie geistesgegenwärtig ihre Waffe und griff in die Luft. Tatsächlich bekam sie etwas zu fassen, wodurch sich der Angreifer während seiner feigen Flucht aus der Unsichtbarkeit heraus schälte, wie aus einem Mantel. In Nebulas rechter Hand materialisierte sich derweil ein schwarzer Umhang, welchen sie demonstrativ in die Höhe hielt, während sie mit der linken ihren Bauch bedeckte.

Clay zielte mit gespannten Bogen auf den Wilderer, welcher sich, verzweifelt über den Verlust seiner Tarnkappe, mit erhobenem Messer den Weg freikämpfen wollte. Aber noch bevor Clay den Pfeil loslassen konnte, stürzte sich Cerise aus dem Geäst auf sein Ziel und schlitzte dem Wilderer die Kehle auf. Als sie sich ihres Opfers entledigte und es, eine Fontäne aus Blut hinter sich herziehend, zu Boden ging, steckte Clay den Pfeil zurück in den Köcher, sichtlich erleichtert, niemanden töten zu müssen.

Beide widmeten ihre Aufmerksamkeit nun wieder der verwundeten Nebula, welche jedoch schon wieder auf beiden Beinen stand. Auf ihrer linken Hand befand sich zwar schwarzes Blut, doch die Wunde schien bereits wieder verheilt zu sein. “Was denn?”, beantwortete sie die besorgten Blicke der anderen. “Sowas bringt mich nicht um.”

“Was ist das für ein Ding?”, fragte Clay.

Nebula sah den merkwürdigen Stoff in ihrer Hand an. Obwohl er unverdächtig in der leichten Brise tanzte, war es keinesfalls ein einfaches Kleidungsstück. Sie ließ ihr Blut eine Resonanz mit dem Gegenstand eingehen und erkannte, das dies die Teufelswaffe war, welche sie zuvor gespürt hatte.

 

Ein schwarzer Urwald aus turmhohen Bäumen, deren Stämme teilweise so dick waren, dass es zehn Mann benötigen würde, sie zu umfassen, erhob sich aus der endlosen Ebene. Durch ihn streifte eine Bestie. Auf ihren vier samtigen Pranken schlich die katzenartige Kreatur durch das Dickicht und beäugte misstrauisch den kleinen See in der Mitte einer Lichtung. In ihm badete eine eine weibliche Gestalt mit langen weißen Haaren. Sie schien ganz unbeeindruckt von der Gefahr aus dem Blattwerk zu sein. Eine Tatsache, welche die Bestie sichtlich erregte.

Langsam schritt die Frau aus dem See heraus und auf magische Weise bedeckte sich ihr blasser Körper mit einem roten Kleid.

Verstört senkte die Bestie den Kopf und erhob unter drohendem Knurren einen Katzenbuckel. Jeden Schritt, den die Frau nach vorn tat, wich die Bestie einen zurück.

“Du brauchst keine Angst zu haben, Nummer einhundertsieben”, versicherte die Frau. “Du machst dich bestimmt gut in meiner Sammlung.”

 

Alsbald zersetzte sich der Umhang zu einer schwarzen Masse und sickerte in ihren Körper hinein. Nachdem die Verschmelzung abgeschlossen war, kehrte Nebulas Augenfarbe zu ihrem gewohnten Blauton zurück. “Das ist Shadowsheath”, erklärte sie. “Er verleiht seinem Träger tagsüber die Fähigkeit, in die Schatten einzutauchen und unsichtbar zu werden.”

“Wäre das nicht etwas für Euch, Cerise?”, fragte Clay.

“Was?!”, entrüstete sich Rothaarige. “Ich habe solche billigen Hilfsmittel nicht nötig!”

Vorsichtig trat Nebula an die Leiche des toten Mannes heran. “Musstet Ihr in gleich töten?”, fragte sie Cerise.

“Ich halte meine Versprechen”, prallte die Rothaarige. Das sie es nur getan hatte, um Clay das Töten eines Menschen zu ersparen, durfte schließlich keiner wissen.

“Und was machen wir jetzt mit dem da?”

“Wir lassen ihn liegen und von den Krähen fressen.”

“Das haben die nicht verdient!”

“Wir sollten dem Jäger berichten, dass wir den Wilderer gestellt haben”, erinnerte Clay.

Die Frauen stimmten zu und gemeinsam berichteten sie von ihrem Erfolg.

 

Gegen Mittag begaben sich Nebula, Clay und Cerise auf die Suche nach Henrik. Als sie zuvor zurückkehren, hatte Annemarie ihnen berichtet, dass er am Abend zuvor sagte, zum Duell herausgefordert worden zu sein. Nebula machte sich große Sorgen. Und Vorwürfe, da sie die ganze Nacht bei dem Hehler gewesen war und auf sein Erwachen gewartet hatte, anstatt Henrik diese Dummheit auszureden! Auf dem Marktplatz entdeckten sie eine große jubelnde Menschenansammlung. Gemeinsam drängten sie sich zwischen den Schaulustigen hindurch und sahen ihren Begleiter inmitten eines improvisierten Ringes.

Henrik stand Aksel mit gezogenem zitterndem Schwert gegenüber. Der Gatte seiner Schwester richtete ebenfalls eine Waffe auf ihn. Diese zitterte allerdings nicht. So bedrohten sie sich nun schon eine ganze Weile, ohne das etwas passierte. Das Publikum forderte lautstark, das Zagen einzustellen, und endlich mit dem Kampf zu beginnen.

Ein Duell auf Leben und Tod zwischen zwei erwachsenen Männern war zwar durchaus konform mit geltendem Recht, doch ein solch drastischer Schritt wurde selten gemacht. Drum war jeder dieser Kämpfe ein Ereignis. Es gab für gewöhnlich auch einen Schiedsrichter, welcher die Rechtmäßigkeit des Sieges bezeugen sollte. Dieses Mal wurde darauf offenbar verzichtet.

“Dieser Bengel hat mich vor meiner Frau beschämt!”, beschuldigte Aksel.

“E-Er schlägt meine Sch-Schwester!”, verteidigte sich Henrik.

Es gehörte ebenfalls dazu, die Missetaten des Kontrahenten anzuprangern.

Der Braunhaarige sah in die Menschenmenge und entdeckte zu seiner Überraschung Nebula und die anderen. Der Anblick seiner Herzensdame erfüllte ihn mit einer angenehmen Wärme und verlieh ihm das Gefühl, Bäume ausreißen zu können. “An ihr v-vergangen hat er sich!”, setzte er anschließend fort.

“Ein Weib hat zu gehorchen!”, tönte Aksel.

Allein für diese Aussage wäre Nebula am Liebsten selbst in den Ring gesprungen, um dem Arschloch höchstpersönlich den Hals umzudrehen.

“H-Halt dein Maul!”

“Dann komme endlich ran auf einen Meter und stopfe es!”

Eine Einladung, der Henrik nur allzu gern nachgekommen wäre. Aber er konnte es sich nicht leisten, übermütig zu werden. Vorsichtig begann er seinen Angriff.

Aksel parierte und stieß seinen Gegner zurück.

Henrik behielt das Gleichgewicht und wehrte den Gegenschlag ab.

Die Kontrahenten traten auseinander und umkreisten sich.

“Selbst Finja schlug härter zu, als ich sie nahm!”

“H-Halte endlich dein v-verkommenes Maul!” Aksel schien genau zu wissen, welche Knöpfe er drücken musste. Nun verlor Henrik doch die Fassung. Haltlos stürmte er auf den Gewalttäter zu und prügelte wütend mit seinem Schwert auf ihn ein. Aksel wehrte jedoch alle Angriffe ab und trat Henrik lachend in den Magen, woraufhin dieser sein Schwert fallen ließ und rückwärts torkelte.

“Was machst du denn da, du Idiot?!”, rief Nebula enttäuscht aus der Menschenmenge. So hatte sie es ihm nicht beigebracht!

Siegessicher kam Aksel näher. “Sei froh, dass ich deiner Schwester befohlen habe, zuhause zu bleiben”, stichelte er. “Ihr geflenne, wenn ich ihren nichtsnutzigen Bruder aufschlitze, will auch keiner hören!”

“Der ist jetzt Mode!”, kommentierte Cerise.

Diese Aussage regte Nebula zusätzlich auf. Sie konnte nicht mehr länger ruhig bleiben und wollte eingreifen, nur um von Clay daran gehindert zu werden. “Lass mich!”, befahl sie ihm. “Ich muss Henrik helfen!”

“Nein!”, verweigerte Clay. “Das ist sein Kampf.”

“Aber er wird ihn umbringen...” Sie wusste selbst nicht, was mit ihr los war. So krank vor Sorge hatte sie sich selten gefühlt.

“Vertraue Henrik zur Abwechslung ein bisschen!”

“Na gut!”

Zufrieden nahm Clay den Arm herunter.

Aksel hob sein Schwert, um Henrik mit ihm zu erschlagen.

Nebula schloss die Augen und faltete die Hände, als wolle sie beten.

Henrik sah seine Waffe und streckte die Hand nach ihr aus. Doch er konnte sie nicht erreichen. War es das jetzt für ihn? Nein, er würde nicht so einfach aufgeben! Noch einmal konzentrierte er sich, wie in der Nacht zuvor.

“Zeit aufwiedersehen zu sagen!”

Im letzten Moment gehorchte Henriks Klinge seinem Willen und rutschte die wenigen Zentimeter zu seiner Hand über den Boden, sodass er sie greifen und Aksel parieren konnte. Anschließend rollte er sich zur Seite und stand dabei wieder auf.

“Wie hast du das gemacht?!” Aksel hatte genau gesehen, dass sich das Schwert von Geisterhand zu Henrik bewegt hatte. “Was für ein mieser Trick war das?!”

In den Zuschauerrängen atmete Nebula erleichtert auf. Was hatte sie auch erwartet? Es war nicht das erste Mal, dass Henrik mit mehr Glück als Verstand dem Tod von der Schippe sprang. Sie konnte sich also getrost darauf beschränken, ihn anzufeuern.

Derweil ging der Kampf zwischen den Duellanten weiter.

Während ihres Gerangel wechselten sie mehrfach die Richtung, als sie die Klingen kreuzten und die Funken sprühten. Mit lautem Klirren entschied sich der Kampf, als eines der Schwerter seinem Träger im hohen Bogen entglitt und sich meterweit entfernt in den Boden eingrub. Triumphierend sah der Sieger auf den Besiegten herab.

Henrik hatte gewonnen.

Er bedrohte seinen wehrlosen Gegner mit ausgestreckter Waffe. “Schwörst du, meine Schwester fortan anständig zu b-behandeln?”, fragte er Aksel. Als dieser erst nicht reagierte, streckte Henrik das Schwert noch näher an dessen Hals heran.

Scheinbar einsichtig, hob Aksel die Hände. “Ja, ich schwöre es!”, bestätigte er anschließend. “Aber bitte verschone mich!”

“Sch-Schön! Dann betrachte dein Leben a-als verschont. Aber wenn du meiner Schwester nur ein Haar krümmst, b-bringe ich dich um!” Henriks Augen funkelten vor Selbstsicherheit, wie man es zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte. Er steckte sein Schwert an seinen Bund und begab sich zu seinen Freunden.

Hinter ihm wollte jemand die Schmach seiner Niederlage jedoch nicht ertragen. “Dieser Bengel schreibt mir vor, wie ich mit meinem Weib umzuspringen habe!”, grämte der Besiegte, und zückte ein Messer. Aksel war außer sich vor Wut. Erst beschämte dieser Nichtsnutz ihn vor seiner Frau und nun vor versammelter Anwohnerschaft. Das sollte er bereuen! Er stürmte auf Henrik zu, mit der Absicht ihn hinterrücks zu erstechen. Die unzähligen Zeugen dieser ehrlosen Tat waren ihm egal.

Nebula reagierte blitzschnell. “Runter!”, befahl sie.

Ohne zu hinterfragen, gehorchte Henrik und warf sich flach auf dem Boden.

Nebula stürmte nach vorn, ergriff Aksels Schwert, welches nicht weit von ihr im Boden steckte, und stieß es wie einen Wurfspeer seinem Besitzer entgehen. Ehe sich dieser versah, bohrte sich auch schon die Klinge seines eigenen Schwertes in den Brustkorb und trat, begleitet von einem Blutschwall, aus seinem Rücken wieder aus. Die Wucht des Aufpralls riss Aksel sofort zu Boden. Entsetzt zuckte das Publikum zurück. Henrik blickte sich erschrocken um und konnte gerade noch mit ansehen, wie sein Gegner tot zusammenbrach.

“Ehrloser Bastard!”, beschimpfte Nebula den Erschlagenen.

 

Dank der unzähligen Schaulustigen, welche Aksels ehrlosen Mordanschlag bezeugten, blieben Nebula die Konsequenzen ihres Eingriffs erspart. So konnte die Gruppe ihren Weg unbehelligt fortsetzen. Eine unangenehme Aufgabe blieb jedoch. Henrik musste seiner Schwester erklären, warum ihr Mann nicht mehr wiederkommen würde.

Obwohl er sie stets wie Dreck behandelte, schlug und missbrauchte, wann immer ihm danach war, brach Finja dennoch in Tränen aus. Sie fiel vor ihrem Bruder auf die Knie und umklammerte ihn. Kein Wort verließ ihre Lippen. Sie weinte einfach nur. Und für eine lange Zeit tat sie nichts anderes. “Wie konntest du nur?!”, warf sie Henrik schlussendlich vor und begann kraftlos auf ihn einzuschlagen. “Wie konntest du mir das nur antun?!” Trotz allem schien sie Aksel dennoch geliebt zu haben.

Henrik konnte das nicht verstehen, aber ihm wurde klar, in welche Lage er seine Schwester gebracht hatte. Auch wenn er ihn nicht getötet hatte und es auch niemals getan hätte, klebte sein Blut an seinen Händen. Nur weil er sich schon wieder retten lassen musste, fand Aksel durch Nebulas Eingreifen den Tod. Und ohne ihren Mann, der die Brötchen verdiente, würde seine Schwester bald dazu gezwungen sein, schmutzige Arrangements einzugehen, um an Geld zu kommen. Aksel leistete sich zwar ein Schwert, ein reicher Mann war er aber nie gewesen. Henrik hatte die Ehre seiner Schwester nicht verteidigt, damit sie sie jetzt auf der Straße beschmutzen musste, nur weil sie ohne Einnahmen dastand. Darum überzeugte er Nebula, Finja einen Teil der Reisekasse zu übergeben. Seine Schwester nahm es, ohne sich zu bedanken. Sie sah Henrik an, wie den Mörder ihres Ehemanns. Für sie trug er die Schuld an Aksels Tod. Er hätte diesem Duell niemals zustimmen dürfen! Das Gold, welches er seiner Schwester gab, würde es nicht ungeschehen machen, ihr aber gewiss helfen, eine Weile über die Runden zu kommen. Henrik hoffte, sie würde es eines Tages verstehen und ihm vielleicht verzeihen. Mit einem beklemmenden Druck in seiner Brust, machte sich Henrik zusammen mit den anderen auf den Weg. Von seinen Eltern verabschiedete er sich gar nicht erst. Ihm stand nicht der Sinn danach, sich auch von ihnen Vorwürfe anhören zu müssen.

 

Mit Pferd, Wagen und Sarg durchquerten sie das Stadttor, als sie von einem der Torwächter angehalten wurden. Wollte man sie doch noch belangen? Henrik erkannte den Mann sofort. Es war der gleiche, welcher ihn an jenem Tag schon aufgehalten hatte, als er Nebula in den Wald folgte. Der Wächter beäugte den jungen Mann. “Du!”, wunderte er sich. “Dich kenne ich doch! Sag, hast du dein Mädchen bekommen?”

Henrik war überrascht, dass sich der Mann noch immer daran erinnerte. Seitdem er Bärenhag verließ, mussten unzählige andere hier vorbeigekommen sein.

Plötzlich sprang die zuvor mit Annemarie auf dem Wagen sitzende Nebula herunter und riss sich die Kapuze vom Kopf. “Ja, das hat er!”, verkündete sie und trat an Henrik heran, nur um ihn vor aller Augen leidenschaftlich zu küssen. Es war ihr gerade völlig egal, vielleicht erkannt zu werden. “Und heute hat er mich stolz gemacht!”, fügte sie anschließend an.

Henrik war in diesem Moment so unfassbar glücklich, dass sie öffentlich zu ihm stand, er hätte die Ereignisse von heute Mittag um ein Haar vergessen und zufrieden sterben können. Er fand keine Worte, um seine Gefühle zu beschreiben.

Die Zügel haltend, bewunderte Clay noch immer sein erfolgreiches Kupplerhandwerk, während Cerise sich schon gelangweilt fragte, wann die zwei es endlich hinter sich bringen und übereinander herfallen würden.

Nachdem der Wachmann sie durchgewunken hatte, konnten sie ihre Reise nach Bonnamar, zur größten Hafenstadt von Morgenstern, fortsetzen.

“Übrigens”, sagte Henrik auf einmal ganz unverfroren, nachdem sie schon eine Weile unterwegs waren. “Ich hatte kürzlich Geburtstag.”

Nebulas entsetzt langgezogenes “Was?!!” war kilometerweit zu hören

Abschied von Morgenstern


 

🌢

 

Spät am Abend kehrte Lenhardt in der Taverne ‘Zum goldenen Trinkhorn’ ein. Dieses Etablissement kam seinem Stammlokal gleich, täte man heutige Maßstäbe anlegen. Nach drei Monate anstrengender Verwaltungsarbeit im Strafdienst seines Vaters hatte er endlich wieder etwas Zeit, um sich zu vergnügen. Dazu verabredete er sich mit seinen drei besten Freunden Glenn, German und Vilkas auf ein Bier. Oder vielleicht eher zehn. Das wäre zumindest nicht das erste Mal, dass er derart über die Stränge schlug.

Dieses Mal wollte er sich jedoch beherrschen. Drei Monate ohne Spaß waren ihm Strafe genug! Das brauchte er nicht noch ein zweites Mal. Und sein Vater, der Fürst, würde sich sein Lotterleben sicher nicht länger bieten lassen. Immerhin war er sein einziger Erbe.

Kaum das er den Türrahmen durchschritt, erspähte Lenhardt bereits die anderen, wie sie sich um einen großen runden Tisch versammelt hatten. Auf der Platte befanden sich bereits mehrere Krüge. Offenbar hatten sie die Frechheit besessen, schon einmal ohne ihn vorzuglühen! Das konnte er sich nicht bieten lassen! Zur Strafe würde er sie heute Nacht alle unter den Tisch saufen. Einem nach dem anderen!

“Ey, nu gucke ma da!”, begrüßte ihn German freudig und sprang dabei geradezu von seinem Hocker auf. “Ham se Euch och ma wieda rausgelasn?” Er war etwas roh behauen, aber eigentlich eine treue Seele. Mit etwa sechsundzwanzig noch sehr jung für den Zunftmeister der Wagenbauer.

“Ihr lasst es verlauten, als käme ich frisch aus dem Zuchthaus, German!”, erwiderte der Fürstensohn.

“Dre Monade ken Bier und kene Weiber! Und dann noch orbeiten. Das is doch Knast!”

Unterdessen war Lenhardt schon an den Tisch herangetreten und machte es sich auf dem übrig gebliebenen freien Hocker bequem. “Wo Ihr Recht habt, habt Ihr Recht, mein Freund.”

“Was hat seine Majestät Euch tun lassen?”, fragte Vilkas interessiert. Sein Metier war das als schmutzig verrufene Geschäft des Zuhälters. Seine Mädchen erfreuten Reisende aus ganz Morgenstern mit ihren Reizen.

“Ich musste Zollbescheide durchsehen.” Lenhardt müsste bei dem Gedanken daran schon genervt stöhnen. “Vor allem jene zum benachbarten Fürstentum Bärenhag.”

“Ihr Armer.”

“Hey”, meldete sich Glenn zu Wort. “Warum besorgt Ihr unserem geschundenen Freund nicht etwas Beischlaf, Vilkas?” Glenn ging keiner Arbeit nach. Er war einfach nur der Sohn des größten Verpächters von Lagerhäusern in ganz Güldenburg. Solch altkluges Gerede war ganz typisch für ihn.

“Lasst mal gut sein. Ich will meinen Vater nicht erzürnen.” Daraufhin hob er den Arm zum Bestellen. “Lasst mich euch stattdessen bestrafen, da Ihr euch erdreistet habt, ohne mich mit dem Saufen zu beginnen.”

 

Mit dem Verstreichen der Stunden wurde nicht nur der Abend zur Nacht, sondern aus heiterem Trinken ein Gelage. Lenhardt brach das Wort, welches er seinem Vater gab, und trank ohne Unterlass, bis es ihm vom Hocker riss. Unsanft weckte ihn ein kalter Schwall Wasser aus dem Wischeimer des Tavernenbesitzers. “Aufstehen!”, tönte die sonore Stimme des älteren Mannes.

Schlaftrunken schreckte Lenhardt auf.

“Hier unten wird gesoffen und nicht gepennt! Wenn Ihr voll seid, mietet ein Zimmer!”

“Mir brummt der Schädel!”, gab der Betrunkene von sich.

Das Gelächter seiner Freunde, welche um ihn herum standen, machte es nicht besser.

“Uns alle undern Disch saufn?! Das ich nich lache!”, spottete German.

“Vielleicht beim nächsten mal”, tönte Vilkas.

“Euer Vater hat ganze Arbeit geleistet, Lenhardt”, meinte Glen. “Ihr vertragt ja überhaupt nichts mehr!”

Vorsichtig richtete sich Lenhardt wieder auf.

Nachdem der erste unter dem Tisch lag, meinten die Freunde, dass es genug für einen Abend war und beschlossen nach Hause zu gehen. Gemeinsam verließen sie die Taverne und machten sich auf den Weg. Nach der ersten Kreuzung wurden sie auf einmal von einer Gruppe von Frauen umschwärmt.

“Hallo ihr süßen”, sprach eine.

“Sind das Eure Mädchen?”, fragte Glenn.

“Überraschung!”, antwortete Vilkas.

“Ihr seid en Deufelskerl!”, lobte German.

Nur in Lenhardts Kopf drehte es sich so sehr, dass ihn die leichten Mädchen zuerst gar störten, als dass er das Geschenk seines Freundes zu schätzen wissen konnte.

“Ich habe gedacht, unser Freund hat so lange keinen Spaß mehr gehabt, dann schenke ich ihm etwas.” Während Vilkas’ Worten schmiegte sich eine der Huren an ihn. “Allerdings ist es unfair, wenn nur er auf seine Kosten kommt. Also habe ich uns allen eine mitgebracht.”

“Was ist denn?”, wurde Lenhardt von einer der anderen Prostituierten gefragt. “Findest du mich nicht hübsch?”

Erst jetzt sah er sie sich genauer an. Sie war sehr dünn, schien aber trotzdem eine attraktive Form unter ihren Gewändern zu verstecken. Dann bemerkte er ihre ausgefallene Haarfarbe und fragte sich, ob der Gerstensaft es ihn halluzinieren ließ oder ob ihre Haartracht tatsächlich diesen Ton aufwies. “Bin ich besoffen, oder sind die Haare von dieser hier wirklich blau?”, fragte er seinen Freund.

“Ihr seid besoffen, mein Freund”, antwortete Vilkas. “Aber auch mit ihren Haaren habt Ihr Recht. Sie ist mein neuester Zugang. Kommt aus den Fluoreszierenden Wäldern. Dort haben sie die seltsamsten Haarfarben. Muss irgendwas im Wasser sein. Mensch oder Elf, die sehen dort alle so komisch aus.” Dann musste er grinsen. “Seit wann achtet Ihr auf die Haare einer Frau? Zieht es Euch nicht für gewöhnlich sofort zur Brust?”

“Ach haltet doch Euer Maul!”

 

Die Freunde waren in Begleitung der Huren in einem von Vilkas’ Bordellen abgestiegen und wollten die Gesellschaft genießen. Ehe sich Lenhardt versah, war er auch schon mit der Blauhaarigen allein. Das seine Wahl auf sie fallen würde, überraschte niemanden. Immerhin mochte er exotische Frauen. Seine letzte Geliebte war eine kaffeefarbene Tänzerin aus Yjasul und man erzählte sich, er solle es sogar schon mit einer Barbarin gehabt haben. Als sie gemeinsam in das Zimmer eintraten, schloss die Prostituierte die Tür hinter ihnen ab und begann sogleich ihr Tagewerk zu verrichten und ihn zu verführen.

Die dreimonatige Abstinenz vom weiblichen Geschlecht, welche ihm der Vater auferlegte, hatten ihn völlig ausgehungert. Nach anfänglichem zögern, ob er es wirklich tun und den Willen seines alten Herren missachten sollte, konnte er sich nicht mehr länger zurückhalten und begann sein Gegenüber auf die bereits freigelegten Körperpartien zu küssen. Dabei arbeitete er sich langsam vom rechten Schlüsselbein abwärts.

Die Hure legte ihre Hände in Lenhardts Nacken und presste seinen Kopf an ihre Brust und manövrierte sie beide zum Bett. Im nächsten Moment fand sich der Blaublüter in der Horizontalen wieder, mit der Blauhaarigen auf ihm sitzend. In quälte sein Verlangen, sie sofort zu nehmen, doch sie gehörte anscheinend nicht zu der Sorte, welche nach Minuten abrechnete. Stattdessen nahm sie sich die Zeit, ihn zuerst mit einem Vorspiel zu erfreuen. 

Lenhardt war dem nicht abgeneigt. Er hielt wenig von billigen Straßenschlampen, welche sich in schmutzigen Ecken bespringen ließen, wie Köter von Flöhen. Wenn er eine Liebesdame aufsuchte, sollte sie schon Klasse haben!

Die Prostituierte beugte sich herunter, um Lenhardt einen Kuss zu geben.

Ihr Freier erkannte ihre Absicht und kam ihr zuvor. Alsbald sich die Lippen trafen, verspürte er eine merkwürdige Taubheit, ignorierte es jedoch. Doch schon nach wenigen Momenten erfasste seinen ganzen Körper eine Lähmung und er verlor die Kraft sich aufrecht zu halten. Er kippte nach hinten und die Hure ließ ihn zurück auf das Laken fallen, wie einen Stein in einen Brunnen. Er wollte sprechen. Nein, er wollte schreien! Doch es ging nicht. Sein Mund, seine Kehle, seine Stimmbänder, alle versagten ihm den Dienst.

Die Blauhaarige erhob sich von seinem Schoß und bekleidete sich wieder. “Falls Ihr Euch wundert, was mit Euch ist”, sprach sie, “wisst, dass Ihr vergiftet worden seid.” In aller Seelenruhe kehrte sie ihm den Rücken, denn sie wusste, er stellte keine Bedrohung mehr für sie da. Mit einem Lappen putzte sie sich die giftige Farbe von den Lippen. Dann wandte sie sich noch einmal ihrem Opfer zu. “Falls Ihr Euch fragt, warum, so seid beruhigt. Keiner Eurer Freunde hat Euch hintergangen. Es ist nichts persönliches. Einzig eine Lektion für Euren verehrten Herrn Vater.” Nach diesen Worten öffnete die gedungene Mörderin das Fenster und entschwand in die Finsternis.

Derweil fühlte Lenhardt sein Bewusstsein dahinschwinden. Sein Schicksal sollte erst am nächsten Morgen seinen nichts ahnenden Freunden den Schreck ihres Lebens bescheren.

 

Über die Dächer springend, verließ derweil die geheimnisvolle Fremde den Schauplatz des Verbrechens und anschließend die Stadt. Sie streifte durch die Nacht und nur der Mond war ihr Geleit, bis sie einen abgelegenen Platz erreichte, an dem sie Tags zuvor ein Zelt errichtete, um nun hier Zuflucht zu finden.

Plötzlich erfüllte ein lautes Krächzen die Dunkelheit.

Die Frau mit den blauen Haaren sah nach oben und entdeckte einen pechschwarzen Raben mit drei rot glühenden Augen, welcher langsam zu ihr herab segelte. Sie bot ihm den linken Arm dar und die Kreatur setzte zur Landung an. Um den Hals des Vogels war ein Band gewickelt, an welchem ein zylinderförmiges Behältnis angebracht war. Sogleich öffnete die Frau das Behältnis und entnahm eine Nachricht.

“Livia,

Medea sandte mir eine Vision.

Seit geraumer Zeit wird deine Schwester vermisst.

Die quälende Ungewissheit macht unsere Mutter

krank vor Sorge.

Ich, die Matriarchin, befehle dir aus diesem Grund,

im Namen unserer Mutter nach dem verlorenen

Kind zu suchen und es Heim zu bringen.

Um dir diese Aufgabe zu erleichtern, habe ich die

letzten bekannten Informationen zu ihrem Verbleib

zusammen getragen.

Mögest du unsere Mutter mit Stolz erfüllen,

die Matriarchin.”

Sogleich nachdem das Schreiben in Rauch aufgegangen war, verfasste Livia ihre Antwort und schickte sie mit der düsteren Brieftaube auf Reisen.

 
 

🌢

 

Der langgezogene Ton des Horns kündigte den Fischkutter an, dessen schmale Form schon bald wie ein Speer durch den dichten Küstennebel stieß. Geisterhaft war zuerst nur der Schatten zu sehn, als das kleine Schiff aus der trüben Suppe auftauchte. Auch wenn man ihn nicht sehen konnte, so verriet der Ozean, welcher sich hinter der weißen Wand versteckt hielt, seine Präsenz durch den Geruch nach Salz und angespülten modrigen Seetang. Je weiter man sich jedoch vom Pier entfernte und hinein in die Stadt ging, desto klarer wurde die Sicht. Die Sonne hatte sich hinter grauen Wolken verkrochen und weigerte sich auf die Erdbewohner herab zu lächeln, weshalb sie den Morgendunst, welcher über dem Meer entstand, selbst nachmittags noch nicht aufgelöst hatte.

An jenem trübseligen Tag erreichten Nebula und ihre Begleiter die Hafenstadt Bonamar.

Müde und erschöpft von der weiten Reise sehnte sich Nebula bereits nach einem gemütlichen Bett. Doch zuvor mussten sie die Einzelheiten der Überfahrt nach Eldora mit dem Kapitän der Esmeralda klären, welcher sie schon erwarten musste. Bald schon wurde die Luft gefühlt dicht wie Haferschleim und Nebula sah ihren Namensvetter die Formen der im Hafen liegenden Schiffe verschlingen. Zu ihrem Glück wusste sie genau, wo ihr Schiff vor Anker gehen sollte und konnte die anderen führen.

Während sie durch die Straßen von Bonamar gingen, schaute sich Annemarie um, die wieder auf dem Wagen neben dem Sarg saß. Sie entdeckte inmitten des Dunsts zwei bemitleidenswerte Gestalten, welche in einer Ecke an einer Hauswand vor sich hin vegetieren. “Was ist denn mit denen los?”, fragte das Mädchen interessiert.

Clay beäugte die Fremden kritisch und setzte seinen Geruchssinn ein. Er erschrak fast, über deren entsetzlichen Gestank. Die Männer hatten sich mindestens einen Monat lang nicht gewaschen und rochen nach Urin und Erbrochenen. “Ich weiß es nicht, aber sie riechen wie Iltisse!” Doch sollte er die armen Tiere derart beleidigen?

“A-Aber wer liegt denn mitten am Tag einfach so in e-einer Gasse herum?”, grübelte Henrik während er sie ebenfalls nicht aus den Augen ließ.

“Beachtet die einfach nicht!”, riet Cerise. “Die haben mit sich selbst zu tun.”

“Was meint Ihr damit?”, wollte Nebula in Erfahrung bringen.

“Es gibt Dinge auf den Straßen, die wollt Ihr nicht wissen, Prinzesschen.”

Cerises provokante Nutzung dieses ungeliebten Kosenamen ließ Mordlust in Nebula aufsteigen. Doch sie entschied sich das Halbblut vorerst nicht zu erdolchen und ein wenig weiterleben zu lassen. Sie konnte immerhin noch nützlich sein. Dann sah Nebula sich weiter um und entdeckte immer mehr erbärmliche Gestalten in den Straßen, welche ihr zuvor nicht aufgefallen waren. Als ob das, was sie nicht wahrhaben wollte, nicht existierte. Wieso fristeten so viele Menschen in Bonamar ihr Leben auf der Straße?

Mit voller Mannschaft, Pferd und Wagen erreichten sie den Dreimaster, welcher sich nur allmählich vor ihren Augen aus dem Dunst hervortat, wie ein Geheimnis, das um jeden Preis gewahrt werden musste. Eine Holzrampe ermöglichte nicht nur den Einstieg für die Passagiere sondern auch das Beladen des Frachttransporters mit Hängern, Wagen oder sogar kleineren Kutschen. Direkt vor dem mittleren Mast befand sich ein mit eisernen Gittern verschlossener Zugang in den Bauch des Schiffes, groß genug, um Wagen samt Pferd den Durchgang zu ermöglichen.

Doch bevor sie das Schiff betreten konnten, stellten sich ihnen Soldaten in den Weg.

Nebulas Blick viel auf den Kapitän der Esmeralda, welcher nicht weit stand und ebenfalls von den Männern umringt von der Arbeit abgehalten wurde. “Was ist hier los?”, fragte sie den Mann.

Mehr als ein Achselzucken brachte der alte Seebär nicht zustande.

“Der Hafen ist abgeriegelt”, verkündete eine Stimme aus der weißen Wand, deren Besitzer erst allmählich sichtbar wurde, als er sich auf die Gruppe zubewegte. “Schiffsreisen sind bis aufs weitere ausgesetzt!”

“Warum?!”, echauffierte sich die Blondine. “Wer hat das entschieden?”

“Ich. Als Kommandant der Wache war es meine Ermessensentscheidung!”

“Wir haben das königliche Siegel. Für uns gilt dies bestimmt nicht!”

“Und was will der König tun? Der sitzt seinen fetten Arsch in Ewigkeit breit und weiß nicht einmal, was hier los ist!”

“Was erlaubt Ihr Euch in diesem Ton über den König zu sprechen?!”

Der Kommandant ging nicht darauf ein.

“W-Was ist hier geschehen?”, erkundigte sich Henrik.

“Hat das mit den Leuten zu tun, die auf der Straße liegen?”, platzte Annemarie drauf los.

“Die sind auch nicht zu übersehen”, kommentierte Cerise.

“Tut nicht so, als ob Ihr von unseren Sorgen wüsstet!”, pustete der Kommandant.

“Ich muss nicht so tun.”

“Vielleicht wollt Ihr uns aufklären”, schlug Clay vor.

“Feenstaub.”

“W-Was?”, wunderte sich Henrik.

“Och, echt jetzt?!”, quietschte Annemarie vor kindlicher naiver Entzückung.

“Das ist eine Droge, die Dich nach einem Schuss schon erbarmungslos ruiniert”, begann der Mann aus dem Nebel zu erklären, als er die Freudenrufe des Kindes hörte. “Du wirst an nichts anderes denken können. Der ganze Tag wird sich darum drehen mehr Stoff zu beschaffen, bis Du eines Tages zu viel nimmst und jämmerlich in der Gosse verreckst.”

Ängstlich drückte Annemarie ihr Märchenbuch ganz fest an sich, als ob es die Macht hätte, sie vor den bösen Worten des Mannes zu bewahren.

Nachdem er die Wirkung seiner ausführlichen Schilderung kurz bewundern konnte, fügte er noch einen weiteren Satz an. “Du willst diesem Feenstaub ganz bestimmt nicht zu nahe kommen, Mädchen!”

“Ihr habt ein Drogenproblem?!”, hinterfragte Nebula vorwurfsvoll.

“Wir werden der Lage nicht mehr Herr. Hilfe von Hofe erwarte ich nicht, denn der Lord hat auch schon aufgegeben. Ich und meine Männer können nicht überall sein. Darum haben wir den Hafen abgeriegelt. Ich vermute, dass diese Droge vom Kontinent kommt.”

“Ich und meine Leute könnten sich der Sache annehmen”, bot Nebula an.

“Ihr und Euer Haufen? Ein Mädchen, ein Junge, ein Halbblut und ein Muskelberg?”

“Hey!”, schritt Cerise ein. “Nichts gegen seine Muskeln!”

“Ihr wollt schaffen, was fünfhundert Mann nicht gelungen ist?”

“Ich liebe Herausforderungen!” Nebula blickte ihn voller Überzeugung an. “Werdet Ihr den Hafen öffnen, sobald wir die Quelle der Drogen gefunden haben?”

Der große Mann fühlte sich von der schmächtigen Frau seltsam klein. “W-Wenn Ihr das tatsächlich schafft, soll es nicht Euer Schaden sein.”

Ehe sie sich versah, hatte die Söldnerin bereits einen neuen Auftrag.

 

Eine halbe Ewigkeit versuchte ein mittelalter Bauer schon seinen Wagen aus dem Schlamm zu ziehen. “Verfluchtes Drecksteil!”, schimpfte er. Nichts ahnend war er diesen Weg entlang gefahren. Doch was erst aussah wie eine kleine Pfütze, entpuppte sich als riesiges mit Wasser gefülltes Schlagloch. Der Bauer kam sich vor wie ein Kaninchen in der Hasenfalle. Das Rad wollte sich einfach nicht lösen. Als er kurz davor war, seine Beherrschung endgültig zu verlieren und gegen die Karre zu treten, kreuzte eine verhüllte Gestalt seinen Weg.

“Kann ich Euch behilflich sein?”, fragte die fremde Person, als sie stehen blieb. Sie besaß eine kreideweiche glockenklare Stimme, sodass der Bauer davon ausging, mit einer Frau zu sprechen. Sie führte einen massiven Stab mit sich, welcher vermutlich zur Selbstverteidigung gedacht war. Unter der Kapuze blitzte eine bläuliche Haarsträhne hervor.

“Ich stecke fest, verfluchte Scheiße!”, schimpfte der Mann weiter.

“Wollt Ihr meine Hilfe nun oder nicht?”

“Ja, kommt schon her!”

Die Fremde ging zum Karren hin und zerrte einen der Säcke herunter.

“Hey, was macht Ihr mit dem Saatgut für nächstes Frühjahr?!”

Unbeeindruckt platzierte sie den prall gefüllten Sack am Ende des Wagens. Anschließend führte sie ihren Stab unter das Gefährt und nutzte die Hebelwirkung mit dem Saatgut als Angelpunkt, um den Wagen anzuheben.

Endlich verstand der Mann und gab seinem Pferd einen Klaps, sodass es sich ein paar Schritte bewegte. Im nächsten Moment war er aus seiner misslichen Lage befreit. “Habt vielen Dank! Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?”

“Nicht dafür”, antwortete die ihm unbekannte Person und wandte sich ab, um zu gehen. “Wobei…”, sagte sie, als sie abrupt stehen blieb. “Hat zufällig eine Gruppe junge Leute Euren Weg gekreuzt, guter Mann?”

Der Bauer grübelte. “Hm… na ja…” Dann ging ihm ein Licht auf. Durch den Ärger mit dem Wagen, wäre es ihm beinahe entfallen. Ein paar Stunden zuvor traf er ein paar Leute, welche auf die Beschreibung passten. ”Ja! In der Tat!”

“Wo sind sie hingegangen?”

“Immer der Straße nach.” Er deutete auf die in der Ferne erkennbaren Stadtmauern. “Sie meinten, sie wollten nach Bonamar.”

“Vielen Dank, Ihr habt mir sehr geholfen.” Die Fremde setzte ihren Weg fort.

Der Bauer sah ihr noch einen Moment nach, bis er sich seiner eigenen Verpflichtungen besinnte, den Sack zurück auf den Wagen hievte und anschließend weiter fuhr.

 

Ein rhythmisch quietschendes Geräusch aus dem Zimmer über ihr stahl Nebula den Schlaf. Ein Hämmern, welches bis tief in ihre Träume eindrang. Sie hätte Henrik nicht das Mieten der Räume im Gasthaus überlassen, sondern es selbst machen sollen. Dann wäre sie jetzt nicht diesem Krach ausgesetzt. Wie konnte er die Zwei nur über ihr einmieten?! Verzweifelt versuchte sie ihre Ohren mit dem Kissen zu stopfen, was jedoch keinen Erfolg hatte. Als zusätzlich Staub aus den Ritzen der Holzverkleidung an der Decke auf sie herab rieselte und das Stöhnen immer lauter wurde, war für sie die Grenze endgültig überschritten.

Ein Blick zur Seite offenbarte ihr, dass Annemarie wieder einmal tief und fest schlief. Wie macht sie das nur, grübelte die Blondine.

Im Raum darüber brannte noch immer Licht. Clay stellte seine Männlichkeit unter Beweis, indem er Cerise seine immense Stoßkraft spüren ließ. Dabei suchte er halt am Bettpfosten während sie ihre Beine über seine Schultern legte. Während sich die Ladung in ihren Körpern aufstaute und sie dem Punkt ohne Wiederkehr immer näher schienen, wurde alles um sie herum unwichtig. Nur auf sich selbst und den Partner konzentriert, bemerkten sie nicht das Klopfen aus dem Zimmer unter ihnen, das ihre übermäßige Lautstärke anprangerte. Im Gegenteil: Der Geräuschpegel intensivierte sich immer mehr bis sie urplötzlich ein lautes Krachen aus dem Konzept brachte. Verstört ließen sie voneinander ab und wandten sich der Quelle zu. Clay hatte sich ganz Gentlemen vor Cerise geworfen und sie schaute über seinen Rücken.

Zwischen Staubwolken ragte nahe dem Bett ein schwarzer Speer aus dem Boden, an dessen Spitze heftig Blitze zuckten. Im nächsten Moment versank die Teufelswaffe wieder im Boden, gefolgt von Nebulas wütendem Ausruf: “Ruhe da oben! Ich will schlafen!”

Verdutzt starrten die sich zuvor noch heftig Liebenden auf das im Boden zurückgebliebene Loch. Dann mussten sie beide laut auflachen.

“Wir waren wohl zu laut…”, stellte Clay fest.

“Die ist doch nur neidisch!”, behauptete Cerise.

“Manche Menschen nutzen die Nacht auch zum schlafen.”

“Sie soll sich jemanden suchen, mit dem sie schlafen kann. Dann muss sie uns wenigstens nicht den Spaß verderben.”

“Ihr seid wieder einmal unmöglich!”

“Ich weiß!” Die Rothaarige umschlang ihn von hinten und drehte seinen Körper zu ihr, nur um sich anschließend zurück in den Sattel zu schwingen. “Was haltet Ihr davon, wenn wir dort anknüpfen, wo wir frech unterbrochen wurden?”

“Keine Einwände von meiner Seite.” Gemeinsam setzten sie das Liebesspiel fort.

Diesmal jedoch etwas leiser.

Licht fiel durch das Loch in der Decke in den Raum darunter.

Nebula wurde klar, dass sie sich mit ihrer Aktion ein Eigentor geschossen hatte. Nicht nur, dass ihre Begleiter noch immer rammelten wie eine Steininsel, durch das Loch war es lauter als zuvor. Entnervt schlug sie die Bettdecke zurück. Nebula trug ein verziertes Nachthemd. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, es aus ihrem Kleiderschrank im Schloss zu entnehmen, bevor sie aufgebrochen waren. Ebenfalls begleiteten sie ihre geliebten Pantoffeln, welche sie sogleich suchte und ihre Füße mit ihnen bedeckte. Hier war es unmöglich Schlaf zu finden! Vorsichtig stand sie auf, um Annemarie nicht zu wecken und schlich sich davon.

Doch das Mädchen hatte es längst bemerkt.

 

Lautes klopfen ließ Henrik beinahe aus dem Bett fallen.

Nachdem er erst verwirrt und schlaftrunken auf dem Boden saß, kam er wieder zur Besinnung und ging zur Tür. “Ich komme schon”, versicherte er der Person dahinter. Er rechnete damit, dass Annemarie ihm erneut ärgern wollte. Das wäre immerhin das dritte Mal in dieser Nacht. Aber er kam ins Grübeln. Vielleicht hatte sie einfach Angst im Dunkeln? Nein, das konnte nicht sein. Immerhin schlief sie zusammen mit Nebula. Sicherer konnte sie bald nicht mehr sein.

Das Klopfen wurde immer Lauter.

“W-Wenn du mir wieder Streiche spielst, versohle ich dir den Hintern!”, drohte der Braunhaarige und öffnete die Tür. Sicher ein Kind hinter ihr vorzufinden, sah er nach unten, nur um anstatt den Kopf seiner Verdächtigen eine von samtigen Stoff bedeckte gewaltige Oberweite zu sehen. 

“Versuch’s doch!”, sprach eine vertraute Stimme.

“H-Hallo Nebula!”, grüßte er seine Freundin.

“Könntest du vielleicht die Freundlichkeit besitzen, ein Stück weiter rauf sehen?!”, echauffierte sich die Prinzessin.

Erst jetzt wurde Henrik bewusst, dass er noch immer auf ihre Brüste glotzte. “E-Entschuldigung!” Sofort schnellte sein Kopf empor. “W-Was machst du hier zu dieser unsäglichen Stunde?”

Nervös begann Nebula mit ihren Haaren zu spielen. “K-Kann ich b-bei dir schlafen?”, fragte sie daraufhin.

Henriks Kiefer sank wie eine Falltür in ein Kellerverlies. Sofort wurde er rot wie ein Liebesapfel. Er konnte kein Wort mehr hervorbringen.

“I-Ich m-meine, i-ich…” Auch Nebulas Gesichtsfarbe wechselte. “C-Clay und Cerise treiben es w-wie die Kanickel. I-Ich kann nicht schlafen. D-Darum bitte ich um Asyl für die Nacht. Wirst du es mir gewähren?”

“N-Na-Na-Natürlich!”, Henriks aufgeregtes Stottern erschwerte das Verständnis seiner Worte ungemein.

“I-Ich m-meine…” Das Spiel mit den Haaren wart nicht mehr genug, sodass die Blondine nun hektisch atmete und rhythmisch ihre Zeigefinger zusammenstieß. “W-Wir könnten auch ein wenig k-kuscheln. A-Aber n-nicht mehr!” Nebulas Stimme erhob sich urplötzlich. “A-Also lässt du mich jetzt rein?”

“J-J-Ja! K-Komm herein!” Henrik geleitete sie in sein Zimmer. Anschließend streckte er seinen Kopf und sah verstohlen in den Flur, als fürchtete er bei etwas ertappt zu werden. Als er sich sicher war, dass es niemand gesehen hatte, schloss er die Tür.

 

Erschöpft sank Cerise auf die Brust ihres Liebhabers herab und gab ein zufriedenes Seufzen von sich. Clay legte seinen Arm auf ihren Rücken. Dann bemerkte er, dass sie sofort eingeschlafen war und dabei seinen Oberkörper als Kissen verwendete. Sanft streichelte er nun über ihre offenen leicht zerzausten Haare.

Die in die Finsternis der Nacht gehüllte Livia hockte auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses und war Zeugin des Liebesspiels zwischen Clay und Cerise geworden. “Das ist also dein neustes Spielzeug, liebe Schwester”, sprach sie hinein in die Düsternis, bevor sie sich in selbige zurückzog.

 

Langsam ließ die lähmende morgendliche Müdigkeit in ihren Gliedern nach und Nebula erwachte aus ihrem Schlaf. Bei dem Gedanken daran, vor dem Terror des wildgewordenen Kaninchenstalls über ihr reißaus genommen zu haben, zierte ihr Gesicht ein schwaches Lächeln. Ein Anblick mit Seltenheitswert. Ihre Augen suchten derweil nach ihrem Fluchthelfer. Wo war der Junge abgeblieben? Sie schlug die Bettdecke zurück und richtete sie sich auf. Ihr Blickwinkel veränderte sich und auf dem Fußboden vor dem Bett kam ein Körper zum vorschein. Es war Henrik! War ihm etwas zugestoßen? Nebula beobachtete und wartete auf eine Regung, welche auch prompt kam, als er sich zur Seite drehte und lautstark Luft einsog. Offenbar stellte der Fußboden sein Nachtlager dar.

Die Blondine musste einen Moment in ihrem Oberstübchen graben, ehe sie sich an die Geschehnisse erinnerte, welche zu diesem Ergebnis führten.

Mitten in der Nacht klopfte sie an die Tür von Henriks Zimmer und erbat Einlass. Natürlich machte der verliebte Gockel keinerlei Anstalten, ihr den Zutritt zu verwehren. Die Aussicht seine Gefühle auszuleben, war einfach zu verlockend. Gemeinsam nahmen sie an dem kleinen Tisch Platz und unterhielten sich. Belanglose Dinge. Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Doch schon bald standen sie vor einem großen Problem: Es gab nur ein Bett im Raum und ihre Beziehung war dafür eindeutig nicht weit genug fortgeschritten! Zumindest wenn es nach ihr ging.

Trotzdem wolle sie ihn keineswegs von sich wegstoßen.

Darum entschied sie sich letztlich, das gegebene Versprechen von vorher einzulösen und mit ihm Zärtlichkeiten auszutauschen. Vom Küssen wurde schließlich niemand schwanger. Dazu bedarf es schon etwas mehr Einsatz, ähnlich dem, welchen ihre Freunde eindrucksvoll und lautstark gezeigt hatten. Es grenzte sowieso an ein Wunder, das Cerise noch nicht kugelrund geworden war, so oft wie sie und Clay ihre Leidenschaft auslebten. Wenn Nebula und Henrik ausschließlich brav beieinander lägen, um die Nähe des anderen zu genießen, wäre daran nichts verwerfliches.

Irgendwann waren sie zusammen eingeschlafen. Plötzlich weckte Nebula ein paar Hände, welches sich an Stellen herum trieb, an denen es nichts verloren hatte. Der arme Henrik wusste nicht wie ihm geschah, als ihn ein beherzter Tritt, begleitet von einem Ausstoß von Empörung, aus dem Bett beförderte. “Perversling!” Dabei hatte er bis eben noch geträumt. Von kugelrunden, großen, fluffig weichen Schäfchenwolken. Gefangen in seiner Imagination, war er nicht für die Irrwege seiner Extremitäten zur Verantwortung zu ziehen.

Oder etwa doch?

Sicherheitshalber entschied Nebula, dass nur einer das Bett benutzen würde. Und dass sie dieser Jemand ist. Sie machte es sich im fremden Bett bequem, während Henrik mit dem Fußboden vorlieb nehmen musste.

Jetzt sollte sie ihn allerdings wecken. Schließlich stand ein arbeitsreicher Tag bevor.

 

Die Gruppe saß an einem Tisch im Versammlungsraum ihres Gasthauses und starrte auf ein Pergament, welches eine per Hand skizzierte Zeichnung der Stadt abbildete. Sie war nicht besonders detailreich, allerdings genügte es, um die einzelnen Stadtviertel voneinander zu unterscheiden und die markantesten Orte von Bonamar hervorzuheben. Dies jedoch mehr schlecht als recht und unter Einsatz von viel Fantasie. Kreuze kennzeichneten die Flecken, an welchen man nicht einmal bei Tageslicht verweilen wollte.

“Woah!”, staunte Annemarie. “Sind da so viele Schätze versteckt?” Das Mädchen hatte es sich nicht nehmen lassen die anderen zu begleiten, obwohl sie bei der Missionsbesprechung überhaupt nichts verloren hatte.

“Geh lesen!”, ging Cerise Annemarie an. “Du nervst!”

“Dort verbreiten sie diesen Schmutz!”, kommentierte Clay.

“Der Hauptmann war so freundlich, uns eine Karte der Stadt bereitzustellen”, erklärte Nebula. “Diese Orte sind Umschlagplätze für Feenstaub.”

“Hat der die Karte etwa selbst angefertigt?”, fragte Cerise abfällig. “Das hätte selbst unsere Annemarie besser hinbekommen.”

“Hey, du bist gemein!”, beschwerte sich die Kleine.

“Ich würde mir mehr Details wünschen.”

“Das Leben ist kein Wunschkonzert!”, funkelte Nebula.

“Wie sieht dieses Mal der Plan aus?”, erkundigte sich Clay.

“Wir werden vorgegeben Drogen zu kaufen und uns die Drogenhändler einzeln zur Brust nehmen. Irgendeiner wird schon singen.”

“Wenn wir rumrennen wie geleckt, nehmen die schon Reißaus, wenn sie uns nur kommen sehen!”, merkte die Attentäterin an. “Wenn Ihr nicht auffallen wollt, solltet Ihr Euch genauso zerlumpt kleiden, wie das Gesindel auf den Straßen.”

“Danke für den Hinweis, Fräulein Kirschrot!”, spie Nebula zynisch aus. “Darauf bin ich tatsächlich allein gekommen. Ich habe Henrik geschickt, alte Kleidung zu besorgen. Er müsste jeden Moment zurück kommen.”

Wie auf ein Stichwort betrat besagter Braunhaariger die Bühne - oder eher die Taverne. Er trug einen großen Sack, welcher augenscheinlich bis zum Bersten mit alten Kleidern gefüllt war. Er schwitzte stärker als sonst und wirkte wie neben der Spur.

“Da ist er schon.”

“Hoffentlich sind die Lumpen nicht verwanzt”, nörgelte Cerise.

“Schweigt! Auf ihn ist wenigstens verlass!”

Henrik trat an den Tisch heran und stellte den Sack auf dem Boden ab. Danach griff er sich einen Stuhl und ließ sich erschöpft auf ihn sinken.

Derweil hob Clay seinen Bierkrug an, welchen er bis dato kaum Beachtung geschenkt hatte, und setzte zum trinken an.

“Bist du deshalb gestern Nacht zu ihm gegangen, Nebula?”, fragte Annemarie unbedarft.

Erschrocken spuckte der Schwarzhaarige den Hopfensmoophy zurück in das Gefäß und begann zu husten. “Wie Bitte?!”

“Ach deshalb sieht der Junge so fertig aus”, stichelte Cerise.

“N-N-Na-Na-Nein!”, wies Nebula hektisch winkend von sich. “S-So ist das nicht!” In dem Bewusstsein, die anderen könnten tatsächlich glauben, dass sie mit Henrik unzüchtig geworden seien, wollte sie im Boden versinken.

“Ich hab es nebenan ganz laut poltern gehört!”

“D-D-Das ist doch gar nicht wahr!” Nebulas Stimme erreichte mit Leichtigkeit eine höhere Tonlage, als sie weiter alles abstritt.

“Wir waren so gut, es war direkt ansteckend”, schlussfolgerte das Halbblut.

“Im Gegensatz zu Euch, habe ich meine Keuschheit bewahrt.”

“Seit Ihr jetzt stolz darauf, eine verklemmte Traditionalistin zu sein?”

“Ich bin was?! Haltet Euer vorlautes Mundwerk!” Die Prinzessin wandte sich dem Handwerker zu. “S-Sag doch auch Mal etwas dazu, Henrik!”, forderte sie.

Alle Augen waren alsbald auf den Gesellen gerichtet. Hungrige Blicke drohten ihn auf der Suche nach Antworten zu verschlingen. Doch der sich angestrengt die Stirn haltende hatte keine für sie parat. Stattdessen kippte er zur Seite und fiel vom Stuhl. Sofort sprangen die anderen von den ihren auf, um ihm zu helfen.

 
 

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Langsam kam Henrik wieder zur Besinnung. Seine Augen öffneten sich erst einen engen Spalt, welcher sich langsam weitete, bis sie vollständig aufgeschlagen waren. Er starrte die Decke an. Eine unangenehme Erinnerung an sein einst verletztes Knie stieg in ihm auf, wurde jedoch sofort vertrieben, als Nebulas Gesicht in sein Blickfeld eindrang.

“Wie geht es dir?”, erkundigte sie sich nach seinem Befinden.

“Was ist passiert?”, versuchte Henrik zu ergründen.

“Du bist plötzlich umgefallen und warst ganz heiß. Wir haben dich hinauf getragen und dir ein Paar Wadenwickel gemacht.”

“D-Danke”, honorierte Henrik. “Wo sind die anderen?”

“Cerise und Clay sind bereits in die Stadt aufgebrochen. Annemarie habe ich nach kühlem Wasser geschickt.”

“Sieht so aus, als könnte ich doch noch in einem Bett schlafen”, sprach der Braunhaarige und lächelte dabei.

Nebula versetzte es einen schmerzhaften Stich. Schließlich war sie es, welche ihn aus dem Bett geworfen und dazu verdammt hatte, auf dem kalten Steinboden zu schlafen. Sie ergriff seine Hand und lächelte ihm zu. “Keine Angst, Henrik. Ich bleibe hier.” In diesem Moment öffnete sich die Tür und Annemarie zwängte sich mit einem großen Eimer Wasser hindurch, welchen sie kaum tragen konnte. Sofort ließ Nebula Henriks Hand wieder los und tat eiligst so, als ob sie sie niemals berührt hätte.

Das Mädchen stellte ihren Ballast ab.

“Geh ruhig!”, ermutigte Henrik. “Du solltest den anderen helfen. Sonst kommen wir hier niemals weg!”

“Bist du dir sicher?”

“Klar.” Der Junge lächelte erneut. “Ich habe doch eine niedliche Pflegerin, die auf mich aufpasst.”

“Danke, Henrik”, strahlte der laufende Meter.

“Na gut!” Die Blondine erhob sich von ihrem Stuhl und ging zur Tür. Bevor sie hindurch schritt, sah sie noch einmal zurück. “Entschuldige”, flüsterte sie. Allerdings so leise, dass er es womöglich gar nicht gehört hatte. Danach ließ sie Henrik hinter sich und begab sich auf die Suche in den dunklen Gassen.

 

Es war ein Leben in den Schatten. An diesen Ort kamen für gewöhnlich keine rechtschaffenen Bürger. Was sich hier blicken ließ war der Bodensatz der Gesellschaft. Menschen, die ihr Leben nicht mehr ohne den nötigen Kick aushalten konnten. Warum sollte man mit diesen gescheiterten Existenzen Mitleid haben? Diese Rechtfertigung schoss durch den Kopf der dunklen Gestalt, welche in jener heruntergekommenen Ecke darauf wartete, zuzuschlagen und die Süchtigen mit gestreckten Rauschmittel auszunehmen.

Offenbar näherte sich schon die nächste Gelegenheit.

Eine blasshäutige Frau in abgerissenen Kleidern kam auf den Mann zu. Sie konnte nur eins von ihm wollen, also eröffnete er sogleich das Verkaufsgespräch. “Willst du was haben?”, fragte er plump und geradezu.

Eine zitternde Hand streckte sich ihm entgegen, welche einen kleinen Beutel hielt. “H-Hier!”, sprach sie. “I-Ich brauche was!” Dabei rutschte unter dem Ärmel ihres linken Arms ganz zaghaft die Klinge eines Dolches hervor, ohne das ihr Gegenüber eine Chance hatte, dies zu bemerken.

Der Mann öffnete seinen Mantel und kramte seinerseits einen kleines Paket hervor, in welchem sich mutmaßlich die Drogen befanden. “Das hier ist der neuste Stoff!”, pries er seine illegale Ware an. Dann verstaute er das Paket wieder in seinem Mantel und streckte die Handfläche aus. “Doch zuerst das Gold!” Kurz bevor der Beutel den Besitzer wechseln konnte, ließ die Fremde ihn jedoch unverhofft fallen. Er stürzte zu Boden und beim Aufprall löste sich das Bändchen und offenbarte, das nur kleine Steine in ihm waren. Während sich der Drogenhändler noch fragte, wieso er an der Nase herum geführt wurde, vollführte die Frau eine Halbdrehung, welche ihr die Kapuze vom Kopf wehte. Rote Strähnen tanzten im Luftzug der Bewegung. Ein lautes Klingen ertönte, als das aus dem Hinterhalt auf sie geschleuderte Wurfgeschoss vom Dolch in ihrer linken Hand abprallte.

Der Verdächtige nutzte diese Ablenkung, um sich aus dem Staub zu machen. Doch er kam nicht weit, da er buchstäblich gegen die ausgestreckte Faust von Clay rannte, als er um die Ecke abbog. “Hier geblieben, Freundchen!”, sprach der Jäger.

Derweil sah sich Cerise, deren Verkleidung sie nicht mehr zu verbergen vermochte, einem wohl bekannten Gegner gegenüber. “Du!”, stieß sie aus.

Auf dem Dach eines Hauses stand eine blauhaarige Frau, ähnlich gut bewaffnet wie sie. “Was haben wir denn da?!”, kommentierte die Fremde und sprang über Geländer und Vorsprünge etappenweise auf ebenen Boden. “Das verlorene Kind unserer Mutter!”

Cerise nahm Kampfhaltung ein. “Was willst du hier, Livia?!”

 

Nebula wirkte wie ein Kieselstein unter vielen, als sie gehüllt in den alten Lumpen, die Straßen unsicher machte. In den Drogen-Slums von Bonamar, Viertel in denen die Stadtwache angesichts des Verbrechens kapituliert hatte, bewegte sie sich unbeachtet von den Augen der rechtschaffenen Bürger. Auf sie wirkte sie wie eine weitere gescheiterte Existenz. Aus sicherer Entfernung beobachtete sie einen Verdächtigen, wie er krumme Geschäfte mit buckligen Gestalten in Klamotten machte, welche noch verranzter waren als die ihren - wie auch immer dies möglich war. Dieser Mann musste einer der Rauschgifthändler sein. Und bei diesem Ansturm würde er früher oder später Nachschub besorgen müssen. Sie wollte ihm folgen und sich so zum Versteck der Drogen führen lassen. Mit dem neuesten Zugang in ihrem Arsenal sollte dies kaum ein Problem darstellen.

Endlich trat das erwartete Ereignis ein und der Verdächtige setzte sich in Bewegung.

Nebula folgte ihm. Als er in eine Gasse einbog, tat sie es ihm gleich. Plötzlich zerrte etwas an ihrem Mantel. Die Blondine wandte sich der Quelle des Zugs zu.

Sie erspähte die dürren Finger einer abgemagerten Kindes. Es hatte graue Haare und wirkte verbraucht. Die typischen Nebenwirkungen des Feenstaub. “Hast du ein bisschen Geld für mich?”, bettelte die erbärmliche Gestalt.

Nebula sah sie kurz mitleidig an. Der Gedanke, das selbst Kinder Opfer des Feenstaub wurden, machte sie rasend. Verärgert über die ganze Situation riss sie sich los. Während sie an einem weiteren Gammler vorbei ging, entledigte sie sich der Lumpen, welche sie über ihrer normalen Kleidung trug. Anschließend streckte sie den rechten Arm aus und beschwor ihr Gewand der Verstohlenheit. “Verberge in den Schatten, Shadowsheath!” Sie hüllte sich in dem dämonischen Umhang ein und wurde sofort unsichtbar.

“Das Zeug hat es in sich!”, kommentierte der Gammler, welcher bei diesem Anblick glauben musste, noch immer berauscht zu sein.

Dank ihrer Tarnung konnte Nebula ungesehen näher zu ihrem Ziel aufschließen.

Der Mann schien im Zickzack durch Bonamar zu laufen, als wüsste er, dass man ihm auf den Fersen war. Vielleicht war dies seine übliche Vorgehensweise, um potentielle Verfolger profilaktisch abzuschütteln. Doch bei ihr half ihm das nichts!

Nach mehreren Kreisen wurde Nebula endlich zum Zielpunkt geführt. Mitten am Hafen befand sich ein vermeintlich leer stehendes Lagerhaus. Paranoid sah sich die Zielperson immer wieder um, doch die Unsichtbare hinter ihr blieb verhüllt in den Schatten. Der Mann kramte in einer Tasche und holte einen Schlüssel hervor, mit dem er sogleich die massive Tür entsperrte und anschließend aufstemmte.

Eine Gelegenheit, welche Nebula nicht ungenutzt verstreichen ließ. Geschickt schlüpfte sie an dem Mann vorbei hinein in den Innenraum und versteckte sich hinter einem großen Fass. Gerade noch rechtzeitig, bevor Shadowshealth seine Kraft verlor. Ist diese Teufelswaffe nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt, so vermag sie ihren Träger nicht vor den Augen der Menschen zu verbergen, denn dafür benötigte sie Schatten. Diese Schwachstelle sollte sich im Inneren des Lagerhauses, welches bis auf wenige Fackeln in Dunkelheit gehüllt war, als äußerst hinderlich erweisen.

 

Eine dramaturgisch notwendige Windböe wirbelte den Dreck und den Staub von der von einen Moment auf den anderen vereinsamten Straße auf. Das Rot und das Blau leuchtete Clay schon aus der Ferne. Der Schwarzhaarige ließ den Mann, welcher just seine Faust zu spüren bekam, links liegen. Der würde so schnell nicht mehr aufstehen. Vorsichtig näherte er sich nun den Kontrahentinnen. Noch starten diese bedrohlich ihrem Gegenüber Löcher in den Bauch, aber schon bald täten sie andere Waffen als ihre Augen für die Perforierung des Feindes auswählen. An der Ecke einer Hauswand blieb Clay stehen. Er konnte die Spannung spüren. Der unausweichliche Kampf der beiden Frauen konnte jeden Moment entfachen wie ein Feuersturm.

Lässig schritt Livia der kampfbereiten Cerise entgegen. “Was ich hier will, fragst du?”, begegnete sie der Frage der Rothaarigen mit einer Gegenfrage. “Kannst du dir das nicht denken, liebste Schwester?”

Clay horchte auf. “Schwester?”, sprach er zu sich selbst.

“Dein Bote kehrte ohne Antwort zurück”, fuhr Livia fort. “Die Matriarchin hat mich damit beauftragt, dich zu finden.”

“Glückwunsch!”, erwiderte Cerise. “Du hast mich gefunden. Und jetzt?”

“Nehme ich dich mit.” Urplötzlich stieß sich ihr Gegenüber mit ihrer kräftigen Muskulatur vom Boden ab und eröffnete den Kampf.

Klingen kreuzten sich.

“Ich habe dich und deinen Gespielen letzte Nacht beobachtet”, sprach die Blauhaarige zwischen ihren Dolchhieben. “Ist er der Grund, dass du dich von uns losgesagt hast?”

“Oh, du hast uns beobachtet”, antwortete Cerise zwischen den Paraden. “Und ich dachte immer, du hättest nichts für Männer übrig.”

Angriff! Das war die einzig passende Antwort. Livia wollte ihrer vorlauten Gegnerin keine Atempause mehr gönnen, welche sie dazu nutzen könnte, sie weiter zu provozieren.

Allerdings wehrte Cerise gekonnt alle Stöße ab und setzte zum Konter an.

Mit einem weiten Satz nach hinten, entging Livia der Klinge.

“Du hast mich noch nie im Messerkampf geschlagen”, erinnerte sie Cerise in erhabener Überlegenheit.

“Stimmt!” Livia verstaute ihre Dolche und ergriff einen seltsam, glänzenden, zylinderförmigen Gegenstand, welcher sich umgehend zu dem langen Stock erweiterte. Sofort machte sie sich für den nächsten Ansturm bereit. “Und du mich niemals im Stabkampf.” Dann ließ sie mächtige Schläge das Grinsen von Cerise beantworten.

 

Die Kisten im Lagerhaus reihten sich dicht an dicht. Übereinander gestapelt und potentiell randvoll mit Feenstaub, bildeten sie ein Labyrinth aus Gängen, in welchem man sich zuallererst zurechtfinden musste, bevor man daran denken konnte, die zwielichtigen Gestalten zu untersuchen, die sich herumtreiben.

Ziemlich geschäftig für ein ungenutztes Depot, stellte Nebula fest.

Vorsichtig rutschte sie an den Seiten der hölzernen Aufbewahrungsbehälter entlang und blickte achtsam um die nächste Ecke.

Die Zielperson erhielt weitere Drogen und überreichte im Gegenzug die Einnahmen, abzüglich eines Obolus für seine Dienste. Das Rauschgift wurde von mehreren muskelbepackten Grobienen bewacht. Das Gehirn der Truppe schien jedoch der schmächtige Mann in der Mitte zu sein, welcher es auch war, der Drogen aushändigte und Einnahmen einforderte. Er saß an einem Tisch, auf dem sich eine Auswahl der Drogen und eine Schatulle befand. Ausgestattet mit neuer Ware, wollte der Rauschgifthändler das Lagerhaus auf gleichem Wege verlassen, auf dem er gekommen war. Doch als er um die Ecke bog, packte ihn Nebula und setzte ihn lautlos außer Gefecht, indem sie seinen Mund und seine Nase mit ihrer rechten Hand verschloss und mit der linken Armbeuge seinen Kehlkopf abschnürte. Binnen Sekunden verlor er das Bewusstsein und wurde anschließend von der Söldnerin fallen gelassen, wie ein nasser Sack.

Nebula konnte den bedauernswerten Anblick des Kindes nicht abschütteln und beschloss kurzen Prozess mit den übrigen Anwesenden zu machen. Sie wusste ja, wen sie getrost umbringen konnte und wen sie lieber leben lassen sollte. Ohne Vorwarnung stürmte sie um die Ecke. “Verfehle niemals dein Ziel, Gastraphetes!” Sie beschwor ihre schwarze Armbrust und erschoss einen Grobian nach dem anderen, bevor ihre Spatzenhirne begreifen konnten, dass sie angegriffen wurden.

Der Anführer der Bande versuchte derweil Drogen und Goldschatulle zu greifen und sich aus dem Staub zu machen. Sein Vorhaben scheiterte jedoch kläglich, als Nebula seine beiden Kniescheiben zerschoss. Er stürzte. Drogen und Schatulle entglitten seinem Griff und fielen zu Boden. Die Pakete prallten von ihm ab und zerstreuten sich. Das Goldbehältnis zerbrach stattdessen und Münzen verbreiteten sich klingend über dem Boden. Die Versuche des Mannes, kriechend zu fliehen, scheiterten ebenfalls. Nebula warf ihn unter Einsatz ihres Stiefels auf den Rücken und presste die Sohle auf seinen Brustkorb. Dabei zielte sie mit geladener Armbrust auf seinen Kopf. “Ich hätte da ein paar Fragen!”, sprach sie daraufhin.

 

Gerade war Annemarie damit fertig geworden, Henriks Beine mit frischen feuchten Handtüchern zu umwickeln, während der Geselle schon wieder schlief. Der Kampf gegen die Unterkühlung musste ihn müde gemacht haben. Schnell bedeckte das Mädchen seine Beine wieder. Als sie gerade gehen wollte, bemerkte sie, dass Henrik keinesfalls ruhig schlief. Stattdessen zuckten seine Augäpfel unter ihren Lidern wild hin und her. Interessiert näherte sich der Rotschopf dem Kranken und erkannte, dass seine Lippen unverständliche Worte formten, während sie sich kaum wahrnehmbar bewegten. Was er wohl träumte? Annemarie sah auf ihre Hände und spielte mit dem Gedanken, ihre Kräfte einzusetzen. Hinderliche Dinge, wie die Privatsphäre eines anderen, kannte sie als kleines Kind nicht. Letztlich siegte die Neugier des Mädchens und es legte eine Hand auf des Braunhaarigen Stirn.

Die glühende Hitze des Ortes in seinem Traum vereinnahmte Annemarie. Es war noch viel heißer als Henriks Stirn in der realen Welt. Aus gigantischen Rohren quollen Ströme aus weiß glühenden Metall und ergossen sich entlang der Wand in Sammelbecken. Mitten in dieser Hölle befand sich ein Amboss aus einem unbekannten tiefschwarzen Material. Seine Oberfläche war so makellos, dass sie den rötlichen Schimmer des flüssigen Metalls wie ein Spiegel reflektierte.

Wuchtige Schläge trafen auf violett schimmerndes Metall.

Ein kleiner bärtiger Mann war bei der Arbeit.

Er schwang unentwegt und unermüdlich seinen mächtigen Hammer.

Annemarie hatte ihn zuvor noch nie gesehen, dennoch ging von ihm eine vertraute Aura aus, als ob sie ihn gut kennen würde.

Auf einmal stoppte der Unbekannte sein tun und erhob das inzwischen erkaltete Werkstück in die Luft, als wolle er es stolz den Göttern präsentieren. “Du bist mein Meisterstück!”, sprach er mit dem schwarzen Dolch dem Himmel entgegengestreckt. “Du wirst sie alle in den Schatten stellen!”

Annemarie fand sich in einem Moment auf den anderen in der Realität wieder, nachdem sie unbewusst die Hand von Henriks Stirn genommen hatte, erschrocken angesichts des vermeintlichen Traums, welcher sich als Vision aus einer längst vergangener Zeit entpuppte. Als sehe sie in seine Vergangenheit. Doch das konnte einfach nicht sein.

Kurz darauf schlug der Braunhaarige die Augen auf und blickte das Mädchen an. “I-Ich hatte gerade einen merkwürdigen Traum”, berichtete er ihr.

 
 

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Bei ihrem Angriff drehte sich Livia um die eigene Achse, während sie sich auf ihre Gegnerin zubewegte, ihren Kampfstab dabei immer fest mit beiden Händen umklammert. So konnte sie einen Bereich von eineinhalb Metern um sich mit Stockschlägen eindecken.

Cerise wich aus, indem sie sich nach hinten bog, bis sie auf ihren Händen aufkam, den Schwung ausnutzte, um in den Handstand zu gelangen und letztlich wieder auf den Füßen aufzukommen. Dies wiederholte sie mehrere Male, bis sie weit genug entfernt war, sodass sie nicht mehr getroffen werden konnte. Diese Atempause schenkte ihr die Gelegenheit, ihre Gegnerin mit Wurfmessern einzudecken.

Die Blauhaarige wehrte sie ihrerseits alle mit dem Kampfstab ab.

Doch dies war nur ein Ablenkungsmanöver der Rothaarigen, welche sofort mit gezogenen Dolchen zum Frontalangriff blies.

Livia dachte nicht im Traum daran, die Stöße zu parieren, stattdessen zielte sie auf Cerises Handgelenk, um sie zu entwaffnen. Beim Aufprall der Waffe öffneten sie sich durch einen Reflex, und Cerise verlor ihre Waffen, genauso wie von Livia geplant. In einer vollen Umdrehung holte die Attentäterin anschließend den nötigen Schwung und verpasste ihrer Zunftgenossin einen Kinnhaken mit der Kante ihres Kampfstab, der das Halbblut im hohen Bogen auf die sprichwörtlichen Bretter schickte.

Livia ließ den Stab hinter ihren Rücken wandern, nur noch von der linken Hand gehalten, während die Rechte mit gespreizten Fingern frei am ausgestreckten Arm ins Leere reichte.

“Und wieder habe ich gewonnen.”

Clay, welcher den Kampf regungslos mit angesehen hatte, sah sich nun gezwungen einzugreifen, als diese Fremde mit gezogener Waffe auf seine bewusstlose Geliebte zuging. Glücklicherweise suchte der Waidmann ohne seinen Bogen nicht einmal den Abort auf und trug ihn stets über der Schulter. Er ergriff die Waffe mit der linken Hand und fädelte seinen rechten Arm zwischen dem Holz und der Sehne aus. Noch in der gleichen Bewegung griff er in den Köcher und nahm einen Pfeil heraus. Er sprang aus seinem Versteck und feuerte auf die Fremde.

Der Pfeil erreichte niemals sein Ziel, da Livia ihn ohne hinzusehen mit der freien Hand packte und um Haaresbreite vor ihrem Nacken stoppte. Sie wandte sich ihrem verdutzten neuen Gegner zu und zerbrach demonstrativ den Schaft des Projektils. Ihre Augen waren starr, dunkel und von der Lust zum Morden erfüllt. “Das Spielzeug hat Todessehnsucht!”, kommentierte sie. Danach öffnete sie die geballte Faust und entledigte sich der Bruchstücke von Clays Pfeil.

Der Jäger ließ sich nicht davon beeindrucken und feuerte weiter auf die Blauhaarige.

Livia wehrte seine Pfeile mit ihrem Kampfstab ab und näherte sich währenddessen unentwegt ihrem Gegner.

Als Clay nach einem weiteren Pfeil greifen wollte, musste er feststellen, dass sich keine mehr im Köcher befanden.

Livia nutzte die kurzweilige Unterbrechung. Noch immer funkelten ihre Augen vor Mordlust und es verlangte ihr danach, diess sogleich in die Tat umzusetzen. Sie schlug dem kräftigen Mann, welcher sie mindestens um eine Kopfgröße überragte, mit dem gleichen Trick den Bogen aus der Hand, mit dem sie zuvor schon Cerise entwaffnete.

Clay versuchte sich zu verteidigen, jedoch mit überschaubarem Erfolg.

Livia begann ihn erbarmungslos nieder zu knüppeln. Ein schmerzhafter Stoß in die Magengrube, gefolgt von einem Schlag in die Kniekehle und als Finale ein Treffer gegen die Schläfe, der eine blutige Platzwunde hinterließ, waren alles, was nötig war, den verfluchten Mann zu Fall zu bringen. Diese Frau war viel stärker als sie aussah! “Tut mir einen Gefallen und bleibt einfach liegen”, sprach sie trotz glockenklarer Stimme in einer kalten Abgebrühtheit, welche dem Schwarzhaarigen fast das Herz gefrieren ließ. Benommen blieb er auf dem Boden zurück, als sie sich abwandte und musste mit ansehen, wie sie erneut Cerise immer näher kam. Die Dunkelheit in ihren Augen hätte wohl selbst Nebula eingeschüchtert.

Er musste unbedingt wieder aufstehen! Er musste sein Rudel beschützen!

Doch er konnte sein Bein nicht mehr belasten und alles drehte sich.

Es gab nur noch eine Option!

Unterdessen schliff das Ende des Kampfstab durch den Straßendreck wie eine unausgesprochene Todesdrohung und hinterließ eine deutliche Spur im Staub, der den ausgetrockneten Matschboden bedeckte.

Noch immer gab Cerise kein Lebenszeichen von sich.

“Jetzt höre schon auf dich tot zu stellen! So schwach bist du auch wieder nicht.” Livia hatte sie fast erreicht, als ein unmenschliches Brüllen durch die Gasse hallte. Sofort schenkte sie ihm ihre Aufmerksamkeit. Doch zu spät! Sie konnte gerade noch sehen, wie ein wutentbrannter, rot angelaufener Clay auf sie zu stürmte und die Faust am Ende seines inzwischen doppelt so dicken muskelbepackten Armes in ihren Magen versenkte. Die Kraft des Angriff riss sie von ihren Füßen und schleuderte sie gegen eine Hauswand. Putz löste sich und entblößte das Mauerwerk darunter.

Doch Clay war noch lange nicht fertig mit ihr! Er hatte durch lange Stunden des Trainings und der Meditation die Verwandlung mittlerweile soweit gemeistert, dass er sie an einem bestimmten Punkt anhalten konnte. Diese Zwischenform ermöglichte ihm, von der gesteigerten Muskelmasse zu profitieren, ohne vollständig zum Biest zu werden. Er packte Livia am Kragen und begann im blinden Hass auf das Gesicht der nun Wehrlosen einzudreschen. Es dauerte nicht lange, bis sie das Bewusstsein verlor. Das allein reichte jedoch nicht aus, um ihn zufrieden zu stellen und er prügelte einfach immer weiter.

Derart in Rage, bemerkte er nicht, das Cerise wieder zu sich gekommen war. “Nein!”, schrie sie hysterisch, als sie realisierte, dass ihr Liebhaber drauf und dran war ihre Schwester zu Brei zu schlagen. Sie stürmte zu ihm und umklammerte das rasende Biest. Es hatte schon einmal geholfen und auch dieses mal verfehlte ihr Körpereinsatz seine Wirkung nicht. Als Clay ihre Umarmung spürte, siegte endlich sein Verstand. Die aufgepumpten Muskelberge schrumpfen schneller als ein versteuerter Lottogewinn auf ihre normale Größe zurück und seine Haut erblasste wieder. Der Griff um Livias Kragen lockerte sich und die mit dem Blut der Frau bedeckte Faust erschlaffte.

Die Bewusstlose fiel in Cerises Arme.

Entsetzt über sich selbst, sackte Clay auf die Knie, während seine Augen auf diese Hände - nein diese Tatwerkzeuge - starten. “Was habe ich getan?!”, fragte er erschaudert über seine eigene Gewalt.

Derweil prüfte Cerise die Atmung der Besiegten. Sie schien noch am Leben zu sein. “Wir haben gerade keine Zeit für Selbstmitleid!”, tadelte sie. “Livia braucht einen Heiler!”

 

Wie durch ein Wunder schien Livia nicht lebensgefährlich verletzt worden zu sein. Zwar erlitt sie eine gebrochene Nase, Hämatome und mehrere Platzwunden mussten genäht werden, dennoch war es nur oberflächlich und sie trug keine bleibenden Schäden davon.

Das konnte Clay jedoch weder beruhigen noch von seiner Schuld freisprechen. Er quälte sich mit Selbstvorwürfen und schwieg wie ein Grab.

Cerise wollte das nicht länger mit ansehen. “Ich fühle mich geschmeichelt, dass Ihr sie für mich totschlagen wolltet”, meinte sie.

“Ich sehe daran wenig erfreuliches!”, erwiderte Clay. “Hättet Ihr mich nicht gestoppt, so hätte ich sie wirklich getötet!”

“Ach, ich habe sie schon schlimmer verprügelt, als wir noch Kinder waren.”

“Verspottet mich nicht!”

“Ist aber wahr!”

Die Stimmen weckten Livia auf. Vorsichtig und bedacht verschaffte sie sich zuerst ein Bild der Situation. Sie sah Cerise und deren Geliebten eine Diskussion führen. Keiner der Beiden beachtete sie. Vielleicht könnte sie entkommen. Aber halt! Wieso lag sie in einem Bett? Wieso war sie überhaupt noch am Leben? Fragen, welche sie ihre Fluchtpläne verwerfen ließ. Stattdessen setzte sie sich auf und signalisierte den Anwesenden somit, dass sie aufgewacht ist.

“Du bist wach!”, stellte Cerise fest.

“Wieso lebe ich noch?”, verlangte die Blauhaarige nach Antworten.

“Wegen der guten alten Zeiten. Wir haben doch so viel miteinander erlebt.”

“Ja, wir haben alles geteilt. Unser Essen, unsere Waffen und sogar das Bett.” Livias Blick verfinsterte sich. “Bis du mich verlassen hast. Etwa für den da?”

Damit hatte Clay nicht gerechnet. “Wie bitte?!”

“Ach, hab ich das nie erzählt?”, klärte die Rothaarige auf. “Livia und ich hatten mal eine sehr enge Beziehung, falls Ihr versteht was ich meine.”

“Cerise, Ihr seid also...”

“... vielseitig in der Liebe”, beendete diese den Satz für ihn.

Livia rollte vielsagend mit den Augen.

“Außerdem wird es schnell langweilig in der Zuflucht so ganz ohne Männer…”

“Wisst ihr zwei, dass ihr verdammtes Glück habt?”, fragte Livia urplötzlich. “Wenn die Matriarchin an meiner statt Magnolia mit diesem Auftrag betraut hätte, wärt ihr beide schon lange tot. Und eure Begleiter ebenso.”

“Magnolia?”, versuchte Clay mehr zu erfahren.

“Sie ist eine Schattenschwester, so wie Livia und ich”, klärte Cerise auf. “Allerdings hat sie einen Dachschaden, als sei ein Wirbelsturm kreuz und quer drüber gefegt.”

“Wie treffend formuliert...” Livia schaute dem Halbblut urplötzlich ernst ins Gesicht. “Schicke deinen Liebhaber mal kurz vor die Tür. Wir haben Dinge zu besprechen.”

Mit eindeutigen Blicken gab Cerise Clay zu verstehen, dass er der Aufforderung nachkommen solle.

Dieser fügte sich und verließ das Zimmer.

“Ich werde dich nicht verraten, Schwester”, sprach Livia alsbald sich die Tür geschlossen hatte. “Doch dafür erwarte ich eine Gegenleistung!”

“Dir ist schon klar, dass du gerade nicht in der Position bist, Forderungen zu stellen?”

“Was willst du dagegen tun? Mich umbringen?” Livia war klar, das dies nicht passieren würde. ”Ich erwarte, dass du in die Arme unserer Mutter zurückkehrst und wieder den Willen Medeas ausführst. Dann werde ich über dein... Techtelmechtel mit diesen Mann hinwegsehen und vor der Matriarchin verschweigen. Wie wirst du dich entscheiden?”

Cerise hüllte sich in Schweigen.

 

Zwei Tage später schien sich Henrik von seiner Verkühlung soweit erholt zu haben, dass die Gruppe ihre Reise endlich beginnen konnte. Gäbe es da nicht noch das Hindernis mit dem abgesperrten Hafen. Dennoch hatte Nebula ihre Begleiter aufgefordert, sich am Hafen zu sammeln. Keiner hatte Einwände diese schmutzige Stadt, einst ein florierender Hafen, schnellstmöglich hinter sich zu lassen.

“Halt!”, sprach ein Wächter und verwehrte den Zugang zur Esmeralda. “Der Hafen ist abgesperrt. Ihr dürft nicht passieren.”

Nebula beantwortete dies mit einem grimmigen Blick.

“Lasst sie durch!”, befahl auf einmal die Stimme des Kommandanten. Er trat aus dem dichten Dunst heraus. “Sie haben ihren Teil der Abmachung eingehalten.”

Verwirrt sah der Mann seinen Befehlshaber an.

Schon vor zwei Tagen hatte Nebula dem Kommandanten eine Karte überreicht, welche sie anhand der Informationen ihres Gefangenen angefertigt hatte. Mit ihrer Hilfe konnten in der Zwischenzeit die übrigen Lagerstätten des Feenstaubs gefunden und das Rauschgift vernichtet werden. Auch wenn die Identität des Verantwortlichen weiter ein Geheimnis blieb, wurde dem organisierten Verbrechen ein herber Schlag zugesetzt. Drogen eines unbekannten doch garantiert sehr hohen Wertes waren verloren gegangen. Dieser Verlust würde für den Strippenzieher sicherlich nicht ohne Folgen bleiben.

Triumphierend betrat Nebula die Galeere.

Die anderen folgten ihr.

Sie verstauten ihre Habseligkeiten unter Deck.

Wenig später ließ der Kapitän den Anker lichten und die Segel hissen.

Das Ziel war das sagenumwobene Wüstenland Yjasul, von dem aus sie getarnt als Wüstenhändler in Aschfeuer einzureisen planten.

Allerdings wurde dem Kapitän ganz flau im Magen, bei dem Gedanken, welche teuflischen Gewässer sie auf dem direkten Seeweg kreuzen würden, und das eigentlich keine Gefahrenzulage vom König hoch genug seien konnte, dieses Wagnis einzugehen

Die Flüche des Meeres


 

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Seit mindestens einer Woche bereisten Nebula und die anderen bereits die als diabolisch verschrienen Gewässer. Doch anstatt der wilden und unberechenbaren Teufelssee, zeigte sich ihnen das Meer ruhig und zahm wie ein Schaf auf der Alm. Nicht ein Lüftchen verirrte sich in die Segel der Esmeralda, das Schiff welches der König ihnen für ihre Reise bereitgestellt hatte. Nutzlos hing der Stoff von den drei Masten herunter und die Muskelkraft der Ruderer war das einzige, was den massiven Kahn in Bewegung hielt.

Ähnlich zweckbefreit wie die Segel während der Flaute, stand Nebula an der Reling. Die Unterarme auf sie gelegt und den Oberkörper leicht darüber geneigt, blickte sie gedankenversunken hinaus in den Horizont. Noch konnte man keine Spur der Küste von Eldora ausmachen.

Einzig wegen der Tragödie auf dem großen Bankett, trat Nebula diese Reise an. Der König von Morgenstern ließ es veranstalten, um Ammon von Aschfeuer, dem ältesten Prinzen des Kaiserreich, seine Tochter Emelaigne als Braut vorzuführen, die dieser zwar nur aus Geschichten kannte, aber dennoch begehrte und um jeden Preis sein eigen nennen wollte. So versuchte der König, den zerbrechlichen Frieden zu wahren, indem er seine einzige Tochter darbot. Aber anstatt des Erben, schickte der Kaiser eine Delegation bestehend aus seiner erstgeborenen Tochter Prinzessin Lezabel und dem jüngsten Spross Prinz Alaric. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Braut zu begutachten und ihre Eignung als Gemahlin seines ältesten Sohnes zu überprüfen. Es war der junge Prinz, der den Schwindel um die falsche Emelaigne enttarnte.

Das Übel nahm jedoch schon drei Jahre zuvor seinen Lauf, als eine Attentäterin in die Gemächer der echten Emelaigne einbrach und versuchte, sie zu ermorden. Ihre Waffe war keineswegs ein gewöhnlicher Dolch, sondern Bloodbane, eine der verfluchten Teufelswaffen. Anstatt die Prinzessin zu töten, ging der Dolch eine Verbindung mit ihr ein und erschuf eine verdorbene Kreatur. Etwas, das der König niemanden präsentieren konnte und in Ketten gelegt, tief im Verlies einsperrte. Aus diesem Grund wurde eine Magd namens Caroline als Doppelgängerin bestimmt, da sie Emelaigne glich, wie ein Ei dem anderen. Sie sollte die Rolle der Prinzessin spielen. Und sie spielte sie gut und überzeugte die nächsten drei Jahre lang. Dennoch erkannte Alaric die Wahrheit durch die Abwesenheit eines unscheinbaren Muttermals und ließ das arme Mädchen für die Täuschung mit ihrer Seele bezahlen.

Das Holz der Reling splitterte, als sich Nebulas Finger tief hinein bohrten. Caroline musste nur wegen ihr leiden. Wegen ihr verfluchten Kreatur, welche einst den Namen Emelaigne trug und die Thronerbin von Morgenstern war. Nebula ging für sie durch die Hölle, kämpfte, starb, kämpfte weiter und war dennoch außerstande, ihre Seele zurückzubringen.

Nun lag Caroline unter Deck in einem Sarg und war gefangen im traumlosen Schlaf der Seelenlosen. “Bitte vergib mir, Caro”, säuselte sie hinaus auf den Ozean. “Vergib mir mein Unvermögen.”

Nebula fühlte sich in der Tat wie ein Segel auf windstiller See.

Nutzlos.
 

Die Küche des Dreimasters war wahrlich hochherrschaftlich, so wie man es von einer königlichen Galeere erwarten konnte. Eingerichtet mit dem edelsten Mobiliar und bestückt mit den feinsten Speisen, glaubte man nicht auf einem Schiff, sondern noch immer in der Hauptstadt zu sein. Der König ließ sich nicht lumpen und versorgte seine Tochter und ihr Gefolge fürstlich.

Eigentlich war das Werkzeug seiner Wahl der Schmiedehammer, doch heute begnügte sich Henrik mit dem Schnitzelklopfer.

Es war ihm, als habe er schon immer für die Prinzessin gekocht.

Dieses wunderschöne Mädchen, deren Haare so golden wie die Kornfelder im Herbst, und deren Augen so blau wie der Himmel waren, auf das er sich immer wieder in ihnen verlieren konnte. Eine Frau, nach der sich die Mächtigen und die Gewöhnlichen gleichermaßen verzehrten. Sie war nicht besonders groß, aber seine große Liebe. Seitdem sie ihm damals auf dem Markt seiner Heimatstadt die wütenden Kunden vom Hals gehalten hatte, welche ihn für sein Schundhandwerk am nächsten Baum aufknüpfen wollten, bekam er sie nicht mehr aus dem Kopf und folgte ihr überall hin. Regelmäßig hatte er sie in die unangenehme Lage gebracht, ihn beschützen zu müssen. Immer dann fühlte er sich selbst wie ein hilfloses Burgfräulein, welches von seinem Ritter gerettet werden musste. Ein schöner Mann war er! Bis er eines Tages in die Situation kam, sie retten zu müssen. Als das gleißende Licht seiner Liebe die Nacht zum Tag machte und Tote zurück ins Leben brachte, war es ihm wenigstens einmal vergönnt, ihr Held zu sein.

Nebula. Emelaigne. Die Prinzessin von Morgenstern. Wie immer man sie auch nannte. All dies hatte für ihn keine Bedeutung, solange er an ihrer Seite sein konnte. Diesem Mädchen würde er selbst dann folgen, trüge sie abgewetzte Fetzen und lebten in der Gosse. Überall hin. Bis zum Ende der Welt und darüber hinaus.

Also klopfte er das Schnitzel windelweich.

Immerhin musste das Essen munden!
 

Das Abendrot der Dämmerung fiel durch ein Fenster in der hölzernen Wand auf das kleine Bett in der Kajüte. Die Lichtstrahlen beschienen ein Mädchen mit langen orangeroten Haaren, das auf dem Bett lag und vergnügt mit seinen Beinen auf und ab wippte, während es in die Geschichte in dem Märchenbuch vertieft schien. Es war eine Geschichte über mutige Helden, welche sich ihrem Schicksal und den Mächten des Bösen entgegenstellen und gemeinsam für eine bessere Welt kämpfen.

Annemarie mochte solche Märchen.

Noch wusste sie nicht, wie die Geschichte enden würde.

Sie hoffte auf ein Happy End.

In den Märchen, die sie verschlang, erhoffte sie sich die Antworten auf ihre eigenen Fragen. Sie versuchte, die Leere in ihrem Kopf mit angeregter Fantasie zu füllen. Dachte sie an ihre Vergangenheit, war dort nichts außer einer gewaltigen schwarzen Leere. Wer war sie und woher kam sie eigentlich? Sie konnte sich an nichts erinnern, das vor der Vollmondnacht geschah, in der sie auf Henrik traf. Als hätte sie vorher nicht existiert. War sie vielleicht auch eine Prinzessin, die durch einen Fluch alles vergessen hatte und gezwungen war, auf der Straße zu leben, oder stiegen ihr nun doch die Geschichten allmählich zu Kopf?

Sie beschloss, das Lesen für heute einzustellen.

Bald wäre es sowieso zu dunkel geworden.

Stattdessen entschied sie, hinunter in die Kombüse zu gehen. Vielleicht konnte sie Henrik beim Kochen helfen. Das Buch fand seinen Platz auf den kleinen Beistelltischlein neben dem Bett und Annemarie begab sich in die Küche.
 

Die größte Kajüte neben der des Kapitän hatte weder die Prinzessin noch sonst wer bezogen. Stattdessen genehmigten sich Clay und Cerise diesen Luxus. Es war der einzige Raum auf der Esmeralda, welcher groß genug war, ein Doppelbett unterzubringen. Niemand wollte miterleben, wie sich einer der Beiden mit Entzugserscheinungen aufführen täte, geschweige denn beide auf einmal. Darum war auch keiner eingeschritten, als Cerise sofort ihren Anspruch deutlich machte und sich und Clay in der Kajüte einquartierte.

Gerade lagen sie zusammen im Bett - eigentlich gab es kaum eine Gelegenheit, bei der sie das nicht taten. Sie konnten einfach nicht voneinander lassen und in jenem Moment war es auch nicht anders.

Clay führte eine Strähne von Cerises offenen kirschrotem Haar unter seiner Nase und inhalierte ihren Duft.

Sofort reagierte das Halbblut darauf und wand sich um ihren Liebhaber, wie eine Würgeschlange um ihre chancenlose Beute. “Hat das Biest noch immer Appetit?”, fragte sie ihn mit erotischem Unterton.

Eigentlich mochte Clay es überhaupt nicht, wenn man ihn daran erinnerte, dass er ein verfluchter Lykantroph war, verdammt dazu sein Leben lang den Mondschein zu fürchten. Und als Werwolf würde dieses Leben voraussichtlich wesentlich länger andauern als das eines gewöhnlichen Menschen. Auch wenn er dank Cerises Hilfe das Biest im Griff zu haben schien, beunruhigte ihn der Fluch, der auf ihm lastete, noch immer. Die Angst, irgendwann doch die Kontrolle zu verlieren, war sein stetiger Begleiter. Darum wollte er am Besten gar nicht daran denken. Doch seiner Geliebten ließ er es durchgehen, ihn daran zu erinnern. Das war nicht das einzige, bei dem er ein Auge zudrückte. “Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden das unersättliche Biest ist.”

“Das müsst Ihr Euch schon selbst beantworten.” Cerise streifte Clay durch dessen dichte schwarze Gesichtsbehaarung.

Aus ihr wurde er nicht schlau. Als er sie das erste Mal traf - und auch bei einigen Begegnungen danach - wollte sie ihn noch umbringen. Damals kämpften sie bis aufs Blut. Sie war eine Meuchelmörderin vom geheimnisumwobenen Orden der Schattenschwestern. Eine Vereinigung, die nur aus Frauen bestand, und im Namen der Mutter der Zwietracht gegen Bezahlung spionierte und mordete. Inzwischen war sie allerdings auch seine Geliebte. Verband sie nur fleischliche Lust, oder war da doch mehr? Ihm kam in den Sinn, dass sie ihn stets förmlich ansprach und noch nie ihre Liebe bekundet hatte. Vielleicht musste er einfach den Anfang machen. “Cerise, ich liebe dich!”, sagte er ihr im sanftesten Ton, zu dem er mit seiner tiefen männlichen Stimme imstande war.

Die Rothaarige sah ihn mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund an.

Clay fürchtete, zu weit gegangen zu sein.

Plötzlich verzog sich Cerises Mund zu einem Lächeln. “Ich war heute wohl einfach zu gut”, zog sie es ins Lächerliche. “Ihr müsst mit Euren Scherzen aufpassen, Clay, sonst glaubt Ihr es noch selbst.” Nach diesen Worten sprang sie förmlich von ihm ab und aus dem Bett. Sie suchte ihre Kleidung zusammen, welche sie zuvor voll der Vorfreude überall im Raum verteilt hatte.

Der Anblick ihres makellosen schlanken Körpers konnte Clay allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ihm auswich. “Ich meine es ernst!”

Die Rothaarige sah kurz über ihre Schulter zu ihm und tat es mit einem einfachen “Ja, ja” ab. Danach begann sie damit, sich zu bekleiden.

Es war nicht von der Hand zu weisen, dass diese Reaktion nicht die war, welche sich der schwarzhaarige Jäger erhofft hatte. Wie ein knauseriger Händler bot dieses Frauenzimmer seine Geheimnisse nur zum richtigen Preis feil. Und der war Clay leider unbekannt. Spielte sie nur mit ihm? War er für sie nichts weiter als ein Lustobjekt? Nein, das konnte nicht sein. Er weigerte sich, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Niemand würde freiwillig bei Vollmond zu einem angeketteten und wütenden Werwolf gehen, nur um etwas auszuprobieren. Niemand würde eine ganze Attentätersekte hintergehen und das Ziel eines Anschlags am Leben lassen. Wenn bei diesen Gelegenheiten keine Gefühle im Spiel gewesen sein sollen, was dann?

Er würde sie schon dazu bringen, endlich reinen Tisch zu machen.

Jedenfalls konnte es so nicht weitergehen!
 

Das Abendmahl wurde angerichtet.

Die Besatzung der Esmeralda versammelte sich in der Messe, um gemeinsam zu essen und sich auszutauschen. Sie saßen verteilt um zwei lange Tische auf Hockern und Bänken. Auch Nebula, Clay und Cerise hatten sich eingefunden. Lautstark war das Klagen der Ruderer, welche sich ihre Mahlzeit mehr als nur verdient hatten. Die tagelang andauernde Flaute zehrte bei jedem an den Nerven, doch betraf diese Männer direkt. Sie wünschten sich nichts sehnlicher, als dass endlich wieder Wind in die Segel blies. Jetzt wollten sie wenigstens etwas Handfestes zwischen die Kiemen bekommen. Also polterten sie ungeduldig mit dem Besteck auf dem Tisch. Auch der Rest der Meute zügelte sich wenig.

Die Tür zur Kombüse wurde aufgestoßen. Ein Wagen mit einem großem Topf und einigen mit Tellern abgedeckten Schnitzeln darauf wurde von der zierlichen Annemarie hinein in die Messe geschoben. Unter dem Topf befand sich eine weitere Ebene, auf der Teller und Ersatzbesteck bereit lagen. Das Mädchen wollte Henrik unbedingt helfen, verstand aber nicht das geringste vom Kochen. Folglich konnte er ihr nur einfache Hilfsarbeiten und im Anschluss daran den Job des Kellners anbieten. Trotzdem erfüllte Annemarie die ihr aufgetragenen Aufgaben mit Wonne und verteilte die Mahlzeiten an die Wartenden.

Unterdessen begab sich der Koch an den Tisch.

Henrik setzte sich auf den freien Hocker gegenüber von Nebula. Beide mussten nicht lange warten, bis auch sie ihr Abendessen erhielten.

“Das machst du aber fein, Annemarie”, lobte Henrik das Mädchen.

“Dankeschön”, erwiderte der kleine Rotschopf.

Clay und Cerise waren derweil schon voll und ganz mit der Nahrungsaufnahme - oder auch miteinander - beschäftigt und bekamen nicht mehr viel mit.

Nebula erhob die archaische Gabel mit den zwei Spießen mit der linken Hand und wollte sogleich in das Gemüse hinein pieksen, als plötzlich ihre Hand zu zittern begann, sodass sie ihr Besteck aus Versehen auf den Teller fallen ließ. Auf das Poltern folgten schnell die Blicke ihres Gegenübers. Nebula starrte entsetzt auf ihre Hand, die sich noch immer unkontrolliert bewegte.

“W-Was hast du?”, fragte Henrik besorgt.

Die Blondine brachte ihre Hand dazu, wieder ihren Befehlen zu gehorchen und nahm die Gabel auf. “Es ist nichts!”, behauptete sie.

Henrik hörte nicht auf, sie so anzusehen. “Aber...”

Konnte er nicht einfach so tun, als habe er nichts gesehen, anstatt sie so anzuschauen?

Schnell benutzte sie das Besteck und zerteilte die Kartoffel, um so zu demonstrieren, dass mit ihr alles in Ordnung war. Im Anschluss stopfte sie sich das viel zu groß geratene Stück in den Mund. Auf diese Weise musste sie seine Fragen nach ihrem Befinden nicht beantworten. Das funktionierte auch wunderbar mit dem Schnitzel. Sie verfuhr mit dieser Taktik weiter, bis sie ihre Portion aufgegessen hatte. Dann stand sie auf, räumte ihr Geschirr auf den leeren Wagen und verließ die Messe. Dabei zwang sie ihre linke Hand unter zuhilfenahme der rechten stillzuhalten.

“Habt i-ihr das gesehen?”, wandte sich Henrik an die anderen.

“Was denn?”, fragte Cerise.

“I-Ihre Hand hat gezittert. Habt ihr das nicht mitbekommen?”

“Ist mir nicht aufgefallen. Dir, Clay?”

Der Jäger schüttelte mit dem Kopf.

“Hoffentlich nichts schlimmes!”, ergänzte Annemarie, die inzwischen auch zum Essen kam und nicht weit von ihnen einen Platz gefunden hatte.

“Selbst wenn, man müsste sie schon bewusstlos schlagen, damit sie einen Heiler an sich heranlassen täte”, stellte Cerise fest.

Ja, in der Tat! So und nicht anders.

Henrik seufzte.
 

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Alles war ins Wanken geraten.

Weder das Pfeifen des Windes, oder die peitschenden schweren Regentropfen, noch das Stoßen der Wellen an die Schiffswand waren es, die Henrik aus dem Schlaf rissen. Ein greller Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubend lauten Donnergrollen, ließ den braunhaarigen Handwerksgesellen mitten in der nächtlichen Dunkelheit aufschrecken. Unmittelbar danach zuckte ein weiterer Blitz durch die Wolken und ein Krach von apokalyptischer Lautstärke ließ Henrik glauben, dass die Welt gerade drauf und dran war, unterzugehen.

Eigentlich hatte er keine Angst vor Gewitter. Aber gepaart mit der Kraft des Ozeans, dessen hohe Wellen sich die Esmeralda wie ein Spielball in einer Mannschaftssportart immer wieder gegenseitig zuspielten, flößte ihm das Unwetter gehörigen Respekt vor den Naturgewalten ein.

Der Aufprall einer weiteren Wasserwand ließ das Schiff erbeben und etwas Schweres von einem Regal auf den Boden stürzen. Henrik hoffte, wieder einzuschlafen und dann aufzuwachen, wenn der Spuk vorüber wäre. Doch seine Kalkulation ging nicht auf. Das Schwanken des Schiffes und die Geräusche des pfeifenden Windes, der unbarmherzigen Wellen und der gnadenlosen Blitze hielten ihn wach.

Weil er nicht schlafen konnte, stand er stattdessen auf und bekleidete sich notdürftig in der Dunkelheit. Vielleicht konnte er irgendwie helfen. Das wäre allemal männlicher, als im Bett zu verbleiben und das Ende des Unwetters abzuwarten. Schnell war er bereit zu gehen. Sein Fuß stieß gegen den zuvor heruntergefallenen Gegenstand, was ihn fast zu Fall brachte, hätte er sich nicht an dem Knauf der Tür zu seiner Kajüte festgehalten. Leicht humpelnd verließ er den Raum und ging den spärlich ausgeleuchteten Gang entlang, der ihn an Deck führen würde.
 

“Fiert das Hauptsegel!”, hallte der Befehl des Kapitäns über das durchnässte Deck der Esmeralda. “Und setzt die Pinne zum Baum!”

Eiligst erfüllte die Mannschaft ihre Aufgaben. Tollkühne Männer, unter ihnen auch Clay, erklommen die Mäste und zerrten die Segel in den Wind. Am Heck mühten sich die Matrosen ab, die Taue zu befestigen, welche das Ruder im Luv - also in Richtung des Windes - halten sollten. Mit diesem als “anluven” bezeichneten Manöver, versuchte der Kapitän sein Schiff sicher abzuwettern. Es half, die Esmeralda auch bei starken Seegang unter Kontrolle zu behalten, während alle das Ende des Sturms erwarteten. Der Kapitän musste dringend verhindern, dass das Schiff mit dem Bug in die Wellen einsteckte, was unmittelbares Kentern nach sich zöge! Aber die mit dem salzigen Meerwasser vollgesogenen Seile waren für die Matrosen kaum zu halten.

Das Schiff drohte achteraus zu treiben.
 

Auf seinem Weg an Deck traf Henrik auf Annemarie und Cerise.

“Hallo Leute”, begrüßte er sie.

“Na schau mal an, wer sich aus dem Bett getraut hat”, stichelte die Halbelfe.

“Henrik, ich hab Angst!”, gestand Annemarie ein.

“Was macht ihr hier?”, wollte der Geselle wissen.

“Der Kapitän hat allen Frauen und Kindern befohlen, unter Deck zu gehen”, teilte Cerise mit. “Mir soll’s Recht sein. Muss ich mich wenigstens nicht anstrengen.”

Erst jetzt fiel ihm auf, dass jemand fehlte. “Wo ist denn Nebula?”

“Die wuselt zusammen mit Clay oben an Deck herum.”

“Aber hat der Kapitän nicht gesagt...”

“Das hat sie bestimmt überhört”, mutmaßte Annemarie.

“In eurer Beziehung bist sowieso du das schwache Geschlecht”, ärgerte Cerise Henrik. “Also bleib du mal schön bei uns unter Deck.”

Die Aussage der Rothaarigen stachelte ihn nur noch mehr an, an Deck zu gehen und Nebula und Clay irgendwie unter die Arme zu greifen. Mutig stürmte er die halbe Treppe hinauf und stemmte die Tür zum Deck auf. In diesem Moment blies eine Windböe gegen das Brett und stieß sie umgehend wieder zu. Henrik bekam die Tür direkt ins Gesicht geschlagen und wurde rückwärts die Treppe hinunter geworfen, nur um zu Füßen von Annemarie und Cerise zu landen.

“Ich hab doch gesagt, du sollst es bleiben lassen”, belehrte das Halbblut.

Henrik befühlte seine Nase und stellte fest, dass sie blutete. “Aua!”

“Komm mit, ich kümmere mich darum”, bot Annemarie an.

Henrik folgte ihr, ohne Anstalten zu machen. Den Plan, an Deck seinen Mann zu stehen, hatte er inzwischen verworfen. Er täte mit blutiger Nase sowieso keinen guten Eindruck bei Nebula hinterlassen. Darum ließ er sich von Annemarie verarzten und wollte nun doch warten, bis der Sturm nachließ.
 

Nebula war völlig durchgeweicht. An Deck versuchte sie zu helfen, wo sie konnte, anstelle sich unter Deck vor den Naturgewalten zu verstecken, wie es der Kapitän eigentlich von ihr verlangt hatte. “Frauen und Kinder unter Deck”, lautete der Befehl des alten Seebären. Diese Vorsichtsmaßnahme schlug Nebula allerdings in den Orkanwind. Sie verabscheute Ungleichbehandlung aufgrund ihres Geschlechtes. Selbst dann, wenn es ihr zum Vorteil gereichte und zu ihrer eigenen Sicherheit beitrug. Lieber würde sie ertrinken, als das hilflose Frauchen zu spielen. Sie konnte nicht herumsitzen und anderen die Arbeit überlassen!

Nebula eilte an das Heck, um die Männer dort zu unterstützen. Sie packte das Ruder mit bloßen Händen.

“Was macht Ihr da?”, fragte einer der Nebenstehenden verwundert.

Die Blondine stöhnte genervt. “Wonach sieht es denn aus?”, fuhr sie den Mann an. “Ich halte das Ruder im Lov.”

“Aber wie könnt Ihr...” Wie eine zierliche Frau von um die eins-sechzig mit bloßer Muskelkraft gegen den Wasserdruck während eines Unwetters halten konnte, war ihm absolut unbegreiflich.

Nebula stemmte ein Bein gegen das Heck, um noch mehr Kraft auf das Ruder zu wirken. Dabei ächste das Holz bedrohlich. Aber tatsächlich: Hand in Hand mit den ausgerichteten Segeln gelang es, die Esmeralda auf Kurs zu halten.
 

Mit dem neuen Morgen kam der Sonnenschein zurück und eine steife Briese füllte die Großsegel der Galeere. Sollte der Wind weiter so günstig stehen, könnten sie es innerhalb einer Woche bis nach Yjasul schaffen. Das reiche Kalifat der Wüste war zwar nur ein Zwischenstopp auf ihrer Reise, dennoch handelte es sich nicht einfach nur um eine tote Wüste mit ein paar Kamelreitern und Turbanträgern, für welche eine Erwähnung als Fußnote ausreichte und die man ansonsten getroßt auslassen konnte. Ein riesiges Reich, welches den gesamten Süden kontrollierte, in dem der einzige Gott das Geld war und man jeden Segen und jeden Fluch mit barer Münze erwerben konnte. Nebula und die anderen wollten in die Rolle von Händlern aus dem Süden schlüpfen, um sich so ohne Aufsehen zu erregen in das angrenzende Aschfeuer, die Heimat der Schwarzelfen, einzuschleichen. Besser als mit einer königlichen Galeere vor der Haustür des Kaisers vor Anker zu gehen, war es allemal. Schließlich waren sie auf geheimer Mission!

Seite an Seite standen Henrik und Nebula an der Reling und sahen hinaus auf die beruhigte See, unterbrochen von heimlichen Blicken, welche sie sich abwechselnd zuwarfen, wenn sie glaubten, der jeweils andere bekäme es nicht mit. Seitdem Henrik sie in dieser einen Nacht zu aufdringlich betatschte, war Nebula auf die Bremse getreten und hatte einiges an Fahrt aus ihrer Beziehung genommen. Henrik akzeptierte, dass sie noch nicht bereit für zu viel Zärtlichkeit war. Gelinde gesagt war er froh, denn sein eigenes Tempo machte ihm Angst. Ganz in Gedanken versunken bemerkte er erst nicht, dass sich zaghaft eine Hand kontaktsuchend auf der Reling an ihn heran schlich. Doch dann streckte er ebenso zurückhalten die seine entgegen, bis sich ihre Fingerspitzen berührten.

Etwas entfernt beobachteten Clay und Cerise die Szene.

Die Rothaarige lehnte lässig am Mast und guckte zwischen ihrer Beobachtung immer mal wieder auf ihre Fingernägel.

Clay hingegen stand aufrecht wie ein Türsteher zum Schüttelbunker mit stolz geschwellter Brust und verschränkten Armen.

“Sind sie nicht niedlich?”, fragte der Lykantroph mit kreidesanfter Stimme.

“Ist nur ein bisschen langweilig”, entgegnete Cerise. “Ihrer Beziehung täte etwas mehr Action gut.”

“Sie sind doch noch halbe Kinder.”

“Sie sind achtzehn. Ich hatte mein erstes Mal schon fünf Jahre früher.”

Clay sah sie daraufhin entgeistert an.

“Was denn?!”

“Solltet Ihr solche Dinge nicht lieber für Euch behalten?”

“Wir Schattenschwestern sind nicht an diese beengenden Moralvorstellungen der Gesellschaft gebunden. Außerdem habe ich ihn kurz darauf die Kehle aufgeschlitzt.”

In Clays Gesicht machte sich Entsetzen breit.

“Beruhigt Euch, er hatte es verdient. Er verging sich an jungen Mädchen. Die waren zum Teil noch jünger als die kleine Nervensäge.”

“Das ist es nicht. Ich komme noch immer nicht damit klar, dass Ihr so locker über einen Mord sprechen könnt. Und dann auch noch einen, den Ihr als Kind begangen habt.”

“Ich bin auch nicht groß stolz drauf. Große Sauerei und ganz schlechte Umsetzung. Es war nicht nur mein erster männlicher Beischlaf, sondern auch mein erster Lequidierungsauftrag.”

Als Jäger war Clay das Töten nicht fremd, aber wie unbeschwert diese Frau in einem Atemzug gleichzeitig von ihren sexuellen Kontakten und ihren Tötungen sprechen konnte, als rede sie über das Wetter, trieb ihm einen kalten Schauer den Rücken herunter. Und ausgerechnet in so eine Person musste er sich verlieben...

Während sie noch immer Händchen hielten, fiel Henriks Blick auf die Wasserfläche. Bildete er sich das nur ein, oder war das Meer unter dem Schiff viel dunkler als es sein sollte.

“Hey, Nebula”, machte er die Prinzessin darauf aufmerksam. “Schau mal. Weißt du, was da los ist?”

“Nein”, antwortete sie mit Sorgen erfüllter Stimme. Im nächsten Moment ertönte auch schon ein Warnsignal vom Ausguck auf dem Mast und Nebula zerrte Henrik von der Reling weg.

Aus heiterem Himmel schossen lange rosarote Strukturen aus dem Wasser, welche wild in der Luft herumwirbelten und einer nach dem anderen die Esmeralda umschlang. Ein mächtiges Gebilde erhob sich aus dem Wasser. Ein etwa Teller großes tiefschwarzes Auge starrte Henrik an. Ein Riesenkrake war aus den Tiefen des Ozeans emporgestiegen und wollte die Esmeralda mit samt der Besatzung zum Frühstück verspeisen.

“Ist das die Action, die in ihrer Beziehung noch fehlt?”, scherzte Clay und wollte seinen Bogen ergreifen. Blöd nur, dass heute einer dieser Tage war und seine Waffe noch in der Kajüte lag, anstatt über seiner Schulter zu hängen.

Henrik setzte sich vor Schreck auf den Hosenboden, als das imposante Ungeheuer sich vor ihm zur vollen Größe entfaltete.

“Beim Klabautermann!” Die Flüche des Kapitäns konnte man über das ganze Deck deutlich verstehen. “Erst der Sturm und jetzt auch noch das! Der Meeresgott meint es nicht gut mit uns!” Er wandte sich seiner Besatzung zu. “Macht die Harpunen klar! Das Vieh schicken wir zurück in die Teufelssee!” Eilig bewaffneten sich die Soldaten mit Harpunen oder Macheten und begannen damit, die Arme des Kraken einzuhacken und einzustechen. Alles in Allem mit wenig Effekt.

Auch Clay, Cerise und Nebula machten sich kampfbereit.

Clay zückte sein Jagdmesser, Cerise ihr Stilett.

Nebula wollte gerade eine Waffe beschwören, als schon wieder eine Hand zu zittern begann. Dieses Mal handelte es sich um die rechte. Ihren Schwertarm. Das konnte sie jetzt absolut nicht gebrauchen!

Während Henrik damit beschäftigt war, rückwärts über das Deck zu krabbeln, fiel ihm wieder ein, dass er die ganze Zeit eine Waffe an seinem Bund trug. Das Schwert, welches er damals mit dem “magischen Hammer” angefertigt hatte. Inzwischen wusste er zwar, dass die Magie von ihm selbst ausging, eine gute Waffe war das Schwert dennoch. Mutig und voll mit jugendlichen Leichtsinn und Selbstüberschätzung zog er es und stürmte auf einen der mit Saugnäpfen übersäten Fangarme zu.

Während sich ihr Freund völlig atypisch verhielt, kämpfte Nebula noch immer mit der Fassung und ihrer außer Kontrolle geratenen Gliedmaße.

Diesmal blieb es auch den anderen nicht verborgen.

Cerise schlitzte gerade noch einen Tentakel des Ungetüms und Clay traktierte einen weiteren mit seinem Messer, als beide zur Prinzessin schauten, die wie versteinert herumstand, während Henrik das Schwert schwang. Es war ein ungewohntes und vor allem unwirkliches Bild. Der sonst so feige Bursche kämpfte mutig gegen das Monster, während Nebula keine Reaktion zeigte. Sie wollten sie aus ihrer Schockstarre herausholen, hatten aber alle Hände voll zu tun, sich zu verteidigen, als weitere Arme des Kraken auf sie zu schnellten.

Die Matrosen waren mit Überleben beschäftigt und stellten auch keine große Hilfe gegen das Monster dar.

Einen improvisierten Kampfschrei schmetternd, hackte Henrik auf einen Arm ein. Dieser war jedoch so dick, dass er auch unter Einsatz all seiner Kraft nicht dazu imstande war, ihn zu durchtrennen. “Du v-verdammtes Dr-Drecksvieh!”, machte er seinem Ärger Luft. “L-Lass m-meine Freunde in Ruhe!”

Hinter ihm näherte sich ein weiterer Tentakel.

Nebula erwachte aus ihrer Starre. “Pass auf!”, rief sie Henrik zu.

Dieser drehte sich um, aber es war bereits zu spät. Der Krake schleuderte ihm das Schwert aus den Händen. Es flog im hohen Bogen davon und bohrte sich außer seiner Reichweite in die Schiffsplanken des Decks.

Der Krake packte Henrik.

Der Braunhaarige spürte, wie das Ungeheuer die Luft aus ihm herausquetschen wollte. Verzweifelte Befreiungsversuche blieben erfolglos. Aus dem Todesgriff der Bestie schien es kein Entkommen zu geben. “H-Hilfe!”

Nebula wollte ihn retten, aber noch immer spielte ihr Arm verrückt. Der Krake würde Henrik in die Tiefe zerren und sie stand einfach nur herum und tat nichts, um ihm zu helfen! Sie sackte zusammen auf die Knie.

“Hilfe!” Abermals erflehte er seine Rettung. Während er zappelte und zerrte, um vielleicht doch noch zu entkommen, schaute er sich um. Das riesige schwarze Auge starrte ihn noch immer an. Henrik sah wieder auf das Deck und fixierte sein Schwert. Da kam ihm der rettende Gedanke. Es bestand aus Metall. Das konnte er sich zu Nutze machen! Anstatt mit den Armen gegen die Kraft des Tiefseemonsters anzukämpfen, streckte er den linken in Richtung seiner Waffe aus.

Er hatte es noch nie aus einer solchen Entfernung probiert, aber er hatte keine Wahl. Es musste einfach funktionieren!

Nebula wurde aus ihrer Verzweiflung gerissen, als Henriks Schwert neben ihr zu wackeln begann. Sie konnte sehen, wie es langsam von einer unsichtbaren Kraft aus dem hölzernen Untergrund gezogen wurde.

Henrik fühlte, wie ihm langsam die Kräfte verließen. Der Krake drückte immer fester und fester. Und das verdammte Ding saß einfach zu fest. Einmal noch konzentrierte er sich und tatsächlich erhob sich die Waffe und raste auf ihn zu. Im Flug ließ er sie sich drehen, sodass die Spitze auf ihn zeigte. Durch eine geringe Kurskorrektur schnellte das Schwert haarscharf an ihm vorbei direkt in den schwarzen Abgrund des Krakenauges und bohrte sich bis zum Anschlag in das Untier hinein, gefolgt von einem monströsen Brüllen.

Die Wunde in seinem Auge musste den Riesenkraken sehr schmerzen, denn sein Griff um Henrik lockerte sich und er ließ ihn fallen.

Gerade noch rechtzeitig!

Bewusstlos schlug er auf dem Deck auf.

Die anderen Arme lösten ebenfalls ihren Griff um das Schiff.

Clay, Cerise und die Matrosen dachten dennoch im Traum nicht daran, ihre Deckung zu vernachlässigen.

“Zum Teufel!”, schrie der Kapitän. “Erledigt mal einer das Vieh endlich!”

Der Anblick ihres reglos am Boden liegenden Gefährten erweckte neue Kräfte in Nebula, und half ihr, ihren Arm endlich wieder in den Griff zu bekommen. Diese Kreatur hatte es gewagt, Henrik zu verletzen. Dafür sollte sie ihren Zorn zu spüren bekommen! Nebula erhob ihren wieder unter Kontrolle gebrachten rechten Arm. Dunkel schimmerten die Arterien unter ihrer Haut hervor und breiteten sich immer weiter aus. “Durchstoße die Herzen meiner Feinde, Lancelot!” Pechschwarzer Äther trat hervor und formte eine Lanze. Sie schimmerte und strahlte vor teuflischer Energie. Mit dem Erhalt ihrer Waffe funkelten Nebulas Augen weithin sichtbar rubinrot. Ein kraftvoller Sprung erhob sie hinauf in die Luft. Der Besatzung der Esmeralda blieb nur das Staunen.

Weit oben über dem Schiff kanalisierte Nebula ihre Kraft.

“Überschallstoß!”

Sie stieß ihre Waffe dem Riesenkraken entgegen. Die Lanze verlängerte sich schneller als der Schall und schlug mit einem lauten Knall in der Kreatur neben der Esmeralda ein. Nachdem sie sich mindestens so schnell wieder zurückgezogen hatte, blieb ein kreisrundes Loch zurück. Sofort stürzten die zuvor noch aufgeregt zitternden Fangarme des Kraken leblos in die See. Die große Masse der Körperteile erschuf Wellen, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. Im nächsten Moment spürte Nebula wieder festen Boden unter ihren Füßen, als sie auf dem Deck der Esmeralda aufkam. Dabei stützte sie sich zusätzlich mit der linken Hand ab, während die rechte ihre Lanze am ausgestreckten Arm hinter ihrem Rücken hielt. Die Waffe verschwand und mit ihr die rubinroten Augen und die hervorstehenden Adern.

“Ein Hoch auf unsere Prinzessin!”, jubelte der Kapitän.

Seine Mannschaft stimmte mit ein.

Aber Nebula war nicht freudig gestimmt.

Rotes Monsterblut breitete sich derweil im Meerwasser um das Schiff aus.

Besorgt eilte Nebula zu Henrik. Sie legte ihre Finger auf seinen Hals und fühlte den Puls. Erleichtert atmete sie auf, als sie feststellte, dass er tatsächlich nur bewusstlos war. Er würde sicher in ein paar Momenten wieder fit sein. Aber um ein Haar wäre er gestorben. Einzig, weil sie ihren verfluchten Körper nicht im Griff hatte.

Das durfte nie wieder passieren!

Cerise sah sich um. Überall schwammen die Arme des toten Riesenkraken herum. “Jetzt bleibt nur noch eine Frage offen”, meinte sie. “Was zum Teufel machen wir mit dem Kadaver?”

Clay schaute aus, als ob ihm da schon etwas vorschwebte.
 

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Nachdem er ihn in seine Kajüte getragen hatte, legte Clay Henrik in dessen Koje und ließ anschließend Nebula allein mit ihm. Er sorgte sich um Nebulas Gesundheit, aber ihm war auch bewusst, dass sie ihm wahrscheinlich nichts sagen würde. Sie zeigte ums Verrecken keine Schwäche. Wenn jemand eine Chance hatte, aus diesem sturen Mädchen etwas herauszubekommen, dann war es Henrik.

Und so verstrichen ungezählte Momente. Noch immer saß die Prinzessin neben dem Schmiedegesellen auf dem Bett und wartete darauf, dass er endlich aufwachte.

Vorsichtig öffnete Henrik die Augen. “Bin i-ich im Himmel?”, fragte er, als das allererste, was er sah, Nebula war.

“Das konnte ich gerade noch verhindern”, sprach die Blondine mit melancholischen Unterton. Ihr Herz war noch immer schwer. Betrübt von dem Empfinden, die Menschen, die ihr wichtig waren, nicht beschützen zu können, trotz der teuflischen Macht, über die sie verfügte. Innerlich hin und her gerissen zwischen ihrem Pflichtgefühl und ihren Minderwertigkeitskomplexen, trug sie weiter die Maske der Unnahbarkeit, hinter der sie sich stets zu verstecken versuchte.

“Danke, dass du mich gerettet-”

“Bedanke dich nicht, du Trottel!” Urplötzlich war sie erregt. “Ich bin an allem Schuld! Wäre ich nicht so... schwach gewesen, dann-”

Henrik richtete sich auf und umarmte sie. “D-Das ist doch nicht schlimm. Wir sind alle manchmal schwach. Letztlich hast du mich gerettet. Mehr muss ich nicht wissen.”

Als er sie so ansah mit seinen ehrlichen Augen, bemerkte sie gar nicht, wie sich ihre Lippen allmählich annähern, bis sie sich in einem Kuss vereinigten. Henrik umschloss Nebula mit seinen Armen. Er gab ihr das angenehme Gefühl, sich fallen lassen zu können. Langsam sanken beide zurück auf das schmale Bett, ohne dabei den Austausch von Zärtlichkeiten zu unterbrechen.

Nebula gelang es, sich von Henriks Mund zu lösen und zu sprechen. “Ich hätte es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert”, sagte sie ungewohnt offen.

“Ich glaube daran, d-dass du mich immer retten kommst, wenn ich i-in der Scheiße stecke”, entgegnete der Braunhaarige und versuchte sie wieder zu sich heranzuziehen und weiter Körperflüssigkeiten mit ihr auszutauschen. Aber sie bewegte sich kein Stück zu ihm, ungeachtet dessen, mit wie viel Kraft er an ihr zog.

“Vollidiot!”, schimpfte Nebula.

“A-Aber...”

“Diese Scheiße ist doch erst passiert, weil-”

“Es ist in Ordnung!”

“Nichts ist in Ordnung!” Nun entzog sie sich ihm vollends und stand auf. “Wegen diesem... Problem wäre es fast zu spät gewesen.”

“Was war eigentlich los?”

“Ich weiß es nicht.” Die Blondine sah bedrückt zu Boden. “Vor einigen Wochen fing es an. Seitdem habe ich immer wieder diese... Anfälle.”

“A-Aber ich habe nichts bemerkt.”

“Natürlich nicht!”, funkelte Nebula Henrik an. ”Denkst du, ich trete das überall breit?! Du spinnst wohl!”

“Aber mir kannst du doch alles sagen.”

“Über manche Dinge spricht eine Frau einfach nicht.”

“Ich g-glaube nicht, dass das in diesem Fall-”

“Halt die Klappe!”

Henrik zog den Kopf ein.

“Wenn du dich soweit wieder gut fühlst, Henrik, gehe in die Kombüse!” Inzwischen war der übliche Befehlston in ihre Stimme zurückgekehrt. “Clay hatte da so eine Idee, für die er deine Hilfe braucht.” Sie umgab sich einmal mehr mit einer harten Schale, die sie wie ihre Rüstung schützen sollte, ungeachtet wem sie damit vielleicht vor den Kopf stieß.

Henrik wusste, dass es keine Widerrede gab, wenn sie erst begonnen hatte, in diesem Tonfall zu sprechen. “Okay.”

“Ach ja”, ergänzte Nebula. “Ich habe dein Schwert aus dem Meer gefischt. Es lehnt dort hinten an der Wand.” Sie zeigte zu der Stelle, an der sich die Waffe befand, und ging daraufhin.

Henrik konnte nur noch zusehen, wie sie seine Kajüte verließ. Dabei hätte er sie viel lieber weiter geküsst. Ihre Lippen waren so weich wie Wolle und so süß wie Honig. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was er wohl schon wieder falsch gemacht hatte, um sie zu erzürnen. Wieso mussten Mädchen so launisch sein? Oder war nur sie so furchtbar kompliziert? Irgendwie war er auch selber schuld. Niemand zwang ihn, auf der höchsten Schwierigkeitsstufe in das Spiel der Liebe einzusteigen.

Dennoch tat er es.
 

Vergnügt pfiff Clay in der Kombüse vor sich hin, während etwas in einem Topf über der Feuerstelle im heißen Wasser köchelte. Es verströmte einen wohltuenden Duft nach Meeresfrüchten in dem kleinen Raum. Die rosafarbene Textur begann allmählich einen intensiveren Farbton anzunehmen.

Den Teig hatte er zuvor schon vorbereitet. Ein Gemenge mit einer breiigen Konsistenz, welches hauptsächlich aus Mehl, Hefe und Salz bestand. Zusätzlich verrührt werden für gewöhnlich einige Eier und ein wenig Fischbrühe. Der Teig ruhte nun schon eine Weile unter einem befeuchteten Tuch auf der Arbeitsfläche auf der anderen Seite. Eigentlich wartete er nur noch darauf, dass Henrik endlich in die Kombüse kam.

Und wie auf sein Stichwort, trat der junge Erwachsene ein.

Große, staunende Augen betrachteten den Aufbau. “Was ist denn das alles?”, fragte er.

Clay grinste hinterhältig durch seinen dichten Bart hindurch. “Das ist ein ganz besonderes Rezept von den östlichen Inseln. Und du wirst mir beim Kochen helfen.”

Erneut hatte Henrik nicht wirklich die Wahl.

“Na gut...”
 

Abermals versammelte sich die Besatzung der Esmeralda in der Messe. Die Kunde vom bevorstehenden Festmahl war schon in aller Munde, lange bevor es aufgetischt wurde. Handelte es sich um Essen, verbreiteten sich solche Nachrichten schneller als die Pest in einem Armenviertel. Nun saßen sie ungeduldig auf ihren Plätzen und warteten darauf, bedient zu werden. Ihr Benehmen war keinen Deut besser, als am Tag davor und besserte sich nicht, als endlich die Tür zur Kombüse aufgestoßen wurde und Henrik einen Wagen mit drei großen Schüsseln hinein schob. In den Behältnissen befanden sich seltsam anmutende Bällchen. Als sich der markante Duft der Speise in der Messe verbreitete, machte er die Mannschaft nur noch ungeduldiger und gieriger.

Der Schmied verteilte das Essen. Dieses Mal ließ er sich nicht von Annemarie helfen, auch wenn sie sicher ohne zu zögern mitgemacht hätte. Stattdessen saß sie schon auf ihrem Platz. Während er die Teller füllte, sah er sich um und musste feststellen, dass Nebula sich nicht an ihrem Platz befand. Sie war wohl immer noch verstimmt. Er ließ sich nicht beirren und fuhr mit seiner Arbeit fort.

Die Gäste der Messe beäugen die Speise kritisch.

“Was ist das?”, fragte einer und lies seiner Skepsis dem seltsamen Gericht gegenüber durch wiederholtes Stechen mit der Gabel freien Lauf.

“Kann man das essen?”, wollte ein anderer wissen.

Bald schon vernahm man allerdings Laute des Genusses. Der Wohlgeschmack des exotischen Essens überzeugte auch die letzten Zweifler. Schließlich dauerte es nicht lange und alle schaufelten hemmungslos die Bällchen in sich hinein.

Cerise war da kein Stück besser.

Clay grinste die Rothaarige an.

“Mh-was hgm-glotscht Ihr Mhm-denn so hm-an?”, fragte sie ihn leicht empört mit prallen Backentaschen. Dabei fielen Brocken aus ihrem Mund zurück auf den Teller.

So sah er sie selten. “Freut mich, wenn es Euch schmeckt”, meinte er. Für seinen Geschmack könnte sie ruhig etwas zunehmen.

Cerise schluckte herunter. “In der Tat. Das schmeckt wirklich gut.” Sie beugte sich über den Tisch zu ihrem Liebhaber, der ihr wie immer gegenüber saß, und flüsterte ihm ins Ohr. “Wenn Ihr mir nicht auf der Stelle das Rezept verratet, erfahrt Ihr einen äußerst schmerzhaften Tod.”

Ihre Drohung entlockte ihm ein weiteres Grinsen. “Als ob Ihr das tätet.”

“Wohl war. Es wäre außerordentlich schwer einen angemessenen Ersatz für Eure Qualitäten zu finden.”

“Das betrachte ich mal als Kompliment.”

"Herausragende Leistungen werden stets honoriert.”

Beide sahen sich an, als wollten sie sich gleich hier vor allen Leuten die Kleider vom Leib reißen und es hemmungslos auf der Tischplatte treiben.

Annemarie blickte fragend zu Henrik. “Wovon reden die da?”

“Ähm...” Dem Braunhaarigen fehlten die Worte, um es der Kleinen zu erklären. “Also d-das ist so. Sie meint das...”

“Ja?!”

“Nein, das sage ich dir erst, wenn du älter bist.”

“Du bist gemein!” Annemarie verschränkte die Arme und schaute mit zur Schnute verzerrten Schmollmund beleidigt zur Seite.

So schnell wie sie in die Messe hinein gebracht worden waren, wurden die Oktopusbällchen von den Anwesenden auch schon wieder verspeist. Kurze Zeit nach dem Festessen zerstreute sich die Gesellschaft wieder in alle Winde. Von den Takoyaki war nicht viel übrig geblieben. Außer dem einen, besonders scharf gewürzten, den Henrik mit extra viel Liebe für seine Liebste angerichtet hatte. Einen Tag später war dieser aus der Kombüse verschwunden. Henrik wusste, dass Nebula ihn sich einverleibt hatte. Kein Anderer wäre wahnsinnig genug, das Wagnis einzugehen, dieses teuflische Oktopusbällchen direkt aus der Hölle, das er liebevoll “Satans Furz” getauft hatte, zu essen.

Henrik spürte, dass er Nebula ihren Freiraum lassen musste. Den wollte er ihr auch gewähren. Wenn sie bereit dazu wäre, täte sie ihm ihr Herz ausschütten.

Früher oder später. Vielleicht eher später...

Er konnte warten.

Schnell verstrich eine Woche.

Der Wind blieb weiterhin günstig und blies die Esmeralda ohne weitere Umwege oder unbequeme Aufeinandertreffen mit Meereskreaturen direkt an die Küste von Yjasul. Endlich hatten sie das Kalifat erreicht.

Der Hafen von Al Shahr erwartete sie bereits.

Aus allen Wolken


 

🌢
 

Inmitten eines Ziergartens im japanischen Stil gabelten sich die Äste eines imposanten Kirschbaums und wurden von der leichten Brise sanft gewogen, welche durch die Anlage blies. Ein leises Klacken verkündete, dass sich das Bambusrohr des Shishi Odoshi einmal mehr mit dem klaren Wasser aus der Mineralquelle gefüllt und soeben in den kleinen Teich voller bunter Koi entleert hatte. Ein hübscher Schmetterling war von der Bewegung des Wasserspiels aufgeschreckt worden und flatterte nun davon.

Im Schattens des Kirschbaums hockte Toshiro Yamato. Ein Junge von sechzehn Jahren. Er hatte blonde, aufgestellte Haare und bernsteinbraune Augen. Es war noch immer heiß. Er schwitzte in seinem Haori und hätte viel lieber darauf verzichtet, doch sein Vater bestand darauf, dass er ordentlich gekleidet zu seinen Lehrstunden erschien. Es wäre unerhört und auch unangemessen für einen Jungen seines Standes, nur im Jimbei gekleidet dem Lehrer unter die Augen zu treten. Toshiro sah dem Schmetterling nach. Wie sehr wünschte er sich, er könne auch einfach davon fliegen und der harmonischen Hölle dieses Gartens entkommen.

“Wo seht Ihr hin, Durchlaucht?”, tadelte der Tutor. “Hier vorn spielt die Musik. Wie kann ein Falter spannender sein, als die Freuden der Rechenkunst?”

Ein weiteres mal klapperte das Shishi Odoshi.

Der Mann klopfte mit seinem Zeigestock auf eine Schiefertafel, die direkt unter dem Kirschbaum stand und störte somit die Harmonie des Zen-Gartens.

Gezwungenermaßen wandte sich Toshiro lustlos dem Angeschriebenen zu. Es handelte sich um eine Aufgabe, bei der es darum ging, Formeln unter Beachtung der Prioritäten der verschiedenen Rechenoperationen und Parenthesen aufzulösen. Toshiro fragte sich, wozu er das wissen musste. Er war der ehrenwerte Oji des Donnerclan. Eines Tages würde er seinen Vater, den großen Daimyo, beerben und über seine Untertanen herrschen - auch wenn ihm das eigentlich zuwider war. Für die Rechnerei hätte er dann seinen Schatzmeister. Warum um alles in der Welt verlangte sein Vater von ihm, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die er sowieso nicht benötigte? Viel lieber würde er sich im Kampf erproben. Aber das stand erst in endlos anmutenden drei Tagen wieder auf dem Lehrplan. Vorher müsste er Philosophie, Geschichte und heute Mathematik über sich ergehen lassen.

Welch eine Qual!

Und das Wasserspiel schenkte ihr einen Takt.

“Junger Herr, vermögt Ihr diese Gleichung aufzulösen?”

“Gebt mir den Schwamm, und ich löse sie von der Tafel ab.”

“Unverschämtheit!” Der Tutor erhob seinen Zeigestock und ließ sein Ende gegen Toshiros Gesicht schlagen.

Dieser hielt sich die Wange. “Verdammt! Das tat weh!”

“Der Daimyo hat mir gestattet, Euch zu züchtigen, wenn Ihr die Arbeit verweigert! Eure Leistungen lassen zu wünschen übrig. Euer Vater verlangt Resultate!”

Toshiro bleib weiter stur. “Wenn er das gelöst haben will, soll er es selbst machen!”

Sein Tutor wollte bereits erneut ausholen, als er unerwartet die Lösung von dem ungehobelten Prinzen präsentiert bekam.

“Das ergibt sieben.”

Für einen Moment herrschte Stille, so dass man abermals das Shishi Odoshi hörte.

Erstaunt legte der ältere Mann seinen Stab beiseite. “Na also, Ihr könnt es doch. Wo ist das Problem?”

“Es ist so furchtbar langweilig. Wir sind das ‘Erhobene Volk’. Stolze Krieger. Ich sollte in den Krieg gegen unsere Feinde ziehen, nicht gegen Zahlen und Klammern.”

Diese Aussage ließ den Tutor schmunzeln.

“Ihr glaubt also, in der Mathematik liegt keine Ehre?”, fragte er provokant.

“Natürlich. Rechnerei gewinnt mir keine Schlacht.”

“Seid Ihr Euch da sicher, Durchlaucht?” Der Lehrer nahm den Schwamm und wischte die Aufgabe mit samt den anderen, die Toshiro noch nicht bearbeitet hatte, ab. Stattdessen zeichnete er eine nach unten geöffnete Kurve, an die er einen dicken punkt setzte, von dem aus ein Pfeil von der Kurvenlinie weg zeigte. “Könnt Ihr mir sagen, was das hier ist?”

“Ähm?”

“Was zerschlägt Euch die feindlichen Wehranlagen und Mauern?”

“Eine Kanone?”

“Genau. Und habt Ihr Euch schon mal die Frage gestellt, wie man aus weiter Entfernung eine verhältnismäßig kleine Mauer treffen kann?”

“Nein. Das ist Aufgabe der Kanoniere.”

“Ihr macht es Euch zu leicht, Durchlaucht! Das ist eine Wurfparabel. Damit könnt Ihr die Flugbahn einer Kanonenkugel berechnen.”

Jetzt schien er die Aufmerksamkeit des Jungen zu haben.

“Und das berechnen die Kanoniere mitten auf dem Schlachtfeld. Alles im Kopf. Ohne Griffel und Pergament.”

“Könnt Ihr mir beibringen, wie ich das ausrechnen muss?”

“Da Ihr bereits Klammern auflösen und Formeln umstellen könnt, sollte eine Funktion keine große Schwierigkeit mehr darstellen.”

Mit ungewohntem Eifer sog Toshiro das Wissen ins sich auf.

Sein Tutor schaute zufrieden auf den nun willigen Schüler. Es war schon immer viel effektiver gewesen, das Interesse eines jungen Menschen zu wecken, anstatt ihm die Informationen mit Gewalt hinein zu prügeln.
 

Auf einem Übungsplatz weiter unten in der Schlossanlage kämpften fünf Wachen gegen eine einzige Frau. Das Aufeinanderschlagen der hölzernen Schwerter hallte von den Pagoden wieder, als die Männer sich mühten, gegen ihre Gegnerin standzuhalten. Alle am Kampf beteiligten hielten zwei Waffen in ihren Händen. Trotz der Übermacht von zehn zu zwei Bambusschwertern, konnten die Wächter keinen Boden gegen ihre Gegnerin gut machen. Die Frau nahm den ersten ihrer Trainingspartner aus dem Spiel, indem sie angedeutete, seinen Kopf zu treffen, jedoch vorher stoppte.

Schauspielerisch ließ er sich daraufhin scheintot zu Boden fallen.

Die übrigen Männer schreckten zurück.

Die Frau mit dem rabenschwarzen Haar begab sich in Verteidigungsstellung.
 

Nachdem sein Tutor mit seinen Leistungen zufrieden war, hatte dieser Toshiro früher gehen lassen. Für seine gute Mitarbeit sollte der junge Herr belohnt werden und bekam den Rest des Tages geschenkt.

Endlich frei, dachte Toshiro. Aber er wusste nicht, was er mit seiner neu erlangten Freizeit anfangen sollte. Die Geräusche von aufeinanderschlagen Bambusschwertern drangen an sein Ohr. Es gab augenscheinlich einen Kampf. Toshiro kribbelte es in den Fingern, sich nach all der Anstrengung ein wenig zu raufen. Wie eine Motte in der Nacht vom Licht einer Laterne angezogen wurde, trieb es ihn in Richtung des Übungsplatzes. Dazu musste er den inneren Palast verlassen, durch ein Tor hindurch schreiten und einem längeren gepflasterten Weg folgen.

Als er endlich sein Ziel erreichte, erkannte er, wer dort kämpfte.
 

Der Kampf war für Aki nichts anderes als Musik und der dazu passende Tanz. Auch wenn das Katana nicht die Waffe ihrer Wahl war, vermochte sie es sich stets an den Fluss des Kampfes anzupassen. Schon früh lernte sie, sich die Melodie und den Rhythmus zu eigen zu machen, um in einem Kampf erfolgreich zu sein. Die Menge an Gegnern war dabei unerheblich.

Zwischen den Verteidigungsschlägen gegen die vier verbleibenden Gegner, bemerkte sie, dass seine Durchlaucht, der Prinz, gekommen war und ihr zuzusehen. Toshiro-sama war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Im zarten alter von fünf Jahren bestimmte man sie dazu, die Leibwächterin des neugeborenen Prinzen zu werden. Seitdem richtete sie sich voll und ganz nach ihrem Herrn. Seine Sicherheit und sein Wohlbefinden hatten für sie oberste Priorität. Sie war jederzeit bereit für ihren Herrn zum äußersten zu gehen und jeden seiner Befehle zu befolgen, egal was es auch sein möge. Aber in diesem Moment verspürte sie das Bedürfnis, Toshiro zu demonstrieren, was er schon längst wusste. Sie würde ihre übrigen Gegner besiegen und ihren Herrn einmal mehr ihren Wert beweisen.

Die vier Männer zogen sich abermals zurück und flüsterten sich etwas zu.

Aki musste annehmen, dass sie etwas im Schilde führten, und bereitete sich vor.
 

Bezaubert von ihren Fertigkeiten und erstaunt von ihrer Zielstrebigkeit folgte Toshiro jeder Bewegung seiner Leibwächterin. Diese Frau, die er Zeit seines Lebens kannte, mit der er zusammen aufwuchs, der er vollends vertraute, war die beste Kriegerin des Donnerclans! Niemand konnte ihr im Kampf das Wasser reichen - außer ihm natürlich! Meisterhaft hantierte sie mit ihren Waffen, als spiele sie ein Instrument. Die Symphonie des Kampfes hallte noch immer von den Pagoden wieder.

Plötzlich stürmte einer der Palastwächter nach vorn und trat in den sandigen Boden. Sein Fuß riss eine große Menge Schmutz mit sich und beförderte ihn in Akis Augen. Während diese ihre Sehorgane zusammen kniff, beteiligten sich die verbliebenen Männer an der Attacke.

Die Schwarzhaarige verließ sich bei der Verteidigung ganz auf die übrigen Sinne.

Unter ihren nackten Füßen konnte sie sie sich nähern spüren. Auch ohne die übermütigen Rufe der Männer, hatte sie ihre Positionen bereits vor ihrem geistigen Auge und war so in der Lage, jedem Stoß auszuweichen. Gleichzeitig genütgen wenige Schläge und alle ihre Gegner waren besiegt. Gemäß den Regeln mussten sie sich nach einem angedeuteten, letalen Treffer geschlagen geben. Und dies noch bevor Aki den Sand aus ihren Augen gerieben hatte.

Nach Abschluss des Übungskampfes standen die Besiegten wieder auf und alle sechs Teilnehmer verneigten sich respektvoll voreinander, bevor sie sich zerstreuten. Aki sammelte die auf dem Boden verteilten Bambusschwerter ein. Ordentlich sortiert stellte sie sie zurück in ihre Halterungen unter einem kleinen Vordach. Anschließend nahm sie die beiden Pistolenhalterungen, welche sie vor den Kampf abgelegt hatte, und schnallte sie wieder an ihren Obi. Danach begab sie sich zu ihrem Herrn und kniete respektvoll nieder. Dabei berührte das rechte Knie den Boden, während das linke in Hockstellung verblieb. Aki ballte die rechte Faust über ihrer linken Schulter und neigte demütig den Kopf. “Ich hoffe, ich habe Euch nicht zu sehr gelangweilt, Toshiro-sama”, sprach sie.

“Keinesfalls”, versicherte der Prinz. “Du hast mich exzellent unterhalten.”

“Was verdanke ich Euren Besuch?”

“Ich habe den Rest des Tages frei bekommen”, erklärte Toshiro.

“Welch eine Ehre, dass Ihr Eure Zeit für mein Training opfert!”

“Jetzt steh’ endlich auf!”

“Jawohl, Oji-sama!” Umgehend leistete Aki dem Befehl ihres Herrn folge und stellte sich kerzengerade auf.

“Ich musste mich ablenken. Ich hörte Kampfgeräusche und dachte mir, es könnte vielleicht interessant werden. Leider war es viel zu schnell vorbei!”

“Entschuldigt, junger Herr. Ich werde meine Gegner demnächst nicht gleich besiegen, wenn Ihr zuschaut.”

“Du kannst deinen Fehler wiedergutmachen, wenn du jetzt gegen mich kämpfst.”

Abermals verneigte sich Aki. “So sei es, Oji-sama.”
 

Alle Vier von sich gestreckt, lag Toshiro auf dem staubigen Boden. Sein teurer Haori musste schon von oben bis unten voll sein mit Schmutz. Sein Vater würde toben, angesichts des stolzen Preises des edlen Geschmeides. Aber das war dem Prinzen gerade sehr egal. Der Kampf gegen seine Leibwächterin hatte ihm alles abverlangt. Es fühlte sich an, als kämpfte er gegen mehrere Gegner gleichzeitig. Gefühlt aus jeder Richtung prasselte eine Attacke auf ihn ein. Es war, als habe Aki mehrere Paar Arme gehabt.

Auf dem Boden liegend und grübelnd musste er einsehen, das auch er ihr nicht das Wasser reichen konnte.

Aki stand abermals kerzengerade vor ihm und verneigte sich.

“Aua!”, jammerte Toshiro.

“Entschuldigt, Durchlaucht. Ich hätte nicht so hart zuschlagen sollen.

“Ist schon gut. Schließlich habe ich befohlen, mich nicht zu schonen.”

“Soll ich das Bad vorbereiten lassen und Euch waschen?”

Beim Gedanken daran, das sie ihn dann nackt sehen würde, wurde er rot. “A-Also”, stotterte er. “N-Nein, ich denke, das wird nicht nötig sein.

Aki bemerkte sein merkwürdig abweisendes Verhalten. Es war offensichtlich, das er sich schämte. “Junger Herr, ich wickelte Euch. Ich kenne jeden Zentimeter an Eurem Körper. Es gibt keinen Grund sich zu schämen.”

Das machte es nur noch schlimmer.

“Verzeiht, meine Aufdringlichkeit.” Erneut verneigte sich Aki. “Aber wenn Euch der Daimyo so sieht, schickt er Euch dieses mal wirklich ins Bergkloster. Ich werde Eurem Kammerdiener Bescheid sagen.” Aki trat an Toshiro heran und reichte ihm die Hand.

Der Prinz nahm sie an und zog sich an Aki hoch.

“Bitte gebt mir Euren Haori.”

Toshiro kam den Wunsch nach und übergab ihr das Kleidungsstück.

“Ich werde schauen, dass ich jemanden auftreibe, der in der Lage ist das zu waschen.” Sie begutachtete den Schmutz auf dem Haori. ”Zur Not müssen die Nähte aufgetrennt werden.” Danach wandte sich die Leibwächterin von ihrem Schutzbefohlenen ab und ging.
 

🌢
 

Vorsichtig setzte der Schiffsbauer das Getriebe, an dem er gerade arbeitete, wieder zusammen. Vor drei Tagen hatte er das Schiff abgeholt. Sein Eigentümer klagte darüber, dass die Propeller ihren Dienst nicht mehr verrichteten und es somit nicht mehr zu beherrschen war. Bis heute früh saß der Schiffsbauer an der Gerätschaft und suchte den Fehler. Er tarnte sich gut, aber letztlich fand er ihn. Es war ein nicht ordnungsgemäß verschraubtes Zahnrad. Stets waren es die kleinen Dinge, an denen die großen scheiterten. Dies ist mitnichten nur eine Binsenweisheit von Kriegstreibern. Auch der durchschnittliche Untertan sollte es beim täglichen Allerlei beherzigen, davon war der Schiffsbauer überzeugt.

“Verflixt und zugenäht!”, fluchte er, als er seinen Schraubendreher nicht mehr finden konnte. “Welcher Trottel hat mein Werkzeug genommen?!”

Ein junger Mann, vermutlich einer seiner Lehrlinge, starrte erschrocken auf das Gerät in seiner Hand. “E-Entschuldigung, Meister”, sagte er und brachte den Schraubendreher umgehend zu dessen Besitzer zurück.

“Gib her, du Lausbub!” Der Meister riss dem Burschen das Werkzeug aus der Hand und begann das Gehäuse zu verschrauben. Dann stieg er auf eine Leiter und setzte das Getriebe an seinen Bestimmungsort am Heck des Schiffes ein. “Der Kunde sollte uns unbedingt zu seiner Stammwerft machen!”, sprach er anschließend. “Wahrscheinlich hat sich schon ein anderer daran versucht! Womöglich bei der letzten Wartung. Und natürlich nicht wieder richtig zusammengebaut.”

“W-Wenn Ihr das sagt, M-Meister!” Der Lehrling war schon froh, dass er den Schraubenzieher zur Strafe nicht schon wieder über den Schädel gezogen bekam, wie das letzte Mal, als er etwas nahm, ohne vorher zu fragen.

Jetzt benötigte er dringend frische Luft und verließ die Werft. Oft hatte er genug von seinem cholerischen Meister. Dies war einer jener Momente. Auf dem Pier neben dem Ausgang angekommen, schaute er hinauf auf das weiße Meer. Der friedliche Anblick des Nebels und der Wolken half ihm dabei, herunterzukommen. Aber etwas war anders als sonst. Plötzlich sah er mehrere Luftschiffe am Horizont auftauchen. Es waren nicht etwa Transporter, bis zum Absturz voll mit teuren Gütern, sondern Schlachtschiffe. Die fremden Fluggeräte strotzen nur so vor Feuerkraft. Der Lehrling konnte die Kanonenrohre einzeln zählen, während sie unaufhaltsam näher kamen. “Ähm, Meister”, machte er auf sich aufmerksam.

“Was hast du nun schon wieder?”, fragte der alte Mann genervt.

“Wollen die dort hinten auch ihre Getriebe repariert bekommen?”

“Was erzählst du denn jetzt-” Noch während er ebenfalls an das Hafenbecken trat, versagte ihm die Stimme angesichts der stolzen Flotte, die sich dem Hafen näherte. Er glaubte, er träume. “Heilige...”

Die Glocke läutete zum Alarm.

Ehe sich die Einwohner der Hafenstadt versahen, fuhr die Armee die Geschütze an das Hafenbecken und bereitete sich auf den Angriff des Feindes vor.
 

Hideyoshi Yamato, der ehrenwerte Daimyo des Donnerclans, hockte auf einem reich bestickten Kissen und sah durch die geöffnete Tür auf die Terrasse und den dahinter liegenden Garten. In der Mitte befand sich eine schöne und große Zeder, deren dicker Stamm mit einem Shimenawa zu Ehren des Schutzgottes des Clans verziert worden war. Dabei handelte es sich um ein Bund von Ziergegenständen, welche von einem massiven geflochtenen Strohseil gehalten wurden. Sie markierten Orte, an denen die sterblichen Menschen mit den unsterblichen Göttern in Kontakt treten und beten konnten. Auch Hideyoshi kniete jeden Morgen nieder und bat die himmlischen Wesen um ihren Schutz.

Und trotzdem hatte er jede Nacht den gleichen wiederkehrenden Traum.

Mit ihm anwesend waren mehrere Wachen, zwei Diener und Toshiros Tutor.

“Sprecht, wie macht sich mein Sohn?”, fragte der Daimyo den Lehrer.

“Nun, Eurer Durchlaucht.”, antwortete dieser. “Die Aufmerksamkeit des jungen Herren ist ungestüm und wechselhaft wie das Wetter.”

“Ich gab Euch die Erlaubnis, ihn zu züchtigen.”

“Seid nicht zu hart zu Eurem Sohn. Ich erinnere mich noch gut an einen kleinen Prinzen, den ich einst unterrichtete. Dieser war genauso ein Lausbube und seht, was für ein ausgezeichneter Daimyo aus ihm geworden ist.”

“Ich zahle Euren Lohn, damit mein Sohn nicht so wird wie ich es war. Wenn Ihr das nicht schafft, so muss ich mich nach einem neuen Meister umsehen.”

“Seid unbesorgt, Durchlaucht. Ich habe es geschafft Euch zu unterrichten, ich werde dies auch bei Eurem Sohn schaffen. Heute hat er gut mitgearbeitet. Ich gab ihm daraufhin den Rest des Tages frei.”

“Es liegt in Eurer Verantwortung, welche Methoden Ihr wählt.”

“Zuckerbrot und Peitsche, Durchlaucht.”

“Ich erwarte nichts Geringeres von meinem alten Tutor.” Hideyoshi verfiel dem Schweigen, als er weiter in den Garten schaute.

“Durchlaucht, stimmt etwas nicht.”

“Es ist alles in Ordnung. Ihr dürft Euch nun zurückziehen.”

Der Tutor verneigte sich, obwohl der Daimyo ihm den Rücken zuwandte und es gar nicht sehen konnte. “Sehr wohl.” Daraufhin trat er an die Tür heran. Die Wachen öffneten die Pforte und der alte Mann verließ die Kammer des Daimyo. Es wartete noch ein Berg von Arbeit auf ihn, die getan werden musste.

Jede Nacht habe ich immer wieder diesen Traum, grübelte Hideyoshi. Oh ihr Götter, was versucht ihr mir zu sagen?

Er hörte Donnergrollen in der Ferne. Zuerst glaubte er an ein Gewitter, doch dann sah er eine Rauchsäule aufsteigen.

In diesem Moment stolperte ein Bote zur Tür herein. “Der Feuerclan, der Feuerclan!”, rief er außer Atem. “Es sind feindliche Luftschiffe am Horizont gesichtet worden. Sie greifen den Hafen an!”

“Diener, bring mir mein Schwert!”, befahl Hideyoshi ohne große Regung.

Sofort eilte ein weiterer Mann herbei, der ein Katana auf einem Kissen bei sich trug. Er kniete neben seinem Daimyo, senkte sein Haupt und bot die Waffe dar.

Hideyoshi ergriff das Katana, welches noch immer in seiner Schwertscheide steckte, und zog es ein Stück aus ihr heraus. “Männer, der Kriegsgott ist erwacht! Überbringt meine Befehle: Wir greifen an und vernichten die Flotte des Feindes!”

Alle Anwesenden verneigten sich und ballten die rechte Faust auf der linken Schulter. “Jawohl, mein Daimyo”, sprachen sie im Gleichklang.

“Holt die Kunoichi! Ich habe einen wichtigen Auftrag für sie!”
 

🌢
 

Die Schmach seiner Niederlage saß noch immer tief. Toshiro ließ keinen Kampf aus und trainierte stets fleißig, um eines Tages ein großer Krieger seines Clans zu werden. Er konnte sich doch nicht einfach von seiner Leibwächterin besiegen lassen! Wo käme er da hin? Jedenfalls musste er schleunigst den Kopf frei bekommen. Was gab es besseres als eine Tanzvorführung? Aus diesem Grund hatte Toshiro die fünf Geishas kommen lassen, welche ihn just in diesem Moment mit ihren grazilen Bewegungen verzückten.

Jede der Frauen trug eine Yukata mit Blumenmuster und überdimensionaler Zierschleife auf dem Rücken. Ihre Gesichter hatten sie weiß angemalt, um noch blasser zu wirken, als sie es ohnehin schon waren. Beim Tanzen führten sie in jeder Hand einen Fächer, welchen sie passend zur Musik der Saiteninstrumente mal öffneten, mal schlossen. Die Schrittfolge jeder einzelnen war auf die anderen vier abgestimmt. Sie machten keine Bewegung zu viel. Ihr Tanz war mit das anmutigste und schönste, das Toshiro je erleben durfte.

Etwas trübte die Lieblichkeit dieses Moments.

Von draußen drang ein dumpfes Grollen in den Palast ein.

Toshiro hob den Arm und wies die Geishas an, ihre Darbietung zu unterbrechen. Die Musikanten stoppten ebenfalls. Während der Prinz lauschte, ertönten weitere Donnergrollen. Sie klangen jedoch nicht wie die eines Gewitters. Als Angehöriger der ruhmreichen Yamato musste Toshiro das einfach wissen. Das Geräusch war viel zu kurzlebig, um von einem Unwetter hervorgerufen worden zu sein.

Was das wohl ist, fragte er sich.

Urplötzlich öffnete sich die große Tür und Aki überraschte Toshiro mit ihrem Kommen. Er war sich sicher, dass sie ihm nicht vortanzen wollte. Schade eigentlich! Noch bevor sie sprach, erkannte er an ihrem Gesichtsausdruck, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein musste.

Seine Leibwächterin kniete sich vor seinem Stuhl hin. “Durchlaucht, Euer Vater schickt mich. Ihr müsst mich umgehend begleiten!”

“O nein, schickt er mich jetzt doch ins Bergkloster?”, versuchte Toshiro, die angespannte Situation aufzulockern.

Aber Aki war nicht zu Späßen aufgelegt. “Wir haben keine Zeit für Eure Scherze, mein Prinz! Ich bitte Euch, mir sofort zu folgen.”

“Aber was hast du denn, Aki?”

“Keine Zeit für Erklärungen!” Die Schwarzhaarige erhob sich aus der Demutspose und ging auf ihren Herrn zu. Unter den Augen der Geishas packte sie den jungen Prinzen und schleifte ihn gegen seinen Willen mit sich.
 

Mit tosenden Donnergrollen feuerten die Geschütze beider Seiten auf ihre Ziele. Glühende Geschosse durchschlugen gnadenlos Schiffsplanken und Häuserwände gleichermaßen. Eine der Kanonenkugeln der Angreifer traf eine Kanone des Donnerclan. In der darauf folgenden Explosion wurden die Kanoniere verstreut durch die Luft gewirbelt. Ihre Knochen von der Druckwelle zerschmettert und ihr Fleisch durchbohrt von den Splittern des zerstörten Kriegsgerätes.

Sie waren nicht die ersten und keinesfalls die letzten Opfer des Angriffs.

Der Feuerclan schoss an Ketten befestigte Harpunen auf den Pier. Sie bohrten sich beim Aufprall tief in das Mauerwerk hinein. Die Soldaten des Feindes nutzten die Ketten als Angriffsweg. Sie rutschten auf ihnen mit gezogenen Schwertern, deren Klingen in Flammen gehüllt waren, dem Rand des Hafenbeckens entgegen. Ihre Waffen besaßen einen Magiespeicher, der vor dem Kampf erst aufgeladen werden musste. Fast wie eine verzauberte Batterie. Die Verteidiger kamen indes nicht mehr hinterher, die Ketten zu durchschlagen.

Der Feuerclan landete.

Eine Überzahl von Angreifern, mit denen vorher niemand gerechnet hatte. Obwohl es die Hauptstadt des Donnerclans war, stationierte der Daimyo dennoch nur die übliche Garnison. Das schlechte Wetter hielt die Feinde bisher zuverlässig vom Angriff ab. Dieses Mal schien der Feuerclan entschlossen, mögliche Verluste hinzunehmen, nur um den Widersacher verheerend zu treffen.

Während die Truppen den Hafen enterten, feuerten die oberen Kanonenbatterien der Schlachtschiffe weiter ununterbrochen auf den Feind. Die Kapitäne interessierte es augenscheinlich kein Stück, dass sie womöglich ihre eigenen Leute trafen.

Die Soldaten des Donnerclans sahen sich der feindlichen Übermacht schutzlos ausgeliefert. Mann um Mann fiel den brennenden Schwertern zum Opfer. Sie waren nicht imstande, die Stellung zu halten. Gepaart mit dem Schrecken der gefürchteten “Brennenden Klingen”, sank die Moral der Truppe bedrohlich. Die Männer verloren ihren Kampfesmut und wurden abgeschlachtet wie Vieh.

“Klaue des Donnerdrachen!”, tönte es über den Port.

Hideyoshi konnte sich das nicht mehr länger mit ansehen und beschloss, selbst in das Kampfgeschehen einzugreifen. Augenscheinlich vom Himmel herab, stürzte er sich mit gezogener Waffe in die Schlacht. Die Klinge seines Schwertes wurde umhüllt von unzähligen Blitzen. Auf seiner Stirn leuchtete ein fremdartiges Symbol, welches frei übersetzt “Donner” bedeutete. Die zuckende Elektrizität spiegelte sich in den bernsteinfarbenen Augen des Mannes wieder. Der Daimyo rammte das Schwert in den Boden. Die Energie der Waffe übertrug sich auf den Boden und von dort aus auf die stählernen Ketten. Zu dutzenden stürzten Soldaten des Feuerclans hinab in das weiße Wolkenmeer und hindurch in die teuflischen Untiefen darunter.

“D-Der Daimyo!”, rief einer seiner Getreuen lauthals aus.

Sofort erholte sich die Moral der Truppe und die Männer drängten die verbleibenden Feinde in den Abgrund.

Gerade als sich das Blatt zu wenden schien, explodierten mehrere Feuerbälle genau an der Stelle, an der zuvor noch Hideyoshi stand. Aber so einfach ließ sich der Anführer des Donnerclans nicht umbringen. Mit einem Satz sprang er rückwärts aus der Gefahrenzone, eine Spur von Rauch hinter sich her ziehend. In der Luft wandte er sich um und seine Klinge kreuzte die eines mächtigen Gegners.

Über ihnen schwebte ein anderer Mann auf einer schwarzen Wolke. Auch auf seiner Stirn leuchtete ein Symbol. Dieses bedeutete “Feuer”.

“Ihr!”, sprach Hideyoshi.

Sein neuer Gegner war niemand geringerer als Hotaru Hojo, der Sohn des Daimyo des Feuerclans. Er parierte mit seinem Schwert, das er einhändig führte. “Ihr verschwendet meine Zeit, Schwächling!”, erwiderte dieser voller Abneigung gegenüber dem seiner Meinung nach unterlegenen Gegners. Die freie Hand ballte Hotaru zur Faust und schlug sie Hideyoshi ins Gesicht.

Der Anführer des Donnerclans stürzte mit hoher Geschwindigkeit in ein Hausdach unter ihm hinein.

Abschätzig sah der Feuerprinz hinterher. “Wie Langweilig!” Er erhob sein Schwert in den Himmel. “Loderndes Inferno!” An der Spitze seiner Waffe entstand ein Feuerball, dessen Größe mit jeder Sekunde zunahm. Als Hotaru mit seiner Kreation zufrieden war, schleuderte er den Feuerball auf das Haus, indem er sein Schwert darauf richtete. Eine Explosion folgte. Trümmerteile des Hauses rieselten auf die Soldaten, wie ein heißer Sommerregen.

Der Staub lichtete sich.

Knieend stützte sich der Daimyo auf sein in den Boden gerammtes Schwert. Der Ausdruck seiner Macht, das Symbol auf seiner Stirn, war erloschen. Er hatte unzählige Schrammen davon getragen und ein Großteil seiner Kleidung war verbrannt. Er hustete und spürte, wie ihn die Kraft zu kämpfen verließ.

Lässig schwebte Hotaru auf der schwarzen Wolke hinunter und sprang von ihr ab, als sie nur noch wenige Zentimeter über dem Boden hing. Er näherte sich seinem Gegner und streckte ihn mit einem Tritt gegen den Kiefer nieder.

Hideyoshi wollte weiterkämpfen. Allerdings verlor er sein Bewusstsein.

Hotaru packte seinen Gegner und warf ihn über die Schulter, wie ein Handtuch nach dem Besuch einer Sauna. Danach ging er zurück zu seiner Wolke und bestieg sie. Angesichts der verängstigten Soldaten des Donnerclans musste er nur müde lächeln. Die schwarze Wolke erhob sich und nahm Fahrt auf.

Einige der Soldaten zielten mit Fernwaffen, aber trauten sich nicht zu feuern, aus Angst den Daimyo zu treffen.

“Ihr seid so ein erbärmlicher Haufen!” spottete Hotaru. Er klopfte auf den Hintern seiner bewusstlosen Geisel, um Hideyoshi vor seinen Mannen weiter zu demütigen. “Mein Vater hat für den König der Schwächlinge eine kuschelige Zelle frei! Ha ha ha!” Zusammen mit seiner Geisel flog er daraufhin zu seiner Flotte zurück.

Eine neue Salve Harpunen bohrte sich in das Hafenbecken.

Der Feind dachte nicht im Traum daran, das Kämpfen einzustellen.
 

Unter dem Zerren seiner Leibwächterin war es dem Donnerprinz, als ob ihm jeden Moment die Hand abfallen tät. Aki hatte ihm rein gar nichts verraten. Toshiro war absolut ahnungslos. Sie schleifte ihn einfach mit, ohne auf seine Fragen zu reagieren. “Aki, was ist hier los verdammt noch mal?!”, versuchte er ein letztes Mal Informationen aus der Schwarzhaarigen herauszubekommen.

“Wir haben keine Zeit für Fragen!”, entgegnete die Kunoichi.

Das Grollen des Kampfes erreichte nun auch ihre Position.

“Da ist keine Wolke am Himmel! Wir werden angegriffen, habe ich recht!”

Aki antwortete nicht.

Stattdessen zerrte sie weiter an seinem Arm. Bald wäre seine Schulter ausgekugelt.

Entschieden blieb Toshiro stehen.

Aki wurde ebenfalls abrupt gestoppt.

Wenigstens in Sachen Körperkraft war er ihr also überlegen.

“Was soll das?!”, schrie Toshiro.

Mit der Faust über der Schulter verneigte sich Aki. “Vergebt mir, Durchlaucht.”

“Schon gut. Sag mir einfach, was los ist.”

“Ihr habt Recht. Wir werden angegriffen.”

“Von wem?”

“Wie es aussieht, sind es die Hojo. Vor einer halben Stunde begannen sie damit, den Hafen zu bombardieren.”

“Diese halb durchgebratenen Bastarde! Lasst sie uns vertreiben!”

“Nein! Der Daimyo hat befohlen, dass Ihr fliehen sollt.”

“Will Vater mich verarschen?! Ich bin ein starker Krieger. Zur Not werde ich die Arschlöcher alleine auf ihre Insel zurück jagen!”

“Bitte kommt mit mir, oder ich muss Gewalt anwenden. Auch der Prinz muss sich dem Befehl des Daimyo unterordnen!”

“Aki, ich befehle dir-” Toshiro blieb das Wort im Hals stecken, als Aki plötzlich ihre Pistole zog und offenbar auf ihn richtete. Das mit der Gewalt sollte doch eigentlich nur eine Floskel sein! Ein Schuss. Toshiro spürte, wie das Projektil an seinem Kopf vorbei flog.

“Urhg!”, stöhnte etwas hinter ihm und schlug dumpf auf.

Toshiro sah sich um und erblickte einen Soldaten am Boden liegen, mit der gezogenen Waffe noch immer in der Hand. Auf seiner Rüstung war das Emblem der Hojo. Schockiert blickte er wieder zu Aki.

Die Schwarzhaarige verstaute ihre Waffe im Halfter. “Wir müssen hier weg, bevor noch mehr von denen kommen!”

“Ja, das müssen wir wohl”, gestand Toshiro ein, als er weitere Soldaten des Feindes erspähte, wie sie auf sie zugerannt kamen.
 

🌢
 

Das große Admiralsschiff des Feuerclan kam endlich in Feuerreichweite. Es war eine gewaltige Konstruktion, gehalten von einem großen Ballon und vielen Poplergetrieben. Hotaru rieb sich randvoll mit perverser Vorfreude auf das Bevorstehende die Hände. Eine Sache stand ganz klar fest: Es gäbe ein Spektakel, das der Donnerclan so schnell nicht vergessen würde.

Unter Einsatz all ihrer Kräfte bewegten die Marinesoldaten das schwere Geschütz. An Deck der Galeere war eine gewaltige Kanone auf einem drehbaren Untersatz angebracht. Alles was Krach macht, brennt oder explodieren kann, war das Spezialgebiet des Feuerclans. Kein Wunder also, dass sie auch die größten Kanonen besaßen. Allmählich richtete sich das lange Rohr der Feuerwaffe auf sein Ziel aus. Der Kanonier berechnete die Flugbahn des Geschosses und wies die Männer an, in welchem Winkel die Kanone angehoben werden musste. Als erstes wurde allerdings das Schießpulver eingefüllt. Mit Hilfe eines Flaschenzugs wurde die wuchtige Kugel angehoben und in den Lauf gelassen. Unter Zuhilfenahme von Stäben stocherten die Männer anschließend im Lauf herum, um sicherzustellen, dass die Kugel ganz nach hinten durchgerutscht war. Erst jetzt begannen sie, die Kurbeln an den Seiten zu betätigen und die Kanone vertikal auszurichten.

Als der Kanonier zufrieden mit der Ausführung seiner Befehle war, signalisierte er seinem Herrn die Bereitschaft.

Gerade noch rechtzeitig. Hotaru war drauf und dran, die Geduld zu verlieren! Es verlangte ihm danach, den Schandfleck in Trümmern zu sehen. “Wirklich schade, dass mein Vater das nicht mit ansehen kann”, sprach er und lachte dabei gehässig. “Jetzt schießt das Ding endlich in Stücke!”

“Feuer!”, befahl der Kanonier.

Mit einer an einem langen Stab befestigten Fackel zündete einer der Marinesoldaten das Geschoss. Ein ohrenbetäubender Knall hallte über das Meer und durch die Stadt des Feindes. Die Explosionsgase trieben das Projektil mit fast einem Kilometer pro Sekunde aus dem Lauf dem Ziel entgegen. Die gewaltige Kugel flog über den Hafen, über die Stadt, über die Mauern des Palastes und schlug in der Großen Pagode ein, welche das Hauptgebäude der Palastanlage darstellte. Der grelle Blitz der Explosion ließ es bereits erahnen. Ein weiterer durchdringender Donner bewegte sich durch die Luft.

“Whoohoo!”, jubelte Hotaru, als die Schallwelle auf seine Ohren traf. “Das hat ordentlich Rums gemacht! Ha ha harr!” Er hüpfte ausgelassen umher, wie ein kleiner Junge, der sich an einem Spielzeug ergötzte.

Eine Druckwelle breitete sich in der ganzen Stadt aus und zerstörte Fenster und wenig befestigte Häuser.

Abermals rieselten Trümmer nieder.
 

Der grelle Blitz ließ sowohl Aki und Toshiro als auch ihre Gegner innehalten. Erschrocken sah sich der Prinz zum Herkunftsort des Lichtes um und musste den Palast seines Vaters zerbersten sehen, Sekunden bevor das Geräusch der Explosion seine Ohren erreichte.

Ungeachtet der Gegner ließ er sich auf die Knie fallen, den Kopf gesenkt.

Er dachte an die Soldaten, die bis jetzt die Stellung gehalten hatten.

Er dachte an die Momente seiner Kindheit.

Er dachte an die Kunstschätze, welche unter den Trümmern begraben waren.

Sein Wille zum Kämpfen bröckelte zusammen mit dem Palast.

Die Soldaten des Feuerclans umzingelten lachend den Prinzen.

Aki ließ sich nicht lange von den Geschehnissen beeindrucken und setzte den Kampf gegen die Feinde fort. Bevor sie allerdings ihrem Herrn zu helfen vermochte, musste sie sich zuerst um die akute Bedrohung vor ihr kümmern: Einen schwer gepanzerten Mann mit einem riesigen Kriegshammer, dessen Rüstung ihre Pistolen wohl nicht durchdringen könnten. Zusätzlich kamen zu ihrer Linken und Rechten jeweils weitere, nicht so stark gepanzerte Männer mit gezogenen Schwertern näher. Aki analysierte den großen Mann vor ihr und kam zu dem Schluss, dass er vermutlich nicht schnell reagieren konnte. Seine Rüstung hatte nur eine Schwachstelle. Diese mit den Pistolen zu treffen wäre sehr schwierig. Aki entschied sich für eine andere Herangehensweise. Sie betätigte einen Schalter unter dem Abzug ihrer Waffen. Klingen schoben sich nach vorn. Blitzschnell stürmte sie anschließend auf den Mann vor ihr zu und stieß die Bajonette in den engen Spalt zwischen seinem Helm und dem Brustharnisch, sodass die Klingen die Kopfbedeckung herunter stießen, als sie aus der Schädeldecke wieder austraten.

Das Schwergewicht ließ den Hammer fallen und kippte nach hinten um, als Aki die Bajonette wieder aus seinem Kopf herauszog.

Nach Vergeltung strebend, beschleunigten die verbliebenen Männer ihren Vormasch. Aber noch in der gleichen Bewegung, in der sie ihre Pistolen aus ihrem Opfer befreit hatte, richtete Aki sie auf die Männer und drückte ab, ohne auch nur hinzusehen. Blutfontänen schossen aus den Häuptern ihrer Gegner, während sie die Wucht der Geschosse rücklings zu Boden riss.

Mit flinken Handbewegungen lud die Kunoichi ihre Waffen nach.

Unterdessen rührte sich Toshiro noch immer nicht.

Tränen tropften zwischen seinen flach aufliegenden Händen auf den Boden.

Ich bin so nutzlos, tadelte er sich selbst.

Die Soldaten des Feindes glaubten, leichtes Spiel mit ihm zu haben und ihn gefangen nehmen zu können. “Auf Euch wartet eine schöne ungemütliche Zelle gleich neben der Eures Vaters!”, tönte einer der Männer.

Allerdings hatten er die Rechnung ohne Toshiros Leibwächterin gemacht.

Im nächsten Moment fing er sich eine Kugel.

Die verbliebenen beiden Feinde ließen von Toshiro ab und attackierten stattdessen die Schwarzhaarige. Den einen schoss Aki genau zwischen die Augen. Dem Hieb des anderen wich sie gekonnt aus und schlitzte dabei seine Kehle mit einem Bajonett auf. Er versuchte noch, die Blutung zu stoppen, indem er die Hand auf die klaffende Wunde an seinem Hals presste, aber er verlor schnell das Bewusstsein und war im Handumdrehen genauso tot wie die anderen Leichen.

Wieder lud Aki ihre Waffen nach.

Derweil bekam Toshiro von dem Gemetzel nichts mit. Die Tränentropfen zwischen seinen Händen hatten sich zu einem kleinen See vereinigt. Sein starrer Blick schaute ins Nirgendwo. Er tönte stets davon ein großer Krieger zu sein. Und was tat er jetzt? Heulen. Jämmerlich!

Aki musste sich etwas einfallen lassen. Es war unmöglich, seine Durchlaucht in diesem Zustand in Sicherheit zu bringen. Sie fuhr die Bayonette wieder ein, steckte ihre Waffen in die Halfter und ging zu Toshiro. Unsanft packte sie ihn und zerrte ihn zurück auf beide Beine. “Durchlaucht!”, schrie sie ihn an. “Reißt Euch zusammen! Wir müssen fliegen!”

“Der Palast…”, klagte der Prinz.

Aki riss der Geduldsfaden.

Eine schallende Ohrfeige riss Toshiro aus seiner Trance.

Sofort schreckte die Schwarzhaarige zurück, als ihr klar wurde, was sie gerade getan hatte, und verneigte sich demütigst. “Vergebt mir, Durchlaucht!”

Toshiro rieb sich die Wange. “Aua!”

“Entschuldigt! Ich werde nach unserer Flucht umgehend Seppuku begehen!”

“Nein, das wird nicht notwendig sein! Genau das habe ich gebraucht!” Noch einmal sah er sich wehmütig zu dem Hügel um, auf dem bis vor Kurzem der Palast über dem Land thronte. Ihm war bewusst, dass sie keine Zeit für Trübsal übrig hatten. “Komm, Aki. Wir müssen dem Feind entkommen!”

“Jawohl!” Die Schwarzhaarige erhob sich wieder.

Gemeinsam setzten sie ihre Flucht fort.
 

Die Schwärze lichtete sich und Hideyoshi erlangte das Bewusstsein zurück. Er sah sich um. Es war Stockdunkel um ihn herum. Nur ein zaghafter Lichtstrahl mühte sich, die Finsternis zu erhellen. Das kleine Bullauge in der Holzwand, aus dem er eindrang, war kaum groß genug, eine Hand hindurch zu stecken, darum dachte Hideyoshi erst gar nicht daran zu fliehen. Außerdem hatte man ihn entwaffnet und die Macht des Clansmal konnte er auch nicht mehr spüren. Vermutlich unterdrückte irgend etwas seine Magie. Er sah sich weiter um. Es befand sich nicht viel in der kleinen Kajüte. Ein Haufen altes Stroh stellte eine Schlafgelegenheit dar und ein hölzerner Eimer in der Ecke war für seine Notdurft bestimmt.

Plötzlich vernahm er ein Geräusch hinter der Tür.

Ein Sehschlitz wurde aufgeschoben und ein Soldat der Hojo sah nach dem Rechten. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Gefangene keine Gefahr darstellte, schloss er den Sehschlitz und öffnete die Tür.

Lässig trat Hotaru ein, einen kleinen Feuerball als Lichtquelle in der Hand haltend, und beäugte den noch immer auf dem Boden hockenden Gefangenen. “Na, ist es bequem hier?”, amüsierte sich der Prinz. “Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, Euch angemessen unterzubringen, Eure Lordschaft.”

“Wenn Ihr mich verspotten wollt, spart Euch den Atem!”, forderte der Gefangene.

“Aber wenn es mir doch solchen Spaß macht!”

“Was verschafft mir das Vergnügen Eures Besuches?”

“Ich möchte Euch davon in Kenntnis setzen, dass Euer geliebter Sohn schon bald Euer Schicksal teilen wird.”

Hideyoshi begann auf einmal wie von Sinnen zu lachen.

“Was ist daran so komisch?!”

“Ha ha ha! Ihr werdet Toshiro niemals in Eure unehrenhaften Klauen bekommen.”

“Seid Ihr Euch da nicht so sicher! Alle Männer, die nicht gerade damit beschäftigt sind zu brandschatzen und zu vergewaltigen, durchkämmen die Stadt nach Eurem Sohn. Und sie werden ihn erwischen. Tod oder lebendig!”

“Ihr seid auch nur ein Bengel. Es plagt Euch, dass Ihr Toshiro noch nicht erwischt habt, und so lasst Ihr den Frust über Eure Unzulänglichkeit jetzt an mir aus.”

“Haltet Euer verdammtes Maul!”

Am liebsten hätte er ihn für seine Worte erschlagen.

Hotaru wollte jedoch seinen Vater nicht verärgern.

Wütend machte er kehrt Marsch und mit ihm verschwand auch das Licht aus der Kajüte. Die Tür wurde zugeschlagen und Hideyoshi war wieder allein. Er sah aus dem kleinen Fenster und hoffte, dass sein Sohn bereits in Sicherheit war.
 

Aki und Toshiro erreichten ein abgelegenes Haus am Rand der Klippe.

Völlig erschöpft von all dem Gerenne und Gekämpfe beugte sich Toshiro nach vorn und stützte dabei seine Hände auf den Oberschenkeln ab. Nach Luft japsend sah er zu dem mehrere Stockwerke hohen, aber dennoch unscheinbaren Holzhaus auf. “Sind wir da?”, fragte er ungläubig.

“Hier sollte ich Euch hinbringen, Durchlaucht”, bestätigte Aki.

“Und was machen wir jetzt?”

“Folgt mir!”

Toshiro hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen.

Im Inneren des Hauses konnte man kaum etwas sehen, bis Aki die großen Türen an einer Wand öffnete, die an jene einer Scheune erinnerten. Die Öffnung zeigte direkt hinaus in das wolkenartige weiße Meer. Einfallendes Licht enthüllte, dass es sich bei dem Haus um eine Werkstatt handelte. Zahllose Gerätschaften standen verstreut im Inneren herum. Darunter auch ein großer Korb. Er bot Platz für bis zu vier Passagiere. An ihm war ein großer schlaffer Stoffsack an einem eisernen Gestell angebracht. Während Toshiro sich noch fragte, was sie mit dem Ballon zu schaffen hatten, suchte Aki bereits die Behälter aus Bambus zusammen, welche das Gas beinhalteten, mit dem ihr Fluchtgerät angetrieben werden sollte.

Als die Behälter angeschraubt waren, öffnete Aki die Ventile. “Es wird eine Weile dauern, bis der Ballon bereit ist, Durchlaucht”, informierte die Kunoichi ihren Herrn. “Während Ihr wartet, werde ich nach Feinden Ausschau halten.” Aki verließ das Haus und ließ ihren Schutzbefohlenen allein zurück.

Toshiro schaute dem Ballon dabei zu, wie er sich langsam mit Gas befüllte.

Langsam war noch zu milde ausgedrückt.

Das Ding wollte sich augenscheinlich nicht dazu herablassen, sich endlich aufgebläht aufzurichten.

So ging es eine ganze Weile weiter.

Toshiro langweilte sich sehr.

Er sah sich um und fand einige Dinge vor, die auf der Reise nützlich sein konnten. Ein stabiles Zelt, etwas haltbarer Proviant. Offenbar hatte man diesen Ort für eine schnelle Flucht hergerichtet. Unbeirrt legte Toshiro die Gegenstände in den Korb, um sich so die Wartezeit zu vertreiben.

Das Aufeinandertreffen von Klingen und der Krach von Schusswaffen rissen den Prinzen aus seinen Gedanken. Vor dem Haus wurde gekämpft! Der Feind hatte sie gefunden! Toshiro wollte nicht wie ein hilfloses Kind herumsitzen und sich beschützen lassen. Als die Geräusche plötzlich verstummten, musste er seinem Drang nachgeben und sah sich das Geschehen an.

Aki stand mit leerem Blick inmitten von ungezählten Leichen.

“Aki!”, rief Toshiro ihr zu.

Seine Leibwächterin registrierte sein Auftauchen und setzte sich wankend in Bewegung. Nach einigen Schritten entglitten ihr die blutverschmierten Waffen und sie brach vor den Augen ihres Schutzbefohlenen zusammen.

Erst jetzt konnte Toshiro sehen, dass ihre Yukata am Rücken ebenfalls in Blut getränkt war. Sofort eilte er ihr zur Hilfe. Er kniete sich zu ihr hin, drehte sie auf den Rücken und überprüfte, ob sie noch am Leben war.

Er spürte einen schwachen Puls.

Die Verwundete sah ihn auf einmal an. “Was... macht Ihr hier, Durchlaucht?”, fragte sie in gebrochenen Worten. “Eilt Euch und... steigt in den Ballon!”

“Ich gehe nicht ohne dich!”, weigerte sich Toshiro.

“Ich werde nicht mehr lange durchhalten und Euch nur zur Last fallen.”

“Nein! Wer soll mich denn beschützen, wenn du stirbst? Hast du da schonmal drüber nachgedacht, du Idiotin?!”

Aki fragte sich, warum auf einmal Wasser aus Toshiros Augen lief. War seine Durchlaucht etwa Leck geschlagen?

“Hörst du, Aki?! Ich gestatte dir nicht, zu sterben. Ich befehle dir zu überleben!”

Die Worte ihres Herren weckten die letzten Kraftreserven in der Leibwächterin. Ihr getrübter Blick wurde wieder klar. “Wenn das... Euer Befehl ist, Durchlaucht, so... werde ich mein Bestes geben... ihn zu befolgen.”

Plötzlich wurden die beiden von einer Gruppe von feindlichen Soldaten mit Gewehren umstellt. Die Männer zielten auf Toshiro.

“Lasst mich sie- Agh!” Aki versuchte aufzustehen, aber die Kugeln in ihrem Rücken brannten wie Feuer und machten es ihr unmöglich.

“Nein! Du hast genug getan. Überlasse sie mir.” Vorsichtig legte Toshiro Aki auf dem Boden ab. Er stellte sich der Übermacht entgegen und machte sich Kampfbereit. In den tiefen Taschen seines Gewands fand er goldene Schlagringe, die er sofort streifte. “Erst zerstört ihr den Palast und dann verwundet ihr meine Untergebene. Wollt ihr mir eigentlich alles wegnehmen?!”, bluffte Toshiro seine Gegner an. Er ballte die Hände zu Fäusten und begann zu schreien. Um ihn herum zuckten Blitze und seine Stirn begann zu glühen, wie zuvor die seines Vaters.

Verängstigt legten die Soldaten an, trauten sich aber nicht zu schießen. Sie hatten ihre Befehle. Entgegen Hotarus Behauptung dem Daimyo gegenüber, sollte der Prinz lebend gefangen werden.

Aufgeladen wie ein Dynamo schlug Toshiro die Faust auf den Boden. “Gewitterfaust des Donnerdrachen!”, rief er aus und pumpte die Energie aus seinem Körper in den Boden. Im nächsten Moment schossen goldene Blitze bei den Soldaten aus dem Boden und versetzte ihnen fatale Stromschläge. Förmlich gegrillt fielen die Männer zu Boden. Toshiro atmete durch. Das Symbol auf seiner Stirn verschwand und die Energie um ihn herum löste sich auf. Sofort wandte er sich wieder Aki zu. “Wag es ja nicht tot zu sein, hörst du!”

“Nein, Durchlaucht”, versicherte die Kunoichi. “Das... würde ich mir nie...mals her… herausnehmen!”

“Gut!” Vorsichtig hob Toshiro die Verwundete an, nahm auch ihre Waffen auf und trug sie in das hölzerne Haus hinein. Er setzte sie behutsam in den Korb am inzwischen beinahe zum Bersten mit Gas gefüllten Ballon und begann das Gefährt hinauszuschieben. Für den Moment hielten sie schwere Gewichte vom Abheben ab. Als Toshiro den Korb bis fast vor die Klippe geschoben hatte, sprang er selbst hinein und trennte die Gewichte ab.

Der Ballon erhob sich. Sie flogen einige Meter über den Abhang, bis er wieder sank. Toshiro musste es mit der Ladung übertrieben haben. Das Luftfahrzeug tauchte mit seinen Passagieren in die weißen Wolken unter ihm ein.
 

Hotaru stand an Deck und schaute vergnügt dabei zu, wie die Stadt des Feindes in Stücke geschossen wurde. Er bedauerte, dass er die Schreckensschreie der hilflosen Untertanen bei all dem Krach nicht hören konnte. Sollte er es wagen und erneut in die Stadt fliegen, nur um seine Lust auf die Qualen seiner Feinde zu befriedigen?

Zügig trat ein Soldat an ihn heran und kniete nieder. Die rechte Faust ballte er dabei auf der linken Schulter, so wie es Sitte war. “Durchlaucht, ich erstatte Bericht!", sprach der Mann.

“Was hast du mir zu sagen?”, fragte Hotaru brummig.

“Der Sohn des Daimyo ist entkommen.”

Wutentbrannt stampfte Hotaru auf die Schiffsplanken auf. “Ihr Dilettanten! Ihr verdammten Taugenichtse!” Der Prinz des Feuerclans bekam sich gar nicht mehr ein und tobte immer weiter. “Muss man hier alles selber machen?!” Aber dann schien er sich endlich ein wenig zu beruhigen. “Wohin sind sie geflohen? Etwa zu den Suzuki, diesen Windbeuteln?”

“N-Nein”, stotterte der Soldat eingeschüchtert. “N-Nicht zum Sturmclan.”

“Wohin dann, du Wurm?!”

“S-Sie si-si-sind in a-a-einem Ballon durch die Wolken abgetaucht.”

“Runter ins Reich des Teufels?” Das konnte Hotaru gar nicht gebrauchen. “Was steht Ihr noch so dumm herum! Dort unten werden sie nicht überleben. Mein Vater will den Prinzen lebendig!”

“A-A-A-Aber, Durch-la-laucht!”

Die Unfähigkeit dieses Mannes regte Hotaru erneut auf. Dieses Mal würde er nicht mehr nachsichtig sein. Er zog sein Schwert und stieß es seinem Untergebenen vor versammelter Mannschaft in die Brust. Als er es wieder befreite, fiel sein Gegenüber umgehend tot zu Boden. Hotaru griff nach einem Taschentuch und wischte das Blut von der Klinge seiner Waffe. Danach steckte er sie wieder weg und wandte sich an die verbliebenen Soldaten. “Sendet meine Befehle: Der Yamato-Bastard ist um jeden Preis zu fangen. Lebendig! Tötet alle, die sich euch in den Weg stellen!”
 

Durch die dichten Wolken sank der Ballon weiter hinab ins Ungewisse.

Toshiro blickte auf seine schwer verletzte Leibwächterin herab. Sie hatte im Alleingang unzählige Feinde erledigt, bevor sie zusammenbrach. Obwohl sie keinerlei magische Fähigkeiten besaß, war Aki um ein vielfaches fähiger als er. Sie so zu sehen, in ihrem Kampf mit dem Tod, konnte er nicht ertragen. Allerdings gab es nichts an Bord, mit dem er ihr Leid mindern könnte. Der Proviant schloss keine Medikamente mit ein. Er musste darauf vertrauen, dass sie seinen Befehl ausführen und durchhalten würde, bis sie einen Heiler fänden. Selbst unter den Wolken im Reich des Teufels sollte es Heilkundige geben, welche sie retten konnten.

Etwas anderes wollte er nicht akzeptieren.

Die weiße Wand um den Korb lichtete sich.

Toshiro erblickte eine gewaltige Fläche, bedeckt mit goldgelben Sand. Unter ihnen befand sich eine riesige Wüste. So sieht also das Land des Teufels aus, dachte Toshiro, während das Luftfahrzeug weiter dem Boden entgegen sank.

Verwobene Schicksale


 

🌢
 

Zwei riesige Statuen rahmten den schmalen Zugang zur Bucht von Al Shahar. Sie stellten imposante Wächterfiguren in schwerer orientalischer Rüstung dar. In ihren Händen hielten sie jeweils in der einen eine Martrad, eine Art Hellebarde, und in der anderen einen runden aufwändig verzierten Schild. Spiegelverkehrt war der eine ein Rechtshänder und der andere ein Linkshänder. Zusammen begrüßten sie die ankommenden Schiffe. Diese Plastiken von an die zwanzig Meter Höhe und ihre noch längeren Waffen zeugten von meisterlicher Handwerkskunst und großem Wissen um die Metallverarbeitung. Weiter draußen hatten bereits mehrere vorgelagerte kleine Inseln die Wellen gebrochen, sodass der Eingang von der Kraft der wilden See verschont blieb. Dafür brachten unzählige Schiffe Unruhe in das Bild. Besucher und Händler von überall auf dem Kontinent.

Langsam fuhr die Esmeralda in den Hafen von Al Shahar ein.

Schwer gebeutelt vom Sturm und von der Bestie aus den Tiefen des Meeres.

Die Segel geflickt.

Die Reeling teilweise zerschlagen.

Überall hatten die Abenteuer ihre Spuren hinterlassen.

Die schiere Größe der restlichen Hafenanlage beeindruckte mindestens genauso sehr wie die Kunstwerke an ihrem Zugang. Egal wohin man den Blick schweifen ließ, lagen Schiffe vor Anker. Zwischen den einheimischen Dhau, den prachtvollen Galeeren der Elfen aus Lichthofen, den vereinzelten zwergischen Dampfschiffen und den Drachenbooten aus Frys fiel die Esmeralda in keinster Weise aus dem Rahmen. Al Shahar war ein unverzichtbarer Knotenpunkt im internationalen Handel. Ein wahrer Schmelztiegel der Kulturen. Wer hier nicht irgendwie anders war, zog viel mehr Aufmerksamkeit auf sich.

Langsam fuhr die Esmeralda an die ihr zugewiesene Stelle.

Auch wenn die Anlage von Al Shahar riesig war und gar unüberschaubar anmutete, auf die Bürokratie der Beamten des Kalifats konnte man sich stets verlassen. Die Angestellten der Hafenverwaltung wussten immer genau, welches Schiff zu welchem Zeitpunkt an welcher Position sein musste.

Nur der Teufel wusste, wie sie das bewerkstelligten!

Während der Einfahrt in den Hafen, stand Nebula am Bug des Schiffes und schaute geradeaus hinein in das rege Treiben und Wuseln. Das heiße Wüstenklima machte ihr schon jetzt zu schaffen, wo sie nur ihre Freizeitkleidung trug. Wie schlimm würde es erst werden, wenn sie ihren Wappenrock und die Waffen mit sich führte? Das wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen! Wie praktisch wäre es jetzt eine Teufelswaffe zu besitzen, welche die Luft zu gefrieren vermochte. Stattdessen konnte sie nur das Blut in ihren Venen zum Kochen bringen - was nicht einmal notwendig war bei diesen Temperaturen.

Sie versuchte an etwas anderes zu denken.

Unwillkürlich kam ihr das Gesicht von Henrik in den Sinn. Wie es im Würgegriff des Seeungeheuers von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr blau anlief. Beim Gedanken daran, wie nutzlos sie sich gefühlt hatte, als ihr Körper ihr nicht mehr gehorchte, verzog sie im Ärger über sich selbst die Mundwinkel. Sie führte ihre rechte Hand in einigem Abstand vor ihr Gesicht und beobachtete sie.

Nichts.

Kein Zittern.

“W-Was machst du da?”, fragte eine vertraute Stimme.

Nebula wandte sich der Quelle zu.

Henrik war an sie herangetreten.

Die Blondine sah den Jungen an.

Anstelle der üblichen frostigen Reaktion, mit der er eigentlich gerechnet hatte, umschloss sie ihn mit ihren Armen und versuchte, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. Wegen des Größenunterschieds nicht so leicht getan, wie gesagt.

Wortlos standen sie da.

Nebula drückte sich fest an Henrik.

“W-Was ist denn in dich gefahren?”

“Ich bin einfach froh, dass du da bist!”, antwortete Nebula.

“D-D-Danke, Nebula. Das b-bedeutet mir wirklich viel.”

“Tue mir einen Gefallen!”

“N-Natürlich!”

“Halte die Klappe und umarme mich einfach!”

“O-Okay.”

Henrik nahm nun auch seine Arme und schlug sie ebenfalls um den Körper der Prinzessin. So standen sie noch lange da, nachdem die Esmeralda vor Anker gegangen und der Steg zum Ausstieg bereit war.
 

Die Kontakte ihrer Familie reichten bis in den Orient. Nebulas Vater, der König, ließ seine internationalen Beziehungen spielen und organisierte der Gruppe eine helfende Hand. Ein Mann, der sich bestens mit den Gepflogenheiten des Krämerhandweks auskannte und ihnen bei der Herausforderung als Wüstenhändler getarnt über die Grenze nach Aschfeuer zu gelangen, sicher behilflich sein konnte.

Diesen Mann wollten sie umgehend aufsuchen.

Er residierte in einem nicht gerade klein geratenen Haus auf einem Hügel, von dem aus man das geschäftige Treiben in Al Shahar bestens im Blick behalten konnte. Zwar war er nicht der Emir, aber immerhin ein einflussreicher Beamter. Dies gestattete ihm den Luxus, in einem solchen Anwesen zu leben. Im Kalifat von Yjasul kümmerte man sich stets um die Staatsbediensteten. Ein Mann im Dienste eines Emirs konnte sich eine goldene Nase verdienen, in einem Bassin voll mit Münzen schwimmen, Gelage und Orgien feiern oder sich einen Harem aus den schönsten Tänzerinnen halten, solange er gut für seinen Herren arbeitete. Denn Geld war der Gott der gewitzten Wüstenhändler. Wer ausreichend reich war, konnte das Gesetz nach seinem eigenen Willen beugen - und zwar völlig legal. Mochte man seinen Nachbarn nicht, so durfte man ihm sein Heim unter dem Hinterteil wegkaufen und zum eigenen Vergnügen abreißen, wenn man es denn wollte und nichts besseres mit dem Ersparten anzufangen wusste.

Ebenso gewöhnungsbedürftig waren wohl die Persönlichkeitsrechte in diesem Land, wie die Neuankömmlinge schnell merken sollten.

Abfällige Blicke straften Nebula.

Sie dachte erst, es läge an ihrer Reithaltung. Matt und ausgelaugt von der Hitze ließ sie alle Vier gerade sein und vom Rücken Clays stolzen Schimmels herunter baumeln, der sie anstatt der eigenen Beine durch die Straßen trug.

Doch das war es nicht, was die Einheimischen erzürnte.

“Was haben die?”, fragte Nebula in die Runde. Sie ließ den Blick zu ihren Begleitern streifen und sah den unter viel Stoff verdeckten Kopf von Cerise. Diese hatte sich ein langes Tuch aus weißem Gewebe zu einem Kopftuch gefaltet, welches ihre Haare und alles unterhalb der Augen bedeckte. “Was tragt Ihr da?”

“Wie ignorant von Euch”, tadelte die Rothaarige. “Habt Ihr Euch gar nicht mit der Kultur dieses Landes beschäftigt? Hierzulande gilt es schon als obszön, wenn eine Frau ihre Haare offen in der Öffentlichkeit zeigt. Geschweige denn, auf dem Rücken eines Pferdes herum lungert. Man will es kaum glauben, aber es gibt tatsächlich Menschen, die noch verklemmter sind als Ihr, Prinzesschen.”

In einem Anfall von Ärger richtete sich die blonde Prinzessin auf. “Ich bin nicht verklemmt!”, beschwerte sie sich und Zornesadern pulsierten auf ihrer Stirn. “Außerdem: Wieso soll ich meine Haare verbergen, nur weil ich eine Frau bin?”

“Weil es davon zeugt, dass Ihr die Bräuche anderer Völker respektiert.”

Nebula ließ sich brummend zurück auf den Pferderücken fallen.

“Außerdem schützt es den Kopf und Euch ereilt kein Hitzschlag.“

Nebula brummte entschiedener.

“Und angepasst an die Massen, fällt das Liquidieren leichter.”

Nebula zeigte Cerise einen Vogel. Außer dem omnipräsenten Impuls, dieser vorlauten Halbelfe den dürren Hals umzudrehen, plante sie momentan keine Morde.

Sie bogen um eine Ecke und kamen auf einen großen Platz. Auf ihm standen halbnackte braungebrannte Menschen auf hölzernen Podesten, ausgestellt wie auf einem Viehmarkt. Ihre Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden und der rechte oder linke Fuß wurde von einer Kette mit klischeehafter Eisenkugel an ihrem Ende geziert. Annemarie, welche natürlich auch eine entsprechende Kopfbedeckung aus weißem Leinentuch trug, zupfte an Clays Mantel. “Hey, was sind das für Leute?”, fragte sie den großgewachsenen Bartträger.

“Nun ja, das sind-”, versuchte dieser eine kindgerechte Umschreibung zu finden.

“-Sklaven”, vollendete Cerise.

“D-Das ist ja a-ab-abscheulich!”, entrüstete sich Henrik.

“Wieso?”, fragte Cerise provokant.

“Weil d-das falsch ist!”

“Hat man dich nicht auch einmal fast in die Sklaverei verkauft? Inwiefern ist das hier schlimmer als in Morgenstern? Wer den Schmutz eines anderen kritisiert, sollte zuerst den Dreck vor der eigenen Türschwelle wegkehren.”

“A-Auch wieder wahr!”

“Immerhin kann ein Sklave in Yjasul freigelassen werden, zu Geld kommen und eines Tages selbst Sklaven halten”, tönte eine unbekannte Männerstimme. “Wer hier Sklave ist und wer Meister, das hängt alles vom Geschick des Individuum ab.”

Alle wandten sich dem Fremden zu.

Sie erblickten einen schwarzhaarigen Mann mit dunklen Taint, welcher von zwei Wachen begleitet wurde. “Entschuldigt, ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Tarik.” Er begab sich zielstrebig zu Nebula, welche noch immer einen Durchhänger hatte. “Und Ihr müsst die Prinzessin sein.” Tarik nahm ihre Hand und küsste sie. “So ist es doch Sitte in Morgenstern?”, fragte er, um auf Nummer sicher zu gehen. “Selbst nass und verschwitzt seid Ihr noch immer eine Augenweide.”

Clay wandte sich an Henrik. “Mitschreiben, Kleiner! So macht man das!”

“Vielleicht solltet Ihr trotzdem in Betracht ziehen, ein Kopftuch zu tragen. So wie Ihr jetzt ausschaut, glaubt Euch niemand, eine Händlerin aus der Wüste zu sein.” Daraufhin ging Tarik zurück zu seinen Wächtern und wandte sich wieder an die ganze Gruppe. “Bitte folgt mir. Wir sollten die Einzelheiten über Eure Weiterreise in meinem Anwesen besprechen.”
 

Tarik brachte Nebula und ihre Gefährten in einer Karawane unter, welche sich auf dem Weg nach Argentoile befand, einer Stadt in Aschfeuer, die direkt am Pass zur Wüste von Yjasul lag. Es war alltäglich, dass Wüstenhändler diese Stadt besuchten und ihre Kostbarkeiten aus dem Orient feilboten. Manchmal blieben einige von ihnen für längere Zeit im Land. Es würde folglich niemand Fragen stellen, wenn ein paar der verhüllten Gestalten weniger die Rückreise antraten, als zuvor gekommen waren. Man würde einfach vermuten, sie hätten längerfristige Geschäfte in der Stadt zu tätigen. Mit diesem Trick wollten sie sich im Feindesland einschleichen und ihren Auftrag erfüllen. Doch zuerst musste die Wüste durchquert werden.

Nach einem heißen Tag verschaffte die Nacht die ersehnte Abkühlung.

Ein sanfter Wind blies unter dem sternenklaren Himmel.

Die Karawanenhändler hatten an einer Oase Rast gemacht. Mitten in der Wüste erhob sich ein mächtiges Bergmassiv, in dessen Schutze einige aus Grundwasser gespeiste Seen Platz fanden. Sie gestatteten, jeglicher erdenklichen Fauna und Flora zu gedeihen, die man an so einem Ort erwarten würde. Das Wasser ermöglichte das Wachstum von Büschen, hohen Gräsern und Palmen. Ebenso traf man hier verschiedene Pflanzen- und Fleischfresser am Boden an sowie bunte Singvögel und Primaten auf den Wipfeln der Bäume. Allerdings schliefen diese Kreaturen zur späten Stunde bereits.

Noch nicht im Land der Träume befanden sich die weiblichen Mitglieder der Gruppe. Nebula hatte tagsüber so unter der Hitze gelitten, dass sie die anderen überredete, in einem der kleineren Tümpel ein erfrischendes Bad zu nehmen. Zudem empfand sie ihre eigenen Ausdünstungen als höchst unangenehm. Nun saßen sie unter dem Sternenhimmel im Wasser und ließen es sich gut gehen. Ihre Kleider lagen ordentlich zusammengelegt am Rand des Tümpels, welcher geformt war wie ein natürliches Badebassin. Die Stoffe und Leder warteten darauf, wieder angezogen zu werden. Doch dieser Moment lag noch in weiter Ferne.

Während von Annemarie nicht viel mehr als der Kopf und der Hals aus dem Gänsewein herausschauten, konnte man von den beiden erwachsenen Frauen mehr betrachten. Während Nebula sich bemühte, dass das Wasser wenigstens notdürftig ihre Brüste bedeckte, scherte sich Cerise kein bisschen darum. Beide Arme auf den Rand gelegt, reckte sie ihre Reize den Sternen entgegen. Es war ja nicht so, dass sie um diese Zeit jemand sehen könnte. Und selbst wenn, wäre es ihr egal. Sie war überzeugt davon, das jeder der sie noch nicht nackt gesehen hatte, bisher nicht richtig gelebt hatte. Cerise schaute an Annemarie vorbei, welche genau zwischen ihnen saß, und beäugte die Versuche der Blonden ihren üppig bestückten Oberkörper unter der Wasseroberfläche zu behalten. Cerise nahm die Arme vom Rand und richtete sich auf. “Sagt, Prinzesschen, was macht Ihr da?”, fragte sie Nebula neckisch. “Wollt Ihr ihnen nicht auch etwas Luft gönnen?”

“Wovon sprecht Ihr?”, wunderte sich die Blonde.

“Na von Euren Brüsten. Ihr seid so reich beschenkt worden und dennoch verbergt Ihr sie. Genießt Eure Jugend! Wenn Ihr erst alt seid, werdet Ihr über sie stolpern.”

Nebulas Wangen färbten sich rot vor Scharm. “D-Das ist o-obszön!”

“Ihr solltet unbedingt den Stock rausziehen!” Die Rothaarige ließ sich wieder in ihre vorherige bequeme Haltung zurück sinken. “Dann sitzt es sich viel bequemer.”

“Hört auf, mich andauernd als verklemmt hinzustellen!”

“Ein Pflugscharen verhakt in einer Wurzel könnte nicht so verklemmt sein.”

“Ach, haltet doch Euer Maul!”

Ein schelmisches Grinsen zierte Cerises Gesicht.

Annemarie musste plötzlich laut lachen. “Ihr beiden seid so lustig”, meinte sie. Sie wollte ihre Heiterkeit nicht mehr einstellen.
 

Neben dem Gewässer, in dem die Gefährtinnen badeten, befand sich ein großer Stein, flankiert von hohen Gräsern. Der perfekte Ort für heimliche Zuschauer. Ein Augenpaar wurde immer größer, als es die Rothaarige betrachtete, welche die Freikörperkultur mit Wonne auslebte. Ein anderes Augenpaar veränderte sich hingegen nicht. Es schien diesen Anblick bereits gewohnt zu sein.

“S-Sie ist wirklich a-atemberaubend”, stammelte eine unsichere Stimme vor sich hin. Sie gehörte Henrik, der noch immer unschlüssig war, wieso er der Einladung des großen Mannes gefolgt war.

“Finger weg!”, spaßte eine kraftvolle Stimme, nur so strotzend vor Männlichkeit. Es war Clay, der Henrik zu dieser Aktion überredet hatte. “Die gehört mir!”

“Also ich würde sie beide nehmen”, sprach eine dritte Stimme zwischen Henrik und Clay, welche beide dem anderen nicht zuordnen konnten.

Schockiert sahen die beiden zu der Person zwischen ihnen.

Sie erblickten einen blonden Jungen um die sechzehn Jahre. Seine bernsteinfarbenen Augen wirkten im Dunkel der Nacht wie ein tiefes Braun.

“Wer zum Teufel bist du denn?!!”, riefen beide erschrocken aus.
 

Natürlich blieb ihr Aufschrei nicht unbemerkt von den in aller Heimlichkeit observierten Damen. “Ist da wer?!”, rief Nebula erzürnt. “Zeigt Euch, Ihr perverser Spanner!” Natürlich folgte dieser Aufforderung niemand. Wäre sie nicht splitterfasernackt, Nebula wäre längst aus dem Wasser gekommen, um diesen Widerling ins Jenseits zu befördern.

“Oh, verdammt!”, fürchtete sich Henrik. “J-Jetzt sind wir des T-To-Toodes!” Er kauerte sich zusammen und legte beide Hände auf den Hinterkopf. “So f-fühlt es sich also an, w-wenn das Leben an ei-einem vorbei zieht.”

Cerise machte keinerlei Anstalten, sich vor den heimlichen Beobachtern zu schämen. Lässig entstieg sie im Evakostüm dem Wasser und kam dem Stein mit verführerischen Hüftschwung näher, nur um kurz davor stehen zu bleiben. “Ich würde zur Flucht raten!”, empfahl sie ruhig. “Das Blondchen dort hinten ist ein ganz klein wenig sauer.” Sie deutete mit dem Daumen über ihre Schulter hinter sich in den kleinen Teich hinein, in dem Nebula bereits vor Wut stiebte.

Plötzlich hob diese einen Arm. “Verberge in den Schatten, Shadowsheath!” Aus pulsierenden Adern trat eine Flüssigkeit hervor, die Nebula in einem schwarzen Gewand verhüllte. Zwar konnte sie die Teufelswaffe in der Dunkelheit nicht unsichtbar machen, doch sie erfüllte dennoch ihren Zweck. Nun bedeckt, konnte sie dem Wasser entsteigen. Noch einmal streckte sie den rechten Arm in den Himmel. “Gehe hernieder, Gungnir, Speer des Himmels!” Ein pechschwarzer Blitz fuhr aus dem sternenklaren Himmel herab in ihre geöffnete Hand. Nebula umklammerte die entstandene Stangenwaffe und machte sich sogleich bereit, einen vernichtenden Angriff auf die Perverslinge niedergehen zu lassen. "Himmlische Strafe!"

Gungnir ließ eine elektrische Entladung auf die hinter dem Stein versteckten schändlichen Spanner herabregnen.

“Argh!”

Cerise verschränkte die Arme. “Ich hab euch gewarnt...”
 

🌢
 

Der Fremde führte die Gruppe zu einer abgelegenen Höhle am Rande der Oase. Inzwischen waren alle wieder bekleidet. Allerdings, der späten Stunde geschuldet, hatte man Annemarie längst ins Bett geschickt. Clay und Henrik standen die Haare noch immer vom Körper ab und einige Brandspuren zeichneten sich an ihren versengten Spitzen ab. Im Großen und Ganzen hatten sie die Attacke ganz gut überstanden. Nebula ließ sie wohl doch nicht ihre volle Kraft spüren. Dennoch fühlten sie sich beinahe wie Bratwürste auf einem Elektrogrill - nur dass weder das eine noch das andere in absehbarer Zeit erfunden würde. Sie kamen nicht so glimpflich davon, wie der Fremde. Nicht nur, dass ihm die Elektrizität des Blitzes nichts auszumachen schien, er besaß auch noch die Dreistigkeit, sie bei einer wichtigen Angelegenheit um Hilfe zu bitten.

“Sagt mal, Fremder”, sprach Clay den jungen blonden Mann an. “Wieso konntet Ihr dem Angriff von eben so gut widerstehen?”

“Der Donner ist mein Element”, antwortete dieser auf die Frage. “Man kann mich nicht damit verletzen.”

“I-Ihr Glücklicher”, kommentierte Henrik.

Der Fremde hatte sie gebeten, einem Verletzten zu helfen. Aus diesem Grund plünderten Nebula und die anderen ihre Vorräte, um Verbandsmaterial und Schmerzmittel zusammenzutragen. Eigentlich würde sie einem verwegenen Wicht von seinem Schlag nicht über den Weg trauen, aber Nebula fühlte echte Sorge und wahre Gefühle in seinen Worten und beschloss deshalb, zu Gunsten der verwundeten Person, über sein Verhalten hinwegzusehen - vorerst. Endlich erreichten sie den Eingang zur Höhle, welcher vom Blattwerk verborgen war.

Vorsichtig traten sie ein.

Auf dem kühlen roten Stein sahen sie eine schwarzhaarige Frau liegen, deren entkleideter Oberkörper von Bandagen bedeckt war. Sie war augenscheinlich bewusstlos, atmete jedoch recht gleichmäßig. “Ist sie das?”, fragte Nebula.

“Ja, das ist meine... Bekannte.” Der Fremde hockte sich neben der Verletzten hin und rollte ihren Körper vorsichtig auf die Vorderseite. Am Rücken waren die Bandagen getränkt in Blut. “Vor einigen Tagen fand ich diese Oase. Die Höhle wurde anscheinend früher als Rastplatz genutzt. Ich fand einige Vorräte. Aber seitdem waren wir hier allein. Ich fürchtete, niemand würde hierher kommen.”

“W-Was ist m-mit der Frau geschehen?”, fragte Henrik erschrocken.

“Wir wurden angegriffen. Sie hat versucht, mich zu beschützen.”

“Wer hat das getan?”, wollte Nebula wissen.

“Das ist nicht weiter wichtig!” Der Fremde sah auf seine Begleiterin herab. “Ist zufällig ein Heiler unter euch?”

Annemarie könnte jetzt helfen, immerhin hat sie einen Crashkurs in Heilkunde vom Hofzauberer Arngrimir erhalten. Aber sie war in diesem Moment bestimmt längst im Reich der Träume angekommen. Sie ins Bett zu schicken, war wohl ein Fehler.

“Sehen wir uns zuerst die Verletzungen an”, schlug Cerise vor.

Vorsichtig begannen sie und Nebula die Verletzte von ihren Verbänden zu befreien. Während Nebula den Körper anhob, wickelte Cerise die blutigen Bandagen auf, bis die Verletzungen am Rücken frei lagen. Daraufhin legte Nebula die Fremde wieder auf den Boden ab. Verwundert blickten die Helfer die kreisrunden, perfekten Wunden im Fleisch der Frau an.

“Welche Waffe hat das verursacht?”, fragte Nebula.

“Die Wundränder sind perfekt. Wie ausgeschnitten!”, stellte Cerise fest.

“Das waren niemals Pfeile oder Bolzen!”

Derweil fiel Henriks Blick auf zwei seltsame Taschen an einem Gürtel, in denen merkwürdige Gegenstände steckten. Die Objekte weckten seine Neugier und er ging unbemerkt von den anderen auf sie zu, um sie sich genauer anzusehen. Vorsichtig nahm er eines von ihnen heraus und bestaunte es. Es erinnerte ihn an die Form eines Winkels. Ein Rohr ragte auf der einen Seite aus einem größeren Stück Metall heraus, für dessen Form er keine Beschreibung fand. Das andere Ende war mit Leder umwickelt und erinnerte ihn an den Griff eines Schwertes. Er drehte und wendete es in seinen Händen. Er schaute auch hinein in dieses merkwürdige Rohr. Wozu es wohl gut war? Seine Aufmerksamkeit wechselte zu dem Griff. Das Rohr zeigte inzwischen weg von ihm auf eine Felswand. An der Stelle, wo sich die beiden Hälften des Objektes trafen, befand sich ein kleiner Hebel, den Henrik lieber nicht betätigte. Aus Versehen berührte er allerdings einen Knopf darunter. Ruckartig wurde eine scharfe Klinge über dem Rohr ausgefahren. Sie kam aus dem hinteren Teil und entfaltete sich aus mehreren Segmenten.

Vor Schreck entglitt Henrik das Objekt und fiel auf den Boden.

Dem dumpfen Auftreffen folgte ein lauter Knall.

In der Wand erschien ein kreisrundes Loch.

Panisch sprang Henrik in einem Satz zurück. “Wa-Wa-Was ist d-das?!”, rief er laut aus und riss komödiantisch die Arme über den Kopf.

Die anderen wurden ebenfalls aufgeschreckt von dem lauten Knall und sahen unvermittelt zu Henrik und dem zu Boden gegangenen Gegenstand.

Sofort löste sich Cerise von den anderen und untersuchte die noch immer dampfende Perforation im Felsgestein. “Ein kreisrundes, sauberes Loch”, stellte sie fest. “Genau wie die Wunden in ihrem Rücken.”

Die anderen sahen den Fremden erwartungsvoll an.

“Was sind das für Dinger?”, wollte Nebula wissen.

“Bayonetpistolen”, antwortete der Unbekannte.

“Es klang wie ein Kanonendonner. Aber diese Waffen sind riesig und teuer. Man kann sie nicht einfach so in der Hand halten.”

“W-Was für eine f-fortsch-schrittliche Technik”, staunte Henrik. Die Esmeralda hatte ebenfalls ein paar Kanonen an Bord, allerdings konnten sie sie beim Angriff des Kraken nicht einsetzen, weil er zu nah am Schiff war. Aber dass man eine so kleine Kanone bauen konnte, dass sie in Händen gehalten werden konnte, klang für ihn so utopisch, wie eine Kolonie auf dem Mars es für uns heute tut.

Nebula begann, den Fremden äußerst skeptisch anzusehen. “Wer seid Ihr, Fremder?”, fragte die Blondine.

Der Angesprochene überlegte kurz, ob er diesen Leuten weit genug vertrauen wollte. Er fürchtete, keine andere Wahl zu haben. “Mein Name ist Toshiro.” Er blickte auf die auf dem Boden liegende Verletzte. “Ihr Name ist Aki.”

“K-Kann ich mir d-das mal genauer ansehen?”, fragte der inzwischen wieder zu den anderen heran getretene Henrik. Er hockte sich neben Aki und sah sich die blutigen Löcher in ihrem Rücken genau an. “D-Da steckt noch immer etwas drin. Wi-Wir sollten das zerst entfernen, sonst entzündet es sich noch schlimmer.”

“Das habe ich schon versucht”, erklärte Toshiro. “Ich habe die Kugeln nicht herausbekommen.”

“Dann lasst mich mal ran!” Henrik hielt die rechte Hand etwa zehn Zentimeter über Akis Rücken und konzentrierte sich. Kanonenkugeln waren aus Metall, diese Kugeln waren es bestimmt ebenfalls. Rote Flüssigkeit trat aus den Wunden aus. Vorsichtig hob Henrik den Arm. Aus der blutigen Substanz stiegen die kleinen verbeulten Metallkugeln auf und flogen langsam auf seine Handfläche zu. Henrik umfasste die Projektile und steckte sie in eine seiner Taschen.

Toshiro beobachtete die Demonstration seiner Kräfte mit Verwunderung.

“Lasst uns nun die Wunden säubern”, schlug Cerise vor.

Bevor sie beginnen konnte, sah Nebula die männlichen Anwesenden grimmig an.

Diese verstanden sofort und verließen die Höhle.

Den Fehler von vorhin wollten sie um keinen Preis wiederholen!

Cerise öffnete die Flasche Schnaps, welche sie zum Zwecke der Desinfektion mitbrachten. Zwar waren Bakterien und Viren völlig unbekannt, dennoch wusste man, dass Alkohol die Gefahr von Entzündungen durch dreckige Wunden verminderte. Doch bevor Cerise mit dem Gebräu einen Lappen tränkte, schüttete sie zuerst etwas davon unter Nebulas entsetztem Blick in die eigene Kehle. Als später der Alkohol die Wunden berührte und entsetzlich brannte, konnten Cerise und Nebula den Körper der Schwarzhaarigen unter Einfluss der Schmerzen erbeben fühlen und ein schwaches Stöhnen vernehmen.

Während die Frauen Aki versorgten und den Verband wechselten, nutzten die Männer die Zeit, sich besser kennenzulernen. Man hatte sie sowieso vor die sprichwörtliche Tür gesetzt. Wenig später durften sie wieder eintreten und Clay wurde mit der Aufgabe betraut, die Verletzte zu tragen. Fürs Erste war Aki wohl stabil. Dennoch brauchte sie dringend richtige medizinische Versorgung. Und die konnte ihr nur der Arzt der Karawane bieten.
 

Von der abgelegenen Höhle, vorbei an dem kleinen Tümpel, an dem sich zuvor unermessliche menschliche Dramen abgespielt hatten, bis zum Rastplatz der Karawane war es ein ansehnlicher Fußmarsch. Die Entfernung zu den die Oase umrandenden Felsformationen war nicht gerade gering. Der Weg beanspruchte jeweils eine gute Stunde. Da überraschte es auch nicht, dass sie nichts von den Ereignissen mitbekommen hatten, die sich unterdessen im Lager zutrugen.

Als sie sich näherten, registrierten sie, dass etwas nicht stimmte.

Wuselige Gestalten rannten aufgescheucht umher.

Zelte waren zusammengebrochen.

Kisten lagen verstreut.

Fackeln umgestoßen und erloschen im Sand.

Einige Körper lagen reglos im Gras.

Sofort rannten Cerise, Henrik, Nebula und Toshiro dem Lager entgegen.

Clay beschleunigte ebenfalls seinen Gang, versuchte jedoch, das Mädchen in seinen Armen zu schonen.

Dennoch musste sie Schmerz spüren, denn sie öffnete kurz ihre Augen. “Oji-sama... Wo seid Ihr?”, sprach sie schwach und gebrochen.

“Könnt Ihr mich hören?”, fragte Clay besorgt.

Aber Aki war bereits wieder weggetreten.

Clay beeilte sich. Er musste seinen Passagier unbedingt loswerden. Je länger er sie trug und der Geruch ihres süßen Blutes in seine Nase stieg, desto stärker verspürte er den Drang, seine Zähne in ihr Fleisch zu schlagen. Der Hunger der Bestie brannte in seinem Inneren.

Es widerte ihn an!

Er hasste sich dafür.

Derweil erreichten die anderen das Lager. Nebula lief ein aufgeregter Händler in die Arme. Als er sich einfach nicht beruhigen wollte, packte sie ihn und schlug ihm ins Gesicht. “Wer hat uns überfallen?!”.

Die anderen beäugten dies entsetzt.

Erstaunlicherweise schien der Treffer den Panikanfall des Mannes zu lindern. “D-Das w-wa-waren die Wüstenräuber!", antwortete er aufgeregt. “Sie ha-haben uns angegriffen. U-Und da w-war ihre Anführerin m-mit diesem schwarzen T-Teppich. S-Sie hat a-alles umher gewirbelt!”

“Teufelswaffe!”, antwortete Nebula und ließ den Mann los.

“Hier sieht es ja aus”, kommentierte Cerise. “Schlimmer als unter meinem Sofa.”

“D-Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für Sch-Scherze!”, ermahnte Henrik.

Cerise überraschte sein ungewohnt selbstsicheres Auftreten.

Henrik sah sich die Verletzten genauer an. Sie hatten Platzwunden, Knochenbrüche und blutende Schürfwunden. Aber keiner von ihnen schien schwer verletzt zu sein. “Das ist gut!”, dachte er lau. “Annemarie sollte sie… !! Annemarie?!”, rief er aus und begann, wie wild durch das Lager zu flitzen.

Auch Nebula rannte los. Sie dachte jedoch zuerst an jemand anderen. “Caroline!” Ihrem Körper war hoffentlich nichts widerfahren.

Der Rest hatte kaum eine andere Wahl, als beiden zu folgen, wollten sie nicht einfach nutzlos in der Gegend herumstehen.

Bei ihren Zelten angekommen, entdeckte Henrik einen Zettel im Boden, durch den ein Dolch gestoßen war.

Nebula hingegen zog es zum unsanft vom Wagen geworfenen Sarg von Caroline. Sein unteres Ende berührte den Boden, der obere Teil lehnte noch immer an den Wagen. Der Deckel war abgesprungen und lag daneben. Ein Arm von Caroline hing über den Rand des Sarges hinaus in der Luft.

Cerise und Toshiro holten die anderen ein. Der blonde Fremdling sah Henrik mit dem Stück Papier in seiner Hand und ergriff eine Fackel, die nicht weit von ihm im Boden lag. An ihr befand sich noch genug Brennmaterial, also benutzte er seine Kräfte und erschuf einen Funken, welcher sie entzündete. Mit dem Licht war es Henrik nun möglich, den Text zu erkennen. Ein Salat aus merkwürdigen Zeichen, die er nicht deuten konnte. Was diese fremde Sprache betrifft, war er noch immer ein Analphabet.

Cerise riss den Zettel aus seiner Hand. Ihr rudimentäres Verständnis dieser Sprache musste dafür ausreichen. “Sie haben Annemarie!”, verkündete sie. “Sie schreiben außerdem, dass sie von den Teufelswaffen wissen. Haben uns wohl schon länger beobachtet. Äußerst lobenswerte Spionagearbeit, wenn ich das anmerken darf! Ich habe sie nicht bemerkt… Ach ja, sie verlangen die Herausgabe, sonst geht es Annemarie an den Kragen.”

Henrik ließ vor Schreck die Fackel fallen. “O-Oh nein! Das...! Wir müssen sie retten!”

Doch Nebula vernahm diese Worte längst nicht mehr, da sich plötzlich der Arm von Caroline bewegte. Vorsichtig stützten sich zwei Hände vom Rand des Sarges ab und jemand versuchte, ihm zu entsteigen. Wackelig auf den Beinen, erhob sich eine sichtlich verwirrte Caroline. “Wo bin ich?”, fragte sie.
 

🌢
 

Alaric war inmitten der Vorbereitungen für eine bald anstehende Reise zum wichtigsten Verteidigungswall im Norden des Kaiserreiches gefangen. In den heißen Aschlanden tickten die Uhren anders, weshalb er um diese Zeit noch arbeitete. Er würde dem Stützpunkt am kältesten Punkt des Imperiums einen Besuch abstatten. Ein Tapetenwechsel, welcher ihm nicht ungelegen kam. Die Einrichtung wollte auf ihre Effektivität und ihre Effizienz bei der Verteidigung gegen die wilden Barbarenhorden aus dem eisigen Frys geprüft werden.

Allerdings musste er zuerst die Schlacht gegen den Papiertiger gewinnen.

Alaric hatte sich sagen lassen, die Bürokratie im Reich fand einzig im Wüstenstaat am anderen Ende des Kontinents einen würdigen Konkurrenten. Persönlich konnte er das weder widerlegen noch bestätigen. Er hatte noch nicht das Vergnügen, das Kalifat zu bereisen. Dort gab es viel zu viel Sonnenschein!

Dennoch wusste Alaric, dass man es stets genau nehmen musste.

Die Bürokratie war wie die Steinschleuder der Ordnung, durch die der Gigant des Chaos und der Willkür erschlagen wurde.

Das änderte allerdings nichts daran, dass er dringend eine Pause brauchte. Es war ihm, als haben die Worte ihr Eigenleben entwickelt und sprangen vom Blatt herunter. Sein Auge schmerzte von all dem Lesen.

Alaric erhob sich von seinem Arbeitstisch und schritt in seinen Gemächern umher. Tag und Nacht hatten im Herzen von Aschfeuer keinerlei Bedeutung. Rund um die Uhr schimmerte der rote Schein des Lavasees unter dem Schwarzen Palast durch die Blei gefassten Fenster und ließ die Einrichtung in einem feurigen Rot erscheinen. Ein Bücherregal gefüllt mit den wichtigsten Werken aus Philosophie, Wissenschaft und Poesie aller Rassen befand sich an einer Wand. Selbst Werke von menschlichen Autoren hatten ihren Weg in seinen Besitz gefunden, denn anders als seine Schwester verurteilte er niemanden wegen seiner Rasse vor. Das Licht fiel auch auf das Himmelbett, dessen schwarze Seidentücher es vollkommen schluckten. Auf dem glatten Basaltboden war ein Teppich ausgelegt, dessen kunstvoll gewebten Muster in den Händen eines Meisters seines Fachs tief in der Wüste entstanden sein mussten. Außerdem besaß Alric mehrere Kleiderschränke und einen Bereich mit Sichtschutz, an dem er seine Geschmeide anprobieren konnte.

Wahrscheinlich würde er aber einfach nur eine Uniform tragen, die seinen Rang zweifelsfrei allen Kund täte, die sie sähen.

An der Tür einer der Schränke war ein lebensgroßer Spiegel angebracht. Ein ehrenhafter Mann musste stets darauf achten, dass seine Kleidung ordentlich saß, um nicht zur Lachnummer zu werden und Schande auf sich zu laden. Ein weiterer, kleinerer, befand sich auf einer Kommode, vor der ein Hocker stand.

Alaric erinnerte sich daran, den neuen Mantel probieren zu wollen. Sein neuestes Auftragswerk an den kaiserlichen Schneider erblickte erst kürzlich das Licht der Welt und er hatte bis jetzt noch nicht das Vergnügen gehabt, es einmal überzustreifen. Da er den Papierkrieg heute gewiss nicht mehr gewinnen konnte, schien nun der rechte Moment gekommen. Er öffnete den Schrank, entnahm das Kleidungsstück und probierte es an. An der Spiegeltür konnte er sich davon überzeugen, dass es perfekt saß.

Er blinzelte und bekam im nächsten Moment einen Schreck, da er eine Person hinter sich zu sehen glaubte. Sofort wandte er sich um, nur um niemanden zu entdecken. “Wer ist da?!”, rief er aus, erhielt aber keine Antwort. Verwirrt sah er sich um, bis ihm plötzlich schwarz vor Augen wurde.
 

Wie versteinert stand Nebula da und betrachtete ungläubig die umherwandernde Caroline. So lange lag sie regungslos, seelenlos, in ihrem Sarg. Keiner vermochte ihr zu helfen. Und nun stand sie einfach so von selbst wieder auf? “Caro!”, rief sie ihr zu. Egal ob sie wachte oder träumte, die Gelegenheit, ihre Freundin in den Arm zu nehmen, ließ sie nicht ungenutzt verstreichen. Für die sonst so taffe Kriegerin gab es kein Halten mehr. Mit einer Wucht, dass sie sie fast zu Boden riss, fiel Nebula Caroline um den Hals. “Ist das wirklich wahr?” Sie konnte sie berühren. Fühlen. Es musste also real sein. Dennoch wollte sie nicht begreifen, dass das tatsächlich gerade passierte.

Die anderen betrachteten die Szene mit äußerster Verwunderung.

Insbesondere Toshiro fragte sich, was es mit dem just dem Sarg entstiegenen Mädchen auf sich hatte. Und warum sah sie fast genauso aus wie diese Nebula?

“Wo bin ich hier, Emmi?”, fragte Caroline. “War ich nicht eben noch im Palast?” Sie war mindestens so verwirrt wie alle anderen. “Nein! Ich-”

“Du bist jetzt hier!”, unterbrach Nebula. In ihrer Freude konnte sie ihre Kräfte fast nicht im Zaum halten und presste Carolines Körper an den ihren.

“Langsam! N-Nicht so stürmisch!”

Zum Glück begriff Nebula, bevor Caroline blau anlief, und löste ihren unbeabsichtigten Würgegriff, der selbst eine Anakonda vor Neid platzen lassen würde.

“Da wo ich war, war überall Schwärze.”

Nebula packte Carolines Gesicht mit beiden Händen und lehnte ihre Stirn an ihre. “Das ist doch jetzt alles nicht mehr wichtig!” Sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

“Genau!”, rief Cerise dazwischen. “Wer immer die Karawane überfallen hat, hat Annemarie entführt. Vielleicht gedenkt Ihr etwas dagegen zu unternehmen?”

Als ob es ihr erst jetzt richtig bewusst geworden wäre, wandte sich Nebula an die anderen. Ein kurzes Schniefen. Ein hastiges Wegwischen der Tränen. Dann war sie sprechbereit: “Ihr habt Recht! Ihre Sicherheit hat Vorrang!”

Carolines Verwirrung vermochten Worte nicht mehr zu beschreiben.
 

Bevor er sich zusammen mit Cerise auf Spurensuche begab, trug Clay die verletzte Aki zurück zu den Zelten und legte sie in das seine. Sie hatte einen warmen Platz zum Schlafen nötiger als er. Ihre Worte von vorher erinnerten ihn an etwas. Seine Frau hatte immer behauptet, ihre Familie stamme von Inseln ab, die seit Jahr und Tag von den Karten verschwunden waren. Anders als viele ihrer Bekannten, hatte er nie daran gezweifelt, dass ihre Wurzeln tatsächlich in diesem sagenumwobenen Land lagen und ließ sich von ihr sogar die fremdartige Sprache lehren, die sie ihrerseits von ihrem Urgroßvater gelernt hatte. Oji bedeutet so viel wie Prinz. Wenn also diese fremde Frau nach einem Prinzen rief und ihr einziger Begleiter ein junger Mann war, konnte es dann sein, dass er nicht nur ein Gewöhnlicher, sonder ein Adliger war? Das sollte er ihn später lieber selbst fragen. Im Moment lenkten ihn die Gedanken nur ab.

Gemeinsam untersuchten sie die Hinterlassenschaften der Angreifer und entdeckten bald mehrere Paar Fußspuren auf dem sandigen Boden. Vorsichtig beschlossen sie, ihnen zu folgen und fanden bald darauf tatsächlich das Lager der Wüstenräuber. Es waren viele an der Zahl. Bestimmt an die dreißig oder vierzig Mann. Auf jeden Fall zu viele, um einen Frontalangriff zu riskieren. Die Gefahr, dass einer von ihnen Annemarie Leid zufügen könnte, bevor sie dazu kämen, sie alle zu erschlagen, war zu groß. “Das sind einige...”, flüsterte Clay.

“Ich weiß was Ihr sagen wollt”, bestätigte Cerise. “Es wäre sehr gewagt, die Kavallerie zu rufen.” Mit ‘Kavallerie’ meinte sie offensichtlich den Rest der Truppe, allen voran Nebula, welche gewiss in kürzester Zeit durch das Lager fegen täte.

“Wie wollen wir vorgehen?”

“Wir werden sie beobachten. Sie wissen von Prinzesschens Kräften und ein Waffenmeister ist unter ihnen. Wenn es uns gelingt, diese Frau mit diesem Teufelsteppich auszuschalten, wird es einfacher den Rest zu erledigen.”

“Teufelsteppich?”

“Eingängiger Name, oder?” Cerise grinste und lobte sich selbst. “Manchmal habe ich Angst davor, wie gut ich bin.

“Laut dem Händler folgen ihr diese Männer blind.”

“Gut!”, meinte Cerise. “Dann werden sie mich nicht kommen sehen.” Sie schlich auf einmal auf das Lager zu.

“Wo wollt Ihr hin?”, wollte Clay wissen.

“Ich will mir das Ganze aus der Nähe ansehen. Dort hinten wird ein kleines Zelt von jemandem bewacht. Es ist das einzige, das bewacht wird. Ich bezweifle, dass die Anführerin in so einem kleinen Zelt hockt. Dort werden sie Annemarie gefangen halten. Ich will versuchen, sie zu befreien. Ihr haltet indes die Stellung. Wenn ich das Zeichen gebe, oder falls etwas Unvorhergesehenes passiert, erschießt Ihr die Anführerin.”

Clay gefiel der Gedanke nicht, auf ein Zeichen warten zu müssen, bis er einschreiten konnte. Viel lieber wollte er seiner Geliebten tatkräftig zur Seite stehen. Wozu war er sonst ein Mann? Wenn sie aber glaubte, dass es so besser war, wollte er ihr nicht reinreden. “Alles klar. Ich habe verstanden.” Als sich Cerise schon abgewandt hatte und dabei war, mit dem Buschwerk zu verschmelzen, fügte er noch an: “Viel Glück.”

Cerise drehte sich kurz um und pfiff abfällig. “Das Glück hat gar keine andere Wahl, als mir Hold zu sein.” Dann drang sie tiefer ein und verschwand aus seinem Blickfeld.

Clay beschloss, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die Cerise ihm aufgetragen hatte, und suchte nach der Anführerin dieses Haufens.
 

Unterdessen blieb der Rest der Gruppe im Lager. Ohne Kenntnis über den Standpunkt des Räuberlagers, blieb ihnen sowieso nicht viel mehr übrig, als auf den nächsten Tag zu warten.

Henrik saß am Lagerfeuer und stocherte mit einem Schürhaken in den Hölzern und Kohlen herum. Er dachte, dass Nebula gern mit Caroline allein sein wollte. Als Toshiro in das andere Zelt ging, um bei Aki Wache zu halten, ergriff auch Henrik die Gelegenheit, sich davon zu stehlen. Auch er fragte sich, was es mit Carolines Erwachen auf sich hatte, doch ohne Anhaltspunkte, würde er sowieso zu keinem anständigen Ergebnis kommen.

Nebula und Caroline saßen sich im Schein einer rustikalen Laterne im Zelt gegenüber und wechselten lang ersehnte Worte.

“Du nennst diesen Ort Limbus?”, hakte Caroline nach. “Wie die Vorhölle?”

“Es ist eine endlose schwarze Weite”, veranschaulichte Nebula. “Niemand ist da. Man ist ganz allein. Ja, es ist eine treffende Umschreibung. Es ist der Ort, an den man geht, wenn einen weder Himmel noch Hölle haben will.”

“Für mich war es, als sei der Ball erst gestern gewesen. Dabei ist er bereits viele Wochen her. Du hast in dieser Zeit sogar einen Ozean überquert.”

“Man verliert jegliches Gefühl für Zeit. Ob ein Tag oder ein Jahrhundert vergeht, kann man unmöglich einschätzen. Es ist ein Moment, der sich für eine Ewigkeit in die Länge zieht und doch nur einen Wimpernschlag andauert.”

Auf einmal verlor Caroline jegliche Beherrschung und begann zu schluchzen. “Ich bin so froh, dass ich diesen Ort verlassen konnte!”, brachte sie zwischen hektischen Atemstößen hervor. “Ich will nie wieder dort hin!”

Nebula umklammerte ihre Freundin und legte ihren Kopf über ihre Schulter, so dass Caroline nicht sehen konnte, dass ihr selbst die Tränen kamen. “Keine Angst! Ich lasse nicht zu, dass du nochmal dort hin musst!”
 

Gefesselt und geknebelt saß Annemarie in einem abgedunkelten Raum zwischen Kisten und Säcken. Sie konnte nicht schlafen, während die anderen dem fremden Mann folgten. Stattdessen hütete sie das Feuer, als plötzlich die Halunken kamen und die Karawane überfielen. Annemarie versuchte noch, ein sicheres Versteck zu finden, aber es war ihr nicht mehr gelungen. Die Räuber durchwühlten alles. Nicht einmal vor dem Sarg von Caroline hatten sie Respekt. Da war es wenig verwunderlich, dass sie Annemarie auf der Suche nach verborgenen Wertsachen aus dem Fass heraus zogen, in das sie zuvor gekrochen war. Sie verschleppten sie an einen unbekannten Ort. Alles, was sie gerade noch mitbekam, war, wie sie in dieses vollgestellte muffige Zelt gesteckt wurde. Der Stoff oft gerissen und noch öfter mit Fetzen von alten Kleidungsstücken geflickt. Wahrscheinlich bewahrten sie hier ihre Vorräte und ihre Beute auf.

Fixiert und zu keiner Bewegung fähig, sehnte sich Annemarie nach ihrem Schlafsack. Den würde sie jedoch nicht so schnell wiedersehen, bedachte sie ihre Fesseln und die Wache, welche außen vor dem Zelt stand. Morgen sollte sie im Austausch gegen Nebulas Waffen freigelassen werden. So viel hatte sie noch aufschnappen können. Doch diesen Forderungen nachzugeben, käme Nebula nie in den Sinn. Wahrscheinlich musste Annemarie jetzt für immer hier bleiben.

Traurig senkte sie den Kopf.

Plötzlich vernahm sie ein Rascheln hinter sich.

Von was wurde es hervorgerufen?

Eilig wandte sich das Mädchen der Quelle zu.

Aus einem in die Leinwand geschlitzten Spalt drang still und heimlich ein vertrautes Gesicht ein. In Hockstellung schob sich ein buschiger Pferdeschwanz, dessen Kirschrot durch das spärliche Mondlicht gerade mal erahnt werden konnte.

Annemarie hätte ihre Freude gern herausgeschrien, allerdings wäre dies in dieser Situation fatal gewesen. Außerdem verhinderte es der Knebel in ihrem Mund.

Cerise legte einen Finger auf ihre Lippen, als sie den offiziellen Eingang des Zeltes erreichte, um das Mädchen zu animieren, ihre hektischen Bewegungen einzustellen. Sorgsam schob sie den Stoff ein Stück, um hindurch zu sehen. Rechts konnte sie niemanden entdecken. Auf der linken Seite stand ein muskelbepackter Grobian. Er war jedoch viel zu weit weg vom Eingang, als das Cerise in der Lage gewesen wäre, ihn schnell und heimlich auszuschalten. Stattdessen musste eine List her.

Ein polterndes Geräusch drang aus dem Zelt an das Ohr der Wache. Sofort schrillten seine Alarmglocken und er betrat das Zelt. Zwischen dem gelagerten Diebesgut vorangegangener Karawanen saß das Mädchen, welches er bewachen sollte, noch immer brav an ihrem Platz. Zugegeben, eine andere Wahl blieb ihr sowieso nicht. Er grübelte noch, was dieses Geräusch ausgelöst haben könnte, als ihn eine Hand von hinten packte und ihm den Mund zuhielt, während eine zweite mit scharfer Klinge bewaffnet seine Kehle auftrennte. Ein Schwall Blut spritzte durch das kleine Zelt. Auch Annemarie bekam etwas davon ab. Ein Blutstropfen verirrte sich auf ihre Wange. Vorsichtig legte Cerise den Körper ihres jüngsten Opfers nieder und begab sich zu Annemarie. Mit noch blutiger Klinge trennte sie den Knebel um ihren Mund und die Fesseln an Armen und Beinen auf.

Hastig atmete Annemarie ein und aus, nachdem sie von ihnen befreit war.

“Lass uns von hier verschwinden!”, sprach Cerise. “Und sei ja leise!”

Nach diesen mahnenden Worten schlüpfen beide nacheinander durch den frisch hinzugefügten Hinterausgang und durch die Büsche in die Freiheit.
 

Auf jemanden achten, der auf die Beschreibung passte, hatte sie gesagt.

Auf ihr Signal warten und dann schießen, hatte sie gesagt.

Sie hatte viel gesagt.

Clay konnte zwar mit seinen tierischen Sinnen die Frau deutlich riechen, aber wo genau sie sich zwischen den ungewaschenen stinkenden Räubern befand, wusste er deshalb noch lange nicht. Auch aus dem Schlagen von drei Dutzend Herzen konnte er keine hilfreichen Informationen entnehmen. Der kleine Unterschied zwischen Mann und Frau schloss dieses Organ leider nicht mit ein. Er sammelte sich. Mit wieder klarem Verstand und Ziel vor den imaginären Augen, suchte der Jäger nun nach der Beute.

Und er wurde fündig.

Unscheinbar, fast schon unsichtbar, gegen das wilde und protzige Gehabe ihrer Diebesgefährten, saß eine gut gekleidete Frau an einem Lagerfeuer und pulte sich mit einem Zahnstocher die Reste des Abendmahl aus den Zahnzwischenräumen. Sie musste es sein.

Clay nahm einen Pfeil aus dem Köcher und spannte seinen Bogen.

In jenem Moment raschelte etwas in den Büschen.

Clay verschwendete keinen Gedanken daran, sein Ziel aus den Augen zu lassen, denn er hatte Annemarie und Cerise bereits an ihren unverwechselbaren Eigengerüchen erkannt. “Ihr habt sie gefunden?”, fragte er rhetorisch.

“Natürlich”, entgegnete die Rothaarige. “Und weil ich schon dabei war, gleich noch einen der Räuber erledigt.”

“Klasse! Sind ja nur noch Dutzende übrig.”

“Hey, Sarkasmus ist mein Verantwortungsbereich!”, tadelte Cerise.

“Ich habe die Anführerin ausfindig gemacht”, verkündete Clay.

“Wirklich?!” Cerise ließ sich von Clay auf die Frau aufmerksam machen. “Du kannst sie jetzt gern erschießen.”

Gerade als Clay den Pfeil auf die Reise schicken wollte, wurde es hektisch im Lager. Mehrere Männer wuselten umher und einer von ihnen flüsterte der Anführerin etwas ins Ohr. Sofort war es vorbei mit ihrer Ruhe und sie spie ihre Befehle aus. Die Räuber begannen damit, das Lager auf links zu drehen.

“Sie haben wohl die Leiche gefunden”, stichelte Clay. “Habt sie wohl nicht gut genug versteckt. Was für ein Anfängerfehler!”

Cerise unterdrückte ihren Ärger. “Das merke ich mir!”

Noch einmal zielte Clay und ließ den Pfeil dieses Mal fliegen.

Das Geschoss bahnte sich seinen Weg zu der Anführerin, doch wurde abgewehrt, als sie blitzschnell ihren ikonisch-orientalischen Krummsäbel zog und seine Klinge zwischen ihrem Kopf und dem Projektil positionierte.

Cerise stieß ein anerkennendes Pfeifen aus. “Gute Reflexe!”

Ohne weiter unnötig Zeit zu vertrödeln, flohen Annemarie, Clay und Cerise zurück in ihr Lager. Sie mussten davon ausgehen, dass der Feind nun ihre Position kannte und versuchen würde, den Gefallenen zu rächen und die Geisel wieder in seine Gewalt zu bringen.
 

🌢
 

Nachdem Clay und Cerise mit Annemarie zurückkehrten und von ihrer Begegnung mit der Anführerin der Wüstenräuber berichtet hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass ein Vergeltungsschlag unausweichlich war. Wahrscheinlich würde dieser erst am nächsten Tag erfolgen. Der Feind musste Kräfte sammeln und seine Truppen neu gruppieren. Sie würden höchstwahrscheinlich nicht sofort angreifen. Der Schock, dass sich jemand in ihr Lager eingeschlichen und die Geisel befreit hatte, war gewiss groß. Sicherheitshalber teilten sich Nebula und die anderen die Nachtwache ein, um nicht hinterrücks überfallen zu werden.

Nicht schon wieder....

Entgegen der Befürchtungen, blieb alles ruhig und der Morgen graute.

Mit dem, was sie an Ruhe finden konnten, waren Nebula und ihre Verbündeten auf den drohenden Angriff gefasst. Neben ihr selbst waren auch Clay, Cerise, Henrik und Toshiro anwesend. Etwas abseits bei den Zelten stand Caroline.

“W-Was machen wir, wenn s-sie uns einfach überrennen?”, fragte Henrik.

“Das kann durchaus sein”, meinte Cerise. “Sind nicht gerade wenig.”

Ihre Worte machten dem Braunhaarigen nicht gerade Mut.

“Hört doch auf, ihm Angst zu machen”, tadelte Clay.

“Was kann ich dafür, wenn er so ein Hosenschisser ist?”

“Taktlos, wie eh und je”, echauffierte sich Nebula. “Henrik, höre einfach nicht hin!”

“I-Ist gut!”

“Höre lieber auf mich!” Sie ging auf Henrik zu und legte die Handflächen auf seine Schultern. Das Bild der kleinen mutigen Frau, die zu dem wesentlich größeren Feigling aufsah und ihm Mut zusprach, war gewiss erquickend und labend. “Für dich habe ich eine besondere Aufgabe!”, kündigte sie an. “Erinnerst du dich an den Kraken und was du mit deinem Schwert gemacht hast? Das kannst du gleich noch mal machen! Du wirst dich mit deinen Kräften um die Waffen der Räuber kümmern!”

“O-Okay. Ich g-gebe mein Bestes!”

Nebula ließ Henriks Schultern wieder los und wandte sich an Caroline. “Du bleibst bei Annemarie im Zelt. Das ist zu gefährlich!”

“Mach sie fertig!”, ermutigte Caroline und suchte anschließend Schutz.

Toshiro streifte seine goldenen Schlagringe über. “Die sollen nur kommen!”, prahlte er selbstsicher. “Ich verpasse ihnen eine Abreibung!” Eine kleine elektrische Entladung zuckte über seine Waffe und ließ die Luft knacken.

Wie aufs Stichwort erschienen die Wüstenräuber in der Ferne.

Sie wurden angeführt von der Frau in der feinen Gewandung. Sie trug eine schwarze Abaya, ein weites Oberkleid mit langen Ärmeln, das bis zu den Füßen reichte. Die Abaya war kunstvoll mit Mustern aus goldenen Fäden bestickt. Dazu trug die Frau einen dekorativen Gesichtsschleier und ein Kopftuch. Beide Kleidungsstücke waren ebenfalls schwarz und golden bestickt. Ihre Füße wurden von Pantoffeln vor dem Sand geschützt, deren zulaufende Spitze sich am Ende wölbte. Sie trug außerdem ein im Orient übliches Krummschwert an ihrem Gürtel.

Es ließ sich offenbar gut leben als Räuberbraut.

Die Anführerin und ihre Räuberhorde blieben stehen. “Mein Name ist Jasmin”, stellte sie sich vor. “Ihr mögt zwar meine Geisel befreit haben, doch Eure Waffen werde ich auch so meiner Sammlung hinzufügen!” Mit der linken Hand beschwor sie ihre Teufelswaffe. “Erhebe dich in die sieben Winde, Astarte!”, hörte man sie von weitem rufen. Aus schwarzem Staub formte sich in mehreren Verwirbelungen eine schwarze Textilie. Sie nahm die Gestalt eines Teppichs an, der in der Luft schwebte. In einem Satz schwang sich Jasmin auf ihn. Er wirbelte Sand auf, als Jasmin mit ihm in die Lüfte aufstieg. Sie erhob ihren rechten Arm und rief: “Easifat Ramlia!”

Ein sandiger Windstoß traf das Lager und riss Henrik von den Füßen. Ebenso wurden die Zelte in Mitleidenschaft gezogen. Annemarie und Caroline erblickten den Himmel, als die Plane über ihren Köpfen davon geblasen wurde. Ebenfalls wurde das Zelt abgedeckt, in dem Aki ihre Verletzungen auskurierte. Sie war noch zu schwach zum aufstehen und blieb einfach liegen, während Toshiro sie mit seinem Körper vor dem Sand bewahrte.

Die Wachen der Karawane taten ihre Pflicht und stürmten auf die Räuber zu. Diese taten es ihnen gleich, was zu einem mächtigen Gerangel führte. Allerdings waren die Räuber zahlenmäßig weit überlegen und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie die Männer niedergerungen hätten. Toshiro nutzte die Gelegenheit, sich selbst seine Fertigkeiten zu beweisen, und schlug einen Gegner nach dem anderen. Der Rest hielt sich vornehm zurück und stürmte nicht blind drauf los. Vorsichtig rappelte sich Henrik indes wieder auf. Er wusste genau, was er zu tun hatte. Die Schwerter und Speere der Angreifer waren ihm leichte Beute. Er verlagerte seinen Körperschwerpunkt, um beim nächsten Windstoß nicht schon wieder hinzufallen. Dann streckte er seinen rechten Arm aus und konzentrierte sich auf die unmittelbare Bedrohung. Es hatte mit einem Schwert geklappt, dann würde es auch mit mehreren funktionieren! Sowohl den Wachen, als auch den Räubern wurden ihre eisernen Waffen entrissen. Toshiros Schlagringe konnte er jedoch nicht bewegen. Sie entzogen sich seinem Zugriff. Henrik formierte seine ansehnliche Sammlung an Waffen. “W-Was soll ich jetzt machen?”, fragte er unsicher.

“Idiot!”, schimpfte Nebula. “Wirf sie auf das Miststück!”

“N-Nagut!” Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, die dutzenden messerscharfen Tötungsutensilien auf eine einzelne Frau zu werfen. Aus seiner Sicht erfüllte dies den Tatbestand der Mehrfachtötung. Seine Wankelmütigkeit war vielleicht auch der Grund, warum es Jasmin so einfach gelang, seinen Angriff mit einer weiteren mächtigen Windböe zu kontern. Die Waffen wurden erfasst und in alle Richtungen abgetrieben. Von überall regneten sie herab und bohrten sich in den Sandboden. Wie durch ein Wunder traf keiner der Gegenstände einen Menschen.

Diesmal vermochte Henrik die Balance zu halten.

“Halte dich da raus, du Hexer!”, forderte Jasmin.

Nebula gestand sich ein, dass Jasmin doch nicht so leicht beizukommen war, und rief eine Teufelswaffe herbei. “Erschütter die Grundfesten der Welt, Quake!”, befahl sie und das schwarze Riesenschwert formte sich aus dem aus ihrem Arm austretenden Blut. “Zieht Euch zurück!”, rief sie den verbleibenden Wächtern zu, was diese angesichts der gewaltigen Waffe in ihren Händen auch sofort umsetzten. Toshiro tat es ihnen widerwillig gleich - viel lieber hätte er die Feinde bekämpft. Nebula war nicht sicher, wie sich die Angriffe des Schwertes auf so sandigem Boden auswirken würden, aber sie sollte es gleich herausfinden. Als die Männer zurückgefallen waren, hob sie die Waffe an und ließ sie auf den Boden zu schnellen. “Erdrutsch!” Doch anstatt dass der Boden aufriss, wie sie es gewohnt war, entwickelte er neue Eigenschaften. Den Angreifern wurde einfach der Halt unter den Füßen entrissen und sie versanken halb oder gar ganz im Boden.

“Nein!”, schrie die Banditenbraut aufgelöst. “Ihr Schlampe werdet mich nicht daran hindern, ihn zu befreien!” Endlich zog sie ihr Schwert und schwebte auf Nebula zu.

Diese wechselte ihre Waffe aus. “Verfehle niemals dein Ziel, Gastraphetes!”, befahl sie und dieses Mal erschuf sie eine Armbrust. “Nachladen! Feuer!”

Jasmin konterte, indem sie Astarte wie einen Schutzschild nach oben bog.

Nebula musste den darauffolgenden Hieb ihres Schwertes mit der Armbrust abwehren, als Jasmin sie erreichte. Schwert und Schusswaffe kreuzten sich und Jasmin schwebte auf ihrem fliegenden Teppich wieder in sichere Distanz.

“Ich habe mich nicht von ganz unten hochgekämpft, um gegen so eine wie Euch zu verlieren!”, tönte es von oben herab. Jasmin schwebte mehrere Meter über Nebulas Kopf. “Ich tue alles für meine Familie!”

Verärgert sah Nebula zu ihr hinauf.

“Gegen die Kraft der Sandstürme kommt Ihr nicht an!” Mit einer Handbewegung erschuf Jasmin eine mächtige Luftverwirbelung, stärker als jene zuvor, und schleuderte sie auf Nebulas Verbündete. “Easifat Ramlia!” Henrik hob erneut vom Boden ab, wurde allerdings von Clay am Schlafittchen gepackt, zurück auf den Boden gezogen und so vor Schlimmerem bewahrt. Cerise machte sich klein, um dem Wind keine Angriffsfläche zu bieten und Toshiro ertrug den Angriff wie ein echter Mann. Da Aki bereits auf dem Boden lag, konnte sie der Wind nicht erfassen. Annemarie und Caroline hatten nicht so viel Glück und wurden mitgerissen. Caroline prallte gegen einen Planwagen, nur um als nächstes Annemaries Aufprall abzufedern. Der Rotschopf fiel auf alle Vier, rappelte sich aber sofort wieder auf. Caroline hingegen wurde schwarz vor Augen und sie fiel regungslos in den Sand.

Mit Schrecken verfolgte Nebula die Ereignisse.

Die schwarze Armbrust verschwand und Nebula hatte nur noch Augen für die viele Meter entfernt auf dem Boden liegende Caroline. “Caro! Nein!” In diesem Moment musste sie vom Schlimmsten ausgehen. Geschockt setzte sie langsam einen Fuß vor den anderen, während die vom Sand verschütteten Feinde sich langsam aus ihrer Lage befreiten.

“Hier spielt die Musik!”, schrie Jasmin. “Männer, schnappt sie euch!”

Einige ihrer Männer, jene, welche sich inzwischen wieder ausgebuddelt hatten, folgten dem Befehl und stürmten auf die teilnahmslos wirkende Nebula zu.

“Pass auf!”, rief Henrik ihr noch zu.

Ein Schwall aus Blut färbte den Sand rot.

Der von unten nach oben aufgeschlitzte Körper eines Räubers plumpste zu Boden.

Weiteres Blut tropfte von der Spitze eines am ausgestreckten Arm gehaltenen schwarzen Schwertes. Ohne sich ihm nur zuzuwenden, hatte Nebula den Angreifer erschlagen. Ihren Verbündeten zeigte sie den entarteten Gesichtsausdruck, noch bevor ihn Jasmin zu Gesicht bekam. “DafÜR wiRSt dU bLuTEn!”, sprach die Blondine mit dämonisch verzerrter Stimme. Ihre Worte richtete sie an die noch immer über ihr schwebende Jasmin. Nebula begann eine dunkle Aura auszusenden und sah zu der Frau auf dem fliegenden Teppich auf. “IcH WeRdE eUCH aLlE TöTEn!”

Ihre Verbündeten hatten sie noch nie in diesem Zustand gesehen und waren zu geschockt, um zu reagieren. Sie fühlten eine grenzenlose Dunkelheit, welche jeden Versuch der Bewegung unterband.

“Nein!”, schrie Henrik.

Unterdessen schritt das Unheil auf Jasmin und die Wüstenräuber zu.

Die vom Zorn erfüllte Nebula näherte sich mit klarer Tötungsabsicht.

Ein weiterer Mann griff sie an und wurde brutal von der Blondine niedergestreckt.

Ein dritter folgte sogleich.

Der Tod ihrer Männer brachte etwas in Jasmin ins Wanken. Bisher waren sie vom Glück beschenkt worden. Jasmin gelang es stets, ihre Männer ohne Verluste zum Ziel zu führen. Meistens kämpften sie sowieso nur gegen geizige Händler und ihre schlecht bezahlten Wachen. Noch nie fiel jemand unter ihrem Kommando. Doch jetzt wurden ihre Männer vor ihren Augen wie Vieh abgeschlachtet, bei dem Versuch, diesen Dämon aufzuhalten. Entsetzt setzte sie zur Landung an und ließ Astarte verschwinden. Sie kniete nieder, in der Hoffnung, auf diese Weise weiteres Blutvergießen zu verhindern.

Nebula beeindruckte das in ihrer Rage allerdings wenig und sie schnetzelte sich unaufhaltsam voran, bis sie vor Jasmin zum Stehen kam.

Der Horror vor seinen Augen tat ihm in der Seele weh. Henrik musste das beenden! Bevor er es begriff, trugen ihn seine Beine zu Nebula. Ungeachtet seiner eigenen Sicherheit, umklammerte er sie hinterrücks so fest er konnte. “H-Hör endlich auf!”, schrie er und hoffte, sie so zur Besinnung zu bringen. “D-Das bist du nicht!”

Kaum dass sie seine Berührung spürte, verpuffte die finstere Aura um ihren Körper. Die Entartung verschwand aus ihrem Gesicht und Nebula wurde sich schlagartig bewusst, was sie getan hatte. Zutiefst schockiert darüber, dematerialisierte sie ihre Waffe.

Mit Abscheu starrte sie ihre zitternden Hände an. Als der Schrecken über die eigene Boshaftigkeit verflogen war, besann sie sich Caroline und riss sich von Henrik los. Verbündete und Feinde standen gleichermaßen da, wie versteinert. Nicht einmal Cerise wollte ein geistreicher Spruch einfallen. Nebula eilte zur bewusstlosen Caroline und kniete sich neben ihr hin. Ihre Freundin fühlte sich wieder so leblos an wie einst im Palast von Ewigkeit. Sie rüttelte an ihr, doch sie zeigte keine Reaktion. In ihren Augen erkannte Nebula, dass ihre Seele wieder fort war. Zurück an diesen finsteren, trostlosen Ort, an den Caroline nie wieder zurückkehren wollte. “Caro!” Schluchzend drückte Nebula ihre Freundin an sich.

Warum versagte sie. wenn es darauf ankam?

Während sie sich selbst Vorwürfe machte, ergriffen ihre Begleiter und die Wachen der Karawane die Initiative und umzingelten Jasmin und den Rest ihrer Bande. Die Wüstenräuber wurden gefesselt und in Gewahrsam genommen.
 

Roter Schein durchdrang die Finsternis, als Alaric wieder zu sich kam und sein Auge öffnete. Er lag auf dem pompösen Himmelbett in seinen Gemächern. Die seidenen Schleier waren zur Seite gezogen und einige Personen hatten sich um ihn versammelt. Langsam schärfte sich sein verschwommener Blick und er erkannte Illithor, den Leibarzt der kaiserlichen Familie, und dessen Gehilfen. “Wo bin ich?”, fragte er den Doktor.

“Hoheit, Ihr seid erwacht!”, bemerkte dieser.

Vorsichtig setzte sich Alaric auf. “Was ist geschehen?”

“Ein Page fand Euch bewusstlos auf dem Boden und hat Alarm geschlagen. Die Wachen ließen nach mir rufen, damit ich Euch untersuche.”

“Ich war bewusstlos?” Alaric kramte in seinen Erinnerungen. Ihm war in der Tat schwarz vor Augen geworden. “Wie lange denn?”

“Das wissen wir nicht genau. Mehrere Stunden.”

Alaric befühlte seine Stirn mit der rechten Hand.

“Verspürt Ihr Schmerzen, Hoheit?”

"Nein, es geht schon.” Alaric nahm die Hand wieder herunter. “Es ist nur... als sei viel mehr Zeit verstrichen. Wahrscheinlich ist es nur meine Einbildung.”

“Als Euer Leibarzt rate ich Euch, die Reise abzusagen.” Ilithior war sein Vertrauter und wusste so von den Reiseplänen des Prinzen Bescheid.

“Das kommt nicht in Frage!”, behaarte Alaric stur. “Es ist meine Pflicht, als oberster Inspekteur meines Vaters die militärischen Einrichtungen des Reiches in Augenschein zu nehmen. Ein Schwächeanfall wird mich nicht von meiner Pflicht abhalten!”

“Es ist Eure Gesundheit, Hoheit! Befehlen kann ich es Euch nicht.”

“Eure Sorge ist zur Kenntnis genommen, Illithor. Ich weiß Eure Gewissenhaftigkeit gewiss zu schätzen. Doch ich werde mich nicht vor meiner Verantwortung drücken.”

“Wie Ihr meint.” Der Leibarzt verneigte sich. Seiner Meinung nach handelte sein Klient unvernünftig - Nein, vielmehr dumm! Aber ein solches Urteil stand ihm nicht zu. Die Gehilfen räumten Gerätschaften und Tinkturen zusammen und verließen gemeinsam mit ihrem Meister die Gemächer des Prinzen. Alaric starrte daraufhin auf den roten Schein, der durch das Blei gefasste Fenster einfiel. In einem Flashback erschien die Silhouette einer Person vor seinem geistigen Auge. Er erinnerte sich, dass er jemanden gesehen hatte, bevor er ohnmächtig geworden war. Ein Gesicht, das er wer weiß woher kannte.

Wurde er langsam verrückt?

Der verlorene Bruder


 

🌢
 

Den ganzen Tag hatte Nebula mit niemandem gesprochen. Weder mit den Händlern der Karawane noch mit ihren eigenen Leuten. Sie hätte es verstanden, wenn die Krämer ohne sie weitergezogen wären. Doch von einem einmal begonnenen Geschäft zurückzutreten, galt in Yjasul als schwere Schande. Wurde einmal für eine Leistung oder einen Gegenstand bezahlt, so taten die Partner ihr Möglichstes, den Vertrag zu erfüllen und das Geschäft abzuschließen. Offenbar selbst dann, wenn sie dem Teufel ins Antlitz blicken mussten. Die Männer waren sich außerdem bewusst, dass sie ohne die Hilfe ihrer Gäste keine Chance gegen die Wüstenräuber gehabt hätten. Sie wären um all ihre Waren erleichtert worden. Nun konnten sie stattdessen die Waren aus dem verlassenen Lager der Räuber bergen. Die Kopfgelder für die gefangene Jasmin und ihre Bande wären gewiss ebenfalls üppig.

Geld war wahrlich das einzige, was für dieses Volk zählte!

Die Karawane hatte für die Nacht in den Ruinen einer längst vergessenen Stadt halt gemacht. Die Überreste von Säulen alter Gebäude ragten aus dem Sand in den sternenklaren Himmel. Hier suchte Nebula sich einen einsamen Platz, an dem sie möglichst niemandem begegnete. Die Schande und die Schuld wegen des Kontrollverlustes und das einhergegangene Gemetzel waren nur schwer zu ertragen. In sich gekehrt, saß sie hockend, mit den Armen ihre Beine umfassend, auf einem verwitterten Steinaltar und reflektierte, was während des Kampfes passiert war. Sie schwor sich nie wieder die Kontrolle zu verlieren und dennoch war es geschehen und hatte Opfer eingefordert.

Plötzlich setzte sich jemand neben sie.

Es war Henrik.

“Was willst du hier?”, fragte sie ihn schroff und abweisend, wie immer.

“D-Dir Gesellschaft leisten”, antwortete dieser.

“Ich will allein sein!”

Henrik legte seinen Arm über Nebulas Schulter. “Du musst das n-nicht mit dir allein ausmachen! Wofür sind Freunde da?”

“Wo sind dann die anderen?”, fragte Nebula vorwurfsvoll.

“S-Sie dachten, es ist besser, wenn ich a-allein komme.”

“Bestimmt die Idee von Cerise. Weniger Kollateralschaden, wenn es schief geht.”

“H-Hör bitte damit auf! Ich mag das nicht, wenn d-du dich so darstellst.”

“Aber du hast es doch gesehen. Ich habe diese Männer getötet. Ich hatte richtig Spaß dabei! Und ich hätte gewiss auch die Frau getötet, wenn du mich nicht aufgehalten hättest. Manchmal frage ich mich, warum du nicht einfach abhaust.”

“W-Weil ich ein Idiot bin?”

“Allerdings! Du bist ein verdammter Idiot!” Peinlich berührt senkte Nebula den Kopf. “Das macht mich sehr froh!”, flüsterte sie ihm kaum hörbar zu.

“Was hast du gesagt?”

Plötzlich zuckte sie und ihr Haupt schoss empor. “G-Gar nichts!”

Beide sahen schweigend hinauf in den Himmel.

Die Magie der funkelnden Objekte oben am Himmel wirkte auf sie ein.

Jedes von Ihnen gewiss eine andere Welt mit ihren eigenen Problemen.

“Ich muss einen Weg finden, Caroline zu retten!”

Die Stille war einfach zu still. Sie musste etwas sagen, um sie zu brechen.

“W-Wir werden dir helfen!”, versicherte Henrik.

“Ich muss diesen Alaric finden und ihn noch mal umbringen!”

Einen Moment wagte keiner zu sprechen.

“Henrik?”, eröffnete Nebula nach der Pause.

“Ja?”, antwortete der Braunhaarige.

“Denkst du, dass wir jemals alle Teufelswaffen finden?”

“Bisher war unsere T-Trefferquote sehr gut.”

“Es gibt so unglaublich viele von ihnen. Fast so viele wie Sterne am Himmel. Wie soll man sie alle in einer Lebenszeit finden?”

“W-Wenn jemand das schafft, d-dann du!”

Die Worte des Jungen empfand sie - wie immer - als naiv. Wie konnte er so blind darauf vertrauen, dass sie eine solche Aufgabe meistern würde? Ihr fehlte die Fähigkeit, das gleiche Vertrauen aufzubringen, so viel stand fest. Allerdings war es auch das, was sie an ihm so liebte: Sein unbezwingbarer Optimismus. Das genaue Gegenteil von ihr. Ein Leuchtfeuer der Hoffnung in der Finsternis. Sichtbar, selbst wenn es unendlich weit entfernt war. Bei ihm konnte sie sich fallen lassen, in dem Wissen, dass er sie auffangen würde. So wie jetzt, könnte sie die ganze Nacht an seiner Seite zubringen…

Stiege ihr nicht etwas Unangenehmes in die Nase.

“Henrik?”

“Ja?”

“Geh dich waschen! Du stinkst!”

Erschrocken stellte Henrik fest, dass er seit Tagen schon im eigenen Saft schmorte. Er roch unter seiner Achsel, und für einen kurzen Moment wurde ihm schwindelig.

Sie hatte definitiv nicht übertrieben!
 

Im Schutz ihres Zeltes lagen Clay und Cerise brav beieinander unter ihrer gemeinsamen Decke. Bis jetzt hatte die Rothaarige noch keinerlei Anstalten gemacht, ihren Liebhaber zu verführen. Ein höchst seltsames Verhalten!

Dann rollte sie sich doch noch an den Prachtkörper des Schwarzhaarigen heran und streckte ihren rechten Arm über ihn.

Clay spürte ein angenehmes Schaudern durch seinen ganzen Körper fahren, als er Cerises Brust auf der eigenen fühlen konnte. Schlagartig stellten sich alle Härchen auf seiner Haut auf und es fiel ihm schwer, seine Instinkte im Zaum zu halten. Sie führten diese Beziehung - oder was auch immer das darstellen sollte - nun seit vielen vielen Wochen und waren in dieser Zeit weit herumgekommen, aber noch immer erregte es ihn wie am ersten Tag, sie bei sich zu spüren.

Weil ich einfach unwiderstehlich bin, täte sie bestimmt sagen.

Und damit hätte sie verdammt noch mal Recht!

Wüsste er es nicht besser, täte er fürchten, jeden Moment von ihrem unersättlichen Appetit verschlungen zu werden. Aber seine Werwolfsnase verriet ihm, dass sie ihn heute Nacht wohl nicht anrühren würde.

Cerise konnte Clays euphorische Reaktion auf ihre Annäherung deutlich fühlen. Es spornte sie an, ihn noch weiter zu reizen. “Oh, da unten freut sich etwas ganz besonders”, hauchte sie ihrem Liebhaber ins Ohr.

Ihr verheißungsvolles Flüstern machte es Clay nicht gerade leichter.

Das Raubtier zwischen seinen Schenkeln verlangte immer eindringlicher nach Fütterung.

“Habt Ihr es Euch anders überlegt?”, erkundigte sich Clay, während er versuchte, den sich aufbauenden Druck so gut es ging zu ignorieren. “Ich dachte, heute bleiben wir züchtig.”

“Ist es so ungewöhnlich, wenn ich Euch einfach nur nahe sein will?”, erwiderte Cerise.

“Also... na ja. Schon.”

“Ihr kleines sexbesessenes Wölfchen, Ihr!” Cerise begann ihr übliches Spiel auf seinem Oberkörper zu treiben. “Ihr denkt auch nur an das eine.” Auf einmal wanderte ihre Hand hinab unter die Decke, suchte und fand.

“Wir sollten uns in Eurem Zustand lieber voneinander fernhalten.” Dank seiner feinen Werwolfsnase war er in der Lage, ihre Situation genau zu erfassen.

“Zustand?!” Sie sah ihn unverständig an. “Ich bin doch nicht krank, ich habe nur meine Tage. Wiegt Ihr Euch deshalb etwa in Sicherheit?” Sie sah Clay voll des Verlangens an. Wie um ihre Aussage noch einmal dick zu unterstreichen, verschwand Cerise nun komplett unter der Decke und ließ ihre Magie auf Clays untere Hälfte einwirken.

Wenig später lagen sie wieder nebeneinander.

Clays Gesicht zierte ein zufriedenes Grinsen. “Das war fabelhaft!”, lobte er.

“Ich weiß”, kommentierte Cerise.

“Ihr wisst, wie man einen Mann glücklich machen kann.”

“Ich kann jeden glücklich machen.”

“Dennoch, eine Sache geht mir nicht aus dem Kopf.”

“Was?”, Cerise schreckte auf und wandte sich ihm zu, um ihn entgeistert anzustarren. “Während ich auf Euer Flöte spielte, wart Ihr noch imstande zu denken?” Sie ließ sich zurückfallen und seufzte dabei übertrieben theatralisch. “Irgendwas habe ich falsch gemacht...”

“Es hat nichts damit zu tun.”

“Wirklich? Na da bin ich aber beruhigt.”

“Es geht um diese Wüstenräuber. Erinnert Ihr Euch noch, was die Frau mit dem fliegenden Teppich sagte, als Nebula-”

“-ein Schlachtfest veranstaltet hat? Nein. Ich bitte um Entschuldigung, aber die Blut besudelten Leichen haben mich etwas abgelenkt.”

“Sie sprach davon, jemanden retten zu wollen. Ich frage mich, wen sie wohl meint.”

“Denkt doch nicht so viel nach!”

“Ich glaube, sie hat ganz andere Motive, als simple Habgier.”

“Das Grübeln muss Euch wirklich Spaß machen.”

Clay schlug die Decke zurück und erhob sich.

Cerise betrachtete seine splitterfasernackte Rückseite. “Wo wollt Ihr hin?”

“Da es sonst niemand tut, werde ich der Sache auf den Grund gehen.” Er war drauf und dran, sich zum Ausgang des Zeltes zu bewegen.

“Aber Ihr wollt Euch vorher schon noch etwas anziehen?”

Verdutzt sah Clay an sich herunter, als sei es ihm spontan entfallen, dass er nackt war.

“Ich habe kein Problem damit, wenn Ihr Euren Prachtkörper zur Schau stellt, doch die Wüstenbewohner könnte das verstören.”

Clay eilte sich, seine Scharm zu verhüllen, während Cerise belustigt kicherte.
 

Jasmin kämpfte immer noch mit der Fassung.

Diese Frau besaß eine Teufelswaffe, war also ebenso wie sie eine Waffenmeisterin. Aber diese Boshaftigkeit. Waren die Worte des alten Mannes am Ende doch keine Lüge gewesen? Große Macht kommt stets in Begleitung einer noch größeren Verantwortung. Während sie gefesselt in einem Zelt saß, hatte die Anführerin der Wüstenräuber viel Zeit zum Nachdenken. Seitdem sie Astarte ihr eigen nannte, entdeckte sie an sich Züge, die ihr nicht gefielen. Es war, als ob eine Finsternis langsam versuchte, sich ihrer zu bemächtigen. Würde sie eines Tages ebenfalls zu einem Dämon werden und sich nicht mehr unter Kontrolle haben? Das musste der Preis sein, von dem der Alte sprach.

Dabei wollte sie nichts weiter als Geld. Genug davon, damit sie Nael endlich wieder in ihre Arme schließen konnte. Doch es sah ganz so aus, als wäre der Wunsch, die eigene Familie zusammenzuführen, zu unverfroren.

Ganz in sich gekehrt, bemerkte Jasmin gar nicht, dass jemand das Zelt betrat.

“Ihr!”, sprach eine kräftige Stimme. “Jasmin!”

Überrascht sah die Frau in der schwarzen Abaya auf.

“Ich will mit Euch reden.”

Der bärtige Mann mit den pechschwarzen Haaren war einer von den Begleitern dieser Hexe. Was er im Schilde führen mochte? Skeptisch beäugte sie ihren Besucher.

“Fürchtet Euch nicht. Ich werde Euch nichts tun.”

Genauso wenig, wie seine Herrin den Wüstenräubern nichts getan hatte? Die verschleierte orientalische Schönheit glaubte ihm kein Wort.

“Ich weiß, dass Ihr Angst habt.”

“Gar nichts wisst Ihr!”, spie Jasmin aus.

“Vielleicht wollt Ihr mich erleuchten?”

“Welchen Unterschied würde das machen?”

“Ihr seid nicht einfach nur eine goldgierige Räuberin, nicht wahr?”

“Wie ich sagte, Ihr wisst gar nichts!” Wenn es ihr möglich wäre, hätte Jasmin längst Astarte herbeigerufen und mit ihm ihre Männer befreit. Doch irgendetwas schien dies zu unterbinden. Sie konnte ihre Waffe noch spüren. Noch akzeptierte sie sie als ihre Herrin. Dennoch verweigerte ihr die Teufelswaffe den Gehorsam. Lag es vielleicht daran, dass ihre Hände mit diesen merkwürdigen Schellen gefesselt waren? “Es geht immer nur ums Geld!”, stellte sie dem Schwarzhaarigen gegenüber klar. “Ich brauche Geld. Viel Geld! Aus diesem Grund überfalle ich Karawanen!”

“Weil Ihr ihn befreien wollt?”

Konsterniert weiteten sich Jasmins Augen.

“Voll ins Schwarze!”

Die Anführerin der Wüstenräuber schwieg.

“Ihr braucht das Geld, um jemanden freizukaufen?”

Dieser Mann verstand augenscheinlich die Gepflogenheiten des Kalifat, auch wenn er nicht so aussah, als ob er aus ihm stammte. “Und wenn dem so wäre?”

“Wer ist es? Ein Freund? Ein Liebhaber?”

“Mein kleiner Bruder. Und wenn schon? Ich habe versagt.”

“Vielleicht fangt Ihr erstmal ganz von vorn an…”
 

“Auf gar keinen Fall!” Nebula strafte ihren Begleiter mit einem vernichtenden Blick ab. “Wegen ihr ist Caroline wieder-” Sie deutete in entschiedenen aggressiven Gesten auf die gefesselte und zusätzlich von zwei Männern in Schach gehaltene Jasmin. “Sie war eben erst wieder aufgewacht!” Sie erhob ihre Stimme vor Hass glühendem Schrei. “Eigentlich sollte ich dieses Weibsstück gleich hier erschlagen!”

“Na los, macht schon!”, bot sich Jasmin an. “Ich habe sowieso nichts zu verlieren!” Sie neigte den Kopf zur Seite und bot ihren Nacken dar.

Nebula zog das Schwert an ihrem Bund und ging auf sie zu.

Die anderen hielten den Atem an.

Währenddessen erwartete Jasmin die Klinge.

Außer ihr, Nebula und Clay waren auch die übrigen Mitglieder der Kerngruppe anwesend. Während Henrik und Annemarie sich das Geschehen nicht antun konnten und wegsahen, schaute Cerise gebannt wie bei einer Theatervorführung zu. Sie fragte sich, ob die Prinzessin die Räuberin doch noch einen Kopf kürzer machen würde.

Nebulas Arm war angehoben und bereit zuzuschlagen.

Das blutige Schauspiel konnte seinen finalen Akt beginnen.

“Ach verdammt!”, brüllte die Blondine unverhofft und stieß ihre Waffe in den sandigen Untergrund. “Na schön. Ich höre zu.” Sie zog die Klinge wieder aus dem Boden und schob sie zurück in die Schwertscheide an ihrem Gürtel.

Erleichtert atmete Henrik auf.

Annemarie wunderte sich über die merkwürdigen Verrenkungen, welche er als nächstes vollführte. Es wirkte auf sie, als wolle Henrik prüfen, dass er sich nicht aus Versehen in die Hosen gemacht hatte. Es verleitete sie zum kichern.

Augenblicklich stellte Henrik seine Bewegungen ein.
 

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Fünf Jahre zuvor.

Völlig außer Atem kam Jasmin mit einem Laib Brot in der Hand in ihrem Versteck und dem ihres kleinen Bruders Nael an. Seit Tagen schon hatten sie nichts mehr richtiges gegessen. Der kleine Junge war alles, was von ihrer Familie noch übrig war. Darum ging Jasmin jedes Risiko ein, damit er am Leben blieb. Jemanden in Yjasul zu bestehlen, zog selbst bei kleinsten Schadenssummen exorbitante Bestrafungen nach sich. Einem Brotdieb täte man die Hand abschlagen. Jasmin hatte schon von einer besonders kreativen Bestrafung gehört, wo der Täter in Mehl paniert und anschließend gebacken wurde. Beim Geld verstand man im Kalifat keinen Spaß.

Aber sie würde man nicht erwischen. Sie war immer vorsichtig.

Nael war bereits sehr geschwächt. Als er seine Schwester ihr schmutziges Versteck irgendwo in der Kanalisation von Madiya mit dem gestohlenen Lebensmittel in Händen betreten sah, kehrten seine Lebensgeister zurück und er sprang auf und lief Jasmin entgegen. Eine liebevolle, doch kraftlose Umarmung folgte.

Jasmin legte den Laib Brot neben sich auf dem Boden ab und erwiderte Naels Zuneigungsbekundung.

Diese Existenz musste eine Strafe des Schicksals sein!

Früher lebten sie in einem prachtvollen Anwesen. Jasmin und Nael hatten liebevolle und wohlhabende Eltern. Der Vater erwirtschaftete horrende Gewinne mit seinen Geschäften und die Mutter war so liebevoll, wie es sich nur wenige vorstellen konnten. Leben war der reinste Luxus. Sie schlemmten wie die Maden im Speck und kleideten sich in den feinsten Gewändern. Bald prachtvoller als die des Kalifen selbst. Doch eines Tages endete das glückliche Leben abrupt, als der Vater von einem noch reicheren Mann aus dem Geschäft gedrängt wurde und alles verlor. Nie kam er über diesen schweren Schlag hinweg und starb nur wenige Monate nach der feindlichen Übernahme. Die Mutter versuchte anschließend, einen neuen Mann zu finden. Als das nicht funktionierte, war sie für ihre Kinder bereit, sich selbst und den verbleibenden Rest ihres Stolzes zu verkaufen. Dies brachte ihr kaum einen Denar ein. Stattdessen erkrankte sie an einer Geschlechtskrankheit, die sie langsam aber sicher dahin raffte.

Seitdem war es an Jasmin, ihren Bruder durchzubringen.

Niemals würde sie den Weg einschlagen, den ihre Mutter gegangen war.

Da riskierte sie lieber Gliedmaßen beim Essensdiebstahl!

Solange sie es hierher zurück schaffte, in die muffigen, stinkenden und rattenversäuchten Abwasserkanäle der Stadt, war sie sicher. In diesen Katakomben würde sie niemals jemand finden. Zu ihrem Glück stimmte es tatsächlich, dass sich die menschliche Nase mit der Zeit an jeden noch so abscheulichen Geruch gewöhnte.

Später überließ Jasmin ihrem kleinen Bruder das gesamte Brot. Er wollte mit ihr teilen, doch sie behauptete, schon gegessen zu haben. Natürlich war das die Unwahrheit und der Hunger brachte sie bald um, doch Nael hatte das Brot nötiger als sie. Es war ihr Verzicht, der ihrem Bruder das Leben rettete.
 

Einige Zeit zog ins Land.

Besorgt erwachte Nael aus einem bösen Traum.

Schnell überzeugte er sich davon, dass es nur ein Streich seines Unterbewusstseins war.

Jasmin lag noch immer auf der alten, verranzten Matte.

Ihr ging es den Umständen entsprechend gut.

Schon seit Tagen konnte seine Schwester nicht mehr aufstehen. Das Leben im Dreck forderte letztendlich seinen Preis, als eine Infektion begann das Mädchen von Innen heraus aufzufressen. Sie schwitzte unaufhörlich, sodass er gar nicht mehr hinterher kam, Wasser für den Verzehr abzukochen. Das Fieber wollte einfach nicht mehr runter gehen. Bald schon würde sie sterben. Nael wollte das nicht geschehen lassen. Immerhin war sie seine Schwester. Ohne sie wäre er schon längst nicht mehr am Leben.

Für den Anfang musste es jedoch genügen, an ihrer statt das Essen anderer zu stehlen.

Er begab sich auf den Markt.

Ein kleiner Junge zwischen unzähligen Erwachsenen.

Er war wie verloren.

Von allen Seiten schrien Männer und buhlten um Aufmerksamkeit für ihre Waren.

Da wusste man gar nicht, was man zuerst klauen sollte…

Um nicht endgültig in der Emersion dieser Kultstätte des ungehemmten Konsums unterzugehen, entschloss er sich, den Obstverkäufer am Rand zu bestehlen. Der Stand war relativ ungeschützt und die nahe Straße erlaubte Nael schnell zu entkommen und die Beute zurück ins Versteck zu bringen.

Während er sich seinem Ziel annäherte, überhörte er das Verkaufsgespräch eines Heilkundigen, welcher eine Tinktur anzupreisen versuchte, die jede Krankheit zu heilen vermochte. Wie hypnotisiert verwarf er sein Vorhaben und ging stattdessen zum Stand des Quacksalbers. Bei der Auflistung der Inhaltsstoffe würde sich einem Schulmediziner der Magen umdrehen und gleich im Anschluss außer Landes flüchten. Doch verzweifelte Menschen klammern sich an Illusionen, die ihnen Hoffnung versprechen. Selbst wenn es sich um den bis zur Nichtnachweisbarkeit verdünnten Urin eines Barbaren handelte, welcher es vermögen sollte, die Stärke in ausgelaugte Körper zurückzubringen.

“Gewiss vermag es meine Tinktur nicht, die Toten ins Leben zurück zu holen”, verkündete der Heiler mit stolzgeschwellter Brust. “Doch wer dem Tode nahe ist, wird neue Kraft schöpfen und dem Fährmann vom Boote springen!”

Eine korpulente, mittelalte Frau mit blauem Kopftuch ging in jenem Moment am Stand vorbei. “Alles Blödsinn”, murmelte sie in sich hinein.

Nael hingegen war angetan von der Idee, seiner Schwester auch endlich einmal helfen zu können. Auf der großen Abstellfläche des Standes befanden sich weitere Flaschen. Der Junge war groß genug diese zu erreichen, also überlegte er nicht weiter, schnappte sich eine der Flaschen und rannte davon, so schnell ihn seine Beine trugen.
 

Die grässlichen Halluzinationen ihres Fiebers quälten Jasmin. Unruhig wälzte sie sich auf dem Boden umher. Der Schmerz wollte einfach nicht nachlassen und ihr Körper glühte. Mit all dieser Hitze könnte man Eisen schmelzen.

Als Nael wiederkehrte, war sich die Kranke unschlüssig, ob sie wachte oder träumte.

Der Junge hockte sich neben ihr hin.

Er hielt eine Flasche in der Hand.

Jasmin wusste nicht, wie ihr geschah, als Nael begann, ihr den geschmacklosen Inhalt des Gefäßes einzuflößen.

“Du musst das trinken”, sagte ihr Bruder. “Dann wird es dir bald besser gehen!”

Sie hatte sowieso nicht die Kraft, sich ihm zu erwehren. Also ließ sie es über sich ergehen.

Die geleerte Flasche veranlasste Nael zu strahlen, in der Hoffnung endlich auch mal etwas für seine Schwester getan zu haben, welche andauernd Kopf und Kragen für sein Wohlergehen riskierte.

Trotz ihrer Schmerzen zwang sich das Mädchen zu lächeln.

Ein Moment der Stille folgte, indem beide ihre Sorgen kurz vergessen konnten.

Plötzlich vernahmen sie ein Poltern.

Einige Männer hatten die alte morsche Tür zu dem Abwassersystem aufgebrochen und stürmten nun in das Innere der Anlage. Es dauerte nicht lange, bis sie Jasmin und Nael ausfindig machten. Ihnen voran ging ausgerechnet der Quacksalber, den Nael vorhin bestohlen hatte. Sein Blick fiel auf die leere Flasche neben Jasmin. “Da ist der Rotzlöffel!” fluchte der Mann. Die anderen umzingelten Nael und nahmen ihm jede Möglichkeit zur Flucht. “Ergreift ihn!”

Als die Männer den Jungen packten, versuchte Jasmin aufzustehen und ihm zu helfen, aber in ihrem geschwächten Zustand wurde sie von einem der Männer brutal gegen eine Wand gestoßen und ging zu Boden. Sie konnte nur noch hilflos mit ansehen, wie ihr kleiner Bruder von den Leuten einfach so entführt wurde.

“Was machen wir mit ihr?”, fragte einer der Handlanger.

“Lasst sie liegen!”, befahl der bestohlene Heiler. “Die macht es sowieso nicht mehr lange!”

Daraufhin verließen sie die Kanalisation.
 

Bisher hatten ihr die Häuserwände als nötige Stützen gedient, während sie sich fiebrig durch die pralle Sonne quälte. Doch hier endeten die Außenbezirke von Mediya und gingen in ein schier endloses Meer aus Sand über. Bis hierher war Jasmin den Männern unter Einsatz all ihrer Kräfte gefolgt. Doch nun wusste sie nicht mehr weiter. Sie hatten aufgesessen auf ihren Kamelen und waren längst hinter den Dünen verschwunden. Einzig die Spuren im Sand wiesen noch den Weg zu ihnen.

Jasmin wusste, dass in der Richtung eine Oase lag.

Dort würden sie gewiss halt machen, bevor sie weiterreisten.

Sie musste es irgendwie vorher schaffen.

Ein kleiner Junge brachte auf dem Sklavenmarkt viel Geld ein. Vermutlich wollte der Quacksalber den Jungen in der nächsten Stadt verkaufen, in der er halt machen würde.

Das musste sie unbedingt verhindern.

Schritt um Schritt quälte sie sich voran.

Der heiße Feuerball am Himmel ließ ihr nicht die geringste Gnade zuteilwerden.

Krank, geschwächt und dehydriert, hatte sie dem nichts entgegenzusetzen.

Kaum zweihundert Meter von der Stadt entfernt, verließen sie endgültig ihre Kräfte und sie stürzte in den heißen Sand. Die Geier zogen schon ihre Kreise, als sich ein großer Schatten über Jasmins ausgelaugten Körper legte.
 

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Zurück in der Gegenwart.

Die Gruppe lauschte aufmerksam den Ausführungen von Jasmin. Sie erzählte ihnen alles über ihre Vergangenheit und ließ dabei kein trauriges Detail aus. Henrik und Annemarie schauten merklich betroffen. “Das ist furchtbar”, meinte die kleine Rothaarige.

“Und derjenige, der Euch fand, war der alte Mann, von dem Ihr mir zuvor berichtet habt”, schlussfolgerte Clay.

“Ja”, antwortete die Wüstenräuberin. “Sein Name war Uthmann. Er fand mich fiebrig und halbtot in der Wüste und pflegte mich gesund. Als es mir besser ging, hat er mich ausgefragt und ich erzählte ihm alles. Daraufhin gab er mir Astarte.”

“Einfach so?”, zweifelte Nebula. “Er hat keine Gegenleistung verlangt?”

“Er war ein alter Mann”, meinte Clay. “An so etwas hat er gewiss nicht mehr gedacht.”

“D-Das habe ich nicht ge-gemeint!” Die Richtung, in die die Unterhaltung abdriftete, war der Prinzessin sichtlich unangenehm.

“Hat wohl keinen mehr hochbekommen”, befeuerte Cerise die Unterhaltung mit einem ihrer typisch unpassend sexualisierten Kommentare.

“V-Vielleicht sollten wir sie a-ausreden lassen”, schlug Henrik vor.

“Eine hervorragende Idee”, sagte Clay und sah Cerise belehrend an.

“Er sagte, der Teppich würde mir große Macht verleihen”, fuhr Jasmin fort. “Aber er würde einen Preis dafür verlangen. Inzwischen ist mir auch klar, was dieser Preis ist.” Sie schenkte Nebula einen verachtenden Blick.

Diese spürte eine Welle von Schuldgefühlen in sich aufsteigen.

“Ich bitte Euch, mir zu helfen.” Jasmin kniete vor der Gruppe nieder. “Bitte helft mir, meinen Bruder zu retten.”

“Zu blöd, dass das unser Blondchen entscheidet”, entgegnete Cerise. “Und die scheint Euch nicht besonders zu mögen.”

“Schweigt still, zynische Elfe!”, forderte Nebula. Sie konnte sich gut in Jasmin hineinversetzen. Auch sie würde alles tun, wenn sie damit ihrer Freundin helfen könnte. Vermutlich hätte sie an Jasmins Stelle genauso gehandelt. Wenn sie auf diese Weise wenigstens ein wenig Wiedergutmachung für ihren Amoklauf leisten könne, wollte sie diese Chance nicht verstreichen lassen. “Los, steht auf!”, forderte sie Jasmin auf. “Wir werden Euch helfen.” Sie sah zu ihren Leuten. "Irgendwelche Einwände?”

Augenscheinlich hatte niemand etwas dagegen.

“Wir helfen Euch, Nael zu finden.”

Die Räuberin in der schwarzen Abaya erhob sich. Skeptisch sah sie Nebula an. Sollte sie das Schicksal ihres kleinen Bruders in die Hände dieser Hexe legen?

Eine echte Wahl hatte sie nicht…
 

Der nächste Tag brach heran.

Nebula sah es als ihre Pflicht an, den Anführer der Karawane von ihrem Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Schließlich hatte sie beschlossen, dass sie Jasmin helfen würden. Sie besuchte ihn in seinem Zelt und berichtete ihm in Kürze, was Jasmin ihnen gesagt hatte. Während er der Nacherzählung der Lebensgeschichte der Räuberin lauschte, geschah etwas in seinem Gesicht. Der alte Geldsack wurde doch nicht etwa sentimental?

“Ihr wollt also dieser kleinen Räuberin bei der Familienzusammenführung helfen?”, fragte der Anführer mit leichter Verärgerung in der Stimme.

Dass dieser Achmet das nicht erbaulich finden würde, war beinahe schon klar. Immerhin haben die Wüstenräuber seit Jahren Karawanen geplündert. Doch seine gekünzelte Wut konnte niemanden täuschen.

“Wir sind alle Opfer der Umstände”, entgegnete Nebula eloquent.

“Nun, Ihr seid unsere zahlenden Gäste”, erörterte der Turbanträger. “Ihr und Euer Gefolge könnt tun und lassen, was Ihr wollt. Aber wir müssen unseren Termin einhalten. Wir können nicht auf Euch warten.”

“Das ist mir klar.”

“Ich werde Euch das Schreiben Tariks wieder aushändigen. Er ist ein Mann mit großem Einfluss. Seine Befehle sollten Euch problemlos in einer anderen Karawane unterbringen.”

“Ich danke Euch.”

“Wofür?”

“Dafür, dass Ihr auf die Kopfgelder verzichten wollt.”

Achmet lachte und hielt sich dabei den Bauch. “Wisst Ihr, welche Schätze wir im Versteck der Räuber fanden? Da brauche ich nicht auch noch das Kopfgeld.”

Als ob!

Wenn Nebula etwas begriffen hatte, dann dass die Händler aus Yjasul für noch mehr Gold sogar ihre Mutter an den meistbietenden Sklavenhändler verkaufen würden. Es war viel wahrscheinlicher, dass Achmet Mitleid mit Jasmin und Nael hatte. Manchmal besiegte selbst hier die Menschlichkeit den Mammon.

“Wenn Ihr das so seht, mein Herr”, ging sie auf ihn ein.

“Und nehmt diesen Blonden mit Euch!”, forderte der Karawanenführer. “Er belästigt andauernd die Tänzerinnen und setzt ihnen Flausen in den Kopf. Das sieht unser Kunde gar nicht gern. Er hat brave Mädchen bestellt!”

Dass die Karawane selbst Sklaven mit sich führte, gefiel Nebula nicht. Allerdings musste man seine Schlachten weise wählen. Es stand nicht in ihrer Macht, eine gesellschaftliche Revolution anzuzetteln. Nebula wusste nicht, was sie Achmet versprechen konnte. Schließlich unterstand Toshiro ihr nicht. Andererseits auch keiner von ihren übrigen Begleitern. Sie gingen nur zufällig gemeinsamen Zielen nach. “Seine… Freundin muss ihre Verletzungen auskurieren. Er wird in der Oase bleiben müssen, wenn Ihr aufbrecht.”

“Bei Yasaars goldenem Obstteller! Welch eine Erleichterung!” Die Freude veranlasste Achmet, ein Stoßgebet zum legendären ersten Kalifen auszurufen. Toshiro musste ihm wahrlich eine Plage sein. Daraufhin ging er an eine seiner Taschen und übergab Nebula das Schreiben von Tarik. “Hier.”

Nebula nahm das Dokument an sich.

“Geht nun, und nehmt diesen Strauchdieb mit Euch! Wir werden im Laufe des Tages nach Argentoile aufbrechen. Die nächste Karawane sollte in ein paar Wochen hier eintreffen.” Daraufhin wandte sich der Turbanträger ab und signalisierte Nebula, dass sie gehen solle.

Die Blondine kam der stillen Aufforderung nach.

“Viel Glück bei der Suche”, wünschte Achmet, als Nebula gerade das Zelt verließ.

Sie nahm es lächelnd zur Kenntnis.
 

Wenig später hatte sich die Gruppe vor dem Zelt von Toshiro und Aki versammelt. Nebula war gerade dabei, ihrem Gefolge die Abmachung mit dem Karawanenführer zu erläutern, als der blonde Fremdling aus der provisorischen Behausung heraus trat. Zuvor salbte er die Wunden seiner Leibwächterin. Immerhin schien es zu helfen. Akis Zustand verbesserte sich von Tag zu Tag immer mehr. Sicher könnten sie bald ihre Suche nach Verbündeten für den Krieg gegen den Hojo-Clan fortsetzen. Auch Jasmin und die überlebenden Räuber waren anwesend. Man hatte sie, wie versprochen, freigelassen. Allerdings waren die Männer allesamt unbewaffnet.

“Die Karawane wird ohne uns weiterreisen", endete Nebula.

“U-Und wir gehen dann n-nach M-Ma-Madiya?”, fragte Henrik.

Nebula übergab das Wort an Jasmin.

“Mein Bruder wurde an Emir Jamal verkauft”, erklärte die Räuberin. “Wo Nael ist, fand ich schnell heraus. Aber ich konnte nicht einfach in die Stadt einmarschieren, alles kurz und klein schlagen und ihn mitnehmen.”

“Es war einfacher, das bei den Karawanen zu tun”, kommentierte Toshiro.

Jasmin ärgerte seine Aussage. Weil er Recht hatte. Aber es war notwendig, um Gold anzuhäufen. Da biss die Maus keinen Faden ab!

“Auf nach Madiya!”, jubelte Annemarie und riss die geballte Faust gen Himmel.

Clay nahm alles mit der üblichen stoischen Ruhe zur Kenntnis.

“Wir werden Gold brauchen, wenn wir es mit dem Emir zu tun haben”, stellte Cerise fest. “Diese Verwalter unterstehen nur dem Kalifen. Das sind zumeist die reichsten Geldsäcke in den Städten, die sie beherrschen.”

“Leider haben die Händler nun all mein Diebesgut”, meinte Jasmin. “Damit wollte ich Nael freikaufen.”

“Wir brauchen einen Weg, schnell Gold zu machen”, schlussfolgerte Nebula.

“Wir könnten das nervige Gör verschachern”, witzelte Cerise.

“Du bist gemein!”, beschwerte sich Annemarie.

“Madiya ist eine Gladiatorenstadt”, erklärte Jasmin. “Am schnellsten verdient man, indem man auf Schaukämpfe setzt.”

“Bringen die sich da g-gegenseitig um?”, fragte Henrik.

“Quatsch”, meinte Cerise. “Das wäre nicht kosteneffizient. Einen Gladiator auszubilden kostet haufenweise Geld. Und das ist denen heilig.”

Der Braunhaarige atmete auf.

“Außer dem Publikum war langweilig. Dann geht der Daumen runter. Wenn sie was nicht leiden können, dann für eine Dienstleistung zu zahlen, die nicht hält, was sie verspricht.”

Und da war sie hin, die Erleichterung.

“Man müsste wissen, wer gewinnt”, ermahnte Jasmin.

Nebula ließ die Fingerknöchel knacken. “Kein Problem.”

Nichts gefiele Toshiro mehr, als selbst in diese Stadt zu reisen. Er könnte sich im Kampf mit starken Kriegern messen und vielleicht noch mehr Verbündete finden. Und eine großartige Show abzuziehen, sodass kein Auge trocken blieb, gehörte zu seinen Spezialitäten. Aber er konnte Aki hier nicht zurücklassen!

“Als freier Gladiator braucht Ihr eine Lizenz”, dämpfte Jasmin den Eifer der Prinzessin. “Das heißt: jahrelange Ausbildung in einer Gladiatorenschule. Habt Ihr so viel Geduld? Es wird einfacher sein, einen Gladiator anzuheuern.”

“Willst du, dass etwas richtig gemacht wird, musst du es selber machen”, gab Nebula von sich selbst überzeugt Contra. “Das wird sich schon beschleunigen lassen.”

“Sobald es Aki besser geht, werde ich Euch unterstützen”, versicherte Toshiro.

“Nett gemeint, aber unnötig”, schlug Nebula sein Angebot aus. Sie wollte kein Risiko eingehen. Und dieser Junge mit seinen seltsamen Zauberkräften stank förmlich danach.
 

Der Weg in die Stadt der Gladiatoren führte die Gruppe durch die heiße Wüste. Tagsüber brannte die Sonne so unerbittlich vom Himmel, dass man hätte glauben können, sich inmitten des Elendsschlunds, dem großen Vulkan im Herzen Aschfeuers, zu befinden. Die aufsteigende Warmluft flimmerte und schuf Illusionen, während sie sich gen Himmel erhob. Wer hier noch glaubte, seinen Augen trauen zu können, den würde der Tod eines Besseren belehren. Fata Morganas von mutmaßlichen Oasen waren an der Tagesordnung.

Einzig durch die Führung von Jasmin gelang es Nebula und ihren Mitstreitern, den direkten Weg durch das glühende Sandmeer zu meistern.

Nach dem zweiten Tage ihrer Reise ließ sich Nebula endlich darauf ein, ein Kopftuch als Schutz gegen die Sonne zu tragen. Und am vierten Tag erschienen die Silhouetten von Madiya am Horizont. Und es handelte sich dieses Mal definitiv nicht um eine Illusion.
 

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Als Erstes sahen sie sich nach einer Bleibe um, als sie Madiya erreichten. Yasmins Männer waren nicht mit in die Stadt gekommen, da die Befürchtung bestand, als zu große Gruppe zu viel Aufmerksamkeit anzuziehen. Die Unterkunft, in der das Sechsergespann letztlich abstieg, war das Beste, was man in dieser reichen Stadt für kleines Geld bekommen konnte. Eine einfache Lehmhütte, an deren Seiten typisch für die gängige Architektur des Kalifat Holzbalken aus dem Mauerwerk herausragten. Die Ziegel, aus denen das Gebäude bestand, waren nicht gebrannt, sondern nur in der Sonne getrocknet. Bei den Temperaturen hielten solche Konstrukte dennoch für Millennien, wie die Ruinen in der Oase zuvor schon eindrucksvoll bewiesen hatten, und boten eine bessere Kühlwirkung.

Alsbald machte sich Nebula auf die Suche nach einer Schaukampfschule, um möglichst schnell ihren Gladiatorenschein zu machen.

“Ich habe bereits einen Gladiatorenschein”, hatte Cerise gesagt.

Aber Nebula wollte das nicht in ihre Hände abgeben. Zum einen, weil sie zutiefst Reuhe für den Mord an einigen von Jasmins Männern empfand und selbst etwas tun wollte, um es wenigstens ein wenig wieder gut zu machen, indem sie Nael freikaufte. Und zum anderen, weil die Schmach damals beim Training gegen Cerise verloren zu haben immer noch tief saß. Sie wollte sich selbst beweisen, dass sie besser geworden war, indem sie die Arena von Madiya ohne ihre Waffen gewann.

Wie zum Teufel hat sie den Schein bekommen, fragte sich Nebula zornig, als sie eine Schule nach der anderen ablehnte, weil sie eine Frau war. Das hatten sie zwar nicht gesagt, aber ganz bestimmt gedacht. Diese patriarchalischen Kapitalistenschweine!

Bei der letzten Schule, bei der sie es versuchte, hatte sie dann endlich Erfolg. Sie traute ihren Augen bald nicht, als sich eine annähernd zwei Meter große Frau mit dunkelblonden Haaren, gigantischen Muskelbergen und einem Holzbein vor ihr aufbaute. Nebula hätte sie bald für einen Mann gehalten, hätte sie keine Brüste gehabt, so stattlich war sie. Das Eisvolk aus dem Norden war das einzige, das solche riesigen Frauen hervorbringen konnte. Was machte eine Barbarin aus Frys in der Wüste?

Die Frau stellte sich als Lykke vor.

Nebula schilderte ihr Anliegen und wieso sie unbedingt ihren Schein machen musste.

“Du Mädchen willst also Gladiatorin werden?”, hakte Lykke skeptisch nach.

“Traut Ihr mir das nicht zu?”, zischte die kleine Blondine der großen aggressiv entgegen.

“Ich verstehe dich, Mädchen. Nur weil ich größer bin als jeder Mann hier, hatte ich es trotzdem nie leicht. Hier ist es nicht so wie bei den Clans. Das hier ist eine Männergesellschaft, in der du nicht ernst genommen wirst, wenn du eine Frau bist. Außer du hast Geld. Geld ist der einzige Gleichmacher, den es gibt.” Die Barbarin atmete durch. “Dennoch musst du eine Aufnahmeprüfung ablegen.”

“Dann prüft mich!”, forderte Nebula.

“Hast du das Ding hier übersehen?”, fragte Lykke und deutete auf ihre Prothese. “Ich bilde nur noch aus. Ich kämpfe nicht mehr, seitdem ich mein Bein an eine Entzündung verlor. Du wirst stattdessen gegen eine alte Schülerin von mir antreten. Wie es der Zufall will, ist sie auch gerade in der Stadt.”

“Die soll nur kommen!”
 

Eine halbe Stunde später fand der Kampf bereits statt. Nebula stand einer vollständig verschleierten Frau gegenüber. Einzig ihre Augen schauten noch unter der weißen Abaya und den Tüchern hervor. Sie wurde aus ihrer Erscheinung nicht schlau. Irgend etwas kam ihr an dem Weibsbild bekannt vor.

“Ihr kämpft mit Übungswaffen”, erklärte Lykke, während sie zwischen den Kontrahenten stand. “Ziel des Kampfes ist es, den Gegner aus dem Kreis zu drängen. Solange niemand den anderen verstümmelt oder umbringt, ist alles erlaubt.” Sie reichte beiden jeweils einen Speer mit stumpfer Spitze. “Ihr benutzt Speere, da Amira damit noch nie gut umgehen konnte.” Lykke klopfte der Vermummten auf die Schulter. Scheinbar konnte sie es nicht lassen, ihren Schülern etwas beibringen zu wollen, selbst wenn sie ausgelernt hatten.

Nebula führte ihre Waffe, wie sie es damals vom Kommandanten der Armee von Morgenstern gelehrt bekam. Den Speer fest in beide Händen und die Arme soweit auseinander, dass ein gutes Stück Stange zwischen den Händen lag. Ihre Knie hielt sie locker und ihr Gewicht verlagerte sie auf das zurückgestellte rechte Bein. Die Grundstellung, welche sowohl Angriff als auch Verteidigung ermöglichte.

Amira war sichtlich unwohl mit ihrer Waffe und sie versuchte, den Kampf so schnell wie möglich zu entscheiden.

Nebula ließ sich jedoch nicht einfach aus dem Ring drängen und erwiderte den Angriff.

Amira konterte, indem sie wie wild um die Blondine herum wirbelte und mit der Speerstange auf ihren Rücken schlug.

Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre über die Linie gestolpert. Aber Nebula gelang es, dieses Schicksal abzuwenden.

Im darauf folgenden Gerangel schienen sich die Kontrahentinnen immer weiter zu verknoten und ihre Speere ineinander zu verhaken. Jedem Zuschauer war sofort klar, dass es sich auch bei der Neuen um eine erfahrene Kämpferin handelte, die keines Wegs eine Ausbildung brauchte.

Mit einer wuchtigen Bewegung brachte Amira Nebula zu Fall. Allerdings befand sie sich noch immer im Ring und der Kampf war noch nicht vorbei!

Nebula griff zu den unfairen Mitteln aus ihrer Trickkiste und nahm schnell eine Hand voll Sand und warf sie ihrer Gegnerin ins Gesicht. Nicht die feine englische Art, aber nach Aussage von Lykke nicht verboten.

Kurzzeitig der Sicht beraubt, gelang es Amira nicht, den folgenden Angriff abzuwehren. Nebula schlug ihr den Speer aus der Hand und setzte ihren Körper ein, um ihre Kontrahentin zu besiegen. Aber Amira stieß Nebula zurück, sodass sie abermals auf dem Gesäß aufkam.

“Stop!”, befahl Lykke. “Der Kampf ist vorbei!” Sie trat in den Kreis hinein, während Amira sich noch den Sand aus den Augen pulte. “Die Neue hat gewonnen.”

Schockiert blickte Amira auf ihre Füße und bemerkte, dass sich der Linke hinter der Linie befand und sie tatsächlich verloren hatte. Sie trug es mit Fassung und verneigte sich vor Nebula. Danach verließ die den Kampfplatz und verschwand in einer Tür des Schaukampfschulgebäudes.

Unterdessen war Nebula wieder aufgestanden.

“Glückwunsch, du hast bestanden”, verkündete Lykke.
 

Nachdem Nebula jeden anderen Schüler, der es wagte, auch noch besiegt hatte, waren sich alle einig, dass man ihr nichts mehr beibringen konnte. Würde es nur nach Lykke gehen, hätte sie Nebula den Gladiatorenschein sofort ausgestellt, aber sie wollte Vorwürfe vermeiden, sie würde sie bevorzugen, weil sie beide Frauen waren. Darum mussten zuerst alle möglichen Zweifler zum Schweigen gebracht werden. Nichtsdestotrotz freute es die Barbarin, endlich wieder einer Frau in die Arena und zu Ruhm und Gold zu verhelfen. Natürlich plante sie, den großen Kämpfen von Nebula beizuwohnen.
 

Jeder neue Gladiator musste allerdings klein anfangen. Man konnte nicht einfach seinen Schein vorzeigen und wurde in die große Arena von Madiya hereingelassen. Das musste auch Nebula erfahren. Auch für sie begann ihre “Karriere” in kleineren Hinterhofringen, wo man sein Teil des Preisgeld zuerst einzahlen musste, bevor man es nach einem Sieg zusammen mit dem Preis des Gegners wiederbekam. Glücklicherweise war gegen die Blondine kein Kraut gewachsen. Innerhalb einer Woche sprach sich das Gerücht einer neuen starken Gladiatorin herum und Nebula bekam Zutritt zu den größeren Arenen, die man gewinnen musste, um sich das Privileg zu verdienen, in der Al Muluk zu kämpfen. Mit der Zeit begriff Nebula, dass es dem Publikum dabei egal war, wie ernsthaft die Auseinandersetzungen waren, wenn sie nur genug unterhielten. Teilweise spielte sie mit ihren Gegnern wie eine Raubkatze mit ihrer Beute.

Beim Publikum kam das besonders gut an.

Eine weitere Woche später hatte Nebula einen ansehnlichen Schatz an Preisgeldern angesammelt. Genug Gold, damit Jasmin ihren Bruder Nael zurückkaufen könne. Es wurde beschlossen, dem Emir Jamal beim nächsten großen Arenakampf ein Angebot zu machen, welches er niemals ablehnen könnte.

Die Gerüchte um die ausländische Frau, welche alle Männer in den Schatten stellte, hatten schlussendlich auch das Ohr des Emirs erreicht. Voller Neugier saß er auf einem vergoldeten Thron in seiner Loge, dessen Pracht bestimmt den Kalifen höchst persönlich mit Neid erfüllen würde. Ja, er war reich! Verdammt reich! Und Jamal sparte nicht damit, anderen seinen Reichtum unter die Nase zu reiben. Er glaubte, dass er dank seines Geldes alles haben konnte, was er begehrte. Und nichts begehrte er mehr, als exotische Schönheiten für seinen Harem zu rekrutieren.

Nachdem das Publikum mit einem Gruppenkampf angeheizt wurde, welcher nach Punkten entschieden wurde, war es an der Zeit für das Hauptereignis des Tages. Die Sonne errötete vor Vorfreude und erzeugte lange Schatten im abendlichen Licht. Es setzte die Szenerie für Nebula, den aktuellen Champion von Al Muluk, der Arena der Könige, herauszufordern. Ein Mann namens Hassan, der bisher ungeschlagen war.

Es war an der Zeit, dies zu ändern!

Der imposante Krieger stand ihr nun gegenüber.

Er war bekannt dafür, niemanden an sich heranzulassen. Die Waffe seiner Wahl war der Dreizack. Auch wenn in keiner offiziellen Arena bis zum Tod gekämpft wurde, waren die Waffen hier keine Spielzeuge. Trotz der Potenz ihrer Selbstheilungskräfte wollte Nebula keine Verletzungen riskieren und wählte einen Rundschild und einen Kolben als Ausrüstung. Auch dieser Kampf würde nach Punkten entschieden und sich über fünf Runden erstrecken. Derjenige, welcher zuerst drei von ihnen für sich entschied, würde der Sieger sein. Nebula war bereit, sich ihrem Gegner zu stellen.

Bald zeigte sich, Hassan machte seinem Ruf alle Ehre. Er war wahrhaft meisterlich darin, seine Gegner auf Abstand zu halten, bis sie mit ihrer Ausdauer am Ende waren.

So war die Situation wenig verwunderlich, in der sich Nebula bald befand. Zwei Runden konnte sie für sich entscheiden. Aber Zwei gingen an Hassan. So sollte sich alles in der fünften und letzten Runde entscheiden.

“S-Sie wird es doch h-hoffentlich schaffen”, sorgte sich Henrik.

“Alles andere würde keine gute Geschichte abgeben”, kommentierte Cerise.

“Es ist mein Bruder, um den es hier geht!”, erinnerte Jasmin.

Gerade als der Kampf nach einer kurzen Pause fortgesetzt werden sollte, erhob sich der Emir von seinem Thron. “Haltet ein!”, befahl er. Lang genug hatte er Nebula zugesehen. Sie war in der Tat so bemerkenswert, wie die Gerüchte versprachen. Er wollte diese exotische Schönheit in seinem Harem wissen, koste es was es wolle.

Perplex sahen beide Kämpfer zu ihm auf.

“Kriegerin aus dem Westen, Ihr müsst nicht länger in der Arena nach Gold suchen”, verkündete Jamal. “Ihr habt bereits meine volle Aufmerksamkeit erlangt! Ich biete Euch alles Gold der Welt, wenn Ihr meine Hauptfrau werdet.”

Nebula traute ihren Ohren nicht. Zwar hatte sie die ganze Zeit seine Blicke gespürt, doch das war jetzt echt die Höhe! Wutentbrannt schleuderte sie ihren Schild wie einen Diskus, sodass er sich über dem Kopf des Emirs in die Wand bohrte und Lehmstaub auf sein Haupt rieseln ließ. Der Statthalter zuckte zusammen. “Was fällt Euch ein?!”, schäumte sie. “Denkt Ihr, ich sei eine Ware, über die Ihr verfügen könnt, weil Ihr im Gold schwimmt?”

Auch Hassan war nicht besonders begeistert vom Lauf der Dinge und stieß seinen Dreizack in den Sand.

Das Publikum schwieg angesichts des präzisen Wurfs der Gladiatorin.

Hastig kehrte ein Diener den Schmutz vom Kopf seines Herren. Dieser wollte die Vorstellung, die schöne Frau aus dem Westen sein Eigen zu nennen, noch nicht aufgeben. “Ihr wollt kämpfen, Ihr sollt kämpfen”, sprach der Emir. “Machen wir die Sache mit einer Wette interessanter. Solltet Ihr gewinnen, dürft Ihr Euch alles von mir wünschen. Aber wenn Ihr verliert, dann sollt Ihr meine Hauptfrau werden.”

“Darauf gehe ich nicht ein!”, verweigerte sich Nebula.

“Ich bin der Statthalter! Mein Wort ist Gesetz! Gehorcht, oder verrottet im Kerker!”

“Gebt Acht, dass Ihr nicht Euren Arsch verwettet!”

Eine schrie von den Zuschauerrängen herab. “Ich gehe die Wette für sie ein!” Jasmin erhob sich aus der Menge. Ihre schwarze Abaya wehte im Wind. Mit einem Handgriff entfernte sie Schleier und Kopfbedeckung und enthüllte zum ersten Mal ihr bisher verborgenes Äußeres. Sie hatte langes schwarzes, seidiges Haar und makellose Haut. “Und ich bin keinesfalls der Trostpreis!”, tönte sie stolz aus voller Kehle.

“So weit dürft Ihr nicht gehen”, versuchte Nebula, sie zur Räson zu bringen. “Dieser Preis ist zu hoch!”

“Haltet die Klappe und tut einfach, was Ihr am Besten könnt: Kämpfen.”

“Fein, ich bin einverstanden!”, akzeptierte der Emir. “Wenn die Kriegerin aus dem Westen verliert, sollt ihr meine Hauptfrau werden. Andernfalls habt ihr ein Wunsch frei.” Sein Blick fiel auf den verbeulten Ausrüstungsgegenstand, der noch immer über ihm in der Wand steckte. “Bringt der Blonden besser einen neuen Schild!”
 

Endlich läutete die Glocke zur letzten Runde.

Begleitet von einem dumpfen metallischen Schwingen, blockte Nebula den Stoß mit dem Dreizack ab. Die Schaukämpfe waren bisher nichts weiter gewesen als eben dies. Ein Unterhaltungsprogramm für dekadente Geldsäcke. Auch wenn ihre letzten Gegner keine unbedarften Tölpel waren, forderte sie erst der Kampf gegen Hassan wirklich heraus. Er besaß den Titel des Champion von Al Muluk zu Recht. Sie fürchtete, früher oder später in einem Moment der Unachtsamkeit ihre volle Stärke gegen ihn einzusetzen.

Weitere Stöße trafen den Schild, bis er nicht mehr an seine einst runde Form erinnerte.

Nebula entledigte sich ihm, da er sie nur behinderte.

Ohne den Schild konnte sie den Angriffen Hassans besser ausweichen.

Beinahe tänzelnd entging sie den Stößen des Dreizacks und das Publikum jubelte ihr zu. Das Spiel mit der Beute kannten sie bereits. Als sie genug vom Ausweichen hatte, packte sie Hassans Waffe und ließ sie nicht mehr los, egal wie sehr er sich anstrengte. Mit einem gezielten Faustschlag zerbrach die Blondine den Stiel.

Schockiert sah Hassan Nebula an.

Sie durfte ihn nicht kaputt machen. Von seiner Waffe war aber nie die Rede gewesen.

Hassan warf den nutzlos gewordenen Rest des Dreizack weg und ballte die Fäuste.

Nebula entledigte sich ihrerseits ihrer Waffe und spiegelte seine Pose.

Unter dem bebenden Jubel der Zuschauer stürzten sich die Kontrahenten aufeinander und trugen den Rest ihres Kampfes im unbewaffneten Zweikampf aus.

Hassan blockte Nebulas Schläge. Dieses Mädchen aus dem Westen besaß eine Kraft, die er noch bei keinem Gegner erlebt hatte. Und dazu war sie eine zierliche kleine Frau. Jeder Treffer fühlte sich an, als ob ihre Angriffe seine Arme in Schwingung versetzen würden. Die nächsten Wochen werden sie von Hämatomen übersät sein, wenn sie ihm nicht gar abfallen.

Zwischen ihren Angriffen ließ Nebula Hassan ungewollt ein Fenster für einen Konter, welcher prompt traf und ihr eine blutige Nase bescherte.

Hassan starrte irritiert auf die schwarze Flüssigkeit, die aus dem Riechorgan seiner Gegnerin austrat.

Nebula befühlte ihre Nase und sah das Blut an ihren Fingern. Sie fühlte einen Impuls von Wut in ihr aufsteigen und vergolt es Hassan, indem sie ebenfalls sein Gesicht malträtierte. Ihr Schlag hatte beinahe die Wucht einer Kanonenkugel und schickte den großen, kräftigen Kämpfer umgehend auf die metaphorischen Bretter.

Als Hassan nicht mehr aufstand, begann das Publikum zu jubeln.

Nebula spürte Befriedigung beim Anblick seiner gebrochenen Nase.

Derweil verkroch sich der Emir in seinem Thron, als hoffte er, nicht gesehen zu werden. Er wusste genau, was Nebulas Sieg für ihn bedeutete.

Ein triumphierendes Grinsen zierte Jasmins Visage.
 

Am darauffolgenden Tag.

Unter dem kühlen Luftstrom eines Palmenwedels lag die reichste Person der Stadt und empfing ihre Gäste.

“Wer hätte gedacht, d-das es so ausgeht?”, fragte Henrik in die Runde.

“Mein Sieg stand außer Frage”, stellte Nebula klar.

“Das könnte wohl jeder behaupten, der Normalsterbliche mit Teufelskräften aus den Latschen hauen kann”, stichelte Cerise.

“Das war… ein Unfall”, versicherte die Blondine.

“Ausreden!”

“Wie wäre es, wenn wir uns alle beruhigen?”, schlug Clay vor.

In jenem Moment stürmten zwei Kinder durch einen der Zugänge in den großen Empfangsraum hinein. Es handelte sich um einen schwarzhaarigen Jungen, etwa um die zehn Jahre alt. Begleitet wurde er von einem energiegeladenen Rotschopf. Von Annemarie. Sie hatte den Jungen sofort ins Herz geschlossen.

Der Junge rannte zu der Frau auf der exorbitanten Sitzgelegenheit in der Mitte des Raumes und ließ sich von ihr umarmen. Bei ihr handelte es sich um keine andere als Jasmin und der Junge war ihr verloren geglaubter Bruder Nael.

“Ich mag diese Fügung auch kaum glauben”, pflichtete Jasmin Henrik bei. “Oder was meint Ihr, mein treuer Sklave.” Sie richtete den Blick auf den Mann, welcher unermüdlich den Palmenwedel schwang.

Jamal unterdrückte ein wütendes Knurren. Vom Emir von Madiya zum persönlichen Diener dieses Weibsstück abzustürzen, war eine soziale Talfahrt, die er so schnell nicht verdauen würde. Eines Tages… Ja, eines Tages würde er sich zurückholen, was sein war!

Nach Nebulas Sieg forderte Jasmin ihren Preis ein und wünschte sich von Emir Jamal all seine Besitztümer zu übernehmen. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass sie ihren Bruder befreite, sondern bedeutete für Jamal ebenso den Verlust all seiner Würden. Von einem Moment auf den anderen wurde er mittellos. Und dies nur, weil er das Denken dem Ding in seiner Hose überlassen hatte. Als Teil seiner Besitztümer gehörte Jasmin nun auch Nael, dem sie als erste Amtshandlung seine Freiheit zurückgab.

“Wird sie mit ihrer neuen Position klar kommen?”, fragte Clay. “Ich meine als Handlangerin des Kalifen.”

“Keine Frage!”, meinte Cerise. “Sie ist eine eiskalte Geschäftsfrau!”

Derweil trat Nebula an Jasmin heran.

“Ich weiß, dass ich dies hier auch Euch verdanke”, eröffnete die frisch gebackene Herrscherin über die Stadt der Gladiatoren. “Darum möchte ich Euch etwas überreichen.” Sie erhob die linke Hand. “Erhebe dich in die sieben Winde, Astarte!” Schwarze Luftverwirbelungen verdichteten sich zu einem Teppich, welcher vertikal schwebend zwischen ihr und Nebula in der Luft verharrte.

“Ist das Euer ernst?”, staunte Nebula. “Ihr wollt mir Astarte überlassen?”

“Ich brauche es nicht mehr”, erklärte Jasmin. “Bevor ich so werde wie Ihr, gebe ich es lieber an Euch weiter.” In ihrer Stimme klang der Groll über die Männer nach, die Nebula in einem Anfall von Zorn erschlug. “Ich verachte Euch mindestens so sehr, wie ich Euch dankbar bin.”

Nebula kommentierte es nicht und streckte die Hand nach Astarte aus.
 

Eine Frau mit schneeweißem Haar, gehüllt in ein scharlachrotes Kleid, wandelte barfuß über den kalten weißen Sand unter einer pechschwarzen Sonne. Der Hunger trieb sie voran. Sie spürte ihre Beute in jeder Faser ihres Körpers.

Irgendwo hier befand sie sich und beobachtete.

Der schrille Schrei eines Vogels durchdrang die Stille.

Die Frau sah in den Himmel und entdeckte, dass ein monströses geflügeltes Ungeheuer über ihr seine Bahnen zog. “Da bist du ja, Nummer 17”, flüsterte sie. Sie streckte die rechte Hand gen Himmel. Die Nägel ihrer Finger schossen wie Pfeile in die Luft und bohrten sich in den schwarzen Vogel. Getroffen stürzte er zu Boden und schlug mit einem lauten, dumpfen Knall auf dem Sand auf.

Zufrieden mit sich selbst grinste die Frau und trat an die zuckende, stark blutende Kreatur heran. “Wenn du dich wehrst, wird es nur noch schlimmer!”
 

Es dauerte nicht lange, bis Nebula die Teufelswaffe mit ihrer besonderen Fähigkeit ihrer Waffenkammer hinzugefügt hatte. Astarte bereitete ihr seltsamerweise weniger Probleme als alle bisherigen Teufelswaffen. Zwar wunderte sie es ein wenig, aber sie schloss, dass mit der Zeit eine gewisse Gewöhnung stattfand.

“Und jetzt wünsche ich, dass Ihr mir aus den Augen tretet”, setzte Jasmin fort.

Nebula kam der Aufforderung nach.

Annemarie rannte noch einmal zu Nael. Sie wollte sich von ihm verabschieden.

Der schwarzhaarige Junge umarmte das Mädchen.

Annemarie beantwortete es, indem sie Nael einen Kuss auf die Wange gab.

Die Geste ließ ihn erröten.

“A-Ach wie niedlich”, schwärmte Henrik.

Aber niemand ging darauf ein.

Ohne weitere Zeit zu vergeuden, packten Nebula und die anderen ihre sieben Sachen und machten sich auf den Weg zurück zur Oase.
 

Die Rückreise nahm erneut vier Tage in Anspruch.

Wenige Stunden nach ihrer Ankunft erreichte die nächste Karawane den Haltepunkt.

Sie hatten es gerade rechtzeitig zurück geschafft.

Nebula überreichte dem Anführer das von Tarik unterzeichnete Dokument. Er akzeptierte es ohne weitere Umschweife und die Gruppe hatte ihre Mitreisegelegenheit gesichert. Achmet wurde nicht Lügen gestraft.

Während Nebula und die anderen ihre Abenteuer in Madiya erlebten, kümmerte sich Toshiro weiter um Aki. Ihre Verletzungen waren weitestgehend verheilt und ein die Karawane begleitender Heiler bescheinigte ihr Reisetauglichkeit. Damit war es ihnen möglich, die Kerngruppe weiter zu begleiten.

Die Vorbereitungen für die Abreise liefen.

Nebula nutzte ihre übermenschliche Stärke und wuchtete Carolines Sarg auf den Wagen. Zuvor hatten sie sie bei Toshiro gelassen. Zwar war die Prinzessin skeptisch gewesen, aber Henrik überzeugte sie, dass der Fremde aus dem Osten gut auf sie aufpassen würde, da er sich auch so liebevoll um diese Aki kümmerte. Wahrscheinlich will der eine Perverse für den anderen einstehen, dachte sie, als sie den Sarg festzurrte. Das Toshiro sie beim Baden beobachtete, hatte sie noch nicht verwunden.

Derweil striegelte Clay seinen Schimmel - das musste auch mal wieder sein.

Cerise sah ihm dabei aufmerksam zu.

“Kein feuchtfröhlicher Kommentar von Euch?”, fragte Clay, während er den gröbsten Dreck mit der Bürste aus dem Fell seines Pferdes entfernte.

“Soll ich Euch fragen, wann Ihr gedenkt, mich ordentlich zu bürsten?”, kicherte Cerise. “Ich wusste es doch! Kleines, perverses Wölfchen.”

“Ich frage mich, wie lange Ihr Euren Teil in dem Abenteuer in Madiya noch geheim halten wollt”, enthüllte der Werwolf seine Gedankengänge.

“Ich sehe nicht ein, wieso ich deshalb einen meiner Decknamen offenlegen sollte”, meinte die Rothaarige daraufhin.

“Und ich dachte, Ihr brennt darauf, der Prinzessin unter die Nase zu reiben, dass ‘Amira’ sie nur gewinnen ließ.” Clay grinste verschmitzt, während er weiter die Bürste über das Fell bewegte. ”Außer Ihr habt sie gar nicht gewinnen lassen…”

Cerise näherte sich ihrem Liebhaber mit einladendem Hüftschwung, den er gewiss aus dem Augenwinkel sah, und schmiegte sich an ihn. “Das werden wir leider niemals erfahren”, hauchte sie ihm ins Ohr.

Nachdem alle ihre Vorbereitungen getroffen hatten, setzte sich die Karawane in Bewegung und die Reise nach Argentoile wurde aufgenommen.

Der stählerne Wall


 

🌢
 

Die diplomatische Mission war gescheitert.

Nach der vernichtenden Niederlage des Foedus Lucis beim Schaanwald wurde der Feind augenscheinlich nervös. Der Verlust einer ganzen Armee, unter bis zu diesem Tage ungeklärten Umständen, ließ Angst in den Verantwortlichen aufsteigen. Darum wollten sie einen dauerhaften Nichtangriffspakt aushandeln und luden zu dieser Konferenz in Krinnspitz ein. Der Gesandte von Aschfeuer war Belanor, ein ehemaliger General, dessen Taten im Krieg als legendär galten. Allerdings hatte er das Töten satt gehabt und da er schon immer gut mit Worten war, entschied er sich für das Amt des Ambassadeurs. Doch anstatt Gebiete als Preis für eine solche Vereinbarung abzutreten, wie es Belanor eigentlich erwartet hatte, stellte Antrium stattdessen unverschämte Forderungen. Sie verlangten das Gebiet um den Schaanwald zurück, welches das Kaiserreich nach seinem Triumph annektierte, genauso wie Ruckenach, jene Provinz, deren Eroberung durch Aschfeuer die Schlacht im Schaanwald erst heraufbeschwor.

Das waren einzig fruchtlose Diskussionen!

Die reinste Zeitverschwendung!

Es erzürnte den Diplomaten und so hielt er es keine Minute länger am Verhandlungstisch aus. Normalerweise war es nicht seine Art, ein Gespräch abzubrechen. Wer ihn kannte, wusste das nur zu gut. Seine Silberzunge erlaubte es ihm einst, die begehrteste Jungeselin in ganz Aschfeuer zu heiraten. Aber der Mist, den die Gegenseite vorbrachte, stand ihm inzwischen bis zur Stirn und den Gestank ihrer Worte ertrug nicht mehr. Er musste unbedingt weg von diesem Ort und trat fast fluchtartig den Heimweg an. Auf der Reise zurück durch Aschfeuer durfte sich Belanor an den unterschiedlichen Landschaften erfreuen, während er sich dem heißen Ödland um Vanitas und dem Elendsschlund näherte. Als nach einer Reise von mehreren Wochen endlich die dichten schwarzen Aschewolken in Sichtweite kam, wusste er, dass er zuhause war. Immerhin war er noch immer ein Schwarzelf und so schön die Natur auch war, auch ihn blendete die unerbittliche Sonne.
 

Kunde vom Abbruch der Verhandlungen erreichte Vanitas bereits im Voraus. Die Boten ritten stets wie die Teufel und so war es nicht verwunderlich, dass Belanors Nachricht fast eine Woche vor ihm eintraf. Inzwischen wusste bereits jede wichtige Person am Kaiserhof Bescheid.

Lezabel hatte nicht verstanden, warum ihr Ehemann zugesagt hatte, die Verhandlungen zu führen. Es war von vornherein klar, dass der langjährige Lieblingsfeind Aschfeuers sich nie und nimmer die Blöße geben würde, einem zeitweiligen Frieden zuzustimmen, den sie nicht als Sieg verkaufen konnten. Sie würden sicher alles versuchen, einen Vorteil herauszuschlagen. Belanor musste den Krieg wahrlich hassen, wenn er sich wissentlich dem falschen Spiel von Antrium aussetzte. Immerhin schien er schlussendlich doch zur Vernunft gekommen zu sein. Er sollte inzwischen Vanitas erreicht haben. Lange würde es nicht mehr dauern und er stünde auf ihrer Türschwelle. Ein Mann, der so lange unterwegs war, benötigte besondere Zuwendung. Und Lezabel war mehr als bereit, sie ihm als Willkommensgeschenk zukommen zu lassen.

Zu diesem Zweck suchte sie das gewagteste Kleid ihrer Garderobe heraus und zwängte sich hinein. Es setzte ihren eher durchschnittlich bestückten Körper ideal in Szene. Belanor würden gewiss die Augen herausfallen. Lezabell zog den Vorhang beiseite, setzte sich auf das Bett und wartete. Sie hatte den Pagen aufgetragen, ihrem Mann bei allem Nötigen zur Seite zu stehen und ihn danach umgehend zu ihr in die Gemächer zu schicken.

Es dauerte nicht lang und ihr Ehemann trat durch die Tür ein. Die Bediensteten hatten ihm bereits all sein Reisegepäck und den Mantel abgenommen.

Lezabell schlug die Beine übereinander und streckte ihren Oberkörper. “Du bist zurückgekehrt, Liebster!”, begrüßte sie ihn. “Ich habe dich schrecklich vermisst”, fuhr sie in erotischem Ton fort und ließ sich langsam rückwärts auf das Bett sinken. “Warum kommst du nicht zu mir und wir feiern deine Heimkehr gebührend?” Sie klopfte mehrmals mit der flachen Hand auf eine freie Stelle neben sich, wie man es sonst tat, wenn man ein Haustier zu sich locken wollte.

Belanor ließ sich das nicht zweimal sagen.

Er öffnete sein Hemd und entkleidete sich. Seinen muskulösen Oberkörper zierte eine gewaltige Narbe. Ein Andenken aus seiner Zeit als Krieger. Sauber und ordentlich legte er das Kleidungsstück auf nahem Mobiliar ab, bevor er sich zu seiner Frau auf das Bett setzte. Er gab ihr einen kurzweiligen Kuss auf ihre Schulter und streifte den Träger ihres Kleides von ihr herunter. Als nächstes küsste er Lezabels Hals, woraufhin sie ihren Kopf nach hinten Neigte und genießend seufzte. Belanor verfuhr mit dem verbleibenden Träger des Kleides wie mit dem ersten und der fallende Stoff entblößte Lezabel. Er packte seine Frau und schubste sie mit wenig Widerstand ihrerseits auf das Ehebett. Dann fummelte er an seinem Gürtel herum - das verdammte Teil wollte auch einfach nicht nachgeben - und entledigte sich auch dem Beinkleid, nachdem er ihn endlich geöffnet hatte.

Er begab sich auf das Bettpolster zu seinem Weib.

Lezabel sah ihren Mann mit hungrigen Augen an. In letzter Zeit waren die Momente der Zweisamkeit selten. Belanor arbeitete oft und viel und ließ sich selten blicken, fast als suchte er nur nach Ausreden, um ihr fern zu bleiben. Das wollte sie einfach nicht akzeptieren! Das letzte Mal, dass sie miteinander die Nacht verbrachten, war mehrere Monate her. Kurz darauf hatten sie einen schrecklichen Streit. Seither vergrub sich Belanor in seinen Aufgaben. Seine Wiederkehr nach dieser Reise sah Lezabel als die ideale Möglichkeit, das Feuer der Leidenschaft in ihrer Beziehung neu zu entfachen. Als sich Belanor auf sie legte und den unteren Teil ihres Kleides nach oben schob, umschlang sie seinen mächtigen Rücken mit ihren Armen und bereitete sich darauf vor, seine Liebe zu empfangen.

Doch anstatt Sinnlichkeit zu erfahren, fühlte es sich an, als habe er seine Berufung verfehlt. Lezabel kam sich bald vor wie ein Brett, das von einem Handwerker mit einem mächtigen Prügel malträtiert wurde. Wenn er zur Jagd ausritt, zeigte er mehr Elan dabei, die Beute mit Pfeilen zu penetrieren, als seine Frau mit seiner Manneskraft zu beglücken. Bei diesem lustlosen Gehämmer fühlte sie sich wie ein Sonntagsschnitzel, das gerade weichgeklopft wurde. Belanor grunzte wie ein wildgewordener Keiler und als er es endlich hinter sich gebracht hatte, rollte er sich erschöpft zur Seite ab und schlief sofort ein.

Unsicher schaute Lezabel zu dem Mann an ihrer Seite.

Seine lieblose Pflichterfüllung ließ sie verzweifeln.

Sie hatte gehofft, in dem sie mit ihm eine leidenschaftliche Zeit teilte, könnten sie wieder zueinander finden. Doch alles was sie davon hatte, war dieses widerliche Gefühl benutzt worden zu sein. Als Belanor sich an ihr abrackerte, musste er seinen gesamten Frust über die Verhandlungen in sie entladen haben.

In ihrer Enttäuschung schlief sie ein.

Belanor schlug die Augen auf. Er war sich sicher, lang genug gewartet zu haben. Er sah zu seiner Frau und urteilte, dass sie fest schlafen musste. Vorsichtig entstieg er dem Ehebett. Er wollte es nicht riskieren, sie durch die Erschütterungen hastiger Bewegungen aufzuwecken. Splitterfasernackt schlich er durch das in dem roten Licht des unter dem Schwarzen Palastes befindlichen Lavasee getauchte Schlafgemach. So leise wie möglich nahm er seine Kleidung an sich und schlüpfte hinein. Danach öffnete er die Tür und stahl sich heimlich davon.

Seine Bemühungen waren allerdings vergebens. Lezabel hatte schon immer einen leichten Schlaf gehabt. Es musste ihm entfallen sein. Verbrächte er öfters die Nächte mit ihr, wäre es ihm gewiss geläufiger.

Wut stieg in der Prinzessin auf.
 

🌢
 

Auf dem Übungsplatz der Kaserne schlugen die eisernen Klingen der Kadettenschwerter aneinander. Mit verschränkten Armen und skeptischem Blick beobachtete der Ausbilder die Mühen seiner Schüler. Er hatte sie die letzten Monate nach bestem Wissen und Gewissen trainiert, damit sie nicht gleich in der ersten Schlacht fielen, in die sie geschickt wurden. Bei den meisten schien die Ausbildung gefruchtet zu haben, doch in jeder Familie gab es ein schwarzes Schaf. Und die Soldatenschule war nicht viel mehr als eine große Familie. Der junge Kadett, ein Elf, der ein hoffnungsloser Fall zu seien schien, hörte auf den Namen Florean und konnte sich den Hieben seines Gegners nur mit Mühe und Not erwehren. Mit Bedauern buchstäblich quer über sein Gesicht geschrieben, beobachtete der Ausbilder seine jämmerliche Körperhaltung und wie unbeholfen er das Schwert führte. Ein Jammer, dachte er. Der wird als erstes sterben.

Als ob Folrean die Gedanken seines Meisters vernommen hätte, stolperte er über seine eigenen Füße und landete mit dem Gesicht im Dreck.

Sein Gegner steckte sein Schwert weg und musste sich bald darauf die Seite halten, denn der Lachkrampf brannte im Zwergfell. “Bleib du mal ruhig liegen, du Trottel”, machte er sich lustig.

Florean erwiderte nichts.

“Kadett!”, ermahnte der Ausbilder. “Ich dulde es nicht, wenn ein Kamerad auf meinem Übungsplatz verspottet wird!” Er sah den jungen Mann zornig an. “Und so jemand will ein Soldat sein! Du scheinst nach dem Kampftraining noch Reserven zu haben. Die kannst du bei hundert Liegestützen abbauen! Zack, zack!”

Der Kadett biss die Zähne zusammen und salutierte. “Jawohl!” Er begab sich an den Rand des Platzes und begann sofort damit, den Befehl umzusetzen.

Der Ausbilder trat an Florean heran und reichte ihm die Hand zum Aufstehen.

Dieser nahm sie an.

“Du hast nicht das Zeug zum Soldaten!”, sagte er ihm daraufhin ungeschönt. “Du wurdest nicht eingezogen, sondern hast dich freiwillig gemeldet. Wieso tust du dir etwas an, das dir so widerstrebt?”

“Mein Vater war ebenfalls Soldat, Sir!”, antwortete Florean. “Er ist im Krieg gefallen, als ich noch klein war. Ich möchte ihm Ehre erweisen.”

“Indem du ihm so schnell wie möglich folgst?”

“Nein, Sir!”

“Ich kann es nicht verantworten, dich an die Front zu schicken. Du wirst stattdessen der neunten Kohorte des elften Bataillon zugeteilt.”

“A-Aber das ist doch die-”

“Versorgungseinheit, ganz richtig!”

Plötzlich ertönte eine Fanfare. Umgehend standen alle stramm in einer Reihe, ihnen voran der Ausbilder. Hoher Besuch kündigte sich an. “Seine Hoheit, Prinz Alaric”, verkündete ein bereits heißer geschriehener Ausrufer. Und tatsächlich: Gehüllt in eine Uniform, welche mit den Orden seiner bisherigen Erfolge dekoriert war, betrat der zweite Sohn des Kaisers den Übungsplatz.

“Wie kann ich Euch dienen, Hoheit?”, fragte der Ausbilder.

“Meiner Delegation sind ein paar Männer abhanden gekommen”, erklärte der Prinz. “Einer ist an der Grippe erkrankt, Einer zusammen mit einem Dienstmädchen desertiert und ein weiterer wegen Aschelunge dienstuntauglich. Ich möchte mich nach geeignetem Ersatz umsehen.”

“Eure Hoheit, diese Männer haben eben erst ihre Abschlussprüfung absolviert. Gibt es für Euer Anliegen nicht den offiziellen Dienstweg?”

“Ich suche mir meine Männer gern selbst aus.” Gesagt, getan. Kritisch beäugte Alaric einen jungen Mann nach dem anderen.

Florean wurde ganz flau im Magen. Der Prinz war gekommen, um neue Männer für seine Inspektionsdelegation zu finden. Was sollte er machen, wenn seine Hoheit tatsächlich ihn erwählen sollte? Für die Verantwortung direkt unter dem Kommando des Prinzen zu stehen, war er definitiv nicht bereit.

Alaric hatte bereits zwei junge Männer gewählt, als er vor Florian zum stehen kam. Etwas an dem Jungen weckte sein Interesse. “Junge, wer bist du?”

“Florean”, antwortete der Kadett.

“Warum bist du in der Armee? Wurdest du eingezogen?”

“Nein, Sir! Ich meldete mich freiwillig, Sir!”

“Warum?”

“Um meinem verstorbenen Vater Ehre zu erweisen, Sir!”

Bis jetzt hatte Alaric noch mit sich gehadert, doch als er die Überzeugung in den Augen Floreans sah, wusste er, dass er sein dritter Mann sein sollte. “Du stehst ab sofort unter meinem Kommando!”, beschloss der Prinz.

Florean rutschte unvermittelt das Herz in die Hose.
 

Alaric wankte in Richtung seiner Gemächer. In der Öffentlichkeit mochte er sich noch beherrscht haben, doch nun wurde das Hämmern in seinem Kopf immer intensiver. Mit einer Hand am Gesicht, tastete er sich mit der anderen an der Wand entlang. Er musste gleich um die Ecke biegen. Ihm war klar, dass vor seinen Gemächern stets Wachen postiert waren. Noch einmal riss er sich zusammen, grüßte die Wächter und verschwand eiligst hinter der Tür. Dahinter fiel seine Maske und seine Hand fand ihren Weg zurück an die Stirn.

Er wusste nicht mehr, wo unten und wo oben war.

Vielleicht hätte ich doch auf Illithor hören sollen, gestand er sich ein.

Vorsichtig begab er sich zu der Kommode mit dem Spiegel, welche an einer Wand neben seinem Bücherregal stand. Er stützte sich ab und verschnaufte einen Moment. Dann setzte sich der Prinz auf den Hocker vor der Kommode. Er tauchte beide Hände in die Wasserschale vor dem Spiegel ein und beugte sich nach vorn, um seine Visage zu waschen. Er hoffte durch die kalte Flüssigkeit die Schmerzen etwas lindern zu können. Tatsächlich verschaffte ihm die Gesichtsreinigung ein wenig Linderung, obgleich er sich das vielleicht nur einbildete. Nachdem er glaubte ausreichend benetzt zu sein, setzte er sich wieder auf und fuhr sich durch die angefeuchteten Haare, nur um anschließend die Hände langsam über sein Gesicht nach unten zu ziehen und dabei die Bindehaut seiner Augen freizulegen. Diese wirkte ausgesprochen bleich - sogar für die Verhältnisse eines Schwarzelfen.

Er schlug die Augenlider nieder.

In dem Moment, als er sie wieder öffnete, erschien eine Gestalt im Spiegel. Ein lautstarker Schrei hallte durch seinen Kopf. “Hilf mir!”, forderte ihn jemand auf. Sofort wandte er sich nach hinten um. “Wer ist da?!”, rief er.

Doch er konnte niemanden entdecken.

Verfalle ich dem Wahnsinn?, fragte er sich in Gedanken selbst.

Sofort stürmten die beiden Wächter - Lanzen voran - durch die Tür hinein, um den vermeintlichen Eindringling zu stellen. “Mein Prinz, was ist vorgefallen?”, fragte der größere der beiden Männer, als sie niemanden entdecken konnten. Sie hatten ihren Herren von außen rufen hören, und eilten ihm zur Hilfe.

“Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen”, sprach Alaric verwirrt.

“Geht es Euch gut, Hoheit?”, fragte der andere Mann.

“Ja, sorgt Euch nicht!”

“Aber, Durchlaucht-”

“Ich sagte, mir geht es gut!”, fuhr Alaric den Wächter an, als stünde er auf seinem Speiseplan, woraufhin dieser zurück zuckte. “Bitte lasst mich allein!” Er wandte sich wieder seinem Spiegelbild zu und beachtete gar nicht mehr, wie die beiden Männer seine Gemächer verließen. Wer war das?, verzweifelte er. Alaric versuchte sich mit aller Gewalt zu erinnern, doch alles, was er diesem schwarzen Flecken in seiner Reminiszenz entlocken konnte, waren die goldblonden Haare der Schattengestalt.

Allein der Versuch der Konzentration verstärkte seine Schmerzen.

Er konnte sich kein weiteres Zeichen von Schwäche erlauben! Morgen schon würden er und seine Delegation zur Grenze nach Frys aufbrechen. In dieser kalten Region konnte jede Unzulänglichkeit den Tod bedeuten. Im Land der Barbaren starben jene mit Makel zuerst.

Alaric begab sich zu seinem Bett. Er war einfach nur überanstrengt. Das war nichts, was eine Mütze voll Schlaf nicht beheben konnte. Der Prinz lief sich vollständig bekleidet in die Federn fallen und schloss die Augen.
 

Kaum das man ihn in die Einheit aufgenommen hatte, bekam Florean schon die ungeliebten Aufgaben zugewiesen. Man trug ihm auf, Proviant und Gepäck zu sichern und für die Abreise vorzubereiten. Das eigene Gepäck trug der wackere Soldat des Imperiums stets selbst. Dazu baute man sich aus zwei Ästen von um die fünf Zentimeter stärke ein so genanntes Tragekreuz, an dem die Gegenstände angebracht wurden. Ein solches Hilfsmittel war in der Regel halb so groß wie sein Träger und durch die einfache und effiziente Bauweise preiswerter als ein Rucksack. Wenn es kaputt ging, so fand man im Feld fast immer geeignete Äste, um das Tragekreuz zu ersetzen. Jeder Soldat war jedoch für sein Tragekreuz selbst verantwortlich. Florean musste sich stattdessen um die Bestückung der Pferdewagen kümmern. Die Delegation des Prinzen würde gemeinsam mit einer Versorgungseinheit die Reise zum Stählernen Wall antreten. Wenigstens musste er nicht die Ställe ausmisten, wie die beiden anderen armen Teufel, die heute neben ihm aufgenommen wurden.

Immerhin war er nicht allein…

Zwei Mitglieder der Versorgungseinheit waren ebenfalls hier und gingen ihm zur Hand. Sie hatten sich einander flüchtig vorgestellt, so wusste er, dass er eine Mo hieß und der andere Toma genannt wurde. Mo war ein stattlich gebauter junger Mann mit kurzem Haar und vielen Muskeln. Dagegen war Toma eher klein und nicht ganz so gut in Form. Als Florean die Kisten auf dem Hänger festgegurtet hatte, sah er sich zu seinen Kameraden um. Beide waren mit ihrem Wagen schon lange fertig.

“Willst du noch weiter trödeln?”, kicherte Mo.

“Ich dachte schon, das dauert die ganze Nacht”, spottete Toma.

“Wenn ihr schon fertig wart, warum habt ihr mir nicht geholfen?”, fragte Florean erregt. “Dann wäre es bestimmt schneller gegangen!”

“Das war einfach zu unterhaltsam”, stichelte Toma.

“Schönen Dank!”

“Siehst du, wie nett wir sind?”, lachte Mo und versetzte dem jungen Elf einen freundschaftlichen Seitenhieb. “Meine Kehle ist so schrecklich trocken”, meinte er plötzlich. “Warum gehen wir nicht alle in die Taverne einen heben?”

“Weil wir morgen auf Mission gehen?!”, erwiderte Florean.

“Was bist du denn für eine Spaßbremse?”, nörgelte Toma. “Uns steht ein elender Fußmarsch bevor. Wenn nicht im Suff, wie soll man das sonst ertragen?”

“Du verträgst wohl nichts?”, provozierte Mo. “Komm!”, Er packte seinen Kameraden am Arm. “Du wirst jetzt abgefüllt! Keine Widerrede!” Mo begann an Florean zu zerren. “Das ist ein Befehl eines Dienstälteren!” Der arme junge Mann hatte praktisch keine Chance, dem Besäufnis zu entkommen.
 

Sie fanden sich in dem Lokal ein, von dem Mo und Toma zuvor gesprochen hatten. Aus Mangel an Trinkerfahrung stieg Florean das Gebräu schnell zu Kopf. Niemand hatte ihm gesagt, dass Bier kein Wasser war!

Unverschämtheit!

“Ach so war das?”, fiel ihm Mo ins Wort, als Florean den beiden seine ungekürzte Lebensgeschichte näher brachte. “Du willst deinem Vater Ehre erweisen. Darum bist du dem Militär freiwillig beigetreten! Dein alter Herr wäre bestimmt stolz!”

Endlich stoppte Florean die Geschichten aus der Vergangenheit. “Wieso seid ihr denn im Militär?”, fragte er seine Saufkumpanen.

“Also ich hatte keine andere Wahl”, gestand Mo. “Ich komme aus armen Verhältnissen. Ich habe schon früh gestohlen. Irgendwann wurde ich erwischt. Als ich vor der Wahl stand, habe ich den Dienst in der Armee dem Knast vorgezogen.”

“Falls du eine rührselige Geschichte erwartest, so muss ich dich enttäuschen”, eröffnete Toma. “Ich war noch nie besonders fleißig und war andauernd bei den Huren. Mein Vater wurde dem überdrüssig und hat mich rausgeworfen. Ich hatte nie etwas gelernt, also blieb nur Soldat zu werden.”

“Und das Schlimmste an der Geschichte ist, du bist immer noch faul!”, ärgerte Mo.

“Wenigstens bin ich nicht zu dumm zum klauen!”

“Ach ja?! Darf ich dich an dein Taschenmesser erinnern?”

“Das ist doch schon seit Ewigk-! Du Drecksack!”

“Genau, ich hab es!”

“Gib es her, du aufgeblasener Gockel!”

“Erst wenn du zugibst, dass ich ein guter Dieb bin!”

“Gleich setzt es was!”

Florean wusste nicht, ob er ihren Streit wirklich lustig fand, oder das nur die Auswirkung des übermäßigen Genuss des Hopfen-Smoothie war. Jedenfalls musste er laut lachen. Das tat gut! Er hatte bestimmt schon seit dem Tod seines geliebten Vaters nicht mehr so herzlich gelacht. Damals hatte ihn das schwer getroffen. Zwar gab es da noch seine Mutter, aber ihr fühlte er sich nie so verbunden. Er war das Parabelbeispiel eines Pappa-Jungen.

Sein plötzliches lospusten beruhigte die hitzigen Gemüter, welche schon dazu übergegangen waren, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Die anderen beiden ließen voneinander ab und stimmten beim Gelächter mit ein.
 

Der darauffolgende Morgen brachte Florean nichts als Qualen ein. Sein Kopf schmerzte, denn sein Hirn war noch immer in Gerstensaft mariniert, wie ein Hüftsteak auf einem Grill. Er hatte es kaum hinbekommen, sein Tragekreuz zu bauen. Der anstrengende Fußmarsch hatte noch nicht einmal begonnen. Das Tagesziel war vor Einbruch der Nacht - selbst wenn diese inmitten der Aschlande nur schwer am Horizont wahrnehmbar war - mindestens dreißig Kilometer zu marschieren. Sein Rückrad berstete jetzt schon fast unter den zwanzig Kilo seines Gepäcks. Aber all das Jammern brachte ihm auch nichts.

Er biss die Zähne zusammen.

Die Männer des Verbandes, der kleinsten militärischen Einheit, marschierten in Reihe und Glied über die Pflasterstraßen des Kaiserreichs. Dabei gingen immer fünf nebeneinander und nutzten so die volle breite des Transportwegs für sich aus. Die Spitze der Marschformation bildete der fünf mal zwölf große Block der schweren Infanterie, gefolgt von den Hilfstruppen und den drei Wagen voller hochwertiger Ausrüstung für die Front. Dazwischen marschierten Prinz Alaric und seine Leibwächter. Gemütlich in einer Kutsche zu sitzen, während die Soldaten laufen mussten, kam für ihn nicht in Frage. Er wollte keine Sonderbehandlung!

Florean schaute nach vorn zu seinen neuen Bekannten.

Wenigstens strafte Mo und Toma der Alkoholgenuss genauso wie ihn.

Die Stunden vergingen und das Schuhwerk begann zu drücken.

Es gab keine Zwischenfälle und der Verband erreichte sein Tagesziel. Nein, überbot es sogar ein wenig. In zwölf Stunden hatten sie dreiunddreißig Kilometer zurückgelegt. Florean war sich sicher, dass seine Füße bereits jetzt schon die Scheidung einreichen wollten. Und der Marsch an die Grenze würde noch viele anstrengende Tage bedeuten.

Sehr viele.
 

Zwei Wochen später.

Das mächtige metallene Bollwerk aus dem dunklen Zeitalter kam endlich in Sicht. Ein ewig langer Fußmarsch, unterbrochen von kurzen Schlafpausen, welche nicht einmal ansatzweise zur Regeneration genügten, kam endlich zu einem Ende. Auf seiner Reise mit dem Verband der Versorgungseinheit sah Florean den Übergang von der leblosen Aschewüste des Kernlandes, über die fruchtbare Graslande der Provinzen bis hin zu den Schneebedeckten Gipfeln an der Grenze.

Da thronte er nun vor ihm.

Der Stählerne Wall.

Auf einer Länge von etwas weniger als einem Kilometer, blockierte er den einzigen Pass durch ein ansonsten unüberwindliches Gebirge. Zumindest den einzigen, welcher für Truppenbewegungen geeignet war. Die wenigen verschlungenen Bergpfade, welche ebenfalls nach Frys führten, waren dafür viel zu schmal. Außerdem bedrohten Schneebretter das Leben derjenigen, welche ahnungslos durch die Winterlandschaft stiefelten. Der Wall hatte eine Höhe von fünfzig Metern und war außerdem breit genug, um mit schweren Kanonen bestückt zu werden. Die Vorfahren sollen ihn einst gebaut haben, lange vor der ersten Ära. Sein ursprünglicher Zweck ist bis zum heutigen Tage genauso rätselhaft, wie seine Konstruktionsweise. Obwohl er scheinbar nur aus schwarzem Stahl bestand, verzog sich der Wall in der Eiseskälte kein Stück und hielt seit Jahrtausenden allem stand, was gegen ihn zu Felde geführt wurde. Außerdem ließ sich der Wall augenscheinlich öffnen, was ein Spalt genau in der Mitte suggerierte, doch der Mechanismus dahinter war unbekannt.

Florean bestaunte die Verteidigungsanlage und war sprachlos.

Ein Schreck fuhr durch seinen Körper als Toma ihm unangekündigt mit der flachen Hand auf die Schulter klopfte. Er zuckte zusammen und zog den Nacken ein, während er sich von der Mauer abwandte.

Der dickliche Soldat musste lachen. “Schreckhaft bist du”, kommentierte er.

“Lass das!”, meinte der Elf. “Du hast mich erschreckt!”

“Selber schuld, wenn du andauernd die Mauer angaffst!”

Florean betrachtete abermals das stählerne Bollwerk. “Aber du musst zugeben, dass sie schon beeindruckend ist.” Wer direkt vor ihm stand, kam sich so klein und unbedeutend vor, wie eine Ameise.

“Der Wall ist ein einziges Mysterium”, erklärte Mo. “Zwar benutzt ihn das Imperium für seine Zwecke, aber sie wissen auch nicht, wofür er eigentlich gebaut wurde. Nur dass er viel aushält und die Barbaren sich die Zähne an ihm ausbeißen.”

“Also mehr muss ich nicht wissen”, flabste Toma.

“Soldaten! Aufstellung!”, brüllte der kommandierende Offizier des Verbandes.

Beinahe sichtbar stellten sich die Nackenhaare der drei jungen Männer auf und sie eilten sich, dem Befehl Folge zu leisten und sich in Formation zu begeben.
 

Alaric bezog seine vorübergehenden Gemächer in der Festungsanlage, welche den Wall an einer Flanke ergänzte. Auf der anderen Seite hatte sie einen Zwilling, den würde er auch noch inspizieren, sobald er mit dieser fertig war. Doch zuallererst wollte er ankommen. Der Raum war nach seinen Wünschen gestaltet worden. Ein Bett, ein Schrank, ein Wandspiegel und ein Arbeitstisch mit Stuhl und einer Tischkerze. Eine rein funktionale, spartanische Ausstattung. Mehr brauchte er jedoch nicht, um seinen Aufgaben nachgehen zu können. Wenig begeistert schaute er indes dabei zu, wie Soldaten sein Gepäck herein brachten. Eigentlich hatte er vor, sich selbst darum zu kümmern, doch der Kommandant der Festung bestand darauf, dass ein Mann seines Standes sich keinesfalls mit solchen niederen Tätigkeiten befassen sollte.

Wie er es hasste, hochwohlgeboren zu sein! Viel lieber wäre er ein einfacher Soldat, welcher auf dem Schlachtfeld seine Ehre und Loyalität bewies. Stattdessen war er der zweite Prinz von Aschfeuer, der Hauptverantwortliche für die Armee und deren Zustand, der gefürchtete Soul Eater und Meister des Anima. Und seit seiner Niederlage gegen Prinzessin Emelaigne auch mit einem Bein im Totenreich - eine Tatsache, welche er dem Kaiser noch immer nicht gebeichtet hatte. Was seine Schwester in dieser Nacht mit ihm anstellte, verschaffte ihm etwas mehr Zeit auf Erden, doch wenn er seinem Instinkt glauben schenken durfte, war dies keine Lösung für die Ewigkeit. Die Vorhölle ließ sich nicht gern verarschen und würde jene Seele, welche seinen Platz eingenommen hatte, nicht auf Dauer akzeptieren. Die Symptome dafür zeigten sich ihm bereits. Wie lange blieb ihm wohl noch?

Alaric wusste, dass ihn diese Gedanken nirgendwo hinbringen würden.

Er versuchte, sich von ihnen zu befreien, immerhin hatte er Aufgaben zu erfüllen.

Nachdem die Soldaten sein Zimmer verlassen hatten, trat er an eines seiner Gepäckstücke heran und holte seine Unterlagen, zusammen mit einem Tintenfässchen und einem Griffel, heraus. Er breitete sie auf dem Tisch aus und platzierte die Schreibwerkzeuge. Doch bevor er seinen Bericht schreiben konnte, musste er die Anlage zuerst inspizieren. Er würde jeweils den Verantwortlichen jedes Bereiches ausquetschen und sich das Tagewerk demonstrieren lassen. Aber nicht mehr heute. Er war reif für das Bett!
 

🌢
 

Der Wind wehte grausam den Schnee in die Gesichter und die Eiseskälte in die Glieder der marschierenden Horde. Tief aus der eisigen Einöde marschierte ein grimmiges Heer von wütenden Kriegern. Gewaltige Gestalten wandelten in ihrer Mitte. Sie trugen schwere Geräte und Waffen bei sich. Im Vergleich zu diesen Giganten wirkten die Menschen neben ihnen wie Spielzeuge. Sie waren geeint durch ihre von Hass erfüllten Herzen. Der Zorn loderte in jedem einzelnen von ihnen. Das Verlangen, es dem ewigen Widersacher endlich heimzuzahlen, trieb die Menschen und die Kreaturen an, den unerbittlichen Schneesturm zu überwinden und die feindlichen Festungsanlagen zu erreichen.

Niemals vergaßen sie, wie sie einst vom Imperium betrogen wurden.

Sie öffneten den Männern mit den spitzen Ohren Tür und Tor, ließen sie durch ihre Städte wandeln und beschenkten sie reichlich. Zum Dank nahmen sie ihnen ihre Söhne und Töchter im Tausch gegen wertlose Waren. Sie brachten ihnen das “bürgerliche” Leben nahe. Diese Politik der Zwangszivilisierung lag nun Jahrhunderte zurück, doch der Hass auf die Schwarzelfen und die Erzählungen vom Unrecht der Vergangenheit haben in den Liedern der Barden die Zeit überdauert.

Schon oft versuchten sie, gegen das Imperium in die Schlacht zu ziehen.

Stets waren sie am Stählernen Wall gescheitert.

Doch dieses Mal hatte ein mächtiger und gleichermaßen weiser Kriegsherr Clans vereint und Packte mit den furchterregendsten Kreaturen des ewigen Eises geschlossen, und so ein mächtiges Heer aus dem Boden gestampft. Vielleicht das mächtigste, das je gegen das Bollwerk ausgezogen ist, hinter dem sich die feigen Elfen versteckten.

Der Tag der Rache war gekommen!

Die Faust des Nordens würde mit all ihrer Stärke den Feind erbarmungslos zermalmen. Und wenn ihre Mauer unzerstörbar war, hieß das nicht, dass man sie nicht überwinden konnte. Schmerz und Leid erwarteten die ehrlosen Spitzohren.
 

Die Kanonen reihten sich auf der Krone der Mauer aneinander. Das weiße Licht der Sonne wurde von den Rohren der schweren Waffen reflektiert. Der Wachposten beobachtete etwas in weiter Ferne. Er hatte gerade nichts besseres zu tun, also schenkte er den eisigen Winden seine Aufmerksamkeit. Ihn faszinierte das Wetter schon immer. Die Unberechenbarkeit, ebenso wie die Schönheit. Er nutzte das Fernrohr, um das Naturschauspiel noch besser beobachten zu können. Die Flocken tanzten in den mächtigen Böen und verliehen der Wolkenformation etwas Lebendiges. In den oberen Schichten der Wolken rieben sich die Eiskristalle aneinander, was eine elektrostatische Aufladung zur Folge hatte. Gelegentlich zuckten Blitze durch den Himmel.

Er erspähte etwas seltsames.

Etwas bewegte sich innerhalb des Sturmes.

Als der Späher genauer hinsah, erkannte er die Konturen eines menschenähnlichen Wesens. Doch es war viel zu groß. Selbst mit dem Fernrohr sollte er aus dieser Entfernung nicht in der Lage seien, Menschliche gestalten so deutlich auszumachen. Sie musste riesig sein! Aber selbst wenn, wer, der noch ganz bei Trost war, marschierte freiwillig durch dieses lebensfeindliche Wetter? Er wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte und ließ es nicht mehr aus den Augen. Dann offenbarten die Schneeverwehungen weitere Details und ihm wurde klar, dass er schleunigst den Alarm ausrufen musste.
 

Wie war er nur in diese Lage geraten?

Florean saß zusammen mit zwei gruseligen Gestalten an einem Tisch, vor ihm ein Stapel Spielkarten. Zuvor waren er, Mo und Toma mit diesen Männern aneinandergeraten. Sie hatten sich wegen einer Nichtigkeit gestritten und ein Wort führte zum anderen. Bevor die Situation komplett ausartete, schlug einer der Männer vor, die Streitigkeiten bei einem Kartenspiel aus der Welt zu schaffen. Florean stimmte zu, obwohl er überhaupt keine Ahnung hatte, wie man spielt.

Siegessicher grinsten die anderen Beiden.

Sie hatten ausgemacht, dass wenn Florean verliert, er und seine beiden Freunde für den Rest ihrer Stationierung die Quartiere der Soldaten aufräumen würden. Sollte er gewinnen, würden sie im Gegenzug alles machen, was er von ihnen verlangt. Es klang auf den ersten Blick nach einer guten Idee...

Sich jetzt erst dem Ausmaß seiner Naivität bewusst werdend, starrte Florean völlig ahnungslos auf das Kartendeck in der Mitte des Tisches.

Einer der Soldaten lachte. “Na, hast du dich schon mit dem Besen vertraut gemacht?", spottete er. “Der wird bald dein bester Freund.”

Der Elf zuckte zusammen.

“Nicht verzagen, Toma fragen!”, ermutigte der dicke Mann seinen Freund. “Ich kenne die Regeln, keine Angst.”

“Hey, das zählt nicht!”, beschwerte sich der zweite Soldat.

“Jemanden in einem Spiel über den Tisch zu ziehen, das er noch nie gespielt hat, aber auch nicht!”, ermahnte Mo.

“Von mir aus! Dann erkläre es ihm. Wir gewinnen sowieso!”

Toma nahm neben Florean am Tisch platz und ergriff den Kartenstapel. “Bei diesem Spiel geht es darum, möglichst viele Punkte zu sammeln”, begann er zu erklären. “Dafür musst du deine Handkarten klug ausspielen.” Er begann die einzelnen Karten sortiert nach ihrer Farbe übereinander hinzulegen. “Man spielt mit zweiunddreißig Karten. Es gibt vier Farben: Kreuz, Pik, Herz und Karo. Die einzelnen Karten haben zudem einen Wert. Siehe da, es gibt sieben, acht, neun und zehn. Verstanden. Außerdem gibt es Bildkarten, welche alle einen höheren Wert haben. Beginnend mit dem Buben, folgt dann Dame, König und das Ass.” Er legte die Karten wieder zusammen und mischte das Deck, bevor er es wieder in der Mitte des Tisches platzierte. “Die jeweiligen Spieler bezeichnet man als Vor-, Mittel- und Hinterhand, je nachdem, in welcher Reihenfolge Karten gegeben werden. Es werden immer sechs Karten ausgegeben. Vorhand spielt dann eine beliebige Karte aus. Die anderen Spieler geben dann jeweils eine Karte in der gleichen Farbe hinzu. Der Spieler, welcher den höchsten Wert besitzt, erhält den Stich und darf alle Karten behalten. Wer die meisten Karten in seinen Besitz bringt, hat auch die meisten Punkte.” Toma lächelte zu Florean herüber. “Alles soweit verstanden?”

Florean nickte zaghaft.

“Gut! Wir zählen auf dich!”

“Wehe, ich muss ab morgen wegen dir mehr als mein eigenes Quartier fegen!”, drohte Mo neckisch.

Mut machte das Florean ganz sicher nicht.

“Ich will mal nicht so sein”, meinte einer der Gegner. “Du darfst als erstes Karten geben. Also los, fang an!”

Vorsichtig begann der junge Elf abwechselnd jedem Spieler eine Karte zu geben, beginnend bei sich, bis alle sechs davon auf der Hand hielten. Er sah auf sein Blatt. Er hatte Pik Acht, Karo Zehn, Karo Neun, Herz Bube, Kreuz Dame und Kreuz König. Gar nicht mal so schlecht, dachte er. Doch er behielt sein Pokerface.

“Los, spiele eine Karte, Bengel!”, forderte einer der älteren Soldaten.

Zitternd bewegte sich Floreans Hand über sein Blatt. Welche Karte sollte er wählen? Zwar bescherte ihm das Glück hohe Karten, doch war es genauso gut möglich, dass seine Gegner ihn überbieten würden. Letztlich entschloss er sich, in die Vollen zu gehen und ergriff seine höchste Karte. Doch gerade als er sie ansagen wollte, leutete urplötzlich die Alarmglocke.
 

Alaric war gerade dabei, das Munitionslager in Augenschein zu nehmen, die Ausstattung zu prüfen und sich Notizen darüber anzufertigen, als es auf einmal hektisch in der Festung wurde. Etwas musste vorgefallen sein! Vermutlich versuchte erneut ein Heer aus dem Norden den Stählernen Wall zu überwinden. Ein aussichtsloses Unterfangen! In hunderten Jahren Krieg war es dem Feind aus dem ewigen Eis nicht ein einziges Mal gelungen. Allerdings bot sich Alaric nun die einmalige Chance, die Einrichtung während eines realen Angriffs zu erleben. Er beschloss, die Effizienz der Männer während dieses Kampfeinsatzes genau anzusehen. Wenn es nötig wäre, wollte er sich dem Feind selbst annehmen.
 

Angesichts der Kunde eines gewaltigen Heeres aus den eisigen Weiten Frys’ wurden alle verfügbaren Männer mobilisiert. Die Versorgungseinheit sollte den Nachschub an Munition und Pulver für die großen Kanonen auf der Mauerkrone sicherstellen, während die Besatzung die schweren Waffen operieren und gegen die Feinde kämpfen sollte. Die Delegation des Prinzen half ebenfalls. Zwar war es unmöglich, dass ungewaschene Barbaren dieses Wunderwerk der Vorfahren niederreißen konnten, doch man wollte ihnen auch nicht die Möglichkeit geben, es zu versuchen.

Auch Florean wurde zum Dienst eingeteilt. Er sollte die Versorgungseinheit unterstützen. Seine Aufgabe war es, zusammen mit weiteren Kameraden, die Munition dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wurde. Sie wurde mittels Flaschenzügen die fünfzig Meter hinauf auf den Wall gehievt und dann abgeholt. Die massiven eisernen Kugeln waren so schwer, dass sie in einer Schubkarre bewegt werden mussten. Während den Vorbereitungen für den Abschuss der ersten Salve hatte keiner Zeit, sich wegen des Aufgebot der Feinde zu ängstigen.

Auf der anderen Seite des Walls brachte sich der Feind in Stellung.

Anders als die wohl geformten Formationen des Kaiserreich, standen diese Männer in chaotisch zusammen gewürfelten Horden beisammen. In vorderster Front befanden sich die Bogenschützen. Die aus verschiedenen robusten Hölzern des Nordens gefertigten Langbögen waren in der Lage, selbst auf einer Distanz von zweihundert Metern ihr Ziel nicht nur zu treffen, sondern auch noch zu durchbohren, wenn es keine schwere Rüstung trug. Dahinter lauerten unzählige Berserker auf ihre Chance, die Feinde der Nordmänner mit ihren übergroßen Äxten in kleinste Stückchen zu zerhacken. Es waren wütende, kampfeslüsterne Männer mit der Kraft eines Bären. Unter ihnen gab es auch einige Frauen, welche vielleicht etwas kleiner aber nicht weniger bedrohlich wirkten. Selbst die Frauen des Nordens überragten den durchschnittliche Mann des Kernlandes um mindestens einen halben Kopf. Zwischen den beängstigenden Axtkämpfern zogen einige Barbaren riesige, auf Schlitten angebrachte Ballisten an dicken Tauen durch den Schnee, deren Aufgabe es sein sollte, die Kanonen auf der Mauer auszuschalten. Sie waren zwar Barbaren, jedoch keinesfalls dumm, wie es das Kaiserreich propagierte.

Der wahre Grund für unfreiwillig befeuchtete imperiale Beinkleider waren keine Menschen, sondern die gigantischen Monster. Eisriesen vom Nordpol denen man nachsagte, dass sie nicht aus Fleisch, sondern aus Schnee bestünden. Einige von ihnen erreichten eine Größe von zwanzig Metern. Das genügte nicht den gewaltigen Wall von fünfzig Metern zu überragen, Eindruck konnten sie dennoch schinden. Sie trugen zudem gewaltige dornenbewehrte Keulen mit sich, die sie nur allzu gern einsetzten, menschliche Behausungen zu zermalmen. Doch sie hatten mit den Nordmännern ihren Frieden gemacht, da auch sie auf Vergeltung gegen das Reich der Schwarzelfen aus waren. Sie waren vielleicht nicht so intelligent wie die Menschen, doch das Konzept eines Bündnisses verstanden sie. Die Barbaren wussten ihre Schlagkraft zu schätzen.

Neben ihren Keulen trugen einige Eisriesen Leitern bei sich, deren Sprossen und Stangen aus ganzen Baumstämmen gemacht waren. Mit ihnen wollten sie überwinden, was als unüberwindbar galt.

Die Schwarzelfen sahen sich den Aufmarsch des Feindes nicht länger untätig mit an. “Richtet die Kanonen aus!”, befahl der Kommandant, welcher persönlich die Mauerkrone erklommen hatte, um seine Befehle in die Ränge seiner Untergebenen zu blasen. Geschütz um Geschütz wurde in Position gebracht, als die Schreier seine Order die einen Kilometer lange Mauer weiter trugen. “Feuer ohne Befehl!”, ergänzte der Kommandant und glühende Geschosse verließen die Läufe der Kanonen.

Die Kugeln schlugen in dem verschneiten Boden ein und wirbelten viel Material auf. Die mutigen Krieger Frys’ stürmten ohne zu zögern durch den Beschuss. Einige Kugeln trafen ihr Ziel und rissen einige Barbaren in Stücke. Andere wurden von der Druckwelle vom Zentrum des Einschlags weggeschleudert. Die Barbaren wussten allerdings, dass sie nur nah an die Mauer heran kommen mussten, und sie befänden sich im Schutz des toten Winkels. Die Gestelle der Kanonen konnten kaum weit genug über den Rand ausgerichtet werden. Ab einer Entfernung von etwa zweihundert Metern waren die Angreifer vor den tödlichen Geschossen in Sicherheit.

Allerdings nahmen sie dann die gegnerischen Bogenschützen ins Visier.

Unter dem Pfeilhagel der elfischen Soldaten, richteten die Barbaren jene Ballisten auf die Kanonen aus, welche den toten Winkel unversehrt erreichten. Einer der Männer wurde von einem Pfeil genau zwischen den Augen erwischt und brach tot zusammen. Sofort nahm ein anderer Barbar seinen Platz ein.

Florean war derweil damit beschäftigt, eine Schubkarre mit Munition zu bewegen.

“Erschießt du einen, kommen drei neue nach!”, hörte er einen der Schützen klagen, während dieser den Bogen erneut spannte und einen Pfeil anlegte. Die Antwort des zweiten verstand Florean nicht mehr, da er einfach immer weiter ging, bis er sein Ziel erreichte. Er lieferte seine Fracht ab und wollte eben beim Ausladen helfen, als sein Blick auf Toma viel.

Dieser half gerade nicht weit von ihm dabei, eine Kugel in eine Kanone zu hieven. Er konnte sie nicht allein anheben und benötigte die Hilfe eines zweiten Mannes. Genau in diesem Moment feuerte eine der Ballisten ihren tödlichen Spieß ab. Das Geschoss verfehlte die Kanone haarscharf, traf jedoch Toma genau in der Körpermitte, durchbohrte ihn und riss ihn mit sich über die Kante der Mauer hinweg zurück über die Grenze auf imperialen Boden.

Florean konnte nicht begreifen, was er da gerade gesehen hatte.

“Hey, Soldat!”, schrie ihn ein gestresster Kanonier an, als er wie versteinert an die Stelle starrte, wo zuvor noch sein Freund stand. “Höre auf zu pennen!”

“Er ist tot!”, entgegnete er.

“Na und? Wir sind Soldaten und als Soldat muss man mit dem Tod rechnen!”

“Aber er war mein Freund!”

Auf diese Aussage hin packte ihn sein Gegenüber und zerrte ihn über den Rand des Walls. “Reiß dich zusammen, oder sollen die da unten uns alle abschlachten?! Willst du das?!!” Dann zog er ihn wieder zurück und ließ von ihm ab.

Florean wurde schmerzlichst bewusst, dass das Leben des Einzelnen im Krieg rein gar nichts bedeutete und er funktionieren musste, wollte er eine Chance haben zu überleben. Wenn er seine Aufgabe nicht richtig erfüllte, würden noch viel mehr den Tod finden. Er schluckte seinen Kummer herunter und nahm seine Arbeit wieder auf.

Derweil ertönte ein Horn aus den hinteren Reihen der Angreifer.

Ein Signal, auf das die Eisriesen nur gewartet hatten. Endlich konnten sie sich in die Schlacht stürzen. Bisher hielt sie der Feind in der Hinterhand. Ihre riesigen Beine trugen sie in Windeseile an die Mauer heran. Zu schnell für die Kanoniere, um nachzuladen. Die Riesen legten ihre massiven Leitern an dem stählernen Bollwerk des verhassten Feindes an und erklommen den Wall. Oben angekommen erhoben sie ihre mächtigen Schlagwaffen und prügelten grunzend in blinder Wut auf die Feinde und deren Artillerie ein, wie Kinder, die im Spiel einen Ameisenhaufen mit einem Stock malträtierten.

Verzweifelt wurden einige Kanonen gedreht und auf die Monster gerichtet.

Schüsse wurden eiligst abgefeuert, ohne den Winkel zu korrigieren.

Eine Kanonenkugel zerschlug eine Leiter und der auf ihr stehende Riese verlor den Halt. Er klammerte sich mit einer Hand an der Mauerkrone fest und versuchte, sich die Feinde mit der Keule vom Hals zu halten. Doch die Soldaten stachen mit ihren Schwertern in seine Finger, woraufhin er losließ und hinunter stürzte. Aufgrund seines Gewichtes schädigte ihn der Aufprall viel mehr, als es bei einem Menschen der Fall gewesen wäre, welcher aus einer verhältnismäßig gleichen Höhe stürzte.

Der Riese stand nicht wieder auf.

Florean fand sich eingekesselt zwischen zwei wütenden Eisriesen wieder, welche die Kanonen mit ihren Keulen zermalmten. Dabei schlugen sie wild stets dorthin, wo sich noch etwas bewegte. Schockiert erspähte Florean Mo, welcher unter einer Kanone eingeklemmt war, deren Halterung den Schlägen nicht mehr standgehalten hatte. Mo streckte seinen Arm hilfesuchend nach ihm aus, als er ihn bemerkte. Er lag auf dem Bauch und allein konnte er sich nicht befreien. Sofort wollte Florean losrennen, doch dem Riesen wurde bewusst, dass er noch nicht alles totgeschlagen hatte und ließ seine mächtige Keule noch einmal niedergehen. Zurück blieb ein zerbrochenes Kanonenrohr und eine zerschmetterte Leiche.

“Nein!”, schrie Florean wie von Sinnen, ließ alles stehen und liegen und rannte zum Ort des Geschehens, völlig blind gegenüber der Bedrohung, welche ihn jeden Moment ebenfalls zermalmen könnte. “Mo, stehe auf!”, befahl er und rüttelte verzweifelt am toten Körper seines Freundes.

Indes erhob der Eisriese seine Keule und holte für einen weiteren Schlag aus.

Der Schatten verriet Florean sein nahendes Ende. Er ließ Mo loß und kauerte sich zusammen. Statt eines Einschlages vernahm er das Rasseln einer Kette.

Vorsichtig traute er sich aufzusehen.
 

Er hatte viel zu lange nicht eingegriffen. Erst jetzt stieg Alaric die Mauerkrone empor und sah das Ausmaß des feindlichen Überfalls. Alaric verurteilte sich selbst für sein Zagen. Aber er rechnete nicht mit einem derart mächtigen Angriff auf den Stählernen Wall. Niemand tat das. Die Barbaren waren untereinander zerstritten. Es gab unzählige kleinere und größere Fürstentümer, deren Jarl meist nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Wenn sie nicht gerade fremde Länder plünderten, bekriegten sie sich untereinander. Und da waren auch noch die Eisriesen, die nun Seite an Seite mit den Menschen zu Felde zogen, ungeachtet ihrer Differenzen. Es gab eigentlich nur eine Person im Norden mit genug diplomatischem Geschick, dies alles in die Wege zu leiten.

Alaric musste unbedingt wissen, ob er damit Recht hatte.

Zuvor galt es, den Ansturm aufzuhalten.

Der Prinz beschwor seine Teufelswaffe, als er über die Mauer hechtete. “Trenne Körper und Geist, Anima!”, rief er und aus blauen Flammen materialisierte sich eine lange schwarze Kette mit klingenbewehrtem Ende.

Als er in Keulenreichweite eines der Eisriesen gelangte, versuchte dieser ihn zu erschlagen, doch Alaric nutzte Anima, um dessen Seele herauszuschneiden und das Ungetüm in eine gewaltige leblose Hülle zu verwandeln, die einfach so, regungslos, auf den Sprossen der Leiter verharrte. Würde sie niemand entfernen, dann wahrscheinlich für immer. Alaric benutzte seine besondere Fähigkeit “Soul Eater”, um die entrissene Seele aufzunehmen und zu verhindern, dass sie zu dem Ungetüm zurückkehren würde. Die Essenz eines Eisriesen war anders, als die eines Menschen. Er fühlte für einen Moment, wie sich die Kälte von frisch gefallenem Schnee in seinem Körper ausbreitete.

Ein zweiter Riese war drauf und dran, einen Soldaten zu erschlagen. Alaric attackierte auch diesen mit Anima. Die Kette der Teufelswaffe wickelte sich um die Keule. Er mobilsierte seine Teufelskräfte und zerrte so stark an der Waffe, dass der Riese mitgerissen wurde und von der Leiter fiel.

Als er näher kam, erkannte Alaric, dass es sich bei dem Soldaten um einen der Rekruten handelte, welche er vor zwei Wochen selbst auserwählt hatte. Für die ihm direkt unterstellten Männer fühlte er sich besonders verantwortlich. “Ist alles in Ordnung bei dir?”, fragte er seinen Untergebenen.

Wortlos, mit Tränen in den Augen, blickte Florean zu seinem toten Freund.

Alaric erkannte den Toten, auch wenn es bei den ihm zugefügten Wunden und all dem Blut nicht so einfach war. Es war einer der Männer aus der Versorgungseinheit, mit denen Florean Umgang pflegte. “Gehe in die Festung!”, befahl Alaric daraufhin.

Der junge Soldat gehorchte.

Alaric hingegen setzte seinen Angriff auf die Eisriesen fort, welche noch immer die Mauer stürmten, und einer nach dem anderen stürzte in den Tod, als der Prinz die Belagerer gewaltsam von der Mauer entfernte. Die Kreaturen waren mächtig und stark, doch ebenso reaktionslahm und unflexibel. An Kampfmoral schien es ihnen ebenfalls zu mangeln. Die verbleibenden Eisriesen kletterten rückwärts ihre Leitern herunter und ergriffen panisch die Flucht, obwohl Alaric erst wenige von ihnen erschlagen hatte. Bei dem Versuch die eigene Haut zu retten, achteten sie weder auf Freund noch Feind und rannten durch die Reihen der Barbaren, wobei sie einige von ihnen zertrampelten.

Alaric sprang unbeirrt davon auf eine der zurückgelassenen Leitern und rutschte an dem Baumstamm hinunter. Kaum unten angekommen, griffen ihn die Barbaren an, doch mit einem Streich des Anima hielt er sie sich vom Hals. Die Waffe traf seine Gegner und entriss ihnen kurzzeitig die Seele. Alaric entschied sich, Soul Eater diesmal nicht einzusetzen und so kehrten die Seelen nach einigen Sekunden in ihre Körper zurück. Die Angriffe ebbten angesichts der Aussicht auf eine weitere außerkörperliche Erfahrung ab. Niemand wollte von Anima getroffen werden. Weiträumig gingen die eingeschüchterten Krieger dem Mann mit den rot glühenden Augen aus dem Weg. Er hingegen bewegte sich unbeirrt auf den Anführer der Armee zu.

“Ihr? Hier?!”, fragte ein bärtiger Mann. Er trug einen verzierten Nasenhelm unter dem seine mächtige gelockte bräunlich-rote Mähne ans Tageslicht trat.

Alaric erkannte, dass eine Vermutung richtig war. “Es ist mir eine Ehre, Jarl Thordir!”, erwiderte er und verneigte sich kurz. Nur dieser Mann war gleichermaßen gewandt mit der Axt und mit der Zunge.

Eigentlich betrachtete Thordir alle Kaiserlichen als Lügner. Der Prinz bildete eine Ausnahme von dieser Regel. Ihn sah er als waren Ehrenmann. Einige Male hatten sie bei “Verhandlungen” ihre Argumente ausgetauscht. Eine Verhandlung bedeutete bei den Barbaren stets einen Kampf auszutragen. Derjenige, welcher der stärkere war, konnte seine Ambitionen durchsetzen. Diese Kämpfe waren nur Show und es war verboten den Gegner zu töten. Meistens ging es darum, dass das Fürstentum die Angriffe auf kaiserliche Küstenstädte im Westen unterlassen oder dem ungeliebten Feind im Osten des Kontinent einen Besucht abstatten sollte. Thordirs Siegesquote bei seinen Kämpfen mit dem Prinzen war ausgeglichen. Alaric verzichtete sogar auf Teufelswaffe und Teufelskraft. Beide respektierten sich als starke Krieger und so war Thordir gewillt, Alaric anzuhören. “Was wollt Ihr?”

“Ich möchte Euch vorschlagen, dass Ihr die Armee zurückzieht.”

“Ha ha ha!” Der Nordmann hielt sich beim Lachen den Bauch. “Wieso sollte ich das tun?”

“Weil ich Euch zum Kampf herausfordere. Sollte ich gewinnen, wird sich die Armee zurückziehen. Solltet Ihr gewinnen, dann dürft Ihr gern weiter Euer Glück versuchen und ich halte mich raus.”

“Was ist das für ein Kuhhandel? Öffnet mir dann gefälligst das Tor!”

“Ich fürchte, das ist unmöglich. Niemand weiß, wie der Wall geöffnet wird.”

Thordir war bewusst, dass Alaric großen Schaden anrichten könnte, wenn er es wollte. Der Prinz würde sicher nicht lügen. Wahrscheinlich wusste wirklich niemand, wie der Stählerne Wall geöffnet werden konnte. Vielleicht war ein Angriff über diesen Weg wirklich aussichtslos. Vielleicht kam ihm zu oft das Wort “Vielleicht” bei seinen Grübeleien in den Sinn. Der Jarl wollte seine Leute nicht in den sicheren Tod schicken. Selbst wenn es gelänge, Prinz Alaric auszuschalten, wäre der Preis zu hoch. Ohne einen guten Vorwand konnte er jedoch keinen Rückzug befehlen, ohne vor den anderen Barbaren sein Gesicht zu verlieren. “Na schön, ich akzeptiere.”
 

Es wurde ein neutraler Raum geschaffen. Die Barbaren stellten sich im Kreis um Alaric und Thordir auf. Der Jarl warf seine Berserkeraxt einem Krieger im Publikum zu. Alaric tat es ihm gleich, indem er Anima verschwinden ließ, das bis jetzt noch zum Zwecke der Abschreckung um seinen Arm gewickelt war. Zufrieden lächelte der Nordmann. “Bringt uns Schwerter und Schilde!”, befahl er anschließend ohne direktes Ziel in die Menge.

Seine Untergebenen befolgten die Anweisung und brachten zwei bemalte Rundschilde und zwei Einhandschwerter. Eines der Schilde zierte ein Bär, das andere ein Wolf. Alaric wählte den Bär. In beide Schwerter war jeweils das gleiche Runenmuster eingraviert. Die Männer schnallten ihren Schild um und nahmen das Schwert in die Hand. “Wir kämpfen hier nicht um Leben und Tod”, erinnerte Thordir. “Es geht einzig und allein um die Ehre.”

“Natürlich!”, bestätigte der Schwarzelf.

Beide steckten die Schwerter weg und gaben sich die Hand.

Die Kontrahenten entfernten sich voneinander. Nach einigen Schritten wandten sie einander wieder zu, zogen die Waffen und begannen mit dem Kampf. Während Alaric auf Nummer Sicher ging und Schild voran in der Defensive verblieb, handelte Thordir nach der Devise “Angriff ist die beste Verteidigung” und stürmte auf seinen Gegner zu. Während ihres Kampfes schenkten sie sich augenscheinlich nichts. Neben den Schwerthieben und den Schildparaden tauschten sie ebenfalls handfeste Argumente in Form von Tritten, Kopfnüssen und Ellenhieben aus. Alaric bemerkte jedoch etwas seltsames. Dieses Mal schien Thordir ihn zu schonen. Die Angriffe schindeten zwar mächtig Eindruck, das war aber auch alles, was sie taten. Er interpretierte, dass Thordir diesen Schaukampf absichtlich verlieren wollte. Vermutlich nutzte er dies als Rechtfertigung, den aussichtslosen Angriff abzubrechen, ohne Ansehen zu verlieren.

Dem Prinzen sollte dies nur Recht sein. Niemand sollte in einem Kampf fallen, den man nicht gewinnen kann. Außerdem konnte er sich ohne ein angreifendes feindliches Heer besser auf die Inspektion konzentrieren. Alaric tat Thordir den Gefallen und zerschmetterte dessen Schild. Danach entwaffnete er ihn, was auch ungewohnt einfach vonstattenging. Offenbar hatte er abermals die richtigen Schlüsse gezogen. Demonstrativ richtete er seine Waffe auf den wehrlosen Nordmann. “Ich habe gewonnen!”, verkündete er.

“Das habt Ihr”, bestätigte Thordir mit gespielter Erschöpfung. Er wandte sich von Alaric ab und sprach zu den barbarischen Zuschauern. “Männer! Ich gab mein Wort. Lasst uns den Rückzug antreten!”

Widerwillig befolgten sie die Befehle des Jarls. Ob sie wollten oder nicht, sie hatten ihm die Treue geschworen. Wenn sie nicht so feige und ehrlos sein wollten, wie die Eisriesen, die im Angesicht des Todes die Flucht ergriffen, mussten sie die Entscheidung des Kriegsherrn akzeptieren.

Alaric überreichte Schwert und Schild einem der Barbaren.

Das feindliche Heer trat den Rückzug an.

Bereits im Gehen begriffen, wandte sich Thordir noch einmal zu dem Elfen um und rief ihm etwas zu: “Ihr seid ein Ehrenmann, Alaric! Schade, dass Ihr ein Elf seid. An Euch wäre ein guter Nordmann verloren gegangen!” Nach diesen Worten verließ er endgültig den Schauplatz des Geschehens.

Alaric konnte einen weiteren diplomatischen Erfolg verbuchen.
 

Drei Tage später.

Florean stand bei den Gräbern der Gefallenen, um ihnen seinen Respekt zu zollen. Besonders seinen beiden Freunden Mo und Toma, welche er nur kurz kannte, deren Verlust er jedoch kaum ertragen konnte. Die Toten wurden nach der Schlacht schnell im Schatten des erstarrten Eisriesen begraben, welcher noch immer auf seiner Leiter stand. Der Prinz machte sich selbst dabei Notizen. Als könne man die Effizienz eines Begräbnisses messen. Er hatte ihm zwar einige trostspendende Worte zukommen lassen, doch das machte Floreans Traurigkeit nur noch schlimmer. Am Ende gab der Prinz ihm frei und brach mit seinem übrigen Gefolge zum Gegenstück der Festung am anderen Ende des Walls auf.

Florean überblickte die Gräber.

Wieso hatte gerade er überlebt? Normalerweise waren Männer wie er die ersten, die starben. Welches grausame Spiel trieb das Schicksal mit ihm, dass stattdessen die anderen ihre Leben verloren? Der Elf wandte sich von den Gräbern ab und machte sich ebenfalls auf dem Weg zum anderen Ende des Walls. Er war schließlich noch immer Soldat und dem Prinzen unterstellt. Er musste seine Pflicht erfüllen.
 

Prinz Alaric von Aschfeuer brütete über seinen Berichten. Akribisch brachte er alles geordnet zu Papier, was er sich in den vergangenen Tagen teils hastig notiert hatte. Informationen über den Zustand der Festungen: Sie waren beide gut bestückt. Munition und Schießpulver in ausreichenden Mengen vorhanden und der Verlust einiger Kanonen und Männer beim Angriff konnte leicht kompensiert werden. Informationen über die Moral der Truppe: Trotz eines furchteinflößenden Gegners konnten die Männer ihre Pflicht erfüllen. Zwar gab es Verluste, doch angesichts der feindlichen Übermacht, hatten sie sich gut geschlagen. Anmerkungen für die Zukunft: Die Garnisonstärke war nicht für einen schweren Angriff ausgelegt. Niemand hätte damit rechnen können, da es noch niemals vorgekommen war, zukünftig muss man es allerdings in Betracht ziehen.

Alaric pausierte seinen Schreibfluss.

Letztlich blieb ihm keine andere Wahl, als selbst einzugreifen. Es bestand die Gefahr, dass es den Barbaren gelingen könnte, den Wall zu überwinden. Die Untertanen in den angrenzenden Provinzen wären dem Zorn der wütenden Nordmänner ausgeliefert gewesen. Bis die Truppen aus den nächstgelegenen Festungen zusammengezogen und zum Gegenschlag bereit gewesen wären, hätte es viele weitere unschuldige Tote gegeben. Das wollte er nicht verantworten. Als Prinz war es seine Aufgabe, die Untertanen des Reiches zu beschützen. Alles andere wäre einfach nur ehrlos gewesen!

Zu versuchen, eine ganze Armee im Alleingang abzuschlachten, war allerdings auch keine Option. Was hätte er getan, wenn ein anderer Kriegsherr die Barbaren und die Eisriesen in die Schlacht geführt hätte?

Als er all dies niederschrieb, spürte Alaric erneut einen Schmerz in seinem Kopf. Er stützte sein Oberstübchen mit dem linken Arm ab und raufte dabei leicht seine extravagant gestylten Haare. Während er versuchte, die Pein zu ertragen und weiter seine Arbeit zu erledigen, veränderte sich sichtlich sein Schriftbild. Die perfekten sauberen Buchstaben seiner Handschrift verkamen zu wackeligen und buckligen Abstraktionen ihrer selbst. Sie spiegelten die Qualen ihres Schreibers wieder.

Alaric steckte den Griffel zurück in das Tintenfass und erhob sich.

Die rechte Hand gesellte sich zur linken.

Das Stechen in seinem Kopf wurde immer mächtiger. Er spürte, wie er drauf und dran war, das Gleichgewicht zu verlieren. Aus einem inneren Impuls heraus schleppte er sich erneut zu einem Spiegel. Angestrengt stützte er sich links und rechts von ihm am Mauerwerk ab und starrte auf die von Schmerz gequälte Visage, reflektiert von der Glasoberfläche.

Hinter ihm erschien abermals ein Schatten. Langsam tauchte eine menschliche Gestalt aus der Schwärze auf. Ihr langes blondes Haar und ihre Figur ließen auf eine Frau schließen, doch noch immer konnte man das Gesicht nicht erkennen.

Erschrocken sah Alaric hinter sich.

Wie so oft war dort niemand.

Der Schwarzelf atmete hektisch und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Das war keine einfache Fantasie mehr. Er wandte sich dem Spiegel zu.

Der Schock traf ihn wie ein Schlag, sodass er für einen Moment allen Schmerz vergaß. Ihm gegenüber war nicht mehr länger sein gequältes Gesicht. Stattdessen starrte ihm eine blasse Gestalt entgegen. Dieses Mal konnte er sie genau sehen. Haare, golden wie reifes Getreide. Augen, so blau wie der wolkenlose Himmel des Spätherbst. Er erinnerte sich an sie. Sie war die Frau, welcher er einst die Seele stahl.

Sie öffnete zaghaft ihren Mund zum sprechen. “Lass mich gehen!”, formulierte sie.

Alaric wollte es nicht wahrhaben. Er kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu, doch die stets lauter werdenden Rufe drangen in seinen Geist ein, wie ein ungebetener Gast in eine Hochzeitsfeier. Auch der Schmerz wurde wieder fühlbar und jedes Wort der Frau löste eine weitere Welle aus, welche sich eines Dolches gleich in seinen Schädel bohrte.

Sein Leiden ließ ihn die Beherrschung verlieren.

Er riss seine Augen auf, da es sowieso egal war, ob diese geschlossen waren oder nicht. Das Bild der Frau brannte durch seine Lieder, er konnte ihm nicht entkommen. “Was willst du von mir?!”, schrie er verzweifelt in den Spiegel. “Hau ab! Lass mich in Ruhe!”

Natürlich tat sie ihm den Gefallen nicht.

“Ich sagte, du sollst verschwinden!” Der Wahnsinn in seiner Stimme intensivierte sich. “HAU AB!!!”

Doch der Geist blieb. “Bitte, hilf mir!”

Alarics Atmung wurde immer schwerer. Seine Augen begannen zu glühen. “VeRScHWiNDe!!!!” Er ballte die Hand zur Faust, zerschlug den Spiegel und bohre seinen Arm in das Mauerwerk. Staub und Trümmer flogen in alle Richtungen. Er zog seine Hand aus der Wand heraus. Splitter blieben in ihr stecken, aber das war ihm egal. Endlich verflog der Schmerz in seinem Kopf. Was war da schon eine stark blutende Hand? Seine Atmung beruhigte sich und das Glühen in seinen Augen erlosch.

Erschöpft ließ sich Alaric auf die Knie sacken.

Jedes Mal wurde es schlimmer!

Es war nicht mehr auszuhalten!
 

🌢
 

Nach einer weiteren lieblosen Nacht schlich sich Belanor abermals davon. Leise schloss er die Tür hinter sich ab und befahl der Wache, er möge vergessen, ihn gesehen zu haben. Er musste sich beeilen, denn das, wonach sich sein Herz wirklich verzehrte, befand sich nicht hinter der Tür zu seinen Gemächern. Die Person, für die er wirklich etwas empfand, lebte nicht im Palast, sondern in der Stadt davor. Belanor musste zuerst den Lavasee über die lange Brücke aus Basaltgestein überqueren. Als das rote Glühen schwächer wurde und Laternen das Dunkle erhellten, führte ihn sein Weg auf die belebte Hauptstraße. Er folgte ihr, bis er einen Platz in der Form eines fünfseitigen Vieleck erreichte. Ein großer Brunnen speiste sich aus Wasser, dessen Quellen in weit entfernten Gebirgen lagen. Gewaltige Aquädukte in perfekt kalkulierten Neigungswinkeln versorgten Vanitas mit frischem klaren Wasser - und das in rauen Mengen. Hier musste er nun in eine schmalere Straße einbiegen, in der sich Geschäft an Geschäft reihte, und auch in der “Nacht” noch reges Treiben herrschte.

Es war hier, wo er sie kennengelernt hatte.

Sandra, die Frau, die er wirklich liebte.

Damals stieß ihn einmal mehr das Verhalten seines angetrauten Eheweibes ab. Sie hatten einen schrecklichen Streit, dessen Thema er inzwischen verdrängt hatte. Wahrscheinlich wieder etwas belangloses. Dieses herrschsüchtige Frauenzimmer wollte einfach alles bestimmen. Und lief etwas einmal nicht so, wie sie es sich vorstellte, brach die Hölle los. Belanor dankte allen Göttern von Elfen und Menschen gleichermaßen, dass Lezabel in ihrem Zorn noch keinen ihrer Drachen auf ihn gehetzt hatte. Einmal wagte er es sich, für einen Menschen einzutreten und wurde von ihr zur Strafe eine Nacht lang wegen vorlauten Mundwerk ins Verlies geworfen. In der Nacht, als er Sandra traf, musste es etwas ähnlich absurdes gewesen sein. Er wusste nur noch, dass er raus musste. Er hätte Lezabel niemals heiraten sollen! Er glaubte damals, sie sei eine gute Partie. Er wollte mehr Einfluss. Den hatte er zwar jetzt, aber auf Lezabel könnte er getrost verzichten!

Es war eine arrangierte Ehe. Belanor setzte ein natürliches Verhandlungsgeschick ein, um sein Ziel zu erreichen. Das er im Krieg gekämpft und sich um Aschfeuer verdient gemacht hatte, wirkte sich gewiss förderlich für sein Anliegen aus.

Von Tag eins an war es ein Krampf Lezabels Zuneigung zu gewinnen. Die Prinzessin zeigte jeden, den sie für ihrer unwürdig befand, die kalte Schulter. Auch Belanor erging es nicht besser. Allerdings ließ er sich nicht davon abschrecken und blieb am Ball. Das beeindruckte sie mutmaßlich. Langsam kam sie aus ihrem Panzer hervor und zeigte ebenfalls Interesse. Als die Hochzeitsglocken läuteten, begannen ein paar glückliche Jahre. Doch diese Zeit war inzwischen längst verlebt. Es wurde immer offensichtlicher, was er sich mühte an ihr nicht zu sehen. Belanor wünschte sich, tapfer genug zu sein, um Lezabel trotz ihres Charakters zu lieben. Aber mehr war es nicht. Ein Wunsch. Manchmal fragte er sich, ob sie ihn je liebte oder damals nur in rechter Stimmung gewesen war. Lezabel war eine Frau, die der Hass antrieb. Trauer über den Verlust ihrer Mutter war in Wut auf alle Menschen umgeschlagen. Die Prinzessin machte kleinen Hehl um ihre Ansichten und in einem Land, in dem die Elfen die Menschen ohnehin diskriminierten, störte sich keiner an ihrem Verhalten.

Belanor war ihre Predigten über den mangelnden Wert eines “Menschlein” so leid.

Nun schlenderte er gedankenversunken durch die Gassen.

Plötzlich blieb er stehen. Genau an dieser Stelle hatte Sandra einst versucht ihn zu bestehlen. Eine junge Menschenfrau aus der Gosse musste sehen wo sie blieb. Damals war er kurz davor, der diebischen Elster die Hand abzuschlagen, als er ihr Gesicht erblickte und sich sofort in sie verliebte. Ein echtes Klischee. Darüber hatten sie beide oft gelacht. Seither half sie ihm, das Leben mit dieser Hexe von Eheweib zu ertragen, indem er sie immer dann besuchte, wenn er von seiner Frau genug hatte. Mit Sandra konnte er die Liebe und Leidenschaft ausleben, die in seiner Ehe schon lange verloren waren.

Endlich kam das Haus, in dem er Sandra eingemietet hatte, in Sicht. Schließlich konnte er seine Geliebte schlecht auf der Straße hausen lassen. Dort war es viel zu gefährlich. Ihr könnte wer weiß was zustoßen.

Merkwürdig!

Die Tür war nicht abgeschlossen.

Für gewöhnlich sperrte sie sie ab, denn sie wusste nur zu gut, wie gefährlich es in den Gassen von Vanitas sein konne. Vorsichtig tastete er sich im dunklen Haus voran, bis er eine Tischlampe fand. Wie es zu jener Zeit üblich war, trug er Feuerstein und Zunder bei sich, damit er stets Feuer entfachen konnte, wenn er es brauchte. Als er den Docht entzündet hatte und das gewölbte Glas überstülpte, leuchtete die Flamme den Raum aus. Es schien niemand daheim zu sein. Ebenfalls eine Abnormalität! Sandra war immer daheim. Er sorgte für ihr Auskommen, sodass sie nicht arbeiten musste.

Vielleicht wartete sie bereits im Schlafgemach auf ihn?

Er ging dem nach.

Im Bett lauerte eine üble Überraschung auf ihn. Das Licht fiel auf den Körper der jungen Frau, welche bäuchlings quer über dem Bett lag. Die Beine gespreizt, die Kleidung zerrissen und die Arme vom Körper gestreckt, bot sie ein schreckliches Bild. Eine Hand krallte sich noch immer am Laken fest. Bläuliche Würgemale an ihrem Hals verrieten die Todesursache. Die kalten Augen der selbst im Tod noch schönen Frau starrten ihrem Liebhaber an. Es deutete alles auf eine Triebtat hin.

Belanor konnte sich nicht mehr halten und fiel auf die Knie, wobei die Tischlampe seinem Griff entglitt und auf dem Boden zerschellte. “Wer hat das getan!”, schrie er seinen Kummer hinaus in die Dunkelheit. “Ich bringe den Verantwortlichen um, das schwöre ich!” Er umarmte die Leiche seiner Geliebten. Sie war so schrecklich kalt. Er wünschte sich, dass sie seine Wärme spürte, wo auch immer sie jetzt war.

Der einzige Überlebende


 

🌢

 

Durch ein altes, finsteres und ungeziefer verseuchtes Gemäuer drangen die angestrengten rhythmischen Atemstöße einer Frau. Wenige Fackeln erhellten den Raum und verrieten beinahe flüsternd schemenhaft seine Ausmaße. Die Frau lag mit angewinkelten, gespreizten Beinen auf einem mit Fellen ausgelegten Bett. Sie war schon so lange hier unten gefangen, dass sie ihren eigenen Namen vergaß. Vielleicht wusste sie ihn noch, doch er war einfach nicht mehr wichtig. Um sie herum standen drei düstere Gestalten in schmutzigen, vergrauten Roben, deren Gesichter nicht zu erkennen waren. Eine von ihnen zertrampelte angewidert eine Ratte, die soeben auf der Suche nach Nahrung über den Boden flitzte. Diese Dunkelheit war die Realität der Frau geworden. Unter den Schmerzen der Geburt dachte sie zurück an die Zeit vor ein paar Monaten, als sie noch in Freiheit lebte.

Sie war schon damals in freudiger Erwartung. Sie hatte einen Mann und schon ein weiteres Kind. Eine Tochter. Eines Tages brach zu später Stund ein Feuer aus. Sie konnte sich noch retten, doch für ihren Mann und ihre Tochter kam jede Hilfe zu spät. Niemand konnte mehr etwas tun und sie war dazu verdammt, die ersterbenden Schreie ihrer Familie zu hören, während diese vom flammenden Inferno verschlungen wurden. Sie verfluchte die Nacht, in der ihr alles Glück der Welt genommen hatte. Was sollte sie tun? Wo sollte sie hin? Schwanger und ohne Bleibe, irrte sie über die kalten Straßen ihrer Heimatstadt.

Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Gerüchte waren im Umlauf. Missgünstige Stimmen verbreiteten Lügen über sie, anstatt ihr in dieser schweren Zeit zur Seite zu stehen. Es hieß, sie habe das Haus selbst angezündet und ihren Mann und ihr Kind ermordet. Was für eine absurde und unverschämte Anschuldigung! Doch es wirkte. Niemand wollte ihr mehr helfen. Der Pöbel forderte ihren Tod. Auf den Straßen war sie nicht mehr sicher und so flüchtete sie in die finstersten Ecken, die sie finden konnte. Hier ernährte sie sich von erschlagenen Ratten und anderen Tieren, bis auch dieses Versteck entdeckt wurde und sie abermals zum Fliehen verdammt war.

In ihrem Zustand konnte dies nicht ewig so weiter gehen. Schließlich wurde sie eines Tages vom wütenden Mob aufgegriffen und auf den Scheiterhaufen verfrachtet. Dort sollte sie das gleiche Schicksal wie ihre Familie erleiden und zusammen mit ihrem ungeborenen Kind bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Die gerechte Strafe für die Tat, die sie niemals begangen hatte. Man glaubte, ihre Bosheit würde auf das Kind übergehen.

Anfangs bettelte sie noch um Gnade, doch ihre Schreie verstummten schnell nach mehreren Schlägen in ihr Gesicht durch des Henkers Hand. Sie machte ihren Frieden damit, an diesem Pfahl an diesem Tag ihr Leben auszuhauchen. Vielleicht hätte sie netter zu ihren Nachbarn sein sollen. Ob sie dann von solchen abscheulichen Anschuldigungen aus niederen Beweggründen verschont geblieben wäre? Der Gedanke an die Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr, trieb ihr die Tränen ins Gesicht. “Schaut, die Hexe winselt um Gnade”, rief es aus der Menge. Die brennende Fackel war kaum noch zehn Zentimeter von dem aufgeschichteten Holz und Stroh entfernt und die Jubelschreie des Publikums unfassbar laut, als plötzlich ein gut gekleideter Mann kam und anwies, die Hinrichtung zu stoppen. Man band sie vom Scheiterhaufen ab und nahm sie mit, den Protesten des blutrünstigen, wütenden Pöbels zum Trotz. Die bewaffnete Begleitung des Mannes hielt den Mob auf Abstand. Wohin die Reise ging, verschwieg man ihr. Es war ihr allerdings gleichgültig.

Hauptsache weg von hier!

Als nächstes fand sie sich in eben dieser Finsternis wieder, in der sie die letzten Monate zugebracht hatte. Man fesselte sie an Armen und Beinen mit widerstandsfähigen Strick und Lederbändern. So verharrte sie seither. Man kümmerte sich um ihre dringendsten Bedürfnisse und bearbeite sie mit seltsamen Geräten. Was das alles zu bedeuten hatte und wer dafür verantwortlich war, wusste sie nicht. Wollten sie ihr einfach nur ihr Kind nehmen, sobald es da war, oder steckte noch mehr dahinter? Auch das wusste sie nicht und sie würde es möglicherweise auch nie erfahren. Nach endlosen Versuchen, sich ihrer Fesseln zu entledigen und pausenlosen Schreien in die Dunkelheit hatte sich die Frau ihrem Schicksal ergeben. In all der Zeit wuchs ihr Bauch zu einer beachtlichen Größe heran.

Und heute war es endlich so weit.

Die Fruchtblase war geplatzt.

In den letzten Wochen verspürte sie bereits die ersten Wehen. Diese waren annähernd schmerzlos. Sie kannte es bereits von der Geburt ihrer Tochter. Sie kündeten das bevorstehende Ereignis an und sollten den Körper auf das Kommende vorbereiten. Etwa zur gleichen Zeit beginnt der Fötus in der Gebärmutter herabzusinken. Seit dem Platzen der Fruchtblase spürte sie jedoch regelmäßig Schmerzen. Die Phase der Latenz lag damit hinter ihr und der Hauptteil konnte beginnen.

“Der Muttermund hat sich geöffnet”, hörte sie eine der Gestalten sagen.

“Ruhig atmen, Weib!”, befahl eine andere Gestalt.

Das war leichter gesagt als getan. Wie sollte ein Mann jemals in der Lage sein, die Pein einer Geburt nachzuvollziehen?

Diese unvorstellbaren Schmerzen ließen die Frau in eine Art Trance verfallen. Ihr Körper begann damit, Hormone auszuschütten, welche ihre Schmerzen betäubten. Instinktiv begann sie durch eine bestimmte Atemtechnik die Reise des neuen Erdenbürgers aus ihrem Körper hinaus in diesen dunklen Raum zu beschleunigen.

“Ich kann den Kopf sehen!”, verkündete die erste Gestalt.

Lange konnte es nicht mehr dauern.

Ermutigt vom nahenden Ende ihrer Qualen, setzte die Frau ihre Anstrengungen fort.

Ihr wurde so unfassbar heiß. Als ob die Tore der Hölle in ihrem Körper aufgestoßen wurden. Daran konnte sie sich nicht erinnern. Bei der Geburt ihrer Tochter fühlte sie nichts der Gleichen. Das konnte nicht normal sein! Diese absurde Hitze strahlte von ihrem Bauch aus und es war ihr, als kochte sie ihre Eingeweide. Sie fühlte sich, als ob sämtliches Blut in ihrem Körper verdampfte. Die Finsternis vor ihren Augen färbte sich allmählich blutrot mit jeder Sekunde, die verstrich. Sie spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Ich brenne, dachte sie. Ich brenne! Bald darauf wurde ihr die Gnade der ewigen Stille zuteil.

 

Belanor torkelte durch die Gassen von Vanitas. Sein Magen rebellierte angesichts dessen, was der Elf einen Moment zuvor gesehen hatte. Er suchte Halt an einer Hauswand, während er sich an ihr Fundament übergab. Als Soldat sah er bereits viele Leichen, doch noch nie jemanden, der ihm wirklich etwas bedeutet hatte. Der Schock und der Schmerz suchten ihres Gleichen. Niemals hatte ihn der Verlust eines Kameraden so sehr getroffen, wie jetzt Sandra leblos und geschändet in ihrem eigenen Bett vorzufinden.

Verzweiflung paarte sich mit Wut.

Belanor wusste nicht, ob er traurig sein oder sich dem Zorn hingeben wollte.

Neugierig verfolgte das Stadtvolk die unbeholfenen Gehversuche des Elfen. Ein Mitglied des Adelsstandes, vermeintlich volltrunken durch die Gassen von Vanitas schlingern zu sehen, war für sie die reinste Komödie. Ausgelassen pusteten einige von ihnen los. Ihr Gelächter war Belanors grausames Geleit. Sie schürten die finstersten Gedanken in seinem tiefsten Inneren.

Diese lachenden Hyänen sollten gefälligst schweigen.

Er hielt es nicht mehr aus!

Ohne eine Vorwarnung stürzte sich der Elf auf einen der lachenden Stadtbewohner, riss ihn zu Boden und begann damit, seinen Zahnstatus nachhaltig zu beeinflussen.

Schlag um Schlag von zur Faust geballten Händen regneten auf den Mann nieder.

“Sie ist tot!”, brüllte Belanor. “Begreifst du?! Sie ist tot!”

Während der Mann nicht wusste, wie ihm geschah, verging den anderen das Lachen. Die Heiterkeit machte dem Entsetzen Platz, als das Gesicht des Mannes mit jedem Treffer neue Verletzungen dazu gewann und Belanors Hand allmählich eine rote Farbe annahm.

“Hey! Aufhören!”

Mehrere Stadtwachen eilten zum Schauplatz der Gewaltorgie.

Passanten hatten sie aufmerksam gemacht.

Zwei Soldaten packten Belanor und zerrten ihn von seinem schwer verletzten Opfer weg.

“Lasst mich los!”, befahl er ihnen.

Die Stadtwachen ließen sich jedoch nicht von seinen Worten beeindrucken. Genauso wenig von seinem Status, als ihnen endlich bewusst wurde, wen sie vor sich hatten. Es war auch völlig egal. Jeder Bürger des Kaiserreich genoss ein gewisses Maß an persönlichen Rechten. Selbst mit einem Menschen konnte man als Elf nicht verfahren, wie man beliebte, wenn dieser kein Unfreier war. Niemandem war es gestattet, einen anderen auf offener Straße zusammenzuschlagen und so die öffentliche Ordnung zu erschüttern. Nicht einmal einem Diplomaten. Darum führten die Männer Belanor trotz Protesten, unentwegten Hinweisen auf seine Autorität und gegen sie gerichtete Aggressionen ab.

Der Elf fand sich alsbald im Kerker von Vanitas wieder.

 

Die große Wüste lag endlich hinter ihnen. Nach einer langen und beschwerlichen Reise ließen sie endlich das endlose Sandmeer hinter sich. Die Grenze zu Aschfeuer war nicht mehr weit. Morgen würden sie Argentoile, eine Handelsstadt am Pass zwischen Kalifat und Kaiserreich, in der tagtäglich unzählige Händler ein und aus gingen, erreichen. Jetzt hatte sie allerdings das Dunkel der Nacht verschlungen. Es war Schlafenszeit und die Mitglieder der Karawane hatten ihre Zelte aufgeschlagen. Ebenso befanden sich Nebula und ihre Gefährten bereits in den Federn. Da die Zelte dank des überraschenden Zuwachs der beiden Fremden aus dem Osten erneut Mangelware waren, mussten sie aufgeteilt werden. Clay und Cerise bekamen natürlich ihr eigenes Zelt. Beide nutzten die Nacht, um sich von den Strapazen des Tages - hauptsächlich der letzten anstrengenden Stunden Zweisamkeit - zu erholen. Aki wurde indes von Toshiro bewacht, obwohl sie eigentlich seine Leibwächterin war. Längst hatte sie ihre Verletzungen überstanden und trotzdem wollte der Oji seine Kunoichi nicht aus den Augen lassen. Auch Henrik und Nebula nächtigten gemeinsam in einem Zelt. Damit niemand auf dumme Gedanken kam - hauptsächlich ein gewisser Perversling - bestand Nebula darauf, dass Annemarie als Anstandsdame zwischen ihnen schlief.

Und wie sie schlief... Wie ein Stein!

Unbestimmte Zeit später schlug Nebula die Augen auf. Irgendetwas verwehrte ihr die Ruhe, welche sie eigentlich dringend benötigte. Schlaftrunken setzte sie sich auf und schielte auf ihre in den Schlafsack eingehüllte Beine. Erst langsam fuhr ihr Geist zu seiner vollen Leistungsfähigkeit an. Auf einmal bemerkte sie, dass sie ganz allein im Zelt war. Sowohl Annemarie als auch Henrik schienen abwesend zu sein. Wo sind sie?, überlegte Nebula.

Der unwiderstehliche Drang, ihren Verbleib zu ergründen, ließ sie aufstehen, obwohl sie eigentlich weiter schlafen wollte.

Ihr geliebtes Nachthemd kam zum Vorschein, als sie sich aus dem Schlafsack befreite.

Barfüßig trat sie aus dem Zelt.

Die anderen Zelte waren ebenfalls verschwunden. Sie war ganz allein.

Hier stimmt etwas nicht, erkannte Nebula.

Aus Mangel an Optionen beschloss sie weiter diesem seltsamen Gefühl zu folgen. Es führte sie vorbei an dem Lagerplatz, hinaus in einen dichten Wald. Meterdicke Bäume erhoben sich bis fast in den Himmel. Sie konnte den Waldboden unter ihren nackten Füßen spüren. Feuchtes Moos schmiegte sich an sie.

Dichter Nebel hing zwischen den Baumstämmen wie Spinnweben auf einem Dachboden.

Aus der dichten Suppe kam ihr jemand entgegen.

Es war Annemarie.

“Was machst du hier?”, fragte Nebula das Kind.

“Ich muss dir etwas zeigen”, antwortete sie und nahm die Blondine an die Hand.

In der Ferne sahen sie eine Lichtung mit einem merkwürdigen Steinkreis in ihrem Zentrum. Gruseliger Bodennebel verhüllte alles. Von ihr gingen entsetzliche Schreie aus.

“Wer schreit da?!”, entfuhr es Nebula.

“Das muss ich dir zeigen.” Annemarie reichte ihr die Hand.

Selbst wenn ihr Instinkt ihr mitteilte, sie solle nicht näher kommen, hörte sie nicht darauf und tat stattdessen das genaue Gegenteil. Sie ergriff die Hand des Mädchens und ließ sich führen. Langsam erschienen die Konturen einer Person, welche über etwas gebeugt schien. Sie hielt einen Gegenstand in einer Hand, der wie ein Beil aussah, und bewegte ihn unentwegt auf und ab. Mit der anderen stützte sie sich ab.

Die Schreie intensivierten sich mit jedem Hieb.

Unbeirrt stießen Annemarie und Nebula weiter vor.

Sie passierten einen der Steine und der dichte Dunst gab den Blick auf das Geschehen frei, ohne die Gesichter der Anwesenden zu enthüllen. In der Mitte des Steinkreises stützte sich die Gestalt auf einen Opferaltar. Auf diesem lag eine weitere Person, welche von der anderen pausenlos mit dem in Blut getränkten Hackebeil traktiert wurde. Ihre unteren Extremitäten waren bereits in saubere kleine Portionen zerkleinert worden. “Hilf mir!”, flehte sie unter Qualen und reichte nach Nebula aus.

Eine männliche Stimme.

Noch bevor sie aussprechen konnte, was ihr auf der Zunge lag, lichtete sich die gruselige Suppe endgültig und die Prinzessin konnte nun erkennen, um wen es sich handelte. Der Mann auf dem Altar, welcher gerade zerstückelt wurde, war niemand geringerer als Henrik. Und die Person, die ihm das antat, sah aus wie sie selbst, gehüllt in ein scharlachrotes Kleid. Entsetzt trat Nebula einen Schritt zurück. Dabei bohrte sich ein spitzer Stein in ihre Ferse und brachte sie zu Fall. Sie fing den Sturz mit ihren Händen ab und starrte verängstigt auf die Szenerie vor ihr.

“Was machst du schon hier?”, fragte ihr Ebenbild unschuldig, als sei es das normalste auf der Welt den eigenen Freund zu zerstückeln. “Ich bin doch noch gar nicht fertig!”

Schreiend richtete sich Nebula auf. Der Stoff ihres Nachthemd klebte nass von Schweiß an ihrer Haut und ihre Atmung war stark beschleunigt. Sie benötigte einen Moment, um zu realisieren, dass sie sich noch immer im Zelt befand und all dies nur ein böser Traum war.

“W-Was ist passiert?!”, schreckte Henrik auf. “Hast du schlecht geträumt?”

Nein, ich mache esoterische Atemübungen, Trottel!

Das hätte sie gesagt, säße ihr der Schreck nicht noch immer in den Knochen. Der Anblick ihres imaginären bösen Zwillings, welcher eines der wenigen Dinge zerstörte, die ihr wirklich etwas bedeuteten, ließ ihr das Blut gefrieren. Der Sinn dieses Traums erschloss sich ihr nicht. Wieso quälte sie ihr Unterbewusstsein mit solch schrecklichen Bildern? War das wirklich nur ihre Angst vor zwischenmenschlichen Beziehungen?

Henrik sah seine Herzensdame frösteln und kroch aus seinem Schlafsack heraus, um ihr Wärme zu spenden. Er trat um die Schlafgelegenheiten herum, hockte sich neben sie und bildete mit seinen Armen eine Mauer, in dem er sie von hinten umarmte. Hinter diesem Wall konnte sich Nebula vor ihrer Angst verstecken. “A-Alles ist gut!”

Und trotz all dem Tova Bova schlief Annemarie einfach weiter.

 
 

🌢

 

Die klimatischen Bedingungen am Pass zwischen Yjasul und Aschfeuer waren wesentlich erträglicher, als es in der Wüste der Fall war. Zwar war es noch immer sehr warm, allerdings nicht mehr brütend heiß. Inzwischen sah man Gräser, Büsche und Sträucher eine Savanne bilden, durchzogen von Baumgruppen. Zypressen und Pinien widerstanden dem trockenen Boden und beschenkten das Auge des Reisenden mit ein wenig Grün.

Die Konturen von Argentoile zeichneten sich bereits in der Ferne ab.

Seit dem frühen Morgen war die Karawane wieder unterwegs.

Die Sonne stand inzwischen im Zenit.

In vielleicht zwei Stunden würden sie die Stadttore erreichen.

Schlaftrunken und schweigsam ließ sich Nebula von einem Kamel tragen, während sie auf dem Rücken des Tieres lag. Ihr war es definitiv immer noch zu heiß, selbst wenn alle anderen meinten, dass sie übertrieb. Und dieses dämliche Kopftuch half auch nichts! Sie nutzte ihren Durchhänger, um sich von ihrem Albtraum letzte Nacht zu erholen.

Henrik und Annemarie gingen neben ihr her.

Während sein Schimmel den Wagen mit Carolines Sarg zog, saß Clay ebenfalls auf einem Kamel. Hinter ihm hatte es sich Cerise bequem gemacht. Mit Vergnügen hielt sie sich an seinem muskulösen Körper fest, selbst wenn sie das eigentlich nicht nötig hatte. Sie schmiegte sich mit Wonne an ihn an. Der gut gebaute Schwarzhaarige war ihrem Kuschelbedürfnis nicht abgeneigt.

Etwas weiter abseits folgten Aki und Toshiro dem Tross.

“Gestattet mir, meine Bedenken zu äußern, Oji-sama”, eröffnete die Schwarzhaarige. Sie musste etwas Wichtiges mit ihrem Herren besprechen.

“Sage ich dir nicht schon seit Jahren, du kannst mich beim Vornamen nennen?”, erinnerte der Blonde, wie schon unzählige Male zuvor. “Nenne mich Toshiro!”

“Wie Ihr wollt, Toshiro-sama.”

“Einfach nur Toshiro...”

Es folgte keine Reaktion der Kunoichi.

“Fahre bitte fort. Du wolltest etwas sagen.”

“Es geht um diese Frau.”

“Du meinst Nebula?”

“Sie ist gefährlich! Bitte haltet Euch fern von ihr.”

Toshiro sah zu der auf dem Kamel schlafenden Frau einige Meter vor ihnen. “Sie mag furchteinflößend sein. Doch der Feind ist es ebenfalls. Sie könnte uns eine wertvolle Verbündete sein. Sie und ihre Leute besitzen große Macht und sind starke Krieger.”

“Toshiro-sama, ich muss Euch beschützen. Das ist meine Aufgabe und dafür lebe ich. Diesem Weib zu folgen, halte ich für keine gute Idee.”

“Sind wir nicht geflohen, um neue Verbündete zu finden?”

“In erster Linie sind wir geflohen, damit Ihr nicht getötet werdet. Wenn Ihr Euch nun unnötig der Gefahr aussetzt, werdet Ihr vielleicht doch noch sterben.”

“Was schlägst du vor, Aki?”

“Sobald wir in Argentoile angekommen sind, sollten wir uns von ihnen trennen!”

“Das werden wir nicht tun!”

“Aber Toshiro-sama- !”

“Nein! Ich bin nicht hier, um mich zu verstecken! Mein Vater - nein, mein Volk - zählt auf mich! Ich muss meinen Clan retten. Das schaffe ich nicht allein!”

Die Augen des jungen Prinzen unterstrichen seine Überzeugung.

Akis Verwunderung war groß. Für gewöhnlich agierte ihr Schutzbefohlener nicht so besonnen. Sie dachte, er wolle sich einfach wieder ohne Rücksicht auf Verluste in den nächsten Kampf stützen. Vielleicht sogar das Teufelsweib zum Duell herausfordern. Oder noch waghalsiger: zu versuchen, ihr den Hof zu machen. Denn wenn er etwas noch mehr liebte als den Kampf, dann waren es die Frauen. Doch offenbar hatte er von Anfang an andere Motive. “Dennoch kann ich das nicht gutheißen!”

“Ein Glück, dass ich der Prinz bin und du meinen Befehlen zu folgen hast!”

“Natürlich werde ich tun, was Ihr verlangt, Toshiro-sama.” Dies allerdings unfreiwillig. Und sie würde nicht müde werden, ihre Bedenken mit ihrem Meister zu teilen. “Dennoch macht Ihr es mir nicht gerade leicht.”

“Du bist stark. Du wirst das schon schaffen!” Sorglos verschränkte Toshiro seine Arme hinter dem Kopf und begann zu pfeifen. “Mögen uns die Götter hold sein!”

Und da war er wieder!

Der unverbesserlich sorglose Prinz. Am Tag seiner Geburt musste sie seinem Vater mit zarten fünf Jahren schwören, ihn unter Einsatz ihres Lebens zu beschützen. Sie musste seiner Entscheidung folgen. Als seine Leibwächterin stand es ihr nicht zu, ihn zu irgendetwas zu zwingen. Sie musste darauf vertrauen, dass er irgendwann von selbst die Erkenntnis erlangte, dass dieses Teufelsweib Gefahr bedeutete, und er endlich zur Vernunft kam.

Bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Aufgabe unter diesen widrigen Umständen so gut zu erfüllen wie möglich.

 

Belanor saß in sich zusammengesackt auf der Pritsche der Kerkerzelle, in die er nach seinem Gewaltexzess von der Stadtwache geworfen wurde. Seine Ellbogen lasteten auf seinen Schenkeln, während seine Finger tief in seinen zerzausten Haaren vergraben waren. Die Augen fixierten starr einen willkürlichen Punkt am Zellenboden. Der Diplomat verharrte so ohne jegliche Bewegung. Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nur grob abschätzen. Vielleicht ein paar Stunden? Um ehrlich zu sein, interessierte es ihn wenig. Tief im Inneren des Verließ strahlten die Wände aus schwarzem Basaltgestein die Wärme des Magmasees ab. Aber die Kälte des Schocks saß zu tief in den Knochen Belanors, als dass diese Wärme es vermochte, ihm ein wenig Linderung zu verschaffen. Seine Gedanken wurden unentwegt vom Bild seiner Geliebten und dem, was man ihr angetan hatte, heimgesucht und kreisten um die Frage, womit Sandra das verdient hatte.

Dennoch war dies keine Entschuldigung dafür, das Gesicht eines freien Mannes zu Brei zu schlagen. Das war dem Schwarzelf bewusst.

Sicherlich würde er schon bald wegen seiner Tat von der Stadtwache verhört werden.

Zeit hatte für ihn die Bedeutung verloren. So war es auch unklar, ob die Kerkertür wirklich einen Moment nachdem sich der Gedanke daran formte, aufgestoßen wurde oder ob noch einmal Stunden dazwischen vergangen waren.

Ausdruckslos sah Belanor zu dem Mann, der an die Gitterstäbe herantrat.

“Ich fiel bald aus dem Stuhle, als mich die Kunde erreichte”, sprach ein überaus verwirrter und ebenso enttäuschter Alaric. Der zweite Prinz von Aschfeuer erkannte den geschickten Diplomaten nicht mehr wieder. “Ihr sollt auf der Straße einen Passanten halb tot geprügelt haben, meinten die Büttel.” Der Elf vor den Gittern sah den dahinter perplex an. “Ich wollte es nicht glauben, bis ich Euch hier drinnen sah. Gleich nach Eurer Heimkehr auf der Straße eine Schlägerei anzufangen, sieht Euch nicht ähnlich. Was ist in Euch gefahren?”

“Sie ist tot!” Plötzlich starrte Belanor den Prinzen an und riss die Augen weit auf. “Ermordet! Habt Ihr verstanden?! Ermordet!”

“Wer wurde ermordet?”

“Das einzige, was ich geliebt habe.”

Alaric war klar, dass damit nicht seine Schwester gemeint sein konnte. Zum einen hatte er sie vor einer halben Stunde noch gesehen und zum anderen wurde hinter vorgehaltener Hand schon lange über den Zustand der Ehe Lezabels getuschelt. Zwar machte er sich nichts aus dem Geschwätz in den Gängen und Gassen, doch jedes Gerücht beinhaltete stets einen Funken Wahrheit. “Eure Geliebte?”, schloss er aus seinen Überlegungen.

“Sandra!”, schrie Belanor gequält auf. “Geschändet hat man sie!” Danach sank er zusammen und begann entsetzlich zu weinen. “So blau!” Wortbrocken unterbrachen seine Qualen. “Ich habe noch nie so einen blauen Hals gesehen!”

“Mir ist klar, wie sich das anhören muss”, eröffnete Alaric, “aber vielleicht solltet Ihr Euch beruhigen und ganz von vorn beginnen. Sonst kann ich Euch nicht helfen.”

“Womit wollt Ihr helfen, Hoheit?!”, wehklagte der inhaftierte Botschafter.

“Ich kann alles in meiner Macht stehende tun, damit ihr Gerechtigkeit widerfährt."

“Sie ist tot! Keine Gerechtigkeit der Welt wird das ändern!”

“Aber ich kann den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen!”

Belanor sammelte sich und atmete tief ein, als versuchte er mit der Luft die Stärke einzusaugen, die er für das Kommende benötigte. “Als ich von meiner Reise in den Palast zurückkehrte, erwartete mich schon Eure Schwester. Die Fahrt war anstrengend aber diese Hexe hatte nichts besseres zu tun, als sich an mich ranzuschmeißen, also leistete ich ihr Beischlaf, damit sie nicht wieder Streit anfängt.”

Den Zustand dieser Ehe als “zerrüttet” zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Alaric machte es traurig. Als Lezabel den Botschafter heiratete, hatte er seiner Schwester das Glück gewünscht. Er glaubte, es wäre Balsam für ihre Seele und vielleicht täte sie irgendwann ihren Hass auf die Menschen und die ganze Welt vergessen. Welch ein naiver Idiot er doch war. So funktionierte das einfach nicht…

“Ich wartete, bis sie schlief und stahl mich davon. Danach bin ich in die Vorstadt gegangen und habe das Haus von Sandra besucht.”

Den Schwur seiner Frau gegenüber zu verraten, sei ihre Beziehung noch so kaputt, widerte Alaric an. Ein ehrloses Verhalten sondergleichen! Ein hinterhältiger Verrat an Lezabel und mindestens genauso schändlich dieser anderen Frau gegenüber, die für die Fleischeslust Belanors herhalten musste. Keine von ihnen hat das verdient! Aber Alaric wusste, dass ihn seine Ansichten nur stören würden. Und es stand ihm eigentlich auch nicht zu, über etwas zu urteilen, wovon er die Einzelheiten gar nicht kannte. Ginge es nicht um die Familie, würde er es ganz bestimmt auch nicht tun.

Er musste sich davon befreien.

Es gab immerhin einenMord!

“Die Tür stand offen. Das machte mich stutzig. Ich betrat das Haus und dachte, dass sie vielleicht schon im Bett auf mich wartete…” Belanor verließ die mentale Stärke wieder. Er sackte zusammen und legte das Gesicht in die Handflächen.

“Und dann?”

“Das tat sie auch…”, brachte der Diplomat weinend hervor.

“Wie habt Ihr sie aufgefunden?” Alaric beobachtete sein Gegenüber. Der Verlust seiner Geliebten hatte ihn sichtlich getroffen. Es waren wohl doch keine leeren Worte gewesen. Ihn voreilig zu verteufeln war falsch. Offenbar teilten die zwei etwas, was er für Lezabel nicht oder nicht mehr empfinden konnte. Aber hätte er nicht die Scheidung verlangen können, anstatt Lezabel hinter ihrem Rücken zu betrügen? Alaric spürte Mitleid ins sich aufkeimen Die Gedanken von eben taten leid. Genauso das er ihn jetzt ausquetschte, wie eine reife Frucht. Doch es musste sein…

“Sie lag auf dem Bauch”, antwortete Belanor unter seelischen Qualen. “Man hatte sie erwürgt. Und man hatte noch mehr mit ihr getan. Allein beim Gedanken daran verlangt es mir danach, das Dreckschwein zu vierteilen, was dafür verantwortlich ist!”.

“Rein vom Gesetz her ließe sich das einrichten”, meinte Alaric nachdenklich. “Aber warum habt Ihr einen Unbeteiligten attackiert?”

Belanor riss sein Haupt empor. “Weil ich das Lachen nicht mehr ausgehalten habe!”

“Das Lachen?”

“Als ich Sandra… gefunden habe, traf es mich wie ein Schlag. Ich lief orientierungslos durch die Straßen und habe mich bestimmt auch übergeben.”

“Das war der Schock. Ihr müsst einen Eindruck gemacht haben. Der Pöbel hielt Euch bestimmt für besoffen. Hat der Mann deshalb gelacht?”

“Nicht nur er! Alle haben gelacht! Es war, als lachten sie über Sandra!”

“Ich verstehe…”

“Gar nichts versteht Ihr!” Belanor stießen die Worte des Prinzen sauer auf. ”Oder hat man Eure Geliebte zu Tode vergewaltigt?!” Wie konnte er es wagen, zu behaupten, dass er ihn verstehe? “Gar nichts versteht Ihr!”

“Ich rede mit der Stadtwache und lasse das Nötige veranlassen. Unter diesen Umständen müsst Ihr mitnichten in diesem Loch verrotten. Ich werde mich für Hausarrest und einen nachsichtigen Richter einsetzen.”

“Und was soll das bringen? Wofür soll ich jetzt noch leben?”

“Ein Verlust ist niemals leicht und es wird nicht aufhören wehzutun. Aber mit der Zeit wird es immer weniger schmerzen.” Alaric wusste, dass er nicht mitreden konnte. Er erinnerte sich kaum an seine Mutter, aber er sah, was ihr Verlust aus seinen Geschwistern gemacht hatte und das genügte ihm, um alles zu versuchen, dass Belanor sich nicht dem Hass und der Gewalt ergab.

“Lasst mich allein!”, forderte Belanor. “Ich habe genug!”

Alaric spürte, dass jedes weitere Wort vergebens wäre. Er trat wortlos von den Gitterstäben weg und verließ den Kerker. Hinter ihm schoben die Wachen die massive, eisenbeschlagene Tür zu und der Diplomat war wieder allein mit seinem Kummer.

 

Hinter dem Pass nach Yiasul befand sich die Handelsstadt Argentoile. Die mediterrane Landschaft dominierte hier und man würde kaum glauben, im Kaiserreich Aschfeuer zu sein, könnte man nicht am weit entfernten Horizont die Aschesäule des Elendsschlund erspähen, wie sie unheilschwanger in den Himmel aufstieg.

Die Stadt stand Nebula und ihren Begleitern offen, nachdem sie getarnt als Händler aus der Wüste eingedrungen waren. Es stellte sich als überraschend einfach heraus, in den Massen unterzutauchen. In einer großen Gemeinschaft kümmerten sich die wenigsten um einander, geschweige denn um Fremde aus dem Morgenland, die nur kamen, um ihre Geschäfte zu tätigen und danach wieder zu verschwinden. Aber die Gleichgültigkeit der Bewohner von Aschfeuer kam ihrer Sache zu Gute, also konnte sie es getrost mit Gleichgültigkeit ihrerseits beantworten.

Nebula fühlte sich wie befreit, da sie endlich das ungeliebte Kopftuch gegen ihren wohl vertrauten Kapuzenmantel eintauschen konnte.

Sie befanden sich nun offiziell im Feindesland. Aus diesem Grund wollten sie kein Risiko eingehen, aufzufallen. Daher teilten sie sich auf und mieteten sich in unterschiedliche Herbergen ein. Argentoile war groß genug, so dass sie zahlreich vorkamen.

Natürlich bezogen Clay und Cerise ein Zimmer. Der Schwarzhaarige hatte vorgeschlagen, Annemarie mitzunehmen. In Anbetracht ihrer Haarfarben könnten sie die kleine locker als ihre Tochter ausgeben, ohne dass jemand Fragen stellen würde. Die fehlenden Spitzohren wären auch nicht weiter schlimm. Wenn Mischblüter wie Cerise mit einem Menschen ein Kind zeugten, war es sehr wahrscheinlich, dass dieses Merkmal endgültig verloren ging. Cerises Ohren waren auch nicht mehr so spitz, wie es jene ihres elfischen Elternteils gewesen sein mussten. Natürlich gefiel es der Rothaarigen gar nicht, sich wegen des Kindes in Enthaltsamkeit zu üben.

Eigentlich hatten Nebula und Henrik geplant, sich als Geschwister einzumieten, doch der Herbergsbesitzer mutmaßte gleich, dass sie verheiratet waren. Warum passierte das immer wieder? War es wirklich so offensichtlich, das die Prinzessin den Schmied heimlich nachsah, wenn niemand darauf achtete? Nein, quatsch! Das tat sie gar nicht!

Aki und Toshiro hingegen konnten nicht verbergen, dass sie aus weiter Ferne kamen. Ihre mandelförmigen Augen und die akzentuierten Wangenknochen verrieten ihre fernöstliche Herkunft. Stattdessen entschieden sie sich dafür, sich gar nicht zu verstellen. Toshiro trat als Adliger auf und stellte seine Leibwächterin als seine Konkubine vor. Aki spielte wenig begeistert ihre Rolle.

Das konnte wahrlich nur auf Toshiro-samas Mist gewachsen sein!

Nachdem auch die Unterbringung ihrer sieben Sachen geregelt war, beschloss die Kerngruppe, sich rein zufällig auf einem der Märkte über den Weg zu laufen und gemeinsam zu erkunden, was die Stadt ihnen zu bieten hatte. Sofort zog es die kriegerisch veranlagte Prinzessin zum nächsten Waffenstand. Zwar benötigte sie nichts, aber einfach mal gucken war nicht verboten. In dem Punkt war sie wohl ganz klischeehaft weiblich, auch wenn es ihr mehr das Schwert als der Schuh angetan hatte. Sie entdeckte ein schönes Stück und ließ es sich herüberreichen. Verspielte Gravuren durchbrachen die Reflektion des Sonnenlicht. Dieses Schwert war eindeutig für den Schaukasten geschaffen worden.

Plötzlich schoss ein dunkler Schatten über den gepflasterten Boden des Marktes und verstörte Jauchzer ertönten. Sofort blickten Nebula und die anderen gen Himmel und entdeckten den Verursacher. Ein Drache war soeben über die Stadt geflogen. Das schuppige Ungetüm schien ein kleines Dorf etwa einen halben Tagesmarsch entfernt anzusteuern. Nebula ahnte nichts Gutes.

 
 

🌢

 

Der beißende Geruch der noch immer züngelnden Glut brannte in ihren Lungen. Von weitem konnte man schon die Rauchsäulen aufsteigen sehen. Obwohl sie sich sofort zum Ort des Geschehens aufmachten, nachdem das schuppige Ungetüm über ihre Häupter hinweg gesegelt war, erreichten sie das Dorf erst viele Stunden später. Zu spät, um noch etwas ausrichten zu können.

Die Überreste der Gebäude gaben ihrem eigenen Gewicht nach.

Wo man hin sah, pflasterten bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichen die schlammigen Gassen und Pfade.

Überall stank es nach verbranntem Fleisch und Tod.

Geschockt sahen Nebula und ihre Begleiter, was von dem einst lebendigen Dorf übrig geblieben war. Der Drache war natürlich schon seit Stunden fort. Eine Spur der Verwüstung war das Einzige, das die Kreatur hinterließ.

“W-Was ist hier bloß passiert?”, machte sich Henrik Luft.

“Der Drache hat hier alles abgefackelt”, stellte Nebula fest.

“Ist auch schwer zu übersehen”, kommentierte Cerise.

“Mir wird übel”, gestand Clay ein. Die Gerüche an diesem Ort waren für ihn und seine Nase zehnmal schlimmer als für die anderen.

“Warum w-wurde das Dorf a-angegriffen?”, grübelte Henrik.

“Vielleicht wurde es ihm befohlen”, mutmaßte Clay.

“Im Trüben stochern bringt uns auch nicht weiter!”, merkte Nebula an. “Lasst uns die Trümmer durchsuchen. Vielleicht finden wir da Antworten.”

Angesichts der schrecklichen Anblicke, die dieser Ort für sie bereithielt, war es eine weise Entscheidung gewesen, Annemarie bei Toshiro und Aki zu lassen. Grausam verstümmelte Leichen sind nichts, das man einem Kind zeigen sollte.

Die Gruppe verteilte sich und begann, die Überbleibsel der Siedlung auf Links zu drehen.

Cerise und Henrik hockten jeweils über einem Trümmerhaufen und gruben sich durch die Fragmente. Als er ein Brett zur Seite räumte, erschrak Henrik. Eine kleine, von Ruß bedeckte Hand war darunter zum Vorschein gekommen. “Oh mein Gott!”, rief er aus. Dass auch Kinder bei diesem Angriff ums Leben gekommen sein mussten, war logisch, aber erst jetzt wurde es ihm schmerzlich bewusst.

Clay und Nebula konnten ihre große Kraft dazu verwenden, schwere Balken und Mauerwerk beiseite zu räumen. Was war das? Nebula vernahm ein schwaches Rufen. “Hilfe!” Das hatte sie sich doch nicht eingebildet. Irgendwer war dort unten noch am Leben! Die Prinzessin setzte ihre Teufelskräfte ein, packte eines der großen Trümmerteile und warf es wie ein Spielzeug zur Seite. “Hilfe!” Diesmal war der Ruf lauter. Clays Ohren zuckten. Da er selbst mächtig Lärm erzeugte, hatte er es erst jetzt gehört. Sofort begab er sich zu der Ruine, an der sich Nebula zu schaffen machte, und begann ebenfalls zu wühlen. “So helft mir doch!” Wer immer dort unten war, wurde hörbar immer schwächer.

“Cerise! Henrik”, rief der Jägersmann. “Kommt mal her. Da unten ist wer!”

Sofort ließen die Angesprochenen alles stehen und liegen und eilten ebenfalls zur Hilfe.

Alle vier stemmten und buddelten, bis sie einen Hohlraum freigelegten. Er war kaum groß genug, dass jemand hockend darin Platz finden konnte. Verzweifelt reckte eine Frau ihren Kopf durch die Öffnung und saugte die Luft ein, von der sie eben noch viel zu wenig hatte. Sie war sehr geschwächt. Mit Mühe hielt sie sich am Leben fest.

“Alles wird gut”, versuchte Clay auf sie einzureden. “Wir holen Euch da raus.”

“Nehmt es!”, brachte die Frau aus ihren verrußten Lungen hervor.

“Was sollen wir nehmen?”, versuchte Nebula zu ergründen.

Die Frau machte eine streckende Bewegung und reichte ihnen ein mit Tüchern umwickeltes, zappelndes Bündel. Henrik nahm es entgegen. Umgehend begann das Etwas zu schreien. Es handelte sich um einen Säugling. Das Kind war etwas schmutzig, aber sonst in gutem Zustand, in Anbetracht verschüttet worden zu sein. Die Frau musste es vor den herabfallenden Trümmerteilen beschützt haben. Erstaunt sah Henrik erst zu Nebula, dann zu den anderen und schließlich wieder zu der Frau.

“Ein Kind?”, staunte Nebula.

“Lescar”, bettelte die Frau verzweifelt. “Br… Bringt ihn nach Lescar!”

“Was ist in Lescar?”, fragte Clay.

“E… Er muss dort… hin! Bitte! Er… muss…” Der Verschütteten schwanden endgültig die Kräfte und sie konnte sich nicht mehr halten. Sie begann wieder tiefer in das Loch hineinzurutschen. Geistesgegenwärtig packten Nebula und Clay jeweils einen Arm. Gemeinsam zogen sie die Frau heraus.

Ein malträtierter Körper mit schwersten Verbrennungen kam zum Vorschein. Durch die Reste ihrer Kleidung blitzten die mit Brandblasen übersäten, zerschmetterten, blutenden Beine hervor. Vorsichtig wurde die Frau auf den Rücken gelegt. Cerise hockte sich neben sie hin und begutachtete die Verletzungen. Ihrer Sprachlosigkeit entnahmen die anderen, dass es wirklich so ernst um die Fremde stand, wie es den Anschein hatte. Cerise wechselte zur oberen Hälfte und prüfte den Atem. Als sie diesen nicht mehr hören konnte, suchte sie einen Puls. Auch hier wurde sie nicht mehr fündig. Mit einem Kopfschütteln bereitete sie ihre gebannt auf sie schauenden Begleiter auf ihre Schlussfolgerung vor. “Die ist hinüber”, sprach sie nur, stand auf und entfernte sich von der Leiche.

Da konnte niemand mehr etwas machen.

Währenddessen hatte der Säugling in Henriks Händen aufgehört zu schreien. Stattdessen streckte er seine Arme aus und strahlte den Schmied freudig an. Babies waren so unschuldig. Der Kleine verstand gar nicht die Schwere der Situation. Fröhlich lächelte er, während seine Finder nicht wussten, was sie als nächstes tun sollten.

 

Bald sollte Belanor dem Haftrichter vorgeführt werden.

Das hatte ihm eine der Wachen mit Garfieldgrinsen im Gesicht mitgeteilt.

Er war noch immer nicht zu einem Schluss gekommen, ob der Mann ihn verhöhnen wollte, da ein Diplomat hinter Gittern kein alltäglicher Anblick war, oder nur ein paar Mal zu oft auf den Helm bekommen und nun nicht mehr alle Kerzen im Kronleuchter hatte.

Der Haftrichter konnte sich ruhig noch Zeit lassen.

Belanor wollte einfach nur seine Ruhe.

Hier unten im Kerker hatte er dir zu genüge!

Hinter diesen Gitterstäben befand sich sein eigenes kleines Reich der Finsternis, in dem er den Verlust des einzigen Lichts in seinem Leben beweinen konnte. Er war genügsam. Viel mehr als die harte Pritsche an der Wand und die stinkende Latrine in der Ecke benötigte er dazu nicht. Die meiste Zeit saß er sowieso nur herum und versuchte, den Anblick aus seinem Kopf zu bekommen, der sich tief in seine Seele eingebrannt hatte. Dieses Unterfangen war bisher von wenig Erfolg gekrönt.

Belanor vernahm, dass die schwere Tür zu den Verließen erneut aufgestoßen wurde.

Was wollte der Prinz schon wieder von ihm?

Geduldig wartete der Diplomat, bis die Person vor die Gitterstäbe trat.

Zu seiner Überraschung war es nicht Alaric, der sich vor ihm aufbaute. Stattdessen schritt Lezabel an die Kerkerzelle heran. Zwei Palastwachen begleiteten sie.

Überrascht sah Belanor seine Frau an.

“Mein liebster Gemahl, was habt Ihr nur angestellt”, sprach sie mit weicher Stimme.

Belanor war nicht klar, ob auch sie ihn verhöhnen wollte.

“Ihr wart so plötzlich verschwunden, als ich nach unserer gemeinsamen Nacht erwachte. Voll der Sorge habe ich nach Euch suchen lassen. Mein kleiner Bruder verriet mir, dass Ihr im Kerker sitzt. Ich wollte es nicht glauben.”

Sie muss sich wahrlich einen abbrechen, dachte Belanor. Die Rolle des besorgten Eheweibes zu spielen, war eindeutig zu viel des Guten. Es passte so gar nicht zu ihrem Charakter. Jetzt war er sich sicher, dass Lezabel ihn verhöhnte!

“Mein Bruder meinte, Ihr hättet in der Unterstadt eine Schlägerei angezettelt”, fuhr Lezabel aufgesetzt melodramatisch fort. “Aber warum tut Ihr das, wo Eure Waffe nicht die Faust, sondern die Zunge ist?”

Am liebsten würde er sie sofort anschreien. Doch er sorgte sich um das Bisschen, was ihm von seinem Ruf geblieben war. Die Etikette zu wahren war mindestens genauso wichtig wie sein Stolz. Darum entschied er, bei dem Spiel seines Eheweibes mitzumachen. “Wollen wir das wirklich besprechen, während fremde Ohren lauschen?”, fragte er und meinte offensichtlich die Palastwachen.

“Das sind taube Ohren”, meinte Lezabel. “Diese Männer hören nur Befehle.”

“Welche Gefahr fürchtet Ihr hier unten, dass Ihr sie mitbringt?”

“Sie würden mir selbst auf den Abort folgen, wenn sie könnten. Es sind treue Seelen, die nur ihre Pflicht erfüllen.”

“Wollt Ihr, dass sie Euren privatesten Geheimnissen lauschen?”

“Ihr habt so Recht, mein liebster Gemahl.” Lezabel gab ihren Begleitern ein Zeichen, woraufhin diese kehrt Marsch machten und durch die Kerkertür heraus marschierten. “Ihr seid so klug, darum habe ich Euch geheiratet”, sprach Lezabel währenddessen.

Belanor ging nicht auf ihre Heuchelei ein.

Die Tür fiel ins Schloss und sofort froren die Mimen auf den Gesichtern ein.

“Bist du fertig mit dem Theater?!”, beschuldigte Belanor seine Frau.

Lezabel lachte hexenhaft. “Als ich hörte, dass man Euch ins Loch geworfen hat, wollte ich es wirklich nicht glauben. Das musste ich mit eigenen Augen sehen.”

“Und? Gefällt Euch, was Ihr seht?”

“Wahrlich erquickend und labend!”

“Habt Ihr nun Eure Neugier gestillt? Dann tretet mir aus den Augen.”

Lezabel trat stattdessen näher an die Gitterstäbe heran. “Ich frage mich noch immer, was Euch so weit trieb, dass Ihr Euch am Pöbel vergeht.”

“Hat der Prinz es Euch nicht verraten?”

“Er meinte etwas davon, dass Ihr Eure wahre Liebe verloren hättet. Aber das kann doch gar nicht sein. Ihr habt mir Eure ewige Liebe geschworen und ich bin noch sehr lebendig.”

“Also hat er es Euch doch erzählt.”

“Aber Eure Worte sind so seltsam, Liebster.” Verhöhnte sie ihn oder glaubte sie tatsächlich, was sie da absonderte?

“Macht Euch nichts vor. Ihr wisst genau, dass zwischen uns längst keine Liebe mehr ist. Wenn ich Euch Beischlaf leiste, ist dies nicht mehr als Pflichterfüllung.”

“Ach so?”, erwiderte Lezabel in höchst ironischem Tonfall. “Und ich dachte, Euer wildgewordenes Herumgestocher zwischen meinen Schenkeln wäre nur Ausdruck Euer brennenden Leidenschaft. Aber nun wird mir einiges klar. Bei Euren anderen Pflichten strebt Ihr schließlich auch danach, so schnell wie möglich zum Abschluss zu kommen.”

“Wollt Ihr mich beleidigen?”, fragte Belanor rhetorisch.

“Ich?”, spielte Lezabel die Getroffene. “Nicht doch!”

“Beleidigt nicht meine Intelligenz, indem Ihr Euch dumm stellt.”

“Aber ist das nicht das, was ihr Männer wollt? Ein dummes Frauchen, dass Euch auf allen Ebenen unterlegen ist und zu Euch aufsieht, wie zu einem Gott?”

“Ich gehöre nicht zu diesen Männern!”

“Eine Schande! Solche sind mir die Liebsten. Sie sind am einfachsten zu manipulieren, weil sie aufgrund ihres riesigen Egos ihren winzigen Intellekt maßlos überschätzen.”

“Mit Verlaub, Ihr seid eine boshafte Hexe!”

“Ich mag ein Miststück sein, aber ich habe nie unseren Schwur verraten.”

Endlich hatte er sie soweit. Es war in der Tat nicht mehr als ein Schauspiel, das sie ihm vorführte. “Also wisst Ihr es doch.”

“Alle haben es gewusst!”, erhob die Prinzessin ihre Stimme. “Der ganze Hofstaat tuschelt darüber, wie Euer Glied sich andauernd in fremden Genitalien wiederfindet!” Lezabels Wut trieb ihr Zornesfalten in das sonst so glatte Gesicht. “Nur ich war die blöde Kuh, die sich vorgemacht hat, dass dies alles nur Gerüchte sind.” Auf einmal schlug ihre Mime in ein diabolisches Grinsen um. “Aber damit ist es jetzt vorbei!”

Schock zeichnete sich in Belanors Gesicht ab.

“Künftig werdet Ihr Euren Schwanz in der Hose lassen”, fuhr Lezabel fort.

“Was habt Ihr getan?!”, verlangte der Diplomat zu erfahren.

Lezabel beugte sich noch näher an die Gitter heran, bis ihr Gesicht das Eisen berührte. “Seid Ihr da noch nicht von selber drauf gekommen?”, verhöhnte sie ihren Gatten.

Belanor umklammerte die Gitterstäbe. “Was habt Ihr getan?!!”, schäumte er.

Lezabel zuckte zurück. “Zügelt Euer Temperament. Ich heirate einen Mann und keinen tollwütigen Kampfhund!”

“REDET!”

“Ich ließ Euch beschatten. Viel habe ich Euch zugetraut, doch was meine Spione mir berichteten, war unaussprechlich. Anstatt dass Ihr den Anstand habt, mich mit einer richtigen Frau zu betrügen, habt Ihr es mit diesem Menschlein getrieben. Da hättet Ihr genauso gut ein Schaf, ein Schwein oder sonst ein Hoftier ficken können.”

Wütend trat und schlug Belanor nach Lezabel, doch die Gitter hielten.

“Ihr wollt wissen, was ich tat?”, fragte sie ihn daraufhin. “Ich habe Euer kleinen Schlampe ein paar richtige Männer geschickt.”

“Nein!” Voll des Entsetzen stellte Belanor das Randalieren ein. “Das… wart Ihr?!”

Die Prinzessin genoss den Anblick, wie ihre Enthüllung sich in die Seele ihres Gegenübers fraß. Offenbar hatte er ihr das nicht zugetraut. Seine Realisation, dass sie hinter Sandras Ableben steckte, war zu köstlich. Wohltuender als ein Bad in warmer Milch. Er musste es einfach erfahren, damit er noch mehr leiden konnte. Sonst wäre es nicht halb so befriedigend. “Ich habe die Männer handverlesen, die Eure kleine Schlampe totgefickt haben! Ich trug ihnen auf, jede einzelne ihrer Öffnungen zu stopfen. Und sie haben ihre Aufgabe zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt.” Lachend genoss Lezabel ihren Triumph über den untreuen Gatten. Sein Schmerz war die gerechte Strafe für seinen Ehebruch. “Gefesselt hat man sie und dann geschändet. Am Anfang soll sie noch Euren Namen gerufen haben. Aber als einer ihr seinen Schwanz in den Mund geschoben hat, war endlich Ruhe! Dann soll sie nur noch geheult haben, während man es ihr besorgt hat.”

“Ihr grausames Miststück!”, schrie Belanor. “Ich werde Euch den Hals umdrehen!” Erneut ging er auf die Gitter los. “Man sollte mit Euch das Gleiche machen! Euch solange vergewaltigen, bis es Euch oben wieder herauskommt!”

Amüsiert kicherte Lezabel. “Wie ein cholerischer Vogel in seinem Käfig”, lachte sie. Ihr gefiel, wie er sich wand, dieser Wurm. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Ein herrlicher Anblick! “Mir den Hals umdrehen?”, fragte sie anschließend. Provokant kam sie in seine Reichweite. “Tut Euch keinen Zwang an!” Sie reckte ihm den Hals hin. “Versucht es, wenn Ihr Euch traut!”

Diese Gelegenheit ließ er nicht verstreichen.

Belanor schob den rechten Arm durch die Gitterstäbe und umklammerte Lezabels Hals.

Er wandte alle seine Kraft auf, doch sie verzog keine Mime.

“Ist das schon alles, was Ihr drauf habt?”, provozierte sie ihn. “Könnt Ihr nicht einmal meinen zarten verletzlichen Hals zudrücken? Seid Ihr sogar dazu zu schwach? Ich wusste doch gleich, dass Ihr kein richtiger Mann seid!”

Die Nadelstiche wirkten und Belanor packte sie mit der verbliebenen Hand. Sein Zorn mobilisierte aus unbekannter Quelle noch mehr Kräfte. Er würgte Lezabel unerbittlich weiter, obwohl sie kaum eine Reaktion zeigte.

“Jämmerlich!”, schrie sie ihn an. Ihre roten Augen begannen zu glühen und schwarze Arterien erschienen auf ihren Armen und in ihrem Gesicht. “LAsS mICh dIR zEiGeN, wIE dAs GeHT!” Die dämonische Kraft des Draco Oculus durchströmte den Körper der Prinzessin. Sie spürte, dass die böse Macht in jede Faser ihres Körpers eindrang.

Es war berauschender, als es die Berührung eines Mannes je sein konnte!

Sie umklammerte die Arme ihres Mannes und befreite sich aus seinem Würgegriff, indem sie die Extremitäten Belanors entgegen all seiner Gegenwehr von sich weg drückte. Nachdem dies vollbracht war, streckte sie ihrerseits einen Arm durch die Gitterstäbe, packte seine Kehle mit der rechten Hand und begann ihn zu würgen. Dabei hob sie ihn an. Seine Beine verloren den Kontakt zum Boden und die Luft zum Atmen wurde ein knappes Gut. Instinktiv versuchte er, die Hand seiner Frau von seinem Hals zu entfernen, doch seine Kraft reichte dafür nicht aus. Dann trat er nach ihr, doch auch das beeindruckte sie wenig. Belanor tat das einzige, was ihm noch geblieben war, ihr seine Verachtung zu demonstrieren. Er sammelte den Speichel in seinem Mundraum und spuckte Lezabel ins Gesicht.

Angewidert wandte seine Frau den Kopf ab. Sofort ließ sie ihn bezahlen, indem sie ihren Gatten gegen die Zellenwand ein paar Meter hinter ihm stieß.

Voll des Hasses blickte Belanor auf, der Hexe von Eheweib ins Gesicht.

Das dämonische Glühen in ihren Augen war bereits wieder vergangen und die schwarzen Arterien verschwunden. “Von mir aus könnt Ihr hier unten verrotten, Liebster Ehemann”, sprach sie, nachdem sie sich den Speichel aus dem Gesicht wischte.

“Ihr werdet verrotten, sobald man von Euren Taten erfährt!”, entgegnete er.

“Das wird sich zeigen”, antwortete Lezabel. “Was glaubt Ihr, wem man mehr Glauben schenkt? Der armen Betrogenen oder dem umtriebigen Bastard?” Hexenhaftes Lachen hallte triumphierend durch den Kerker. Gemächlich schritt die Prinzessin davon und ließ ihren tobenden Gemahl zurück. Sie hatte erreicht, was sie wollte.

 

Der Säugling lag rücklings auf der Platte eines runden Tisches und wackelte hektisch mit seinen kleinen Ärmchen und Beinchen. Sein anfangs niedliches Lächeln war umgeschlagen in ein ohrenbetäubendes Geschrei. Der Junge kniff die Augen zusammen und das Gesicht war von der Anstrengung schon rot angelaufen. Ratlos standen die jüngeren Gruppenmitglieder um den Tisch herum, während Clay sich das Schauspiel aus der Ferne ansah. Inzwischen waren sie aus dem zerstörten Dorf zurück und hatten den Säugling in den Gutshof gebracht, in dem Clay, Cerise und Annemarie eingemietet waren.

“Was hat er denn?”, fragte Nebula in die Runde.

Cerise hob abweisend die Arme an. “Keine Ahnung”, behauptete sie. “Babies gehören zu den Dingen, die ich tunlichst vermieden habe.”

“Eine reife Leistung…”, murmelte Nebula.

“Der ist echt laut!”, merkte Annemarie an. “Aber süß!”

“V-Vielleicht hat er Hunger”, mutmaßte Henrik.

“Könnte sein…”, pflichtete die blonde Prinzessin bei.

“U-Und?”, druckste Henrik herum.

“Was ‘Und’?”, zischte Nebula.

“K-Kannst du ihn nicht füttern?”

“Womit denn?”

“D-Die B-Brust g-geben?”

Schlagartig färbte sich das royale Gesicht scharlachrot. “W-Was?” Nebula wurde zum Bildnis der Entrüstung und ihre flache Hand fand den Weg auf Henriks Wange. “P-Perversling!”, schimpfte sie.

Cerise wandte sich zum Kichern ab. Sie hatte zwar keine Ahnung von Babies, aber so viel, dass eine Frau erst eins bekommen musste, um Milch zu haben, war ihr schon bekannt.

Auch Clay fand das Gehabe der “Kinder” belustigend. Noch immer verharrte er fernab des Tisches an der Wand und genoss die Darbietung.

“Aua!”, beschwerte sich der Braunhaarige und rieb die geschwollene Gesichtshälfte.

“Frechheit! Ich bin doch keine Milchkuh!”

Und selbst die mussten vorher kalben!

“A-Aber was machen w-wir dann mit ihm?”

“Heuern wir eine Amme an”, warf Cerise ein.

“Soll die dann die ganze Zeit mit uns rumreisen?”

“Ihr könntet Henrik endlich Mal ranlassen. Ich wette, der Kleine trifft beim ersten Mal. Dann wäre das Milchproblem auch gelöst.”

Die Halbelfe wurde von beiden entsetzt angestarrt.

“Ich glaube bis dahin ist er verhungert”, meinte Annemarie neunmalklug.

Clay entschied, endlich einzugreifen. Den Säugling weiter warten zu lassen, nur damit er sich an dem unbeholfenen Verhalten seiner Begleiter erfreuen konnte, war nicht richtig. Er stieß sich aus seiner bequemen, an der Wand lehnenden Haltung ab und trat an den Tisch mit der kleinen Heulboje heran. “Lasst mich mal machen”, sagte er. “Ich hatte schließlich schon zwei von der Sorte.”

Erleichtert nahmen alle anderen eine Beobachterrolle ein.

“Sie haben nicht immer Hunger”, erklärte der erfahrene Vater. Clay hob das Baby an und schnüffelte zwischen den kleinen Beinchen, die aus den Tüchern herausragten und noch immer heftig in Bewegung waren. Ruckartig rümpfte er die Nase und hielt den kleinen Stinker auf Armlänge auf Abstand. “Manchmal haben sie die Hosen voll.”

 

“Vertraust du ihnen immer noch nicht?”, fragte Toshiro seine Leibwächterin.

“Natürlich nicht!”, antwortete Aki.

Beide lugten vorsichtig durch den Spalt der offenen Tür. So hatten sie die ganze Szene, wie Nebula und die anderen ratlos mit dem Säugling zu Gange waren, beobachtet und zugegeben ebenfalls ihren Spaß damit gehabt.

“Aber können solche lustigen Leute schlecht sein?”

“Der größte Gaukler kann trotzdem ein Mörder sein!”, belehrte die Kunoichi.

“Dir geht es doch noch immer um Nebula”, stellte Toshiro fest.

“Toshiro-sama!”, exklamierte die Schwarzhaarige.

“Leise!”, ermahnte sie ihr Gebieter. “Sonst hören sie uns noch!”

“Sie ist ein Monster!”

“Im Krieg sind Monster genau das, was du brauchst!”

 
 

🌢

 

Abermals schmerzte Alaric das Haupt von der vielen geistigen Arbeiten. Er hasste diese Verwaltungsaufgaben. Doch es waren eben seine Aufgaben, und sie wollten gemacht werden. Außerdem musste irgendwer die Ermittlungen zum Mord an der Menschenfrau leiten und da es außer ihm keinen interessierte, tat er es zusätzlich nebenbei. Er überlegte, ob er zum Heiler gehen sollte, damit dieser etwas gegen die Kopfschmerzen unternehme, doch viel mehr als eine Paste aus Minze, Ladanum und Essig aufzutragen, würde der wahrscheinlich auch nicht machen. Da konnte er später selbst die Küchenkräuter plündern, sobald er sein Tagewerk verrichtet hatte.

Wenn es denn jemals ein Ende nahm…

Der gefaltete Zettel zu seiner Linken kam ihm wieder in den Sinn.

Erschrocken stellte er fest, dass es schon Stunden her war, dass man ihn ihm überbracht hatte und er ihn eigentlich dringend lesen sollte.

Ein Page brachte das Schriftstück und diskutierte ewig mit ihm herum, dass er sich unbedingt sofort um diese vertrauliche Angelegenheit kümmern sollte. Da er ihm aber nicht verraten wollte, worum es ging und darauf bestand, dass nur er es lesen durfte, hatte er ihn vertröstet und erst einmal mit den Protokollen zu den Ermittlungen weiter gemacht. Fünf Minuten plante er dafür ein. Einen Satz wollte er noch zu Ende schreiben. Daraus wurden mehr und mehr und nun waren drei Stunden ins Land gezogen. Alaric legte den Griffel beiseite und nahm das Blatt Papier an sich. Nachdem er es aufgefaltet hatte, offenbarte es ihm seine Mitteilung: “Bitte kommt zu mir in den Kerker. Ich muss dringend mit Euch sprechen. Belanor.”

Besser, wenn er es gleich hinter sich brachte.

Zwar würde Belanor ihm aus offensichtlichem Grund nicht davonlaufen, aber es wäre dennoch unhöflich, ihn noch länger warten zu lassen. Vielleicht waren ihm noch Details eingefallen, die er nun mit ihm teilen wollte.

 

Zwei Palastwachen standen links und rechts vom verschlossenen Durchgang zu den Kerkerzellen. Dem einen war langweilig, also pfiff er eine Melodie. Dem anderen juckte das Hinterteil und er kratzte sich, um sich Erleichterung zu verschaffen. Beide wurden von dem flackernden Licht der Fackeln angestrahlt. Hier unten gab es nur die Wärme der Aschlande, aber aus Mangel an Fenstern nicht ihr Licht. Der Mann mit dem juckenden Hinterteil sah die Pfeife genervt an. Ihm gefiel das Lied wohl nicht? Miteinander sprechen taten sie auch nicht, obwohl sie sich hier seit Stunden die Beine in den Bauch standen und auf die Wachablösung warteten. Vielleicht mochten sie sich nicht besonders…

In gewohnt royaler Manier schritt der zweite Prinz die Treppe herab, welche in den kleinen Raum mit der Pforte zu den Kerkerzellen führte.

Kaum dass die Männer ihren Oberbefehlshaber erspähten, nahmen sie eine stramme Haltung ein und beendeten jegliches Kratzen oder Pfeifen.

“Eure Hoheit!”, stießen sie im Gleichklang aus.

“Rühren, Männer!”, befahl Alaric.

Sofort wechselten die Palastwachen in einen weniger steifen Stand.

“Womit haben wir die Ehre Eures Besuchs verdient?”, fragte der mit dem Juckreiz.

“Ich möchte noch einmal den Gefangenen sehen.”

“Aber sicher, Eure Hoheit”, bestätigte die Pfeife.

Sofort wurde die schwere Tür geöffnet und gab den Weg ins Innere frei.

Alaric durchschritt sie und begab sich zur Zelle des Diplomaten.

Der Mann pflegte zwar nicht andauernd zu Pöbeln, wie die, welche sonst in diesen Räumlichkeiten untergebracht wurden, aber irgend etwas von ihm hätte man vernehmen müssen. Die Wände warfen jedes Geräusch zurück. Das beunruhigte Alaric und er beschleunigte seinen Gang. Der Klang seiner Absätze hallte wieder in der Leere. Aus irgend einem Grund war in diesem Kerker kein anderer Gefangener untergebracht. Nach ein paar weiteren Schritten hatte er die vom Eingang aus dritte Zelle erreicht und erlebte eine böse Überraschung, mit der er nicht gerechnet hatte.

Er fand Belanor nicht etwa schlafend vor, so wie er es zuerst vermutet hatte. Stattdessen hing der Körper des Mannes vor ihm mit dem Rücken zugewandt. Er war aufgeknüpft am Laken der Pritsche, das oben an den Gittern festgeknotet war.

Entsetzt eilte Alaric zu dem Haken, an dem die Schlüssel zu den Zellen hing, und riss das Bund förmlich von der Wand. Hastig, aber nicht panisch, steckte er den Schlüssel in das zugehörige Schlüsselloch und schloss die Zelle auf. Günstigerweise hing Belanor neben der Tür, wodurch Alaric einfach eintreten konnte. Sofort löste er den Körper aus dessen demütigenden, schlaffen Haltung und wuchtete ihn auf die Pritsche. Routinemäßig fühlte er nach einem Puls, auch wenn er sich das eigentlich hätte sparen können, denn die Zeichen standen ohnehin nicht gut. Das Offensichtliche bestätigte sich: Belanor, der gefeierte Diplomat des Kaiserreichs, war tot.

Alaric konnte nicht begreifen, wie das möglich sein konnte.

Belanor war nicht so schwach und ehrlos, dass er sich in den Tod flüchtete, selbst wenn sein aufgedeckter Ehebruch mit einem Menschenweib sicher für jeden Marktschreier ein gefundenes Fressen war, das er ausrufen könne, um damit interessierte Zuhörer anzulocken und ihnen bei der Gelegenheit gleich ein paar Waren aufzuschwatzen. Einen Selbstmord schloss der Prinz kategorisch aus!

Ungehalten zitierte er den Arschkratzer und die Pfeife herbei. “Männer, Antreten!”

Natürlich gehorchten sie aufs Wort und bauten sich vor ihm auf.

Streng sah Alaric den Männern ins Gesicht. “Wer war alles bei dem Gefangenen?”, stellte er sie zur Rede.

“Nun… das…”, nervös fummelte der eine am Halsausschnitt seines Brustpanzers herum.

“Raus mit der Sprache!”

“Man hat uns befohlen, zu schweigen”, erklärte der andere.

“Dann befehle ich, dass ihr zwei sprecht!”

Aber der von Hämorrhoiden Geplagte und der Hobbymusikant reagierten nicht.

“Ihr wagt es, meine Befehle zu verweigern?”

“Nun… Na ja… nein.”

“Das bedeutet, die Person steht über mir in der Hackordnung?”

Verhaltenes Schweigen.

“Also liege ich richtig.” Der Kreis der Verdächtigen verkleinerte sich dramatisch. Vor ihm hatten nur drei Personen im ganzen Kaiserreich Priorität bei der Befehlsvergabe. Leider waren diese Leute alle mit ihm verwandt und Alaric gedachte weder seine Geschwister noch den Kaiser zu verdächtigen, ohne irgendeinen Beweis in der Hand zu haben. Zähneknirschend entließ er die Männer aus dem Verhör. “Wegtreten.”

Die Kerkerwachen gehorchten.

Alaric wandte sich ab und schenkte der Zelle und der Leiche darin wieder seine Aufmerksamkeit. Hier mussten sich doch Spuren finden lassen…

 

Nachdem Clay ihnen eine Lektion in Sachen Babysitting erteilt hatte, waren die anderen aufgebrochen, um sich in der Stadt umzuhören. Sie entschieden, dass es klug wäre, sich aufzuteilen und strömten in verschiedene Richtungen aus.

Henrik war zurück in den Gutshof gegangen. Nebula traute ihm nicht zu, dass er an Informationen kommen würde. Dafür war er einfach zu schüchtern. Auf Cerise hingegen setzte sie ihre Hoffnungen. Wenn diese sexbesessene, mörderische Elfe etwas konnte, dann war es aus den Schatten heraus Informationen zu beschaffen. Dieser Toshiro wollte ebenfalls helfen, wovon seine Begleitung nicht besonders angetan zu sein schien. Nebula machte sich natürlich auch selbst auf den Weg. Die Kapuze tief im Gesicht, streifte sie durch Argentoile und war in Gedanken versunken.

Die Geschichte mit dem Baby hatte ihr vor Augen gehalten, dass sie nicht alles wusste. Ob sie wollte oder nicht, alleine wäre sie mit dem Findling aufgeschmissen gewesen. Einer dieser Momente, wo sie froh war, Freunde zu haben, die ihr halfen. Einen Moment ließ sie sich dazu hinreißen, an das Baby zu denken. Wie niedlich es lachen konnte. Der Anblick des hilflosen Geschöpfes hatte etwas in ihr bewegt, wovon sie glaubte, dass es nicht existierte. Gleichzeitig war da aber auch ihre Ahnungslosigkeit. Sie verstand sich auf das Kämpfen, aber bei dem Kind hatte sie versagt. Sie ertappte sich bei der Frage, ob sie vielleicht doch irgendwann einmal eins haben würde? Und wie würde das funktionieren im Hinblick auf ihre Kräfte? Wäre das Kind überhaupt noch ein Mensch?

“Jetzt reicht es aber!”, rief sie sich selbst zur Besinnung.

Verdammt, warum mussten Babies so verdammt niedlich sein?!

Statt sich sinnloser Tagträumereien hinzugeben, entschloss sich die Blondine, etwas Sinnvolles zu tun und befragte Passanten zu dem Dorf, das der Drache zerstört hatte.

Die Leute waren bestürzt, sprachen aus, dass sie sich fürchteten, aber hatten keine wirklich gehaltvollen Dinge zu sagen.

Nach ungezählten Fehlschlägen wollte sie schon aufgeben. Die Leute schienen genauso wenig zu wissen wie sie selbst. Welchen Zweck hatte es, immer wieder dasselbe zu fragen, um die gleiche Antwort zu erhalten? Sie wollte gerade wieder in der Anonymität der Massen aufgehen, als sie an einer dunklen Gasse vorbei kam.

“Ihr sucht nach Antworten?”, fragte eine männliche Stimme aus den Schatten.

Nebula wandte sich der Geräuschquelle zu.

“Geht nach Lescar”, setzte die Stimme fort. “Sucht dort nach Philippe. Er wird Antworten für Eure Fragen haben.”

“Wer ist dieser Phillipe?”, rief sie in die Gasse.

Kein Sterbenswörtchen wurde erwidert.

Verärgert stieß Nebula in die Dunkelheit vor, fand aber niemanden. Wer auch immer mit ihr sprach, war ein Meister der Tarnung. Die Blondine fand zurück auf den Weg und tauchte zwischen den Menschen ab. Später sollte sie erfahren, dass die anderen auch an Philippe verwiesen wurden. In Lescar sollte sich dieser aufhalten, genau dort, wohin sie auch den Säugling bringen sollten. Das konnte kein Zufall sein!

 

Ammon genoss sein Leben. Natürlich besaß er als Prinz sein eigenes Schloss in der Provinz Forêt de Blanchiment, von dem aus er zur Jagd reiten, die Bauern tyrannisieren und eine Vielfalt anderer Schindluder treiben konnte. All die Dinge, mit denen man sich als Feudalherr so seine Zeit vertrieb, wenn einem langweilig war. Schließlich war er nicht so bescheuert wie sein kleiner Bruder, der das spartanische Leben eines Soldaten den Privilegien eines Prinzen vorzog, wann immer er konnte. Ammon war in Gedanken versunken. Er grübelte, wie er sich heute von seiner schlimmsten Seite zeigen könnte. Was blieb ihm anderes übrig, wenn ihn die Trivialität des Lebens quälte, während er auf Neuigkeiten zu dem von ihm in Auftrag gegebenen Forschungsprojekt wartete und dieser dumme Bote schon seit Tagen überfällig war!

Er hatte schon lange nicht mehr sein Recht der ersten Nacht eingefordert.

Ob zufällig gerade irgendwer in der Provinz heiraten wollte?

Hoffentlich konnte der Bräutigam nicht den Stechgroschen aufbringen, wie beim letzten Mal. Man, das war vielleicht eine Blamage! Und die Braut eine wandelnde Sünde auf zwei Beinen. Wie gern hätte er sie das fleischerne Schwert zwischen seinen Schenkeln spüren lassen, doch leider war das Gesetz das Gesetz und alles konnte man sich auch nicht erlauben. Schließlich musste man in der Öffentlichkeit sein Gesicht noch zeigen können.

Die Finger des Prinzen klopften auf der Lehne seines Throns.

Es wollte ihm doch tatsächlich nichts einfallen!

Sehnsüchtig dachte er an Prinzessin Emelaigne. Elfenfrauen waren alle so schrecklich dürr. Die wollte er nicht haben! Die Menschen hatten es da viel besser! Ihre Frauen boten wenigstens etwas zum anfassen! Aus diesem Grund hatte er darauf bestanden, die Prinzessin von Morgenstern zu heiraten. Was wäre es für eine Freude gewesen, sie jede Nacht zu besteigen und es ihr zu besorgen, bis sie durchgeritten sei wie sein Gaul, den er letzte Woche notschlachten ließ. Aber aus der Hochzeit war bekanntlich nicht viel geworden.

Enttäuscht seufzte er.

Plötzlich wurde die Tür zum Thronsaal von den Wachen geöffnet. Ein Bote in schmutzigen Gewändern trat durch die Pforte ein. Ammon kicherte bei dem Gedanken, dass dieser Mann gewiss auch geritten war, wie ein Teufel.

Im zügigen Schritt trat der Mann näher an den Prinzen heran und fiel vor der ersten Stufe des erhöhten Podestes auf die Knie. “Eure Hoheit!”, sprach er mit gesenktem Haupt. “Ich bringe die Kunden aus Pierre Noir.”

Interessiert hob sich eine Augenbraue des Prinzen. “Sprich!”, befahl er.

Der Bote hob den Kopf und sah Ammon in die Augen. “Der Magnus lässt verlauten, alles verlaufe zu seiner vollsten Zufriedenheit.” Daraufhin erklomm er die Stufen zum Thron und übergab Ammon eine Schriftrolle. Sofort danach verneigte er sich wieder und trat zurück, bis er wieder vor der ersten Stufe des Podestes stand.

Ammon brach das Siegel mit dem Wappen der Festung Pierre Noir und begann zu lesen.

Ein wohlwollendes Grinsen zierte daraufhin des Blaublüters Antlitz.

 

Ein menschlicher Sklave, gekleidet in abgerissenen Lumpen und ohne Schuhe an den Beinen, schob eine Schubkarre vor sich her. Er hatte ein simples Gemüt und dachte an nichts anderes als die Erfüllung seiner Aufgabe. Der Wind blies ihm ins Gesicht und trieb den unangenehmen Gestank von verbranntem Fleisch in seine Nase. Ein Umstand, der ihm sein Tagewerk nicht gerade versüßte. Hoffentlich erbarmte sich der Wind und drehte bald. Der Sklave brachte die grotesk entstellte Fracht zu einer großen Grube. Angestrengt stemmte er das Transportgerät an und ließ den malträtierten weiblichen Körper in den Abgrund zu den anderen fallen.


 


 


 


 


 


 


 


 

Die Faust des Nordens


 

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Kühn und unerschrocken sah Henrik dem kleinen Satansbraten in die Augen. Das winzige Etwas zappelte wild und ungestüm mit Armen und Beinen und schrie aus Leibeskräften. Beinahe unbegreiflich, wie ein so kleines Geschöpf derart monströsen Krach verursachen konnte. Was im Namen des namenlosen Gottes konnte er jetzt schon wieder wollen? Gefüttert hatte er ihn schon, das konnte es nicht sein. Auf einmal dämmerte Henrik Schlimmes. War es im Bereich des Möglichen, dass er ihn schon wieder wickeln musste? Das sowas immer nur dann passierte, wenn er an der Reihe war…

Die anderen durchkämmten derweil die Wildnis nach etwas Essbarem. Der Weg nach Lescar entpuppte sich als länger als gedacht. Widrige Witterungsbedingungen zwangen die Gruppe, eine längere Pause einzulegen. Die Vorräte neigten sich dem Ende entgegen und weit und breit kam kein Dorf in Sicht. Die Stadt war ebenfalls noch ein gutes Stück entfernt. Darum ging sogar Annemarie mit, weil sie unbedingt helfen wollte, auch wenn sie nicht mehr beitragen konnte, als ein paar Beeren und Pilze zu sammeln. Die beiden Fremden folgten ihnen ebenfalls. Henrik ließen sie mit dem Säugling allein.

Wunderbar!

Vorsorglich rümpfte der Braunhaarige die Nase, während er damit begann, die Genitalien des Kindes freizulegen. Kaum dass die Wickel entfernt waren, stellte er fest, dass seine Vermutung falsch gewesen war. Der Kleine hatte sich nicht beschmutzt. Schnell bedeckte Henrik die Scham des Kindes wieder und begann nachzudenken.

Seine Mahlzeit hatte er erhalten.

Da ihm leider keine Amme zur Verfügung stand, musste Henrik ihn so füttern, wie es in so einem Fall üblich war. Er vermengte Brotkrumen mit abgekochter Milch und stellte daraus einen Brei her. Vorsichtig hatte er es dem Säugling eingeflößt. Danach war der Schreihals eine Weile ruhig gewesen, bis er aus heiterem Himmel anfing zu heulen.

Hatte er vielleicht einen Fehler gemacht?

Der Krach, den der Säugling fabrizierte, war kaum noch auszuhalten. Wie sollte man da in Ruhe nachdenken? Aber dann kamen ihm die Worte von Clay in den Sinn. Vielleicht die letzte Rettung für seine strapazierten Nerven. Immerhin schrie der Satansbraten schon seit einer geschlagenen halben Stunde und hielt einfach nicht den Rand! Eine Symphonie des Schmerzes, die Henriks Ohren bis zum Ertauben quälten.

Manchmal kommt es vor, dass Säuglinge bei der Fütterung zu viel Luft verschlucken, hatte Clay gesagt. Dann quält sie der wellenartige Schmerz der Koliken, was sie zum Schreien veranlasst. Den Bauch zu massieren, verschafft Abhilfe - sowohl dem betroffenen Baby als auch den Nerven derjenigen, die diesen Zinnober erdulden müssen.

Henrik beugte sich herunter und legte den Bauch des Kindes frei. Vorsichtig rieb er im Uhrzeigersinn auf dem zarten Geschöpf herum.

Die hektischen Bewegungen des Säuglings wurden weniger und der Junge schien sich endlich zu beruhigen.

Henrik fiel ein Stein vom Herzen. Würde der Junge noch schreien, wenn die anderen wiederkehren, müsste er sich bestimmt wieder einiges anhören.

Plötzlich entwich dem Kleinen ein Bäuerchen.

Eigentlich eine völlig normale Sache…

In diesem Fall entwichen jedoch keine Gase seinen Mund. Auch nicht der Brei, mit dem Henrik ihn gefüttert hatte. Stattdessen breitete sich ein kleiner rötlich-gelber Feuerball aus, der Henriks Gesicht einhüllte und ihm die Haarspitzen versenkte, bevor er sich auflöste.

Entsetzt starrte der verrußte Braunhaarige auf das Kind.

Was war gerade geschehen?
 

Einige Tage zuvor.

Alaric sah kein Licht mehr am Ende des Tunnels. Nicht nur, dass er von Zeit zu Zeit immer dann von Halluzinationen geplagt wurde, wenn er in den Spiegel sah, nein nun türmten sich obendrein die Leichen, deren Ableben es zu untersuchen galt. Wo er auch hinblickte, Arbeit grinste ihm frech ins Gesicht.

Ihm entwich ein Seufzer.

Noch immer wusste er nicht, was Lezabels Gatte ihm mitteilen wollte, bevor er ihn erhängt in der Kerkerzelle vorfand.

Natürlich wurde der Tote in Augenschein genommen.

Alaric entdeckte bei seiner Untersuchung des Tatort keine Unstimmigkeiten mit dem suggerierten Selbstmord des Diplomaten.

Am Hals fanden sich Spuren, die mit einer Selbststrangulation einher gingen. Die Äderchen in den Augen waren geplatzt. Dies passiert, wenn jemandem gewaltsam die Luft zum Atmen genommen wird. Auch bei einem Selbstmord kein Widerspruch. Alaric hatte es schon oft bei zum Tode verurteilten Verbrechern gesehen, die ihr Ende durch den Strang fanden. Die Schlaufe setzt unter dem Kinn an und bildet nach oben zeigende Strangmarken, weil das Gewicht den Körper zum Boden hinzieht. Auch bei dem Toten konnte Alaric diese Spuren ausmachen. Zusätzlich entdeckte Alaric Abdrücke, die ihn an die Finger einer Hand erinnerten. Allerdings waren sie nicht die Todesursache. Bei einer Leiche verstärkten sich Blutergüsse und diese Abdrücke waren schwach. Daraus schloss Alaric, dass bereits eine Heilung der gequetschten Blutgefäße begonnen hatte. Aber er wollte einfach nicht glauben, dass Belanor sich feige aus der Verantwortung stahl.

Vielleicht war die Szenerie gestellt?

Einen Giftanschlag konnte er in diesem Fall nicht ausschließen.

Aber es müsste ein schnell wirkendes Gift gewesen sein, das keine äußeren Anzeichen zurück ließ, wie beispielsweise Schaum vor dem Mund oder einen seltsamen Geruch, denn der Täter oder ein Komplize mussten die Zeit haben, den Ort des Geschehens so zu inszenieren, wie Alaric es vorgefunden hatte. Eine Substanz, welche alle diese Kriterien erfüllte, war ihm allerdings nicht geläufig.

Sein Leibarzt wusste ebenfalls keinen Rat - vielleicht dem geschuldet, dass er sich hauptsächlich damit beschäftigte, Leben zu bewahren und es nicht zu nehmen.

Alaric wäre besser beraten, einen professionellen Mörder zu befragen.

Unter den schützenden Flügeln eines seiner Verwandten war der Täter unerreichbar für ihn und Alaric sah sich aus Frust und Verzweiflung gezwungen, seltsame Wege einzuschlagen.

Es gab diesen Kult, der eine bösartige Gottheit verehrte.

Die Anhängerinnen dieser Sekte wurden überall in der bekannten Welt geschätzt als zuverlässige Agentinnen, die ihren Auftrag, sei es Spionage oder Meuchelmord, stets erfüllten und niemals einen Kontrakt offen ließen. Wenn jemand wusste, wie man ohne Spuren mordet, dann doch wohl sie.

Der Prinz filzte die alten Schriften nach einem berüchtigten Ritual, mit dem mutmaßlich Kontakt mit der bösen Gottheit hergestellt werden konnte. Schließlich konnte er nicht einfach den Bibliothekar danach suchen lassen, ohne unangenehme Fragen zu provozieren. Niemandem war es bisher gelungen in Erfahrung zu bringen, wo dieser Kult seine Zufluchtsstätten hatte und gefangene Attentäterinnen verrieten nichts, egal wie schlimm man sie folterte. Darum galt dieses Ritual als einzige Möglichkeit, die Dienste der Schwesternschaft der Schatten anzufordern. Alaric war ein rational denkender Elf. Aus diesem Grund hatte er sich noch nie damit auseinandergesetzt.

Aber seine Mittel waren ausgeschöpft.

Die staatlichen Organe gaben nichts mehr her.

Er war verzweifelt.

Einen Kult von Mörderinnen zu Rate zu ziehen, schien seine einzige Wahl zu sein.

Endlich!

In einem dicken, alten Buch wurde er fündig.

Nachdem er die zentimeterdicken Verschmutzungen davongeblasen und sich vermutlich eine Staublunge eingefangen hatte, laß er stundenlang in dieser Enzyklopädie der geheimen Wahrheiten, bis er es endlich entdeckte: Das Ritual zur Anrufung der Mutter der Zwietracht. Die Gottheit - oder der Dämon - welche der Kult verehrte. Schnell und dennoch gründlich schrieb sich der Prinz die Einzelheiten heraus.

Zurück in seinen Gemächern bereitete er das Ritual vor.

Die vorausgesetzten Gegenstände hatte er bereits zusammengetragen. Benötigt wurde eine Amphore mit brennbarem Öl, fünf Kerzen und eine große Schale. Dabei wurde explizit ausgewiesen, dass die Schale feuerfest sein musste. Alaric hatte sich für eine der goldenen Obstschalen aus dem Empfangsraum für ausländische Diplomaten entschieden. Das sollte die Anforderung erfüllen. Des Weiteren musste er eine Puppe aus Stroh und Strick bereithalten, die mit verschiedenen Kräutern gefüllt war.

Als erstes entfernte der Prinz den Teppich aus der Mitte des Raumes und setzte die Schale an seiner statt auf dem steinernen Boden ab. In einem Kreis von einem Meter Durchmesser stellte er die Kerzen auf, die sich bereits in entsprechenden Kerzentellern befanden. Unter Zuhilfenahme der Feuersteine, welche er immer bei sich trug, entzündete er die Kerzen. Als er nach der Amphore mit dem Öl griff, stellte er kurz in Frage, ob er sein geistiges Tafelsilber noch beisammen hatte, oder nun vollends am Rad drehte. Entschlossen schüttelte er den Kopf, entfernte den Korken von der Amphore und goss das Öl in die Schale. Danach entzündete er ein Stück altes Papier und warf es hinein.

Sofort entfachte ein Feuer.

Es wirkte enttäuschend ordinär.

Aber noch war die Formel nicht gesprochen!

Alaric atmete durch.

“Mutter der Zwietracht”, begann er zu sprechen. “Beseele die Flammen, die deinen Körper verzehrten.” Alaric warf die Puppe ins Feuer.

Das Aroma der Kräuter verbreitete sich in der Luft, als sie mit der Puppe verbrannten, die der Prinz ebenfalls ins Feuer warf.

“Schenke mir dein Gehör!”

Doch nichts passierte.

Noch einmal erhob der Prinz seine Stimme.

“Schenke mir dein Gehör!”

Erwartungsvoll starrte er auf das Feuer in der Schale und rechnete mit einer Reaktion. Aber es passierte weiter nichts. “Mhm”, brummte Alaric daraufhin und wandte sich ab. “Nichts als ein Ammenmärchen”, murmelte er in sich hinein.

Aber er wurde sogleich eines Besseren belehrt.

Plötzlich hallte ein Mark und Bein erschütterndes Kreischen einer Frau durch seinen Kopf. Alaric war sich sicher, dass es außer ihm niemand vernahm, andernfalls wären längst die Wachen vor der Tür hinein gestürmt, um nach dem Rechten zu sehen. Zeitgleich wurde der ganze Raum in einen goldenen Schein getaucht, nur unterbrochen vom pechschwarzen Schlagschatten, den Alarics Körper an die Wand warf. Sichtlich überrascht, wandte sich der Prinz wieder der Schale in der Mitte des Raumes zu. Das Feuer in ihr leuchtete in einer Intensität, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte.

Alaric trat angesichts des blendenden, grellen Feuers einen Schritt zurück.

Also stimmte es doch!

Noch einmal rief Alaric sich den nächsten Schritt ins Gedächtnis.

“Mutter”, begann er seine Bitte an die mysteriöse Gottheit zu formulieren. “Ich bin Alarc von Aschfeuer. Ich erbitte die Dienste deiner Töchter! Schicke mir eine für meine Schwester Lezabel und eine für meinen Bruder Ammon. Sie sollen herausfinden, ob einer von ihnen hinter dem Tod des Diplomaten Belanors steckt und in welche unehrenhafte Schandtaten sie sonst verwickelt sind.”

Erneut vernahm er das Kreischen, wie zur Bestätigung seines Auftrages.

Er ging zu seinem Arbeitstisch, auf dem er zwei Gegenstände bereitgestellt hatte, und nahm sie an sich. Für jeden Auftrag und jede beteiligte Schattenschwester musste man einen Gegenstand von großem Wert opfern. Alaric trat abermals an das goldene Feuer heran, um seinen Tribut zu entrichten.

“Ich biete dir diese Kette für meine Schwester dar.”

Er warf das mit Edelsteinen besetzte Schmuckstück hinein in das Feuer. Es verglühte in einem unnatürlich weißen Leuchten.

“Und dieser Kelch soll für meinen Bruder sein.”

Alaric übergab einen Trinkbecher aus schwarzem Obsidian, gefasst in kunstvoll verziertem Silber, den Flammen. Auch er verschwand in gleißendem Weiß.

Das Kreischen der Flammen fand ein letztes Mal den Weg zurück in seinen Geist und einen Moment später verpuffte das Feuer. Schlagartig kehrte der Raum zu seinem vorherigen rot schimmernden Düsternis zurück und nur der improvisierte Altar in der Mitte des Raumes, bestehend aus einer verrußten Goldschale und fünf geschmolzenen Kerzen, erinnerte noch an das Geschehene. Über der Schale entstanden aus glühenden Fragmenten zwei Schriftstücke, die langsam zu Boden segelten.

Alaric bückte sich nach ihnen.

Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, erkannte er, dass auf ihnen etwas geschrieben stand. Er hielt zwei Verträge in Händen, die Wort für Wort widerspiegeln, worum er zuvor die Mutter der Zwietracht gebeten hatte. Und dass die Beschattung seiner Geschwister von zwei Frauen mit den Namen Cinnamon und Rose durchgeführt werden würde.

Sofort kamen Alaric Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, sich mit einer bösartigen Gottheit und ihren blutrünstigen Anhängerinnen zusammen zu tun.
 

Zurück in der Gegenwart.

Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen. In den klimatisch gemäßigten Teilen des Kaiserreiches kühlten die Temperaturen allmählich ab. Die Bäume begannen sich von ihrem Blätterkleid zu trennen und sich so auf den Winterschlaf vorzubereiten. Die Luft roch bereits nach Frost. Der erste Schnee kündigte sich an. Diese Zeichen veranlassten die Tiere des Waldes allmählich an die Zeugung der nächsten Generation zu denken. Mit dem Beginn der kalten Tage begann ebenfalls die Paarungszeit. Die Männchen der verschiedenen Gattungen der hiesigen Fauna führten untereinander teils blutige Kämpfe, um auszumachen, wer der Stärkste von ihnen war und das Recht zur Fortpflanzung hatte. Dabei wurden sie von ihren weiblichen Artgenossen kritisch beäugt. Diese würden sich gewiss nur mit den Siegern abgeben, um gesunden Nachwuchs zu garantieren.

So kam es, dass sich inmitten einer Lichtung auch die Platzhirsche zur Brunft einfanden.

Vor Kraft nur so strotzende Geweihträger suchten Streit mit Ihresgleichen.

Die Hirschkühe beobachteten interessiert das Geschehen.

Zwei Kontrahenten hatten sich gefunden. Beide waren kapitale Exemplare. Ihre Geweihe erreichten eine beachtliche Größe. Mit jedem Jahr, das ein Männchen verlebte, trieb es einen größeren Kopfschmuck aus. Es zeigte, dass sie beide sehr erfahrene Tiere waren, wenn sie es geschafft hatten, dieses Alter zu erreichen.

Ernst sahen sie sich in die Augen.

Paarhufe scharrten erregt das Moos vom Waldboden.

Schnaubend wurde warme Atemluft in die kalte Atmosphäre abgegeben und kondensierte sofort zu einem weißen, durchsichtigen Nebel.

Die Spannung des bevorstehenden Aufeinandertreffens war greifbar.

Dann gab es kein Halten mehr!

Beide Männchen stürmten aufeinander zu und verkeilten ihre Geweihe.

Ein lautes Krachen ertönte, als die knochenartigen Gebilde aufeinander trafen.

Ineinander verhakt, kreisten die brünstigen Platzhirsche immer wieder umeinander und lange sah es so aus, als ob es auf absehbare Zeit keine Entscheidung geben würde. Doch gewann einer von ihnen überraschend die Oberhand.

Ängstlich löste sich der andere von seinem Gegner und sah zu, dass er unverletzt entkommen konnte.

Die Blicke der Hirschkühe waren dem Sieger nun sicher.

Erhaben stolzierte er mit angehobenem Geweih auf der kleinen Lichtung auf und ab, um seinen Sieg zu feiern.

Nachdem er ein paar Runden gedreht und seine Fleischbeschauung beendet hatte, schickte er sich an, die erste Hirschkuh zu beglücken. Doch wenn er glaubte, dass sie es ihm so leicht machte, hatte er sich geschnitten. Immer wieder hob der Platzhirsch die Vorderhufe an und versuchte das Weibchen zu besteigen. Doch die dachte nicht im Traum daran, ihn einfach gewähren zu lassen. Stattdessen entzog sie sich ihm immer wieder und scheuchte ihn in seiner Begierde über die Lichtung.

Für ihn war es ein Ritual, das ihn nur weiter betörte.

Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude!

Endlich schien die Hirschkuh genug davon zu haben, ihn zum Gespött des Waldes zu machen, stellte ihren Widerstand ein und kam zum Stehen. Diesmal verhinderte sie nicht mehr, von ihm bestiegen zu werden. Und innerhalb weniger Sekunden war vollbracht, wofür der Platzhirsch ihr eine halbe Ewigkeit hinterher gerannt war.

Eine war geschafft, unzählige weitere warteten noch.

Wirklich anstrengend, männlich zu sein!

Aber er wurde nicht müde, seine Gene zu verstreuen.

Gerade stieg er von der Letzten ab, als ein fremdartiges Geräusch durch den Wald hallte und an seine Ohren drang. Aufgeschreckt sprangen die Weibchen wie vom Hafer gestochen in alle Himmelsrichtungen davon und verschwanden im Dickicht. Der Platzhirsch blieb jedoch stehen. Er witterte die widernatürliche Gefahr, die seiner Lichtung immer näher kam. Sein Instinkt sagte ihm, dass sein Leben nichts zählte, wenn nicht die Saat, die er mit seiner inbrünstigen Männlichkeit in den Hirschkühen gesät hatte, in Sicherheit war. Darum blieb er. Bot sich selbst als Opfer dar, damit seine Weibchen entkommen konnten.

Äste wurden unter mächtigen Schlägen zerbrochen.

Der Platzhirsch streckte der heranstürmenden Bedrohung sein Geweih entgegen.

Aus den Tiefen des Unterholz brach ein heller Schatten hervor.

Eine muskulöse, wolfsartige Kreatur mit weißem Pelz stürzte sich ohne Rücksicht auf Verluste auf das Männchen, warf es mit einem mächtigen Prankenhieb zu Boden und verbiss sich in seinem Nacken. Das Blut spritzte wie aus einer Fontäne und besudelte das Schneeweiße Fell des Monsters und das bösartige Knurren der Bestie ließ selbst die Vögel auf den Bäumen die Flucht ergreifen, während sich die Kreatur an ihrer Beute labte.
 

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Einige Tage zuvor.

Eines Schwertes gleicht, schnitt der Kiel des riesigen Drachenbootes durch die eisigen, kalten Gewässer des Ozeans. Der Wind hatte längst seinen Dienst versagt und das aus roten und weißen Streifen zusammengenähte Segel hing zusammengerollt am Mast. Ruder tauchten perfekt synchron im Takt des Paukenschlages in das Wasser ein, schoben das Schiff mit einem kräftigen Stoß der vereinten Kräfte von zweihundert Armen, verteilt auf zwei Seiten zu je fünfundzwanzig Sitzbänken, unaufhaltsam dem Ziel entgegen. Das Gewicht der Paddel erzwang, dass jedes von ihnen von zwei Besatzungsmitgliedern gehalten werden musste. Den unermüdlichen Muskelbergen der Barbaren als Frys wurde keine Pause gegönnt, während sie das Schiff allein durch menschliche Körperkraft auf zwanzig Knoten beschleunigten, was einer Geschwindigkeit von etwas mehr als siebenunddreißig Stundenkilometern entspricht, und allein dadurch schon Ehrfurcht und Angst in die Herzen der Küstenbewohner einziehen ließ. Das maritime Gefährt war kunstvoll verziert mit Ornamenten, die reale und mythische Wesen gleichermaßen darstellten. Bemalte Rundschilde mit den Familienwappen der Krieger zierten zudem die Seiten des Schiffes und taten allen Kund von den glorreichen Taten der Vorfahren. Aber den wahren Blickfang und Namensgeber dieser Art von Schiffen, stellte der detailreiche Drachenkopf dar, welcher aus einem einzigen, riesigen Stück Holz hergestellt und am Bug des Schiffes angebracht war. Eine wunderschöne Schnitzerei, deren durchdringender Blick dem Ungewissen entgegen gerichtet war.

Dieser Schrecken der Meere war auf den Namen Isbrann getauft worden.

Einige kleinere Schiffe begleiteten das Flaggschiff. Sie waren jeweils mit wesentlich weniger Kriegern bemannt, konnten aber dennoch durch die leichte Bauweise und den flach unter der Wasseroberfläche liegenden Kiel mithalten.

An Deck der Isbrann befanden sich außerdem mehrere Zelte, wo man den Proviant und die Beute lagerte. Die Krieger selbst schliefen bei Wind und Wetter an Deck. Alles was sie brauchten, damit ihnen im Schneesturm nicht die Nase abfrohr, waren Met und die wärmenden Gedanken an Rauben, Brandschatzen und Morden. Etwas, was sie bei ihrer Ankunft zu genüge tun würden, als Vergeltung für die Niederlage am Stählernen Wall.

Mit verschränkten Armen stand Sjur mitten zwischen seinen Männern und blickte hinaus auf die langsam am Horizont erscheinende Küste. Er war nicht nur der Kapitän der Isbrann, sondern auch der Jarl seines Clans. Dem geschuldet trug er einen aufwändigen Kettenpanzer und einen reichlich verzierten Schädelhelm, unter dem sein rotes Deckhaar hervor hing und mit dem doppelt geflochtenen Bart eine Einheit bildete. Die Rache war ihm ein persönliches Bedürfnis, da sein kleiner Bruder beim Angriff auf die Festungsanlage der Schwarzelfen sein Leben verloren hatte. Es war kein Trost für Sjur zu wissen, dass er ehrenvoll im Kampf fiel, wenn es im Zuge eines von vornherein zum Scheitern verurteilten Unterfangens geschehen war. Er wusste das und er hatte es ihm auch gesagt, doch Angar ließ sich von der Silberzunge des Thordir einlullen und für die Schlacht begeistern. Dabei musste Sjur seiner Mutter einst am Sterbebett versprechen, immer auf seine Geschwister zu achten. Zwar waren es noch immer sieben an der Zahl, aber hier ging es ums Prinzip! Ein Angriff auf die ein oder andere ungeschützte Siedlung des Imperiums würde Angar zwar nicht zurückbringen, aber Sjur immerhin erlauben, ihre Straßen in seinem Namen in Blut zu ertränken.

Plötzlich legten sich sachte ein paar Arme über seine Schultern.

“Grübelst du wegen des Schlachtplanes?”, hauchte ihm eine Frauenstimme ins Ohr. Sie gehörte Valdis, seinem Eheweib. Im Gegensatz zu dem, wie es in anderen Teilen der Welt gehandhabt wurde, scheuten sich die Frauen aus Frys nicht vor der Schlacht. Voller Eifer fuhren sie mit auf die Raubzüge. So wie ein Jüngling als Schildknappe seinen Mann stehen musste, bevor er sich ein Eheweib nehmen durfte, zogen auch die Frauen als Schildmaiden in den Krieg, ehe man ihnen die Heirat erlaubte. Valdis war zwar ein gutes Stück kleiner als ihr Gatte, aber dennoch mit über zwei Metern kein bisschen weniger furchteinflößend. Und als einziges weibliches Wesen unter einhundert Kriegern musste sie das auch sein. Zwar waren auf den anderen Schiffen ein paar Kriegerinnen, doch nicht hier auf dem Flaggschiff. Wenn nach Wochen der Reise ein Mann auf dumme Gedanken kam, überließ sie es nicht etwa Sjur, ihn in die Schranken zu weisen, sondern vermöbelte ihn stattdessen eigenhändig. Trotz ihrer dicken Muskelberge, hatte sie sich ihre weiblichen Rundungen bewahrt, auch wenn sie in blanker Schönheit zu sehen, einzig ihrem Gatten vorbehalten war. Sie trug keinen Helm, da sie ihre Weiblichkeit stolz auf dem Schlachtfeld präsentierte. Ihre langen, strohblonden Haare waren auf einer Hälfte des Kopfes aufwändig geflochten und mit Perlen und anderem Schmuck verziert. “Oder träumst du schon von den Kehlen, die du aufschlitzen wirst?”

“Ein bisschen von beidem, mein teures Weib”, antwortete Sjur.

Irgendwann musste er Valdis davon überzeugen, daheim zu bleiben, wenn sie ihm Kinder gebären sollte. Alle seine Geschwister haben bereits eine Familie gegründet. Aber er und Valdis waren viel zu beschäftigt damit, Leben zu nehmen, dass sie nicht dazu kamen, zur Abwechslung welches zu schaffen. Aber wenn er es sich wagte, sie hinter den Herd zu verbannen, würde sie ihn gewiss entmannen!

Und dann hätte sich die Familienplanung auch erledigt…
 

Die gefüllten Schleppnetze des Fischkutters hingen schwer an seinen Seiten. Die Seemänner waren dabei, die Beute einzuholen. Die reichen Fischgründe in der Bucht sicherten ihnen ein Auskommen. Die nährstoffreichen Strömungen lockten immer wieder neue Schwärme verschiedenster Arten an, sodass ihnen der Fisch niemals auszugehen schien. Mit flinken Fingern wurden die Früchte des Meeres aus den Maschen gepult. Die ein oder andere Krabbe hatte sich ebenfalls in das Netz verirrt, was nicht unbedingt ungelegen kam. Schließlich galten sie als Delikatesse. Einzig die Fische, die für zu klein erachtet wurden, warfen die Fischer zurück ins Meer, damit sie weiter wachsen konnten.

“Segg mal, mien Jung, wo geiht dat eegentlich dien Moder?”, fragte der älteste unter den Fischern den jüngsten. “Is se ümmer noch bettlügersch?”

“Dat geiht ehr goot”, antwortete dieser. “De Medizin hett hulpen.”

“Ik heff di dat ümmer seggt: En hitten Grog wirkt wahre Wunner!”

Der Mittelalte grinste verschmitzt.

Doch seine heitere Stimmung sollte ihm schnell vergehen, als er sich umdrehte. Er erblickte fremde Schiffe mit angsteinflößenden Schnitzereien von Drachenköpfen auf sie zukommen. “Bi dat Klamottermann! Waräger!”, rief er aus.

Sofort drehten sich die anderen beiden um und stellten mit Schrecken fest, dass er ihnen keinen Bären aufgebunden hatte.

Angeführt vom größten der maritimen Fahrzeuge, ruderten die randvoll mit Kriegern besetzten Drachenboote an ihnen vorbei. Sie steuerten direkt auf den Hafen von Asenré zu. Gelehmt vor Furcht starrten die Fischer ihnen entgegen.

An Deck des führenden Drachenbootes stand eine blonde Frau mit schön anzusehenden Haaren. Auch von weitem konnten sie sehen, dass das Barbarenweib von gewaltiger Statur war. Sie gestikulieren ihnen mit dem auf die Lippen gelegten Zeigefinger, dass sie sich ruhig verhalten sollten.

Eine Aufforderung, der die drei Fischer nur allzu gerne nachkamen.

Die Wellen des Fahrwassers der Drachenboote schlugen von allen Seiten gegen den Fischkutter, als die Barbaren an ihm vorbei zogen. Nachdem sie es passiert hatten, wollten die Männer gar nicht glauben, dass sie unbeschadet davon gekommen waren. Fürchtete man die Barbaren nicht dafür, dass sie wahllos jeden aufrechten Bürger abschlachteten, der ihnen im Weg war? Vielleicht waren sie die Mühe einfach nicht wert, extra das Schiff zu verlassen, nur um sie einen Kopf kürzer zu machen. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Beinahe hätten sie es für einen Traum gehalten, würden nicht ihre schweißnassen Kleider darauf hindeuten, dass das gerade wirklich passiert war.
 

Ohrenbetäubend hallte der Gong der großen Glocke durch den Hafen von Arsenré. Der Turm, in dem sie aufgehangen war, wurde errichtet, um vor herannahenden Gefahren zu warten. Oft bestanden diese aus einer Sturmflut oder einer Windhose, beides Phänomene, die in diesem Teil des Kontinents keine Seltenheit darstellten. Strenge Winde aus der Teufelssee peitschten das Meer und wirbelten die Luftschichten durcheinander. Sie trieben Heiß und Kalt in die direkte Konfrontation. Eine Brutstätte des unbändigen Chaos, die oft gefährliche Stürme gebar und den Bewohnern der gebeutelten Küste entgegen warf.

Ein Blick in das klare Blau des Himmels ließ jedoch erahnen, dass die Gefahr eine andere sein musste.

Längst hatten aufmerksame Männer mit Argusaugen die sich nähernden Drachenbote der Waräger erspäht. Sie kamen, um zu plündern! Es gab keinen anderen Grund für die Barbaren aus Frys, den Hafen von Arsenré anzusteuern. Die Stadt war nicht dafür bekannt, dass sie große Reichtümer beherbergte. Einzig Fisch, Krabben und Hummer wiesen einen kurzweiligen Wert auf, der jedoch schnell den Besitzer wechselte und aus der Stadt in die Provinzen des Kaiserreichs exportiert wurde. Allerdings bedeutete dies zwangsläufig, dass mit keiner großen Garnison zu rechnen war. Mit Sicherheit war es die Aussicht auf Erfolg, die die Waräger anlockte.

Eilig und dennoch geordnet, fanden sich die Milizionäre bei der Waffenkammer ein und ließen sich Schwerter, Speere und Schilde wie am Fließband aushändigen.

Große Verteidigungsanlagen besaß Arsenré nicht, aber um ein paar mordlüsterne, stinkende Barbaren zurück in ihre eisige Heimat zu jagen, sollte es allemal reichen.

Die Befestigung des Hafens ließ viel zu wünschen übrig.

Zwar gab es ein steinernes Hafenbecken, doch ein großer Teil des Pier bestand aus hölzernen Stegen, an denen die Boote und die Kutter mit Tauen festgebunden waren. Militärische Schiffe, welche die Barbaren hätten abfangen können, suchte man hier vergebens. Echte Verteidigungsanlagen gab es nicht. Einzig am linken und rechten Ende des Hafenbeckens war jeweils eine drehbare Balliste auf erhöhter Position angebracht. Diese Waffen waren in der Lage, auch brennende Speere abzufeuern. Mit ihnen könnte man die nahenden Feinde schwer schädigen. Dazu musste man sie allerdings zuerst treffen. Erschwerend kam hinzu, dass die dem Feind näher gelegene rechte Balliste bei der letzten Sturmflut beschädigt wurde und gegenwärtig unbrauchbar war. Zur Verteidigung stand demzufolge nur die linke zur Verfügung und die war fast außer Reichweite. Dennoch wurde die Kriegsmaschine bemannt und feuerte alsbald Geschosse in die Richtung des Feindes.

Derweil positionierten sich die Milizionäre und erwarteten ihren Einsatz.

Schulter an Schulter bereiteten sie sich auf die Landung der Barbaren vor. Angesichts der Hundertschaften konnte man den Mut verlieren. Die Tatsache, dass der Hauptmann noch immer nicht aufgetaucht war, drückte die Moral des versprengten Trupp von um die sechzig Männer noch weiter. Wo blieb er die ganze Zeit?
 

Einige Meter entfernt vom Flaggschiff der Waräger tauchte ein brennender Speer mit nicht zu überhörendem Platschen in die kalte See ein. Beim Kontakt mit der Wasseroberfläche zerbrach das Geschoss und von den Flammen blieb nicht mehr als eine kleine Dampfwolke zurück.

“Der war schon ziemlich nahe”, gab Valdis zu bedenken.

“Hast du etwa Schiss, dass sie uns versenken?”, fragte Sjur provokant.

“Ich fürchte einzig, eines Tages zu alt zum kämpfen zu sein!”

“Alt zu werden, ist eine Auszeichnung”, meinte ihr Gatte. “Ein alter Krieger zu sein bedeutet, dass deine Gegner nicht alt geworden sind.”

“Deine Weisheiten nützen uns nichts, wenn sie uns erschießen, Liebster.”

“Dann zeige ihnen deine heißblütige Seite, Weib.”

“Und Gefahr laufen, das Schiff abzufackeln? Bestimmt…”

Die einhundert Ruderer trieben die Isbrann voran. Sie führte die kleineren Drachenbote hinein in das Hafenbecken. Es wurde noch einmal gefährlich, da sie nun vollends in der Reichweite der Balliste waren. Aber je näher sie dem Pier und den sich vor Angst befeuchtenden Milizionären kamen, desto unwahrscheinlicher war es, dass der Feind einen weiteren Schuss abgeben würde. Wenn eines der brennenden Geschosse die Hafengebäude traf, wäre die Katastrophe vorprogrammiert.

Am Ende des Piers kam die Barbarenflotte zum stehen.

Die wilden Krieger bereiteten sich mental darauf vor, möglichst viele Elfen und deren menschlichen Stiefelleckern den Gar auszumachen.

Die kleineren Begleitschiffe zogen an der Isbrann vorbei, da diese zwischen den Stegen des Pier besser manövrieren konnten. Die Drachenbote brachten sich in Stellung, sodass ihre Decks eine Brücke zu den Stegen darstellen. Sie erlaubten es allen Kriegern, schnell die Distanzen zu überbrücken.

Entschlossen stellten sich die Milizionäre den Feinden entgegen.

Derweil schwappten die mordlüsternen Nordmänner über die Reeling des letzten Schiffes, wie Wasser aus einer übervollen Badewanne, wenn sich ein Fettsack hineinsinken lässt und den gesamten Inhalt durch seine Masse verdrängt.

Wie es Sjur bereits vermutete, stellten die Kaiserlichen den Beschuss augenblicklich ein, als die Gefahr bestand, ihren eigenen Leute zu treffen. Wie berechenbar sie doch waren. Aber das zeichnete die Legionen des Drachenkaisers aus. Die Elfen nannten es Besonnenheit, er betrachtete es als Feigheit. Wussten sie denn nicht, dass ein jeder, der durch eine Waffe starb, später an der Seite der Götter saß und bis zum Ende aller Tage mit ihnen trinken durfte? Eine größere Ehre konnte einem Sterblichen nicht zuteilwerden. Und Sjur schwor sich, im Gedenken an seinen kleinen Bruder möglichst vielen von ihnen zu ermöglichen, ihren Schöpfer zu treffen.

Seine Axt würde das schon richten!

Während Sjur und Valdis sich noch zusammen mit der Besatzung der Isbrann über die letzten Decks bewegten, hatten sich die ersten Krieger bereits auf die Stege geschwungen und diese überquert. Nun stürzten sie sich auf den Feind. Wie wildgewordene Berserker wirbelten sie herum, zerbrachen Speere und Schilde und drangen die hoffnungslos unterlegenen Verteidiger immer weiter zurück in die Stadt.
 

Laut klopfte es an der Tür zu Surins Zimmer.

“Hauptmann!”, rief es von der anderen Seite. “Hauptmann!”

Als ob das ohrenbetäubende Geläut der Alarmglocke nicht schon lärmend genug wäre!

Wie sollte man da auch nur ein Auge zubekommen?

Widerwillig schlug Surin die Decke zurück und schwang sich missmutig aus seinem Bett.

Dabei zog er seine langen seidigen Haare hinter sich her, wie ein Kometenschweif.

Noch in seinem Nachtgewand trat er an die Tür heran. Jetzt war er sowieso wach, da konnte er sich auch das Anliegen des Klopfers anhören. Hoffentlich war es nicht schon wieder eine Sturmflut… Der Hauptmann hatte seinen Männern immer wieder gesagt, sie sollen ihn nicht wegen so etwas bei seinem Schönheitsschlaf stören! Als er den endlos erscheinenden Weg von seiner Schlafgelegenheit bis zur Tür überbrückt hatte, entsperrte er das Schloss und ein völlig aufgelöster Milizionär fiel ihm beinahe in die Arme.

“Hauptmann Surin!”, exklamatirte der Soldat.

Müde rieb sich der Elf die in schwarzen Ringen eingefallenen Augen.

“Barbaren überfallen die Stadt!”

Irritiert zuckten seine spitzen Ohren. Hatte er gerade ‘Barbaren’ gesagt?

“Sie fegen durch unsere Reihen wie die Berserker!”

“Das könnte daran liegen, dass es Berserker sind”, erwiderte Surin altklug gähnend.

“Bitte, leiht uns Eure Kraft!”, forderte der Milizionär.

Ob es ihm gefiel oder nicht, der Appell seines Untergebenen ließ ihm keine andere Wahl. Er kam nicht darum herum, tatsächlich seiner Pflicht nachzukommen und seine Männer gegen die Angreifer in der Schlacht zu führen.

Konnten die Barbaren nicht einen anderen Tag zum Angreifen aussuchen?

Heute war Surin so gar nicht nach Anstrengung.

So eine Frechheit!

Dafür würden diese ungewaschenen Wilden bezahlen!

“Ich komme sofort!”, versprach er.

Sein Untergebener ließ sich trotz seiner unlusten Äußerung davon überzeugen und eilte sich, zurück an die Front zu kommen und seine Kameraden zu unterstützen.

Surin wandte sich um und sah zurück auf sein Bett, das direkt unter dem Fenster stand. Der eindringende Wind streichelte sachte die Gardinen. Es sah so einladend aus. Der Zustrom von frischer Atemluft täte ihm gewiss wundervolle Träume bescheren, wäre da nicht dieser Lärm! Und bei einem Angriff des Feindes hatte er nicht den Luxus, sich eine Auszeit zu genehmigen. Na schön, er würde gehen.

Aber nicht bevor er sich umgezogen und seine Haare gemacht hatte!

Er sah bestimmt schrecklich aus…
 

Mit voller Wucht traf eine Barbarenaxt auf einen Milizionärsschild und spaltete ihn in Zwei. Überrumpelt von den durchschlagenden Argumenten des wilden Kriegers aus dem Norden, stürzte der Verteidiger rücklings zu Boden. Die beiden Teile seiner einstigen Protektion taten es ihm gleich.

Der Hüne von einem Mann holte zum vernichtenden Schlag aus.

Sein Opfer sah sich seinem nahenden Ende schutzlos ausgeliefert. Mitten im Gerangel konnte er keine Hilfe von seinen Kameraden erwarten. Verzweifelt streckte er beide Arme in einem aussichtslosen Versuch, das Unausweichliche abzuwenden.

“Ashborn: Zerstreue und vernichte!”

Beinahe hätte er die Stimme für eine Einbildung gehalten.

Aber es gab keinen Zweifel an ihrer Authentizität. Diese langsame Ausdrucksweise. Ein Tonfall, wie wenn der Sprecher bereits zur einen Hälfte ins Reich der Träume übergetreten und zur anderen an Langerweile verstorben ist. Das konnte niemand anderes als Kommandant Surin sein!

Mit einem Mal schoss eine Aschewolke auf den Nordmann zu, durchdrang Kettenhemd und Untergewand und breitete sich in der Luftschicht darunter aus, bis sie den Körper des Mannes vollkommen umhüllte.

“Eine Milliarde Schnitte!”

Vor den Augen des noch immer am Boden liegenden Milizionär, wurde dem Barbaren überall am Körper die Haut in Fetzen vom Fleisch gerissen und weiter zerkleinert, bis sie in einem roten Nebel verdampfte, welcher Teilweise auf den Milizionär herab rieselte, wie ein warmer Frühlingsregen. Unter entsetzlichen Schreien kollabierte der Angreifer und fand binnen weniger Sekunden durch den Schock der vollständigen Häutung ein schreckliches Ende. Nichts, als ein entstellter blutiger Haufen Muskeln, gekleidet in Stoffen und Kettenhemd, verblieb. Die weit aufgerissenen Augen würden noch lange von seinem unsäglichen Leid kundtun, bis irgendwann, wenn die Schlacht geschlagen war, die Krähen vom Himmel herab segelten, um sich an ihnen zu laben.

Ein Bild des Schreckens, das die Macht besaß, sämtliche Kampfhandlungen für einen Moment zum Erliegen kommen zu lassen.

Freund und Feind wandten sich gleichermaßen ungläubig um.

Ihre Blicke folgten der Wolke aus Asche, die sich von dem Toten entfernte und unnatürlich durch die Luft bewegte, bis sie auf die Querstange eines Schwertes ohne Klinge traf. Es wurde von Hauptmann Surin einhändig am gebeugten rechten Arm auf Kopfhöhe gehalten, während der linke Arm nach vorn vom Körper gestreckt wurde und alle Finger der Hand gespreizt waren. Allmählich verdichtete sich das ominöse Phänomen und offenbarte, dass es sich dabei um die vermisste Klinge des Schwertes handelte.

“Eine Frechheit!”, echauffierte sich der Kommandant der Miliz. “So einen Radau zu veranstalten, wenn ich einfach nur schlafen will!”

Das lässige Gähnen des Elfen mit den langen seidigen Haaren, kurz nachdem er einen Menschen bei lebendigem Leibe gehäutet hatte, zementierte die Schockstarre.

“Wärt ihr so gut, freiwillig zu sterben? Dann kann ich mich wieder hinlegen.”

Sjur spannte die Muskeln in seinem Arm, holte aus und schleuderte seine Axt mit voller Kraft dem Kommandanten des Feindes entgegen. Für das, was er vorhatte, benötigte er sowieso zwei freie Hände.

Gekonnt wich Surin dem Wurfgeschoss aus.

Die Axt wirbelte noch etwas herum, bis sie nach rechts abdriftete, an Momentum verlor und sich letztlich in den Boden des Hafen bohrte.

Sjur hatte nichts anderes als ausgezeichnete Reflexe von einem Waffenmeister erwartet. Und es wäre doch schade, wenn sich ihr Kampf so schnell entscheiden würde! Der Elf verhieß einen echten Gegner, der es würdig war, dass Sjur sein Ass aus dem Ärmel zog. Breitbeinig stellte sich der Barbarenanführer hin und schlug beide Fäuste zusammen. “Erstarre”, beschwor er herauf, “Icebringer, Faust des Nordens!” Kälte entwich aus dem Zwischenraum seiner Fäuster und kroch seine Hände entlang, bis sie fast hinauf zu den Ellenbogen reichte. Schwarze Eiskristalle wuchsen in Etappen und zersprangen sogleich wieder. Allmählich entstanden zwei dunkle Armstulpen. Sie wurden von einem weißen Nebel umhüllt, der aus der in der Luft enthaltenen Feuchtigkeit gespeist wurde. An den Seiten befanden sich Erhebungen, an deren Ende je eine ominöse Öffnung zur Seite abstrahlte.

Valdis beobachtete ihren Gatten aus einiger Entfernung. Sie wollte ihm nicht im Weg herumstehen, wenn er drauf und dran war, seinen Spaß zu haben. Sollte es gefährlich werden, hätte sie Mittel und Wege, rechtzeitig einzugreifen.

Die Milizionäre zogen sich zurück und die Barbaren wichen auf vom Hauptweg abstrahlende Stege aus, damit das Duell der Waffenmeister beginnen konnte.

“Roaaarrrr!”, brüllte Sjur und setzte sich in Bewegung. Nachdem er einige Meter Distanz zurückgelegt hatte, sprang er vom Boden ab. Dabei holte er mit dem rechten Arm zum Schlag aus und eine blaue Stichflamme aus purer Kälte zündete aus der Seite seines Armstulpen. “Raketenschlag!” Sie verschaffte ihm genug Antrieb, dass er wie eine Kanonenkugel den Rest des Weges zu seinem Gegner über den Steg fegte.

Der Schlag traf Surin mit unvorstellbarer Kraft, riss ihn von den Füßen und katapultierte ihn gegen eine Hauswand. Er durchbrach sie Rücken voran und passierte auf seinem Weg verängstigte Stadtbewohner, welche verzweifelt in ihrem Heim Schutz gesucht hatten und ihm nachsahen, bevor er auch die zweite Hauswand durchschlug und erst an der Fassade des dahinter stehenden Gebäudes zum Stoppen kam. Risse breiteten sich hinter ihm im Putz aus. Surin benötigte einen Moment, um zu verarbeiten, was gerade mit ihm geschehen war.

Sjur nahm eine Verteidigungsstellung ein, während er auf den Konterangriff seines Gegners wartete.

Der Kommandant der Miliz schritt derweil lässig durch das Loch in der Wand des Hauses vor ihm und passierte erneut die noch immer verängstigten Stadtbewohner - dieses Mal jedoch in die andere Richtung - bevor er ihr Heim durch das gegenüberliegende Loch wieder verließ. Er klopfte sich den Staub von der Kleidung ab, als er sich seinem Gegner präsentierte. “Meine Güte”, kommentierte er. “Ich habe meine Uniform erst neulich aus der Reinigung geholt.”

Sjur wollte sich weder vom gelangweilten Gehabe des Elfen noch von der Tatsache provozieren lassen, dass sein Schlag augenscheinlich nicht den geringsten Effekt hatte. Dieser Mann war kein einfacher Hauptmann! Von jemanden seines Schlages würde man erwarten, dass er Legionen befehligte und nicht einen Haufen von bewaffneten Zivilisten, die vielleicht fünf Wochen Kampftraining genossen hatten, wenn es hochkam.

Surin genoss den verwirrten Gesichtsausdruck des Waräger. Bestimmt fragte er sich, wieso seine Anstrengungen vergebens waren. Wieso er in diesem Kaff einen so starken Gegner wie ihn antraf. Nun, das war einfach. Eines Tages kam dieser verdammte Bürokrat eines Prinzen und nahm seine Abteilung auseinander. Die Angewohnheit, den Großteil des Tages zu verschlafen, kam offenbar nicht besonders gut an. Aber was sollte er tun, wenn er immer so müde war? Letzten Endes ließ dieser hochwohlgeborene Drecksack nicht mit sich reden und versetzte ihn in die Mitte von Nirgendwo, wo seine mangelnde Disziplin nicht zum Problem wurde. Aber das war in diesem Moment alles nicht mehr wichtig.

Der Elf setzte zum Angriff an. “Eine Million Schnitte!” Die Klinge von Ashborn zersprang in unzählige Splitter, welche erneut den schwarzen Nebel formten und mit hoher Geschwindigkeit auf den Barbaren zusteuerten.

Sjur schlug mit beiden Fäusten auf den Boden. “Eisschale!” Augenblicklich gefror die Luft um ihn herum und formte eine Hülle, die der Nebel nicht zu durchdringen vermochte.

Surin beorderte seine Klinge zurück.

Sjur ließ seinen Schild zerspringen und zündete die eiskalten Flammen seiner Armstulpen. Mit kräftigen Sprüngen attackierte er unentwegt den Feind, welcher jedoch immer im letzten Moment auswich. Derweil zerstörten die Schläge allmählich den Hafen. Sie verursachten bei jedem Treffer Staubwolken und Splitter.

Surin fand eine Lücke im Angriffsmuster des Barbaren und nutzte sie aus, indem er Sjur einen kräftigen Tritt gegen den Unterkiefer beibrachte, der ihn meterweit durch die Luft gleiten ließ, bevor er unsanft aufkam. Sofort versuchte Sjur, aus seiner misslichen und verwundbaren Lage zu entkommen und aufzustehen.

Aber Surin wollte ihm dazu keine Zeit lassen. Er bereitete einen weiteren fatalen Angriff vor. “Eine Million Schnitte!” Erneut schoss der todbringende Nebel auf Sjur zu und er wusste, dass er nicht mehr genug Zeit zur Verfügung hatte, seinen Schild aufzubauen. Er machte sich bereit, bald in der großen Methalle zu sein, als aus der Ferne die Stimme seines Weibes an sein Ohr drang. “Verbrenne und verheere, Flameburst!” Es zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht.

Ein roter Feuerschweif durchbohrte die Aschewolke und brachte sie aus dem Gleichgewicht, sodass ihre Bewegung gestoppt wurde. Die Millionen Klingen der Teufelswaffe wurden in alle Richtungen auseinandergetrieben.

Sjur schenkte Valdis einen kurzen, danksagenden Blick.

Am anderen Ende des Steges stand sie. Einen schwarzen Bogen in den Händen haltend, dessen Enden in Flammen standen und mit einer glühenden Sehne verbunden waren. Wieder einmal hatte sie ihm aus der Patsche geholfen.

Allerdings durfte er nicht nachlassen, sondern musste die Gunst der Stunde nutzen, bevor der Elf seine Waffe wieder unter Kontrolle bekam. Er sah sich um und durch eine glückliche Fügung des Schicksals steckte seine Axt, die er zuvor geworfen hatte, in Armreichweite neben ihm im Boden. Sofort griff er nach ihr und zog sie heraus. Eine Schicht aus schwarzem Eis bildete sich und umschloss seine Waffe. Getrieben von der Kraft seiner Armstulpen, katapultierte er sich nach vorn und trieb die Axt einmal quer über den Rumpf seines Gegners. Blut spritzte und gefror sofort danach. Surin wusste gar nicht, wie ihm geschah, als er Rücklings in das Hafenbecken stürzte und unterging, den schwarzen Nebel seines Schwertes hinter sich her ziehend.

Erleichtert stieß Sjur einen Siegesschrei aus.

Verängstigt ließen alle Verteidiger ihre Waffen fallen und rannten davon, wie die Hasen. Sie wussten, dass wenn ihr Hauptmann geschlagen war, sie nicht das Geringste auszurichten vermochten. Es stimmte, was man sagte: Man muss der Schlange den Kopf abschlagen.

Begeistert stimmten die anderen Barbaren in den Jubel ihres Anführers mit ein.

Ein düsteres Schicksal stand den Dorfbewohnern bevor…
 

🌢
 

Zurück in der Gegenwart.

Langsam segelte eine Schneeflocke vom Himmel herab. Lange war sie gereist. Hinter ihr lag ein weiter Weg, der oben in den undurchsichtigen Wolken begann, die die schwache Sonne des ausklingenden Herbstes verdunkelten. Der Abstieg bestand aus ruhigen und turbulenten Etappen. Mehrfach hatten sie die Winde verschiedener Luftströmungen erfasst und mit sich gerissen. Es war nach bestem Willen nicht möglich zu erkennen, wo die Schneeflocke von den Kräften der Natur hingetrieben würde. Sie war allerdings bei weitem nicht die erste ihrer Art. Unzählige ihrer Schwestern wurden mit ihr zum Spielzeug der Winde, während die Schwerkraft allmählich die Oberhand gewann und sie mit ihrer Anziehungskraft dem Boden näher brachte.

Alleine war jede von ihnen unwesentlich, bedeutungslos.

Doch vereint zu Tausenden - Millionen - vermochten sie es, die Welt in ein winterliches Kleid zu hüllen.

Während der Boden mit weißem Puder abgedeckt wurde, bereiteten sich Fauna und Flora auf das kommende Jahr vor. Wenn der Lebensrhythmus von Mensch und Tier langsamer wird, dann besitzt das Weiß des Winters die Macht, die Zeit anzuhalten. Jeder, welcher schon einmal das Vergnügen hatte, auf einem verschneiten Pfad zu wandeln, während jeglicher Laut vom Schnee geschluckt wurde, sodass einzig das Knirschen der eigenen Schritte zu vernehmen war, der weiß, wie es sich anfühlt.

Und die Schneeflocke war selbst Trägerin eines verschwindend geringen Teils dieser Ruhe und würde dazu beitragen, sie der Winterwelt aufzuerlegen.

Die Strömungen der Winde trieben sie nun auf einen großen Baum zu. Er hatte schon den Großteil seiner Blätter verloren und stand entblößt bereit, sein neues Kleid zu empfangen. Die Flocke durchquerte eine Lücke zwischen den Ästen nach der anderen, ohne mit einem von ihnen zu kollidieren, wohingegen viele ihrer Schwestern nicht dieses Glück teilten. Für sie war die Reise an diesem Punkt zu Ende. Aber die Schneeflocke flog einfach immer weiter, bis sie die Gabelungen des Gewächses hinter sich ließ.

Ungehindert konnte sie nun ihren Weg auf den Boden fortsetzen.

Ein sanfter Luftstoß ließ sie in einer Abwärtsspirale nach unten wirbeln. Einige Umdrehungen hielt er die Schneeflocke in seinem Bann, bis es ihr gelang auszubrechen und unbehelligt weiter hinab zu segeln.

Endlich war das Ende des langen Weges in greifbarer Nähe.

Mit der Grazie einer Feder landete die Schneeflocke auf der Wange einer Frau und schmolz sofort. Ein kühler Strom floss das Gesicht der Unbekannten herunter und weckte sie sanft aus ihrem Schlaf.

Die Frau strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht und sah sich um. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie keine Kleider trug. Trotzdem schien ihr die Kälte nichts auszumachen. Erst jetzt wurde ihr all das Rot um sie herum bewusst. Sie lag in einer Blutlache. Aber es war nicht ihres. Ihre makellose Haut wies keinen Kratzer auf. Neben ihr befand sich der fürchterlich zugerichtete Kadaver eines Hirschbock. Die Eingeweide des stolzen Tieres brachen aus den klaffenden Wunden in seiner Bauchdecke heraus. Teile von ihnen lagen in Stücke gerissen überall verstreut. Die Frau sah kurz auf, als müsse sie die Situation erst begreifen. Ihre anfängliche Verwirrung verflog und unbändiger Hunger erwachte in ihr. Sie beugte sich über den Tierkadaver und vergrub ihr Gesicht in den Innereien des Hirsches.
 

Alaric quälte ein mulmiges Gefühl. Kurz nachdem er aufgestanden war, überbrachte ihm ein Page eine Botschaft. Cinnamon und Rose wollten sich mit ihm treffen, um die Ergebnisse ihrer Spionage an ihn weiterzureichen. Als Ort für die Übergabe bestimmten sie ausgerechnet den Schwarzen Palast - eine der am besten gesicherten Anlagen im ganzen Kaiserreich. Der Prinz war zwiegespalten. Zwar verlangte es ihm danach zu sehen, wie die Schattenschwestern es bewerkstelligen wollten, einzudringen, und er zweifelte auch nicht daran, dass es ihnen gelingen würde… Andererseits wollte er aber nicht die von ihm für gut befundenen Sicherheitsmaßnahmen torpediert sehen.

Über den Zeitpunkt ihres Erscheinens ließen sie Alaric ebenfalls im Dunkeln.

Der Prinz vermutete, dass sie ihm nicht vertrauten und auf diese Weise einer möglichen Falle vorbeugen wollten. Wenn niemand wusste, wann sie kamen und wie sie kamen, gestaltete sich das Legen eines Hinterhaltes schwierig.

Alaric blieb nichts weiter übrig, als zu warten.

Die Informationen sollten ohne Umwege direkt an ihn ausgehändigt werden.

Dazu würden sie sich ihm schon zu erkennen geben.

Aus Mangel an Alternativen ging Alaric seinem Tagewerk nach. Es war ein Versuch, nicht andauernd daran denken zu müssen, welche schmutzigen Geheimnisse die Agentinnen über seine Geschwister aufdeckten. Vielleicht wären die Informationen nicht so brisant, wie er es befürchtete. Die naive Wunschvorstellung des kleinen Bruders. Alaric vergrub sich in Arbeit, damit diese aus seinem Geist verschwinden möge.

Er nahm sich einen Stapel Dokumente in seine Gemächer mit.

Wenn er sich an diesem Ort aufhielt, wurde die Situation berechenbarer. Durch die Blei gefassten Fenster konnte niemand eindringen, ohne Krach zu verursachen und die Wachen zu alarmieren. Das ließ die Tür als einzigen Zugang. Er musste nur den Zugang zu seinen Gemächern im Blick behalten, um nicht überrascht zu werden. Die vermeintliche Kontrolle über die Situation schenkte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Es würde helfen, den Gedanken ruhen zu lassen und konzentriert zu arbeiten.

Wie es typisch für ihn war, hatte er jede Hilfe beim Tragen des Stapels abgelehnt. Doch dass ihm eine der Wachen, deren Gesicht von einem schweren Helm verdeckt wurde, seine Tür öffnete, konnte er nicht mehr verhindern. Er bedankte sich, wie es Ehre und Anstand verlangten, trat ein und stieß die Tür hinter sich mit dem Fuß zu. Anschließend wuchtete er die Papiere auf seinen Arbeitstisch.

Die nächsten Stunden vergingen ohne einen Zwischenfall.

Die Planungen für die Zusammensetzung der Kohorten und deren Ausrüstung gingen fast wie von selbst von der Hand.

Alaric schmunzelte.

Eine weitere Unterschrift fand ihren Platz auf dem Schriftträger vor ihm.

Heute hatte er offensichtlich einen Lauf!

Als er sich gerade das nächste Dokument vornehmen wollte, vernahmen seine Ohren ein merkwürdiges Rascheln. Suchend blickte sich der Prinz in seinen Gemächern um. Was mochte sein Ausgangspunkt sein? Schnell machte er seinen Kleiderschrank als Quelle des befremdlichen Geräusches aus. Sachte erhob er sich von seinem Stuhl. Seine Hand wanderte zu seinem Schwert, als er sich vorsichtig dem Möbelstück näherte.

Bevor Alaric etwas tun konnte, sprang die Tür des Schrankes auf, und ein Mädchen entstieg ihm. Sie hatte dunkelrote Haare, die in zwei verspielten Zöpfen gefunden waren. Ihr Alter schätzte er auf vielleicht vierzehn Jahre. Zu seiner Verwunderung kniete die Rothaarige vor ihm nieder und verharrte.

“Bist du Rose?”, fragte Alaric. “Wie lange bist du da schon drin?”

Er erhielt keine Antwort.

Daraufhin öffnete sich die Tür und einer der Wächter trat ein. “Euer Hoheit”, sprach der Mann, als er das fremde Kind erblickte. “Wer-”, wollte er fragen, als eine Hand einen in Betäubungsmittel getränkten Lappen an seinen Helm hielt und er das Bewusstsein verlor.

Die andere Wache packte ihn und zerrte ihn hinein zu Alaric und legte ihn auf den Boden ab. Danach verschloss sie die Tür und begann sich des Helmes zu entledigen. Als dieser fiel, und lange türkis-grüne Haare zum Vorschein kamen, vermutete Alaric, dass dies Cinnamon sein müsse. Im Gegensatz zu Rose schien sie schon weit über dreißig zu sein. Auch sie kniete vor Alaric nieder.

“Bringt Ihr mir die Informationen, die ich angefordert habe?”

Wortlos zückten das Mädchen und die Frau jeweils eine mit Wachs versiegelte Schriftrolle und boten sie Alaric am ausgestreckten Arm dar.

Sofort nahm er ihre Mitbringsel an sich.

Die fremden Eindringlinge erhoben sich und verließen Alarics Gemächer. Cinnamon nahm den Helm wieder an sich, den sie zuvor abgelegt hatte, und versteckte ihre grünen Haare unter ihm.

Alaric beobachtete, wie Rose die Tür hinter ihnen schloss.

Einige Minuten später kam der bewusstlose Wächter wieder zu sich.

Erschrocken hob er sein Haupt. Hilfe suchend, sah er seiner Hoheit in die Augen. “Was ist geschehen?”, fragte er. Ihm wurde bewusst, dass er noch immer auf dem Boden lag und eilte sich, sich zu erheben. “Verzeiht…”

Alaric legte die Schriftrollen auf seinem Arbeitsplatz ab.

“Wer war das vorhin, Euer Hoheit?”

Offensichtlich meinte er das Mädchen, das er bei ihm gesehen hatte. Eigentlich verlangte es sein eigenes Protokoll, dass er nun Alarm schlagen ließ, doch Alaric bezweifelte, dass von den Eindringlingen noch eine Spur zu finden war. Darum entschied er, nicht unnötige Ressourcen dafür zu vergeuden. “Das war eine Dienerin meiner Schwester”, flunkerte er. “Sie hat mir eine Nachricht überbracht. Kein Grund zur Beunruhigung."

Der Wächter versuchte, seine Zweifel aus seinem Hirn zu schütteln.

“Aber du solltest einen Heiler aufsuchen”, riet der Prinz.

Ihm war immerhin Schwarz vor Augen geworden. “Ihr habt Recht.” Nun verließ auch er das Zimmer und Alaric war wieder allein. Zögerlich wandte er sich den Schriftstücken zu, deren Inhalt ihm vielleicht nicht gefallen würde.
 

Nachdem der Notruf aus Arsenré in der nächstgelegenen Garnison eingetroffen war, schickte man umgehend eine Hundertschaft aus, die den Feind aus der Stadt vertreiben sollte. Doch als sie ihr Ziel erreichten, fehlte von den Barbaren jede Spur. Die Überbleibsel ihrer Taten waren jedoch umso sichtbarer.

Der Zorn der Waräger hatte die Ortschaft schwer getroffen.

Feuer brannten in den eingestürzten Ruinen einstiger Häuser. Der beißende Geruch der schwarzen Schwaden kroch in die Lungen der Soldaten und hinterließ einen Geschmack von Holzkohle und verbranntem Fleisch. Einige von ihnen mussten husten, in anderen stieg Übelkeit auf. Die Zerstörung schien omnipräsent. Zwischen den Trümmern lagen vereinzelte Leichen. Die Hinterbliebenen beklagten ihre Verluste.

“Unfassbar!”, erhob einer der Soldaten die Stimme. “All das hier sollen gewöhnliche Menschen getan haben?”

“Man versucht sich stets in Grausamkeit zu übertreffen”, meinte ein anderer.

Die Hundertschaft wurde von Offizieren der Versorgungseinheit begleitet. Sie führten Baumaterialien, Zelte und Hilfsgüter mit sich. Schnell wurden für die Überlebenden des Angriffs provisorische Unterkünfte aus dem Boden gestampft und Essensausgaben eingerichtet, damit die größte humanitäre Not gelindert werden konnte.

Unterdessen durchkämmen die Soldaten die Ruinen nach weiteren Überlebenden.

Irgendwann hatten sie sich bis zum Hafen vorgearbeitet.

Die Spuren des Kampfes legten Zeugnis über den Verlauf der Schlacht ab.

Einer der Soldaten blickte hinaus in die künstliche Bucht und entdeckte etwas im Wasser treibend. “Schaut, dort!”, rief er seinen Kameraden zu.

Das Objekt schien sich an einem Pfeiler des Stegs verhakt zu haben.

Es schien sich um eine Person zu handeln.

Sofort eilten drei der Soldaten über den ramponierten Übergang, dem seltsamen Objekt entgegen. Als sie es erreichten, bewahrheitete sich ihre Vermutung. Es handelte sich tatsächlich um eine Person. Ein männlicher Elf mit langen seidigen Haaren, welche frei im Wasser trieben und von den Wellen in Bewegung gesetzt wurden. Es gab gar keinen Zweifel an der Identität der Person. Es musste sich um Kommandant Surin handeln. Sein Oberkörper zierte eine Schnittwunde, welche ihm diagonal beigebracht wurde. Allerdings schien das Blut bereits geronnen zu sein.

Vorsichtig frischten die Soldaten den vermeintlichen Kadaver aus dem Wasser.

Der Routine folgend wurden die Vitalfunktionen geprüft. “Ich spüre einen Puls!”, verkündete einer der Männer verwundert.

Surin riss plötzlich seinen Mund auf und begann zu schnarchen.

“Ich fasse es nicht, der pennt!”
 

Nach erfolgreicher Jagd kehrten Nebula und die anderen zurück zum Lager, in dem Henrik schon sehnsüchtig auf sie warten musste. Ihre Bemühungen zur Nahrungsbeschaffung hatten sich ausgezahlt. Jeder leistete seinen Teil, egal wie groß dieser ausfiel. Für die der Jagd bewanderten, stellte es keine besondere Herausforderung dar. Clay und Nebula brachten beide je ein Rotwild zur Strecke. Annemarie sammelte Beeren und Pilze, so wie man es ihr aufgetragen hatte. Cerise interessierte sich einzig für die giftigen unter ihnen. Für Aki kam es einer Prüfung gleich. Sie nutzte die Gelegenheit, ihre Belastbarkeit auszutesten. Toshiro fühlte sich wie Zwiegespalten. Er wollte nicht, dass sie sich überanstrengte, aber von ihrer Pflicht ließ sie sich so oder so nicht abhalten.

Fürs erste sollte dies genügen.

Bald würden sie sich sowieso nur schwerlich selbst versorgen können, denn sie konnten den Schnee förmlich riechen, wie er oben in den Wolken hing, bereit auf sie herabzurieseln. Früher oder später würden sie die Stadt erreichen. Bis dahin konnten sie ihre Überschüsse unter der Hand loswerden. Nicht dass jemand in Lescar auf die Idee kam, unangenehme Fragen zu stellen. In Aschfeuer gab es gewiss ähnliche rechtliche Grundlagen für die Jagd, wie in Morgenstern, und eine Anklage wegen Wilderei konnten sie nicht gebrauchen.

Mit ihrer reichen Beute betraten sie das Camp.

Wie erwartet, kam Henrik ihnen sogleich entgegen. Er sah merkwürdig aus. Seine Haare wirkten, als hätten sie Bekanntschaft mit dem Lagerfeuer gemacht.

“Was ist denn mit dir passiert?”, fragte Cerise. Sie gab sich keine Mühe, ihr Lachen zu verbergen. “Hast du dein Haupthaar als Zunder benutzt?”

“H-Ha ha”, erwiderte Henrik wenig begeistert.

“Was ist denn passiert?”, fragte Annemarie mit großen Augen.

“Das glaubt ihr m-mir doch s-sowieo nicht…”, befürchtete der Braunhaarige.

“Versuche es!”, forderte ihn Nebula auf.

“D-Der Junge wars!”

Unverständige Blicke trafen ihn.

“E-Er hat g-gerülpst… und d-”

“-dabei deine Haare in Brand gesteckt?”

“J-Ja!”

Jetzt starten sie ihn an, als hätte er nicht mehr alle Groschen im Klingelbeutel.

“E-Es ist die W-Wahrheit!”

Er hatte Recht. Niemand wollte ihm Glauben schenken.

Drachenkind


 

🌢
 

Genüssliche Dämpfe stiegen empor in den klaren Nachthimmel. Gewiss würde der Wohlgeruch auch die Sterne des Firmamentes erfreuen, wenn sie denn Nasen hätten, die das herrliche Aroma aufnehmen könnten. Ein rhythmisch wiederkehrendes Quietschen störte jäh die besinnliche Stimmung. Eine Konstruktion aus in der Mitte über Kreuz gebundenen Stäben war um das Lagerfeuer errichtet worden. Der nächtliche kalte Wind der Winterlandschaft ließ die Flamme flackern und die Schatten derjenigen wilde Tänze aufführen, die sich zusammengefunden hatten. In der Gabelung der verbundenen Stäben lag waagerecht ein Spieß, der durch den Körper eines Tieres getrieben war. An seinem Ende befand sich ein Aufsatz mit einem Kurbelgriff, der mit einem Gewinde festgeschraubt werden konnte. Mit ihm wurde der köstliche Düfte emittierende Braten über dem Feuer gedreht, bis er von allen Seiten gut durch war.

Missmutig stand Nebula am Feuer und drehte die Kurbel.

Hätte sie nur nie darauf bestanden, bei der Zubereitung des Abendessen zu helfen…

Da die anderen befürchteten, dass sie nicht einmal Fleisch anbraten könne, ohne eine kulinarische Katastrophe zu fabrizieren, war der undankbare Job des Kurbeldrehers die einzige Aufgabe, die sie ihr zutrauten.

Das Holz des Griffes ächzte und stöhnte unter dem Druck, den die Finger der Blondine ausübten, während sie versuchte, ihrer Wut Herr zu werden.

Am liebsten hätte sie ihre Zähne darin vergraben.

Zuvor wurde der Braten von Clay und Henrik gewürzt und vorbereitet.

Clay hatte sich um die Innereien gekümmert. Während die anderen die Füllung genießen würden, mit der Henrik das ausgehöhlte Tier gestopft hatte, sollten die Eingeweide Clays inneren Wolf sättigen.

Da Toshiro die Nahrungszubereitung in guten Händen wusste, beschäftigte er sich damit, zu trainieren und noch mehr Muskeln anzuhäufen.

Während Annemarie vergnügt in ihrem Märchenbuch schmökerte, förderten Aki und Cerise den kulturellen Austausch, indem sie ihr Wissen um die effizientesten Methoden zur Beendigung von Leben teilten.

“Ä-Ähm Leute”, begann Henrik zu sprechen. “H-Hallo! Ich…” Aber scheinbar hörte ihm niemand zu.

Plötzlich durchbrach ein schreckliches Grölen die Idylle. Sofort sahen sich alle nach der Quelle um. Clay hatte das Elend nicht mehr länger mit ansehen können, und verschaffte sich an Henriks Stelle Gehör durch sein wölfisches Gebrüll. “Der Junge will was sagen.”

"Ach, ist das Essen fertig?”, fragte Nebula. “Kann ich das Kurbeln einstellen?”

“N-Nein!”, antwortete der Braunhaarige. Er hatte sich die Zeit mit dem Säugling vertrieben und mit ihm gespielt. Nun hob er ihn an und stützte seinen Kopf auf seinem Ellenbogen. “E-Er braucht einen Namen.” Vorsichtig kraulte er den Jungen unter dem Kinn. “Schließlich ist er kein D-Ding.”

“Das wäre nicht klug”, äußerte sich Aki. “Ihm einen Namen zu geben, zieht zwangsläufig eine emotionale Bindung nach sich. Dann fällt die Trennung schwerer.”

Beinahe erschrocken blickten sich einige zur sonst so schweigsamen Frau um.

“Vielleicht hat sie Recht…”, grübelte Clay und strich sich über seinen Bart.

“Och nö!”, schrie Annemarie auf. “Ich will einen Namen aussuchen!”

“Reicht es nicht, ihn Schreihals zu nennen?”, kommentierte Cerise. “Laut ist er ja.”

Nebula funkelte sie bestimmend an, während sie das Kurbeln fortsetzte. Ihre Tätigkeit reduzierte die Bedrohlichkeit ihres Blicks allerdings erheblich.

“Oh, oh, oh! Ich habs”, verkündete Annemarie. “Wir nennen ihn Hänsel.”

Cerise stieß die flache Hand auf ihr Gesicht und schüttelte mit dem Kopf.

Das Baby sperrte den Mund auf und schrie, als täte es sein Missfallen kund.

“W-Wir können ihn n-nicht nach irgendeinem Märchen nennen”, mahnte Henrik.

“Wie wäre es mit Adrian?”, schlug Clay vor.

Aber auch das beruhigte den Kleinen nicht.

Nebula stellte das Kurbeln ein. “Ein Kind bekommt seinen Namen bei der Weihung”, intervenierte sie. Hastig verbarg sie das Zittern ihrer rechten Hand.

Genervt stöhnte Cerise und rollte mit den Augen. Als ob der Krach nicht schlimm genug wäre, kam jetzt die Prinzessin mit ihren verklemmten Moralvorstellungen dazu.

Angelockt von der hitzigen Diskussion, fand Toshiro zu ihnen. Er hatte sogar sein Training beim einhunderteinundvierzigsten Liegestütz abgebrochen, um seine eigenen Argumente mit einzubringen. “Wir nennen ihn Kaji”, verkündete der muskulöse Blonde. “Das bedeutet Feuer.”

Wie durch ein Wunder beruhigte sich der Säugling.

“W-Wieso wollt Ihr das bestimmen?”, fragte Henrik.

“Genau!”, schmollte Annemarie. “Ich will! Ich!”

“Ihm gefällt es offenbar”, meinte Toshiro.

Tatsächlich lachte der Junge und wackelte vergnügt mit Armen und Beinen.

“Außerdem…” Toshiro trat an Henrik heran und nahm ihm den Säugling ab. Er umfasste den Oberkörper des Kindes und hielt ihn Henrik gegenüber, sodass sich ihre Gesichter gegenüberstanden. Plötzlich öffnete der Junge seinen Mund und rülpste. Eine kleine Stichflamme verließ seinen Mund und versengte Henriks Haar. “... passt es zu ihm.”

Cerise gab sich hemmungslosem Gelächter hin.

Sogar Aki konnte es ein Schmunzeln entlocken.

Fassungslos fror Henrik rußiges Gesicht ein. Erst wollte es ihm keiner Glauben und jetzt nutzten sie es, um sich auf seine Kosten zu amüsieren.
 

Angestrengt kniff Alaric sein verbliebenes Auge zusammen, als er ein allerletztes Mal seine Muskulatur anspannte und die nötige Kraft aufbrachte, den finalen Liegestütz zu beenden. Danach stützte er auch den rechten Arm auf den Boden auf, welchen er zuvor auf dem Rücken gehalten hatte. Mit einem Gefühl der Zufriedenheit nutzte er beide Extremitäten als Aufstehhilfe. Einarmige Liegestütze gehörten zu seinem täglichen Übungen. Mit dem rechten Arm hatte er zuvor schon begonnen und nun waren auch die Trainingseinheiten des Linken vollständig.

Kurz verschnaufend bewegte sich der jüngste Spross der Kaiserfamilie zu einer Wasserschale und beträufelte seine schweißgetränkte Stirn mit dem erfrischenden kühlen Nass und ließ es anschließend über seinen entblößten Oberkörper laufen. Die Ströme der Flüssigkeit bahnten sich ihren Weg über die Hügel und Täler seines ansehnlichen Waschbrettbauch, bis sie vom Saum seines Beinkleides aufgesogen wurden.

Der rhythmische Paukenschlag seines Herzens gab ihm das wohltuende Gefühl, etwas getan zu haben - anders als seine administrativen Tätigkeiten. Körperliche Ertüchtigung war der mehr als notwendige Ausgleich dazu.

Statt zu trainieren hätte er sich ebenso gut die Erkenntnisse der Schattenschwestern zu Gemüte führen können, die noch immer auf seinem Schreibpult lagen. Aber noch hatte er sich nicht dazu durchringen können, die Siegel zu brechen.

Wäre sein Körper das einzige, das er stählen wollte, hätte Alaric sich den Weg in die Garnison sparen können. Doch für das Training seiner Fähigkeiten benötigte er Platz, den seine Gemächer ihm nicht bieten konnten. Auf dem Aufmarschplatz gab es genug freie Fläche und bis zum Morgenappell waren noch mehrere Stunden Zeit.

Diese gedachte der Prinz zu nutzen.

“Trenne Körper und Geist!”, beschwor er. “Anima!”

Er nahm die übliche Pose ein. An seinem zur Seite hin ausgestreckten Arm begann ein kaltes Feuer zu lodern. Zwischen den saphirblauen Flammen materialisierte sich eine Kette, die sich einer Schlange gleich rasselnd um Alarics Arm wand.

Plötzlich fuhr ein Schmerz durch Alarics Kopf wie ein Messer durch Butter.

Er ließ den Prinzen auf die Knie fallen und sein Haupt ergreifen.

Indes entschwanden die Segmente des Anima und die Flammen erloschen.

Alaric nutzte den freigewordenen Arm, um Halt auf dem Boden des Platzes zu finden.

Er keuchte und kniff erneut sein Auge zu.

Der imaginäre Dolch in seinem Schädel wurde gedreht und quälte ihn.

Dann öffnete er sein Auge wieder.

Sein Blick fiel auf einen ledernen Stiefel.

Vor ihm stand eine Person, die zuvor noch nicht da gewesen war.

Alaric hob sein Haupt.

“Geht es Euch gut, Hoheit?”, fragte der Soldat, der vor dem Prinzen stand. Nicht selten kam seine Hoheit hierher, um seine Kräfte zu trainieren. Er hatte gerade seinen Rundgang absolviert, als er Alaric zusammenbrechen sah. Er war sofort zu ihm geeilt. Aber der Prinz hatte seine Rufe scheinbar überhört.

“Mein Kopf!”, exklamierte der Hochwohlgeborene.

“Soll ich einen Heiler rufen?”, erkundigte sich der Soldat.

Inzwischen fühlte sich der Schmerz wie eine Speerstange an, die quer durch seinen Schädel getrieben wurde. “Es geht schon”, versicherte er und stand vorsichtig auf. Unter Aufwartung all seiner Kräfte verließ er den Aufmarschplatz.

Der Soldat blieb noch einen Moment stehen, bis er seine Runde wieder aufnahm.

Als Alaric sich unbeobachtet fühlte, wanderte die Hand zurück an seinen Kopf. Zwar wurden die Schmerzen allmählich weniger, den Gefallen zu verschwinden, taten sie ihm allerdings nicht. Er musste dringlichst etwas gegen diesen Fluch unternehmen, nun da es begonnen hatte, seine Fähigkeiten zu beeinträchtigen.
 

Mit nichts als einem Namen betraten Nebula und die anderen die Stadt. Die Suche nach diesem Philippe glich der nach einer Nadel im Heuhaufen. Lescar war nicht gerade klein. Wo sollten sie beginnen? Die ersterbende Stimme der Frau, die ihnen den Säugling übergab, hallte noch immer in den Ohren der Prinzessin nach und trieb sie voran. Vielleicht gehörte der Name dem Vater des Kindes. Die Kunde von der Zerstörung des Dorfes musste inzwischen auch in die Stadt vorgedrungen sein. Sicherlich würde er sich freuen, dass sein Sohn wohl auf war. Vielleicht war auch eine Belohnung drin - in fremden Landen musste man sehen, wo man blieb.

Aber dazu mussten sie den Mann erst ausfindig machen.

Die besten Chancen rechnete sich die Gruppe auf den Märkten aus. Die Knotenpunkte des zivilen Lebens waren stets reich an Möglichkeiten. Anschlagbretter offerierten Aufträge für Tagelöhner, der Stadtschreier unterrichtete die Einwohner von Lescar über aktuelle Ereignisse und an den Marktständen gab es reiche Angebote. Menschenmassen strömten gleich Blut durch ein Gefäßsystem auf den unzähligen Straßen zum Hauptmarkt. Irgendjemand wusste immer etwas.

Man musste nur die richtige Person abgreifen.

Es wäre nicht klug gewesen, die ganze Zeit ein Baby durch die Stadt zu schleppen. Darum blieben Annemarie und Henrik zurück in einem Gasthaus, um auf den Jungen aufzupassen. Die verbliebenen Fünf strömten aus und begannen die Passanten zu fragen.

Kopfschütteln um Kopfschütteln. Die Sonne rannte über das Himmelszelt während Nebula und den Anderen ein Schulterzucken nach dem anderen entgegnet wurde. Niemand wollte einen Philippe kennen. Nicht einmal Cerise gelang es, ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen. Allerdings konnte man auch nicht erwarten, dass sie sofort Erfolg haben würden.

Als der Tag sich dem Ende entgegen neigte, trafen sich alle am großen Brunnen mitten auf dem Markt wieder. Sie tauschten sich über ihr kollektives Versagen aus. Auch Aki, Clay und Toshiro hatten nichts herausfinden können.

Wütend trat Nebula gegen einen hölzernen Eimer, der ihrem Kraftausbruch nichts entgegenzusetzen hatte und in seine Einzelteile zerfiel. “Verdammt!”, machte sie ihrem Ärger Luft. “Irgendwer muss den Kerl doch kennen!”

“Das ist in der Tat seltsam”, pflichtete Cerise bei. “Philippe ist in Aschfeuer kein so seltener Name.” Sie grübelte. “Ich hatte schon das Gefühl, als ob einigen der Name etwas sagt. Aber sie haben geschwiegen.”

“Also habe ich mir das nicht eingebildet!”, sagte Toshiro.

Demütig fiel Aki vor ihm auf die Knie, begleitet von den skeptischen Blicken der anderen. “Es tut mir leid, dass ich auch nicht von Nutzen sein konnte, Toshiro-sama.” Als ob sie eine Strafe erwartete, sah sie den jungen blonden Mann an.

“Ich denke, heute erreichen wir nichts mehr”, meinte Clay. “Lasst uns zurück zur Herberge gehen. Sonst kommen wir noch in die Sperrstunde.”

Vernünftig! Nicht auszudenken, die Stadtwache hätte einen Grund, sich für sie zu interessieren. Die anderen stimmten zu und sie kehrten zurück. Außerdem stiefelten sie schon den ganzen Tag durch die Kälte.

Vor dem Gebäude erwarteten sie nicht nur Henrik und Annemarie - letztere hielt den kleinen Kaji in ihren Armen - sondern auch ein paar ungebetene Gäste. Vorsichtig gingen Nebula und die anderen weiter, bis das spärliche Licht die Männer als Mitglieder der Stadtwache erkennbar machte.

Verflucht! Hatten sie es nicht mehr rechtzeitig geschafft?

Einige Meter vor dem alten Fachwerkhaus kam der Tross zum stehen. Nebula und die anderen sahen verwirrt zu den Soldaten. Es ging doch nicht etwa um die von der Prinzessin begangene Sachbeschädigung?

Einer der Männer trat vor und machte sich sprechbereit.

“Was wird uns vorgeworfen?”, kam Nebula ihm zuvor.

“Ihr seid die Fremden, die zu viele Fragen stellen!”, meinte der Mann.

“Z-Zu v-viele?”, stotterte Henrik ängstlich.

“Oh, waren es etwa die falschen?”, fragte Cerise zynisch. “Das tut uns aber Leid.”

“Wenn Ihr nicht unsere Fragen beantwortet, wird es das sicher.” Er wandte sich zu den anderen Stadtwachen um. “Männer: Abführen!” Zwei von ihnen verblieben am Eingang des Gasthofs, während der Rest begann, nun auch die Ankommenden zu umstellen.

Aki zuckte bereits der Finger. Sie wollte einen Abzug betätigen.

Auch Toshiro verspürte die Lust, lieber gleich als später loszuschlagen. Mit fixiertem Blick und breitem Grinsen im Gesicht starrte er den Anführer der Soldaten an.

Um einer Eskalation vorzubeugen, beschlossen Nebula und ihre Begleiter, dass es besser war, den Wachen Folge zu leisten und sie zu begleiten.

“Wo werden wir hingebracht?”, fragte Clay.

“Zur Garnison”, antwortete der Gruppenführer.

Einen Moment später setzten sich alle in Bewegung. Erst sah es so aus, als ob man sie tatsächlich zum Militärgebäude bringen wollte. Doch als sie an ihm vorbei geführt wurden und eine verdächtig abgelegene Gasse betraten, wanderte auch Nebulas Hand allmählich an die Waffe. Das stank doch zum Himmel!

Plötzlich gab der Gruppenführer seinen Männern ein Zeichen und jeder versuchte, sich einen von Nebulas Verbündeten zu schnappen. Einer packte Annemarie, aber sie rammte ihm zielsicher den Ellenbogen in den Schritt und entschwand, während er sich vor Schmerz krümmte, beschämt von einem kleinen Mädchen ausgetrickst worden zu sein. Sie versteckte sich zusammen mit dem Baby hinter einem großen Fass. Clay, Henrik, Toshiro und sogar Cerise hatten weniger Glück und wurden mit einer Klinge am Hals in Schach gehalten. Aki zog ihre Bayonettpistolen und fuhr mit einem Knopfdruck die Klingen aus, bevor ihre Manndeckung reagieren konnte. Nebula wehrte ebenfalls den Versuch der Gefangennahme mit ihrem Schwert ab.

Während die anderen Gefangenen ängstlich auf die Klinge an ihrer Kehle blickten, brachte Cerise den Mann hinter sich Mittels erotischem Augenkontakt ins Schwitzen. Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über die Klinge, bis die Haut brach und roter Lebenssaft austrat. Gemächlich führte sie den verletzten Finger zum Mund und leckte sich den Blutstropfen ab. Augenklimpernd wandte sie sich dem Mann hinter ihr zu. “Du hast aber ein scharfes Schwert”, hauchte sie.
 

🌢
 

Alaric hatte es sich inmitten seiner Gemächer im Schneidersitz bequem gemacht. Noch immer beunruhigte ihn, dass Anima beim Training scheinbar den Gehorsam verweigert hatte. Das hatte es noch nie getan!

Schon wieder führte der Weg zur Lösung seines Problems über ein Ritual.

Seit seiner Jugend hatte man ihn schon darauf vorbereitet, ein Waffenmeister zu sein. Anders als bei solchen, die nur durch Zufall in den Besitz einer Teufelswaffe gelangen, genoss er ein mentales Training. Unter anderem lehrte man ihm eine Technik, mit der es ihm möglich war, die Seelenwelt des Anima zu betreten.

Zwar gab es Fälle, wo die Waffe selbst den Kontakt suchte, aber für den Waffenmeister war das Ritual - abgesehen von Befehlen während des Kampfes - die einzige Möglichkeit, bewusst mit der Waffe zu kommunizieren.

Alaric schloss seine Augen und verlangsamte seinen Atem.

Er konzentrierte sich und horchte in sich hinein.

Die lästigen Gedanken an seine Pflichten schob er beiseite - für den Moment.

Langsam verhallten die Störgeräusche in seinem Kopf.

Alaric fand sich im imaginären Bild einer pechschwarzen stürmischen See wieder, die von Minute zu Minute immer ruhiger wurde, bis er mit dem kleinen Ruderboot, in das er sich hinein fantasiert hatte, zu den Ufern einer farblosen Insel rudern konnte.

Er sprang aus seinem Transportmittel hinaus in den schneeweißen Sand.

Der Prinz sah nach oben und erblickte den ebenfalls weißen Himmel mit seiner schwarzen Sonne. In seinem Kopf hatte er das von jeglichen Tünchen befreite Reich von Anima betreten. Hier wirkte er wie ein Fremdkörper mit all den Farben - seien es die Seinen oder jene der Gewandung seines imaginären Selbstbildes. Ein unwirklicher und surrealer Ort. Alles war einfach falsch. Licht war dunkel und Schatten war hell. Hier kam er nicht gern her. Diese Ebene der Existenz, die jeglicher Logik trotzte und sich seiner Kontrolle entzog, ließ Unbehagen in ihm aufsteigen. Es war, als ob an jeder Ecke ein neuer Gedanke an unaussprechliche Grausamkeit nur darauf wartete, von ihm Besitz zu ergreifen. Ein schwacher Charakter würde ihnen gewiss verfallen.

Schritt um Schritt entfernte sich Alaric von seinem Boot und drang tiefer in den finsteren Urwald ein, in dessen Mitte Anima auf ihn warten würde.
 

Mittels eines mächtigen Hiebes seines Schwertes zerteilte Alaric eine pechschwarze Rankenpflanze, die ihm den Weg versperrte. Es war erstaunlich, wie realistisch diese erdachte Welt war. Er spürte den Widerstand des Gewächses, als befinde er sich in einem echten Urwald und schlage sich durch echtes Dickicht durch. Und vorhin war es ihm, als habe ihn ein lästiges Insekt um etwas Blut erleichtert.

Hinter der Ranke kam ein schmaler, halb zugewachsener Weg zum Vorschein.

Ein gräulicher Pfad, der sich von dem viel hellem Boden sichtlich abhob.

An seinem Ende konnte man schemenhaft eine Lichtung erkennen.

Alaric wusste bereits, was sich dort befand. Er tat es zwar nicht gern, aber es war mitnichten das erste Mal, dass er die Insel in seinem Geist aufsuchte.

Zielstrebig überbrückte der Schwarzelf die Distanz und trat aus dem Urwald heraus.

Tatsächlich erwartete ihn eine Lichtung. In ihrer Mitte befand sich eine massive Stufenpyramide, um die etwas Lebendiges herum gewickelt zu sein schien. Die pechschwarzen Sonnenstrahlen wurden von der schuppigen Haut aufgesogen wie Tinte von einem Füllfederhalter. Langsam wand sich der kraftvolle Leib um die Konstruktion und das Haupt einer gigantischen Schlange erhob sich. Mit unentwegten Züngeln erfasste sie die Gerüche ihrer Umgebung.

Dann streckte sie ihren Körper in die Höhe.

Ihr Kopf verdeckte die schwarze Sonne.

Ein heller Schatten fiel auf Alaric.

“Was willst du von mir?”, fragte die Schlange ungehalten. Sie sprach ohne ihr Maul auch nur ein Stück zu bewegen.

Alaric mühte sich, den Augenkontakt mit der Kreatur zu halten, die ihn haushoch überragte und wie der Turm von Babel in den Himmel reichte.

“Sprich!”

“Heute hast du mir den Gehorsam verweigert”, klagte der Prinz an. “Wieso gehorchst du deinem Meister nicht?”

“Du willst mein Meister sein und bist nicht einmal Herr über dich selbst?”

“Wie meinst du das?”, fragte Alaric unverständig.

“Etwas anderes hat Anspruch auf deine Seele erhoben.”

Anima musste die ewige Dunkelheit meinen.

“Deine Existenz ist mit der Menschenfrau verbunden, der du mich einst die Seele entreißen ließt. Eine so reine Seele habe ich noch nie gefühlt. Das vergesse ich nicht. Sie hat deinen Platz im Limbus eingenommen. Aber nicht aus freien Stücken. Ich spüre, wie die Menschenfrau um ihre Freiheit kämpft.”

“Das war nicht meine Entscheidung”, verteidigte sich Alaric. “Ich unterlag im Kampf und wurde gegen meinen Willen ins Leben zurückgeholt!"

“Aber seid ihr Sterblichen nicht so versessen auf euer kurzes Dasein?”

“Nicht wenn jemand anderes an meiner statt leiden muss!”

“Wie Nobel von dir! Dennoch warst du es, der mich ihre Seele entreißen ließ.”

“Woher sollte ich wissen, dass meine Schwester-”

“In einem Anfall von Überheblichkeit warst du der Ansicht, die Menschenfrau für eine Lüge bestrafen zu müssen, bei der sie keine große Wahl hatte, als ihre Rolle zu spielen!”

Ertappt verzog Alaric sein Gesicht.

Anima lebte in seinem Körper und in seinem Geist. Da war es wenig verwunderlich, dass es genauestens über ihn und sein Seelenleben Bescheid wusste. Es war beängstigend, einen Gesprächspartner zu haben, vor dem es keine Geheimnisse gab.

“Früher hast du die Dinge noch hinterfragt. Aber dann hast du beschlossen, die Augen zu verschließen und zu funktionieren. Die Erwartungen deines Vaters zu erfüllen und ihm ein guter Sohn zu sein. Auf dem Bankett hast du den Betrug an ihm aufgedeckt und bist beinahe automatisch zu dem Schluss gekommen, dafür Rache nehmen zu müssen.”

Alaric rang mit der Fassung. “Aber ich…”, flüsterte er.

“Du stehst praktisch mit einem Bein im Grab. Der Limbus fordert deine Seele ein. Das Herz dieser Menschenfrau ist viel zu rein, als dass die Dunkelheit es akzeptieren würde. Deine Wiederbelebung war kein Segen, sondern ein Fluch. Du hast deine Seele nur auf Zeit zurück erhalten. Die Finsternis wird dich früher oder später holen kommen.”

“Und darum verweigerst du mir den Gehorsam?”

“Richtig!”, brüllte Anima donnernd. “Du verabscheust Ehrlosigkeit. Ich Schwäche. Beides hast du in dieser Nacht unter Beweis gestellt! Ich werde dich beobachten und dann entscheiden, ob ich dir gehorche. Und jetzt verschwinde!”

Blitzschnell schoss der Kopf der Schlange auf Alaric zu und ihre Beißwerkzeuge vergruben sich an der Stelle im Boden, an der er einen Moment zuvor noch gestanden hatte. Eine Wolke aus Schmutz wurde aufgewirbelt.
 

Die Priesterinnen des Tempels hatten soeben die Prozedur der Einbalsamierung abgeschlossen. Behutsam rieben sie nun die kalte Haut des humanoiden Kadavers mit heiligem Öl ein. Diese letzte Ölung war eine zeitaufwändige Prozedur. Die traditionellen Riten schreiben vor, dass sie nur von den Glutjungfern durchgeführt werden durften. Frauen, die durch das Feuer gezeichnet wurden, und ihren heiligen Dienst beim Elendsschlund leisten. Die Hand einer der Frauen streifte dabei über die vernähte Öffnung am Bauch des Toten, wo zuvor die Organe entnommen worden waren. Sie war sauber vernäht. Die Glutjungfer konnte stolz auf ihre Arbeit sein. Es war wichtig, die Hülle in einem guten Zustand der Asche zurückzugeben, andernfalls würde man den Vulkan erzürnen.

So sehr die Schwarzelfen die Menschen für ihren Glauben an den namenlosen Gott auch belächelten, hingen viele an ihren eigenen alten Traditionen fest. Die Überzeugung der Reinigung durch die Asche schenkte vielen Sündern Hoffnung.

Der Körper war nun völlig entleert. Frei von allen Sünden seines Besitzers. Nach dem Glauben der Schwarzelfen saß die Seele in den Gedärmen. Der Leib war nicht mehr als ein Gefäß. Die Entfernung der Innereien war deshalb ein wichtiger Bestandteil des Bestattungsritual. Der Körper wurde später den heißen Strömen aus dem Inneren der Erde übergeben, sodass nach der Zerstörung eine neue Schöpfung folgen konnte.

Aber mit den Organen wurde anders verfahren.

Man wollte sichergehen, dass die Seele ihren Weg in das Jenseits fand. Darum würden die Gedärme zwei Wochen lang sorgsam entwässert und anschließend von den Priesterinnen unter freiem Himmel verbrannt, auf dass sich die Asche der Organe mit jener der Ahnen vereinigte, die bereits ihren Platz in der großen Aschewolke gefunden hatten. Was anschließend übrig blieb, wurde in Urnen gefüllt und in einer Krypta zur Ruhe gebettet.

Belanors sterbliche Überreste stellten da keine Ausnahme dar.

Egal welche Verfehlungen er zu seinen Lebzeiten begangen haben möge, das Feuer des Berges würde ihn von allen seinen Sünden reinwaschen.

Wenn er zu Lebzeiten selbst nicht viel mit Religion anfangen konnte, waren seine Mutter und seine Geschwister sehr gläubig. Sie lebten in den verschiedensten Winkeln des Kaiserreichs, aber einmal im Jahr pilgerten sie nach Vanitas und besuchten den Tempel am Elendsschlund. Dieses Jahr mussten sie zweimal zusammenkommen. Die Mutter wollte für ihren Sohn ein gutes Leben nach dem Tod arrangieren und hatte die notwendigen Tribute entrichtet, damit die Glutjungfern zu Werke gingen.

Nachdem die Haut Belanors vollständig mit den Ölen gesalbt war, zogen die Priesterinnen ihm sein letztes Hemd an. Es war die Gewandung, in der sein Leichnam in die Lava geworfen werden sollte. In den meisten Fällen bestanden sie aus einfachen gewebten Stoffen, aber Belanors Familie war sehr reich, weshalb sein letztes Hemd sündhaft teuer war. Als der Körper bekleidet war, wurde er mit einem Laken abgedeckt.

Die Glutjungfern ergriffen die Schalen mit den Organen und ihre Werkzeuge und verließen die Kammer. Der Körper des Diplomaten würde die nächsten Tage aufgebahrt werden, damit sich seine Angehörigen angemessen verabschieden könnten. Die großen Türen zum Einbalsamierungsraum wurden geschlossen.

Plötzlich kündigte sich hoher Besuch an.

Begleitet von zwei Leibwachen, erschien niemand geringerer als die Prinzessin auf der Bildfläche. Lezabel wollte ihrem verstorbenen Ehemann einen Besuch abstatten.

Die Glutjungfern verneigen sich.

“Ich möchte meinen Gatten sehen!”, verlangte die dünne Schwarzhaarige.

“Gewiss, Eure Hoheit!”, antwortete eine der Priesterinnen.

Sofort wurde die soeben geschlossene Tür wieder geöffnet.

Lezabel wandte sich an ihre Leibwächter. “Ihr bleibt draußen und passt auf!”, bellte sie ihre Befehle in einem abfälligen Tonfall.

Ihre Wachen, einer kahlköpfig mit akzentuierten Riechorgan und der andere mit einem kindlichen Milchgesicht, standen stramm und salutieren.

Lezabel trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Nun war sie allein in der Kammer.

Sie sah sich um.

Es gab nicht viel zu sehen.

Glattes Mauerwerk mit kultischen Wandmalereien.

Ein paar Tische, auf denen Leichen einbalsamiert wurden. Sie waren alle leer, bis auf einen. Unter dem Laken musste Belanor liegen, dachte die Prinzessin. Lezabel trat an den Tisch heran. Während sie dies Tat, hallten die Schritte in ihren schweren Absatzstiefeln von den Wänden wieder. Die Prinzessin ergriff das Laken, schlug es schwungvoll zurück und enthüllte den Leib ihres Gatten.

Ihr Blick fiel auf das Gewand aus teurer Seide. “Schwiegermutter hat weder Kosten noch Mühen gescheut”, stellte sie fest. Lezabel schritt um den Tisch herum und fing ein Bild ihres Mannes aus jedem erdenklichen Blickwinkel ein. Die Glutjungfern hatten gar wundersame Arbeit geleistet. Es war nicht eine Spur der Strangmarken zu sehen, die Alaric an seinem Hals entdeckte, als er ihn tot in der Zelle fand. “Die wissen wie es geht”, flüsterte Lezabel während sie mit ihren Fingern über den Hals Belanors fuhr.

Sie spürte das Öl auf der Haut.

“Habt Ihr Euch aus der Verantwortung gestohlen”, warf sie der Leiche vor. Ihre Augen, die bis eben noch Bewunderung für die Arbeit der Glutjungfern wiederspiegeln, wechselten in einen abfälligen Ausdruck. “Ob die Ahnen das gut finden…”, stichelte sie.

Wen wollte sie damit beleidigen? Als Toter konnte Belanor es nicht mehr hören. Nach dem Glauben der Schwarzelfen war nicht einmal mehr seine Seele anwesend, da sie zuvor mit den Eingeweiden aus dem Raum getragen worden waren.

Lezabel musste sich einfach nur selbst gefallen wollen…

“Wirklich schade!”, sprach die Prinzessin weiter, während sie sich neben der Körpermitte in Stellung brachte. Zielsicher griff sie nach Belanors Gemächt. “Einen Toten zu quälen macht keinen Spaß!”, sprach sie abfällig, während sie das Geschlächtsteil mit all ihrer zur Verfügung stehenden dämonischen Kraft zerquetschte.
 

Einen tiefen Atemzug nehmend, schreckte Alaric aus der Trance auf. Erleichtert stellte er fest, dass er nicht im Magen einer übergroßen Schlange gelandet war und sich stattdessen wieder in der realen Welt in seinen Gemächern befand. Das schwache rote Glühen des Lavasee unter dem Palast, das durch die in Blei gefassten Fenster hinter ihm eindrang, beruhigte seinen aufgewühlten Geist.

Er erhob sich aus dem Schneidersitz und stand auf.

Noch einmal musste er es versuchen. Er streckte seinen Arm aus und rief Anima herbei: “Trenne Körper und Geist, Anima!” Aber nichts geschah. Die Schlange ließ ihren Worten Taten folgen. Er musste ihr beweisen, dass er ihrer noch immer würdig war.
 

🌢
 

“Was wollt Ihr wirklich von uns?!”, fragte Nebula fordernd.

Der Anführer der Geiselnehmer zeigte keine Reaktion.

Ein kurzer Augenkontakt zwischen den Freunden genügte.

Als erstes erledigte sich Cerise ihres Geiselnehmers. Dem armen Mann war sowieso trotz der Kälte viel zu heiß in seiner Haut. Er konnte nicht mehr klar denken, angesichts des verführerischen Halbblutes in seiner Gewalt, und war so ein leichtes Opfer für die Rothaarige. Mit einem Stoß ihres Hinterkopfes überraschte sie ihn. Danach entzog sie sich ihm und schlug ihm ins Gesicht.

Toshiro ergriff die Klinge vor ihm und setzte ihren Träger mit einer elektrischen Entladung außer Gefecht.

Das Schwert von Clays Möchtegern-Geiselnehmers zerbrach, als dieser es mit bloßen Händen zerdrückte. Er musste nicht Henrik sein, um das schlechte Handwerk zu bemerken. Die Klinge hatte nie eine anständige Härtung erfahren.

Henrik nutzte seine Kräfte und bewegte die Waffe von seiner Kehle weg. Danach ließ er sie - mit samt ihres Trägers - an einer Hauswand aufschlagen.

Angesichts der schlechten Performance seiner Untergebenen war anzunehmen, dass der Anführer dieses Überfallkommandos nun doch gesprächsbereit war…

“Sagt Ihr uns jetzt, was Ihr von uns wollt?”
 

In regelmäßigen Abständen wiederholte sich das Geräusch eines Tropfens, der von der durch Kondenswasser befeuchteten Decke hinunter auf den steinernen Boden fiel. Die Luft war bedrückend schwer und feucht. Moose und Schimmel hatten sich überall im Mauerwerk festgesetzt. Ungefähr alle 10 Meter erhellte eine Fackel die Umgebung. Sie steckten in einfachen Metallhalterungen.

Die Gruppe ließ sich von ihren ehemaligen Angreifern leiten.

Ihr Weg führte durch einen Wartungstunnel der städtischen Wasserversorgung. Er transportierte schon lange kein Wasser mehr und verlief neben dem eigentlichen Abwassersystem. Augenscheinlich war er nun einem neuen Zweck zugeführt worden.

Unentwegt nach einem ganz bestimmten Namen zu fragen, hatte ungewollte Aufmerksamkeit heraufbeschworen. Es stellte sich heraus, dass die Männer zu diesem Philippe gehörten, den Nebula und die anderen zu finden versuchten. Entweder taten sie so, als seien sie bei der Stadtwache, oder es war ihnen gelungen, diese zu unterwandern. Philippe musste seine Leute geschickt haben, als ihm zugetragen wurde, dass jemand Kontakt mit ihm suchte.

Endlich erreichten sie ihr Ziel.

Eine unbeleuchtete Abzweigung führte zu einer unscheinbar wirkenden Tür. Alsbald wurde sie aufgestoßen und gab den Blick auf den gewaltigen Raum frei, den sie verbarg. Es handelte sich um eine mehrere Stockwerke große Zisterne. Die Vertrauten blickten nach unten. Nur der Boden war noch mit Wasser gefüllt. Sie wurde bestimmt seit langer Zeit nicht mehr genutzt. Der Zugang lag im oberen Teil und einige Hängebrücken verbanden Holzkonstruktionen im leeren Innenraum. Auf ihnen hatte man Hütten und Werkstätten errichtet. Interessiert sahen sich die Neuankömmlinge um. Es kam einer Stadt unter der eigentlichen Stadt gleich. Aber nichts stach so sehr hervor wie die unzähligen Schilde und Banner mit ihren Wappen.

Sie stellten allesamt das gleiche Motiv dar.

“W-Was ist das a-alles hier?”, stammelte Henrik.

“Das ist ja wuselig hier!”, entfleuchte es Annemarie, als ihr Blick auf die Menschen fiel, die sich im Komplex herumtreiben.

“Scarlet Sword”, sagte Cerise. Sie deutete auf eines der Wappenschilde mit dem blutroten Schwert darauf. “Mit denen hatte ich schon… ähm… zu tun.”

Nebula dachte sich ihren Teil und schwieg.

“Wow!”, staunte Annemarie. “Du kennst echt jeden!” Sie trug noch immer den Säugling, der ganz aufgeweckt mit den kleinen Ärmchen ruderte.

Gemeinsam folgten sie den Männern weiter und drangen tiefer in die Anlage vor, bis sie eine größere Plattform mit einem massiven Holzanbau erreichten.

Aki wirkte nachdenklich. Ob sie grübelte, wie das ganze Holz hierher gebracht wurde, ohne Aufsehen zu erregen? Der Gang wäre dafür auf jeden Fall zu schmal.

Nebula und ihre Vertrauten wurden bereits von einem stämmigen Mann und dessen beiden Leibwächtern erwartet. Sie standen vor einer großen Tür, die links und rechts von weißen Flaggen flankiert wurde. Sie hingen herunter wie Wandteppiche und zeigten ebenfalls das Symbol des roten Schwertes.
 

Gefasst wurde den Ausführungen von Nebula und ihren Begleitern gelauscht.

Nachdem sich der Anführer des Lagers als Philippe zu erkennen gegeben und sie hereingebeten hatte, ließ er sich von ihnen berichten, woher sie seinen Namen kannten und was sie von ihm wollten. Nun saßen sie alle um einen großen runden Tisch.

Sie sagten ihm, was sie bedenkenlos weitergeben konnten. Dass sie geschäftlich unterwegs waren, als plötzlich ein Drache über ihre Köpfe flog, während sie ihrer Tätigkeit auf dem Markt nachgingen. Das Ungetüm steuerte ein Dorf an, etwa einen halben Tagesmarsch entfernt. Sofort gaben sie ihrem unguten Gefühl nach und machten sich auf den Weg. Alles, was sie noch vorfanden, beschränkte sich auf Tod und Zerstörung. Der Drache hatte in dem Dorf keinen Stein auf dem anderen gelassen. Auf den Pfaden lagen die Opfer seines Feuerodems. Als sie die Trümmer durchsuchten, stießen sie auf eine Frau, die sie mit letzter Kraft bat, ein Baby nach Lescar zu bringen. Später gab ihnen jemand den Rat, in der Stadt nach Philippe zu fragen.

“So habt Ihr also von mir erfahren”, sammelte Philippe seine Gedanken. Er wirkte seit der Erwähnung des Drachen nervös. Sein Blick wanderte stets zwischen den Gesichtern der Fremden und dem Baby, um das sich Annemarie kümmerte, hin und her. “Irgendwer konnte seinen Mund nicht halten…”

“Gutes Personal ist Mangelware”, kommentierte Cerise.

“Habt Ihr darum Eure Schergen geschickt?”, fragte Nebula.

“Ich musste eure Absichten in Erfahrung bringen.”

“Ihr hättet fragen können!”

“Ich habe die Situation gern unter Kontrolle.”

“U-Uns die Schwerter an die Kehle halten, ist der f-falsche Weg!”, stellte Henrik klar.

Abermals verirrten sich Philippes Blicke. “Man kann nie vorsichtig genug sein.”

“Es ist etwas mit dem Jungen”, mutmaßte die sonst stille Aki. “Ihr seht ihn andauernd an.” Sie hatte längst bemerkt, dass ihr Gegenüber unentwegt den Säugling anstarrte. Eine Tatsache, die auch an den anderen nicht unbemerkt vorbeigegangen war.

Einen Moment schwieg der Anführer von Scarlet Sword.

“In der Tat”, bestätigte er anschließend. “Reneé!”, rief er aus. “Kommst du bitte?”

Die Tür hinter ihm öffnete sich und eine schwangere Frau trat ein. Ihr Bauch war kugelrund. Bestimmt war es bald soweit.

“Das ist meine Frau Reneé”, stellte sie Philippe vor. “Wärst du so gut, dich um das Kind zu kümmern?”, wandte er sich an sie. “Ich muss unseren Gästen etwas zeigen.”

Die Frau kam seiner Bitte nach und trat an den Tisch heran. Sie streckte die Arme aus, bereit, das Kind in Empfang zu nehmen.

Ein Moment des Zögerns verstrich.

“Keine Angst, sie hat schon gegessen”, scherzte Philippe, wohl auf Reneés überschüssige Schwangerschaftspfunde anspielend.

Reneé zog ihre Arme wieder ein. Sie ging zu ihrem Mann und er fing sich einen Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Danach kehre sie zu Annemarie zurück und streckte abermals ihre Arme aus.

Nachdem Nebula ihre Zustimmung durch Nicken signalisierte, überreichte Annemarie den Säugling, für den sie sich seit jeher verantwortlich gefühlt hatte.

“Du bist aber ein Süßer!”, meinte Reneé und schaukelte das Kind sorgsam.

Philippe erhob sich.

Nebula und die Anderen verstanden dies als Aufbruchsignal und taten es ihm gleich.

“Stopp!”, intervenierte der Anführer von Scarlet Sword. “Nur die Hälfte von euch. Die andere bleibt hier. Als Rückversicherung.”

“Immer etwas in den Hinterhand haben”, brachte Nebula ihren Unmut zum Ausdruck.

“So haben wir bisher überlebt.”

“Keine Angst, Blondie, ich pass schon auf deinen Liebsten und das Gör auf!”, bot sich Cerise an. “Wenn die Typen eine krumme Nummer abziehen wollen, werde ich mich um sie kümmern”, versicherte sie, während sie lässig ihre Fingernägel begutachtete.

“Danke für das Angebot”, zeigte sich Nebula erkenntlich.

“D-Das wird nicht nötig sein”, meinte Henrik. “Ich komme mit.”

“Dann bleibe ich”, verkündete Clay. Er fühlte sich in der Nähe dieses Philippe unwohl. Seine Anwesenheit weckte eine Urangst in ihm. Und er roch auch nicht so, wie ein normaler Mensch riechen sollte. Trotzdem bot er sich freiwillig an.

Natürlich blieb auch Annemarie - immerhin war das Baby dort.

Das Quartett aus Aki, Henrik, Nebula und Toshiro folgte Philippe durch die Tür, aus der zuvor Reneé gekommen war. Sie führte in ein weiteres Tunnelsystem.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit in der stickigen, dunklen Passage sahen sie die Sonne durch einen von Geäst verdeckten Ausgang wieder. Nacheinander traten sie aus der Finsternis heraus. Zuerst Philippe, gefolgt von Nebula, Henrik und Toshiro. Aki schützte den Rücken ihres Schutzbefohlenen.

Sie entstiegen dem unscheinbaren Loch im felsigen Boden.

Sofort bedeckte Philippe den Zugang mit Steinen, Zweigen und Schnee.

Nun befanden sie sich ein gutes Stück von der Stadt entfernt.

Nebula sah sich um und konnte nichts von Relevanz entdecken. Misstrauisch machte sie sich kampfbereit. “Warum habt Ihr uns mitten ins Nirgendwo geführt?”, fragte sie.

“Es ist einfacher, es zu zeigen…”, meinte Philippe. Er entfernte sich von der Gruppe. Nach einigen Metern stoppte er und begann sich seiner Kleidung zu entledigen.

“W-Was macht der da?”, fragte Henrik verdutzt.

“Der macht sich nackig!”, kommentierte Toshiro belustigt das Offensichtliche.

“J-Ja, das s-sehe ich. Aber w-warum?”

Plötzlich breitete Philippe die Arme aus, als wolle er eine göttliche Macht anrufen. Seine Haut begann zu glühen und anschließend zu verbrennen. Sein Körper nahm an Größe und Masse zu. Philippes Schreie deuteten darauf hin, dass der Prozess sehr schmerzhaft für ihn war. Die Hitze schmolz den Schnee und versengte das Gras um ihn herum.

Nebula und die anderen konnten die Temperaturen fühlen.

Die glühende Gestalt verlor jegliche Ähnlichkeit zu der eines Menschen.

Flügel entstanden.

Der Hals verlängerte sich.

Ein Schwanz wuchs.

Aus dem Schreien wurde ein bestienhaftes Gebrüll.

Letztlich kühlte das Glühen ab und enthüllte die schuppige Haut eines Drachen. Mit einem mächtigen Schlag seiner Schwingen erhob sich Philippe in die Lüfte und zog seine Kreise um seine zutiefst verwunderten und schockierten Gäste.
 

Ein paar Runden drehte Philippe in Drachengestalt über den anderen, bevor er landete, seine menschliche Gestalt wieder annahm und die Darbietung beendete. Ohne ein Wort der Erklärung führte er seine sprachlosen Gäste zurück in das Hauptquartier von Scarlet Sword, nachdem er sich wieder bekleidet hatte. Inzwischen hatten alle wieder am großen, runden Tisch Platz genommen. Die Zurückgebliebenen erfuhren, was sich fernab von den Augen neugieriger Bürger abgespielt hatte und wollten es ebenfalls nicht glauben.

“Du kannst zu einem Drachen werden?”, staunte Annemarie. Eine Tatsache, die es vermochte, das Mädchen vom kleinen Kaji abzulenken.

“Also ist er ein Werdrache?”, entfleuchte es einem ungewöhnlich aufgeregten Clay. “Wundert Euch das überhaupt nicht?”, fragte er Cerise, deren Körpersprache die übliche Gleichgültigkeit verlauten ließ.

“Wieso?”, tat die Rothaarige, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, wenn sich jemand in einen Drachen verwandelte. “Ihr könnt zum Wolf werden. Wen überrascht es noch, wenn sich jemand in einen Drachen verwandelt?”

“Wie ist das m-mö-öglich?”, wollte Henrik wissen.

Philippe senkte sein Haupt. “Das ist eine lange Geschichte”, leitete er ein.

Gebannt warteten alle auf seine Erklärung.

“Damals war ich Soldat. Man brauchte Freiwillige, um eine neue Waffe zu testen. Ich habe mich für das Programm freiwillig gemeldet. Ich wurde mit anderen Testsubjekten in umfunktionierten Folterstühlen gefesselt und man machte Experimente mit uns. Wir bekamen regelmäßig eine Substanz gespritzt. Das Zeug hat in den Adern gebrannt wie flüssiges Feuer! Viele haben das nicht überlebt."

Was das wohl für eine Substanz war, grübelte Nebula. Vielleicht eine Droge? Aber welche Droge verleiht die Fähigkeit, ein Drache zu werden?

“Die anderen Versuchskaninchen sind der Reihe nach jämmerlich verreckt. Das Zeug ließ sie von innen heraus verbrennen! Viel mehr als eine verkohlte Leiche blieb nicht übrig.”

Henrik hielt sich die Hand vor den Mund, um den Brechreiz zu stoppen.

“Die wenigen ‘Patrioten des Reiches’, die das überlebten, hat man darin unterwiesen, ihre neuen Fähigkeiten zu nutzen.”

“Also Feuer spucken, Kinder fressen, Jungfrauen entführen und was ein Drache sonst noch so wissen muss?”, stichelte Cerise.

“Findet Ihr das etwa lustig?!”, echauffierte sich Philippe. “Aber ja, das beschreibt es ganz gut. Man machte uns zu Tötungsmaschinen und testete uns in einer Schlacht gegen die Armee eines kleinen Königreichs im Westen.”

Eine schockierende Erkenntnis drang in Nebulas Gedanken ein.

Sprach er etwa über die Schlacht von Wolfshofen?

“Also sind die Drachen in Wirklichkeit Menschen?”, fragte Clay.

"Nein! Schön wär’s… Die Drachen der Prinzessin sind nicht das Resultat eines Experiments. Gegen einen von denen hätte ich nicht den Hauch einer Chance.”

“Aber was verspricht man sich davon?”

“Weil die Drachen nur Prinzessin Lezabel unterstehen”, mutmaßte Cerise.

“Die Experimente werden nicht auf ihren Befehl geschehen”, teilte Philippe seine Vermutung. “Aber wissen kann ich es natürlich nicht...”

“U-Und was hat das mit dem Jungen z-zutun?”, fragte Henrik nach.

“Das ist die nächste Stufe des Experiments”, schlussfolgerte Toshiro.

“Ich habe sofort gespürt, dass mit diesem Kind etwas nicht stimmt. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben, aber er ist wie ich.”

“Aber w-wenn ein Erwachsener es kaum ü-überlebt, wie kann es sein, dass ein-”

Begleitet von einem dumpfen Schlag, trafen zwei Handinnenflächen auf der Tischplatte auf. Die Beine ihrer Sitzgelegenheit kratzen auf dem Boden, als Nebula sich ruckartig erhob. “Jemand experimentiert an Menschen rum!”, sprudelte es aus ihr heraus. “Nicht genug! Sie schrecken nicht einmal davor zurück, Kinder für ihre Ziele zu missbrauchen!” Die Blondine ballte eine Faust. “Dafür werden sie büßen!”

“W-Wisst Ihr vielleicht etwas, dass uns h-helfen könnte?”, fragte Henrik.

“Angeblich verschwinden Leute in Arnage.”

“Ob da ein Zusammenhang besteht…”, dachte Aki laut.

“Wir wissen es nicht genau.” Philippe stand auf und kramte etwas in einem Schrank herum, bevor er mit einer Landkarte zurückkam. “Arnage ist ein gutes Stück entfernt.” Sein Finger zeigte auf einen Punkt auf der Karte. “Eure Antworten könnten dort sein.”

“Wir werden schon wieder einfach weitergeschickt?”, beschwerte sich Cerise.

“Ihr könnt gern hier bleiben!”, wurde die Rothaarige von Nebula zurechtgewiesen.

“Das ist gar keine schlechte Idee.” Kritik blieb an Cerise genauso wenig hängen wie Rührei an einer Teflonpfanne. “Einer muss sich um den Kleinen kümmern. Das können wir unseren Gastgebern schlecht dauerhaft aufhalsen.”

“Wenn das so ist, bleibe ich auch und passe auf, dass Ihr es richtig macht”, sprach Clay. Eigentlich war ihm dieser Drachenmann unheimlich, aber er wollte auch nicht, dass Cerise allein unter Fremden zurückblieb.

Sie ärgerte ihn, indem sie ihm die Zunge rausstreckte.

“Ich will auch hierbleiben!”, forderte Annemarie.

Nebula wusste nicht so recht, wie sie entscheiden sollte.

Die Prinzessin war keine Träumerin. Sie wusste, dass sie sich früher oder später von dem Kind trennen mussten. Auf ihren Reisen konnten sie auf Dauer keinen Säugling im Tross gebrauchen. Ein Baby mitzunehmen ging zu weit! Der kleine Rotschopf baute eine immer enger werdende Beziehung zu Kaji auf. Es wäre besser, wenn Annemarie nicht so viel Zeit mit ihm verbrächte. Dann wäre der Schmerz der Trennung, sobald sie eine Bleibe für den Jungen gefunden hätten, nicht ganz so schlimm für sie. Andererseits war es genauso unverantwortlich, ein kleines Mädchen auf eine potentiell gefährliche Reise mitzunehmen. Letztlich entschied sie sich, Annemaries freiwillige Meldung anzunehmen.

Tags darauf brachen sie auf. Clays Pferd leistete ihnen gute Dienste dabei, den Wagen mit ihren Habseligkeiten zu ziehen. Egal was die anderen dachten, Nebula wollte den Sarg stets bei ihr Wissen. Sein Inhalt war zu wichtig, als dass sie ihn zurücklassen könnte.
 

Viel zu lange schon hatte Alaric sich davor gedrückt, die Informationen über seine Geschwister zu lesen. Er hatte Angst davor, dass die Enthüllungen, die in den Schriftstücken festgehalten waren, sein Bild von seinen Geschwistern dauerhaft zum Schlechten hin verändern könnten.

Die ganze Zeit lagen die Schriftrollen auf seinem Arbeitstisch.

Ihre Wachssiegel schrien danach, gebrochen zu werden.

Bisher wurde Alaric von der Furcht vor dem Ungewissen zurückgehalten.

Es war ihm bewusst, wie feige das war.

Zum Teufel damit!

Er hatte es angefangen, jetzt musste er es zu Ende bringen.

Alaric streckte sich nach der ersten Schriftrolle. Er nahm sie an sich und berührte das Wachssiegel mit seinen Fingern. Einmal hielt er noch inne und überlegte, ob er es wirklich wissen wollte. Doch dann warf er alle Zweifel über Bord und brach das Siegel.

Nun gab es kein Zurück mehr.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Na klar, warum auch nicht. Wenn ich einen Riesenkraken erledigt hätte, würde ich ihn auch zu Takoyaki verarbeiten. Das versteht sich doch von selbst.
(____/)
( ͡ ͡° ͜ ʖ ͡ ͡°)
╭☞ ╭☞

Nach meiner längeren Abstinenz vom Schreiben hat mir dieses Kapitel wirklich sehr viel Spaß gemacht. Ich habe meine Charaktere schon richtig vermisst. Leider ist nicht alles eitel Sonnenschein. Etwas stimmt nicht mit Nebula. Und absolut typisch für sie will sie mit niemandem darüber reden…
Wo soll das alles nur hinführen? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die östlichen Inseln sind nicht einfach nur verschwunden, sie schweben über den Wolken. Na, wer hätte das gedacht?
(Na gut, so etwas ist mittlerweile Mainstream.😂)

Bei den zwei neuen Charakteren war mir der Kontrast zwischen ihnen besonders wichtig. Toshiro als ungehorsamer Prinz, der keine Lust hat, den Thron zu besteigen, und als Gegensatz dazu Aki, die für die Erfüllung ihrer Pflicht ohne zu zögern über die Klinge springt. Ich denke, sie wären beide eine Bereicherung für das Team.
Allerdings müssten sie dazu erst einmal alle überleben, versteht sich. 😏

Historischer Hintergrund: Gasbehälter, wie ich sie hier beschreibe, sind gar nicht so abwegig. Schon im alten China in der Tang-Dynastie hat man Erdgas in Bambusrohre abgefüllt und damit Kocher betrieben, mit denen Salz aus Meerwasser gewonnen wurde. Also könnte man auch auf die Idee kommen, Helium in solche Behälter zu füllen und einen Ballon damit antreiben. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachdem Caroline wieder aufgewacht war und Nebula sie gleich noch mal verlieren musste, ist sie vollkommen durchgedreht - wer kann es ihr verübeln? Zum Glück konnte Henriks Einsatz das Schlimmste verhindern. Während Caroline wach war, fiel Alaric in Ohnmacht. Noch ist keinem klar, wie sehr die Schicksale der Magd und des Prinzen miteinander verwoben sind. 😉 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Familienzusammenführung war erfolgreich und Jasmin nun die neue Herrin von Madiya.
Ist ja fast wie im Märchen…
Natürlich hat niemand die Mission vergessen, wieso sie überhaupt auf dem Kontinent sind. Nächstes Mal wird die Geschichte aber dennoch an einem ganz anderen Ort spielen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Moral von der Geschicht: Krieg ist scheiße und lohnt sich nicht!
Man wünscht sich, dass es auch in der Realität Menschen mit Vernunft gäbe, die Schlimmeres verhindern. Das ist aber leider nicht mehr als ein frommer Wunsch und Kriegstreiberei wird weiter betrieben...

Historischer Hintergrund: Im römischen Reich wurden “Furca”, die Tragekreuze, von den Soldaten aller Legionen getragen. Es ging tatsächlich um Kostenreduktion. Zwei Stöcke zusammenzubinden war nicht nur viel billiger als ein Rucksack aus Leder, sondern es hielt auch viel länger, da sich das Leder unter Belastung dehnt. Mit einem Tragegewicht von bis zu 20 kg war die Furca nicht unbedingt von schlechten Eltern. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da haben unsere Helden doch echt ein Baby gefunden. Viele Fragen sind offen geblieben. Bestimmt werden sie in Lescar ihre Antworten finden…

Historischer Hintergrund: Auch wenn ich es in dieser Geschichte benutzt habe, geht man heute davon aus, dass das Recht der ersten Nacht (lat. ius primae noctis) so nie existiert hat und viel mehr ein von den Untertanen in die Welt gesetztes Gerücht war, um ihren Herren als Rache für zu hohe Steuern in Misskredit zu bringen. Denn die Kirche hätte sowas sicher nicht gern gesehen.😉 Was es allerdings gab, war eine Heiratssteuer, die vor der Eheschließung an den Fürsten (o.ä.) entrichtet werden musste. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach ihrem Kampf gegen Surin haben Sjur und Valdis mit ihren Warägern ein Blutbad in Asenré veranstaltet und sich für die Niederlage am stählernen Wall gerächt. Doch auf einen Gegenschlag folgt meist ein weiterer Gegenschlag und Frieden rückt in weite Ferne…

Derweil muss sich Henrik damit herumschlagen, dass ihm niemand glauben will. Früher oder später werden sie es jedoch tun müssen. 😉 Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (81)
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Von:  Regina_Regenbogen
2023-08-20T13:52:59+00:00 20.08.2023 15:52
Die Unterhaltung zwischen Alaric und seiner Teufelswaffe war sehr interessant, wie überhaupt der Handlungsstrang um Alaric. Ich bin auf seine weitere Entwicklung gespannt.

Schön, dass es trotz all dem Ernst immer wieder kleine witzige Momente in der Gruppe gibt. Auch wenn ich mich immer noch an Aki und Toshiro im Team gewöhnen muss.

Ich hatte zwar noch gedacht, dass Lezabel ihren Mann nicht töten würde, sondern quälen, aber jetzt habe ich die Bestätigung. Interessanter Einblick in die Kultur der Schwarzelfen.

Die Wer-Drachen sind auch sehr interessant. Was wohl genau dahinter steckt?

Und dann noch ein paar lustige Tippfehler:
"Aki zuckte bereits der Finger. Er wollte einen Abzug betätigen." -> Hat Aki ihr Geschlecht gewechselt?
"Aber mit den Orangen wurde anders verfahren."
Ja, Orangen sollte man nicht verbrennen. 😂

Antwort von:  totalwarANGEL
20.08.2023 16:08
> Was wohl genau dahinter steckt?
Die Hauptstory dieses Bandes vielleicht? 😂

> Schön, dass es trotz all dem Ernst immer wieder kleine witzige Momente in der Gruppe gibt.
Muss eben sein.

Ja ja, diese Tippfehler. 🤣
Von:  Regina_Regenbogen
2023-08-20T13:00:06+00:00 20.08.2023 15:00
In diesem Kapitel ist so viel passiert, dass ich mehrere Ansätze brauchte. Ich muss gestehen, die kurzen Kapitel von früher waren mir lieber. Doch die zahlreichen Handlungsstränge, die gerade parallel laufen, bedürfen natürlich Raum.
Puh, wo fange ich an.

Erst mal bin ich von deinen zahlreichen Beschreibungen von Situationen, Umgebung und damit den Blickwechseln sehr beeindruckt und auch von der Vielfalt der Charaktere, die ja nun immer mehr werden.
Die Figuren sind vielversprechend. Das Maß der Zerstörung besorgniserregend.
Ich war überrascht, dass Rose so jung ist.
Ich bin schon gespannt, was wir noch von Surin sehen werden. Und von den Warägern. Es ist immer spannend, dass du allen Figuren so viel Raum gibst und sie auch nicht als einfach böse zeigst trotz ihrer Taten.
Der nächste Werwolf ist auch schon da.
Ich lese gleich mal weiter, um meine Neugier zu stillen.
Von:  Regina_Regenbogen
2023-03-12T16:53:20+00:00 12.03.2023 17:53
Puh, endlich Zeit und Muße zum Lesen. ☺️

Das Motiv der Verleumdung und fälschlicher Beschuldung und Bestrafung kommt immer wieder in Morgenstern vor, das finde ich sehr interessant. Nicht nur die Frau, die dann als Geist Rache nahm, sondern auch der unschuldige Junge, der dann zum Psycho wurde, und jetzt diese Schwangere.
Und du hast eine Affinität zu auswegloser Gefangenschaft und Folter. 😆 Das ist im übertragenen Sinne auch etwas, das die Hauptfiguren in ihrer inneren Welt erleben, sie sind in der eigenen Schwärze gefangen und werden darin gefoltert. Gerade Nebula und Clay.

Ist es böse von mir, dass ich null Mitleid mit Belanor habe? Ich denke mir nur: Wie verblödet kann man sein, wenn man eine mächtige, menschenhassende Ehefrau hat, eine Liebesaffäre mit einem Menschen zu führen, ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen zu ergreifen? Da geht mir das Mitleid ab.

>Nein, ich mache esoterische Atemübungen, Trottel!
Comic Relief nach diesem Horrortraum. 😂

>bildete mit seinen Armen eine Mauer, in dem er sie
>von hinten umarmte. Hinter diesem Wall konnte sich
>Nebula vor ihrer Angst verstecken. “A-Alles ist gut!”
Henrik ist einfach ein Schatz.

Stimmt,das Problem von Toshiro und Aki hatte ich in den Hintergrund verdrängt.

Ich mag Alarics Ansichten. Er ist echt ein Edelmann. ❤ Und dass er nicht nur den Verrat an der Ehefrau, sondern auch die Situation der Geliebten bedenkt, ehrt ihn.

😂 Die Beschreibung, als was sie sich in der Herberge ausgeben.

>Grausam verstümmelte Leichen sind nichts, das man einem Kind zeigen sollte.
-> Morgenstern, der neue Erziehungsratgeber. 😂

Oh, ja, klar dass das Baby bei Henrik strahlt. ❤

Lezabel ist grauenvoll und doch nachvollziehbar.

Henrik! 😂😂😂 Du Trottel!
🤣🤣🤣 Wie abgebrüht Annemarie ist! Kapiert direkt, was Cerise sagt. Von wegen unschuldig.

Ich liebe es, wie du unbedeutenden Nebencharakteren immer so was Charakteristisches gibst und dadurch Szenen interessant machst. 😄

Irgendwie beeindruckt mich Lezabel mit ihrer Rache ja.

Bah, Ammon ist auch widerlich.

Oh danke für die Info. Ich dachte auch, dass es das Recht der ersten Nacht gegeben hätte.

Ein abwechslungsreiches Kapitel, das viele verschiedene Handlungsstränge parat hatte. Bin gespannt, wie es weitergeht.

Antwort von:  totalwarANGEL
12.03.2023 23:07
> Das Motiv der Verleumdung und fälschlicher Beschuldung und Bestrafung kommt immer wieder in
> Morgenstern vor, das finde ich sehr interessant. Nicht nur die Frau, die dann als Geist Rache nahm,
> sondern auch der unschuldige Junge, der dann zum Psycho wurde, und jetzt diese Schwangere.
> Und du hast eine Affinität zu auswegloser Gefangenschaft und Folter. 😆 Das ist im übertragenen
> Sinne auch etwas, das die Hauptfiguren in ihrer inneren Welt erleben, sie sind in der eigenen
> Schwärze gefangen und werden darin gefoltert. Gerade Nebula und Clay.
Das finde ich nun wieder sehr interessant.
Und irgend wie bedenklich... 😅

> Ist es böse von mir, dass ich null Mitleid mit Belanor habe?
Und dabei hab ich mir so viel Mühe gegeben, dass man als Leser Mitleid mit ihm hat.
Ne, ich sehe das ähnlich, aber ich bin mal wieder überrascht...
Zu bemittleiden ist nur seine Geliebte.
... und vielleicht auch Lezabel... vielleicht... 😁

> Henrik ist einfach ein Schatz.
Ja, meine Version von Justin. XD

> Oh, ja, klar dass das Baby bei Henrik strahlt. ❤
Der wird noch ein bisschen mehr mit Henrik machen. 🤣

> Irgendwie beeindruckt mich Lezabel mit ihrer Rache ja.
Sie ist praktisch Nebula in (Dauer-)Böse.
Irgend was muss sie auf dem Kasten haben.

> Bah, Ammon ist auch widerlich.
Perfekt getroffen also. 😏
Von:  Regina_Regenbogen
2023-01-21T22:07:37+00:00 21.01.2023 23:07
Das war echt spannend. Deine Beschreibungen waren wieder super, z.B. wie du den lieblosen Akt zwischen Lezabel und ihrem Mann beschrieben hast. Da tat mir Lezabel schon leid. Dass sie für den Tod den Geliebten verantwortlich ist, nehme ich an. Was sich der Mann gedacht hat, frage ich mich. Schließlich wusste er um Lezabels Charakter und ihren Menschenhass. Egal.
Die Geschichte um Florean fand ich richtig toll eingeflochten und so konnte man das Kriegsgeschehen aus nächster Nähe erleben und den Verlust seiner Freunde. Und auch die Beschreibung des Kartenspiels, weil dadurch dieser Bruch so deutlich wurde und die Banalität des Todes im Krieg.
Alarics Sicht gefällt mir auch richtig gut. Er ist durchaus ein Ehrenmann. Den Fluch, den er sich selbst auferlegt hat, indem er Nebulas Freundin ihrer Seele beraubt hat, ist in vielerlei Hinsicht gerecht. Ich bin gespannt, wie er weiter mit der Situation klarkommt.
Ein spannendes Kapitel mit tollen Beschreibungen. Danke dafür!
Antwort von:  totalwarANGEL
22.01.2023 15:09
> Was sich der Mann gedacht hat, frage ich mich.
Was sich Männer immer denken: nichts. 😂

Gefällt mir, dass die Botschaft der Banalität so gut rüber kam.
Ziel erreicht. 😃
Antwort von:  Regina_Regenbogen
22.01.2023 18:13
>Was sich Männer immer denken: nichts. 😂
Du bist doch selbst ein Mann. 😂

>Ziel erreicht. 😃
Absolut!!!
Von:  Regina_Regenbogen
2022-12-23T21:47:10+00:00 23.12.2022 22:47
Ich mag deine Beschreibungen, ich kann mir das immer wunderbar vorstellen.

>“Ich will allein sein!”
>Henrik legte seinen Arm über Nebulas Schulter.
😍 Henrik! Ich bin so stolz auf dich!

>Manchmal frage ich mich, warum du nicht einfach abhaust.”
>“W-Weil ich ein Idiot bin?”
>“Allerdings! Du bist ein verdammter Idiot!” Peinlich berührt senkte Nebula den Kopf. “Das macht mich sehr froh!”,
>flüsterte sie ihm kaum hörbar zu.
Oooooooohhhh..... 🥰🥰🥰

>“Es gibt so unglaublich viele von ihnen. Fast so viele wie Sterne am Himmel. Wie soll man sie alle in einer Lebenszeit finden?”
>“W-Wenn jemand das schafft, d-dann du!”
Oh mein Gott, Henrik! Du bist so wunderbar!

Oooooh, Nebulas Gedanken. So süß. Sie hat so Recht! Henrik ist einfach ein solcher Schatz. 🥰
🤣 Haha, das Ende der Szene.

😂 Herrlich, dass Clay riecht, wann Cerise ihre Tage hat. Ergibt ja auch voll Sinn. Und es ist ein Gerücht, dass alle Frauen dann nicht intim werden wollen. Es ist sogar bei manchen Frauen das Gegenteil.

🤣 Ich liebe es, wie du von einem ernsten Thema zu Klamauk wechselst! Wie Clay einfach mal nicht checkt, dass er nackt ist.

>Wie es der Zufall will, ist sie auch gerade in der Stadt.”
Mir schwant Böses. 😂

>Die Sonne errötete vor Vorfreude
Geile Beschreibung. :D

Jasmin ist undankbar, auch wenn sie dankbar ist.

Oha, diese Weißhaarige klingt nach Ärger.

Das war wieder sehr spannend! Da konnte ich gar nicht kommentieren, weil ich mit Lesen beschäftigt war. Und sehr cooler Wunsch von Jasmin. Haha, und dass noch mal darauf hingewiesen wurde, dass Toshiro ein Spanner ist. Diese Männer. 😂
Danke für das schöne Kapitel. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. 😊



Antwort von:  totalwarANGEL
24.12.2022 02:21
> Oooooooohhhh.....
Ich weiß doch, was du lesen willst. 😅

> Oh mein Gott, Henrik! Du bist so wunderbar
Er ist doch der klassische Flachzangenprotagonist...
(Auch wenn ich darauf hinarbeite, dass alle Charaktere Protagonisten sind.)

> Herrlich, dass Clay riecht, wann Cerise ihre Tage hat. Ergibt ja auch voll Sinn.
Zumal er das schon mal bei Nebula gerochen hat. 😏
Ich bleibe nur meiner Lore treu...

> Jasmin ist undankbar, auch wenn sie dankbar ist.
Aber doch schon nachvollziehbar, oder?

> Oha, diese Weißhaarige klingt nach Ärger.
Wenn ich alles so umsetze, wie es mir momentan vorschwebt, dann ja. 😈

> Das war wieder sehr spannend! Da konnte ich gar nicht kommentieren, weil ich mit Lesen beschäftigt war.
Und dabei war es (fast) nur Füller. :D
Von:  Regina_Regenbogen
2022-11-20T15:11:46+00:00 20.11.2022 16:11
Wow, so viel ist passiert. Wo soll ich anfangen. Wie spannend, dass Caroline offenbar aufwachen kann, nur ist noch unklar, was den Wechsel der Seele bewirkt. Alaric ist echt gewissenhaft und ein Prinzipienreiter. Ich bin gespannt, wie das weitergeht. Dass Nebel (sorry, aber ich mochte den Namen) durchgedreht ist, als sie Caroline nun zum zweiten Mal verliert und nachdem sie fast Henrik an das Seemonster verloren hat, ist verständlich. Es ist schön, dass Henrik langsam Mut fasst und sich nicht nur nützlich macht, sondern Nebels Anker ist.
Den Wüstenstaat hast du sehr eindrücklich beschrieben. Das hat mir richtig gefallen, weil ich es mir dadurch gut vorstellen konnte.
Diese Jungs, einfach zu spannen, aber sie haben ja ihre Abreibung bekommen und Toshiro hat wohl eigentlich nur nach Hilfe geschaut, wobei er der Typ ist, der auch sonst spannt, wie mir scheint. 😂 Wie interessant, dass Clays verstorbene Frau von Toshiros Volk abstammte!
Und die Wüstenbraut hatte scheinbar auch so ihre Gründe. Aber offenbar brauchte sie den Dämpfer.
Nebel tut mir leid. Sie wirkt momentan sehr hilflos. Aber sie kann halt auch Hilfe nur schlecht annehmen. Dennoch merkt man, wie sehr sie sich jetzt doch langsam Henrik öffnet, auch wenn es bisher nicht in Worten der Fall ist. Und er versteht natürlich wieder nichts. Schlieslich macht sie ja wie immer alles alleine mit sich aus. Oh Mann, Nebel, du hast doch jetzt Freunde! Aber klar, sie denkt immer noch wie ein Einzelgänger. Eine Gruppe aus Leuten, die es nicht gewöhnt sind, sich auf ein Team zu verlassen. Das macht es so spannend.
Mal sehen, was als nächstes kommt. 😁
Antwort von:  totalwarANGEL
20.11.2022 22:14
Du wirst dich aber an die Namensänderungen gewöhnen müssen. ;)
Vertrauen lernen ist schwer. Allerdings muss man das auch wollen. Und leider kann Nebula das in ihrem tiefsten Inneren noch nicht. Und es ist fraglich, ob sich das jemals ändert... 🙄

Bei Henrik habe ich immer Angst, dass ich ihn zu schnell zu selbstsicher mache.

Toshiro hast du exakt richtig eingeschätzt. Er ist frech und hat mehr Selbstvertrauen, als gut für ihn ist. Dazu ist er noch rebellisch und hitzköpfig und ist hinter jedem Rockzipfel her.
Antwort von:  Regina_Regenbogen
20.11.2022 22:50
Oje, Toshiro wird also noch einige Probleme verursachen, scheint mir. 😂
Ich finde, nach allem was Henrik mittlerweile durchgemacht und überstanden hat, nach allem, was er gelernt hat und wie er sich nützlich macht, und nachdem seine Angebetete ihn tatsächlich erhört hat, hat er allen Grund, nun etwas selbstsicherer aufzutreten. Außerdem merkt man bei ihm, dass er das auch macht, um Nebula (ich bemühe mich!) zu unterstützen. Er merkt ja, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Und wenn sie nicht die ganze Zeit die Starke ist, hat er auch die Möglichkeit für sie stark zu sein. 🥰
Und ja, Vertrauen lernen ist sehr schwer. Aber man muss ja nicht von null auf hundert. Misstrauen hat ja auch seine Berechtigung. Außerdem merkt man ja, dass Nebula sich Henrik mittlerweile viel mehr öffnet als am Anfang. Sie hadert nur sehr oft mit sich selbst und kann dann niemand anderen um sich haben, weil sie sich selbst schon nicht erträgt.
Antwort von:  totalwarANGEL
20.11.2022 23:40
Deine Analysen sind immer so geil. 🥰
Von:  Regina_Regenbogen
2022-10-29T20:04:12+00:00 29.10.2022 22:04
Sehr atmosphärisch und spannend geschrieben. Auch beim zweiten Lesen ist es noch packend. 😄 Dieser Hotaru ist wirklich ein Scheusal. Und wieso ist der so superstark, verdammt? Würg.
Aki muss überleben! Sie ist echt toll und bildet wirklich einen super Gegenpol zu Toshiro. Ich bin schon echt gespannt, wie die beiden auf die übrige Truppe stoßen werden. 😃❤
Von:  Regina_Regenbogen
2022-10-09T09:08:25+00:00 09.10.2022 11:08
Oh, es war so schön, die Truppe wiederzusehen! 😍 Einen Blick auf jeden von ihnen werfen zu können am Anfang des Kapitels, sogar auf Annemarie war herzerwärmend, auch wenn die ersten großen Probleme sich da schon angekündigt haben, wie die Problematik mit dem "Ich liebe dich" zwischen Cerise und Clay.
Deine Beschreibungen waren auch wieder ganz toll, ich konnte mir das alles wieder wunderbar vorstellen! 😍
Oooh und Henrik ist einfach so süß! Seine Gedanken wind einfach herzallerliebst, bzw. was man liest, wenn es grade um ihn geht, wie dass Nebel (ich werde sie für immer so nennen, sorry) zwar nicht groß ist, aber seine große Liebe! 🥰 Was für ein Schatz. Oder dass er sich für die erste Liebe eine sehr herausfordernde ausgesucht hat, aber trotzdem daran festhält. Er ist einfach so goldig. Auch wie er mit Nebel und ihren Selbstvorwürfen umgeht und so verständnisvoll ist. Oder als er denkt, dass es gut ist, dass sie die Geschwindigkeit aus der Beziehung rausgenommen hat, weil diese ihm selbst Angst macht. Oooooh. Er ist einfach der Liebste.

Puh, Cerises Vergangenheit ist echt hart. Dass sie so unemotional darüber spricht, sollte Clay nicht verwundern. Missbrauchsopfer sprechen nie emotional über so was und wollen auch gar nicht sehen, dass ihnen was Schlimmes passiert ist. Die verdrängen das oft. Und Cerise ist ein typisches Beispiel dafür. Sie sieht das nicht und will es nicht sehen.
Oh süß, dass es Cerise so schmeckt. Klar, was macht man anderes mit einer Riesenkrake als Takoyaki! XD

Dass Nebels Körper spinnt, ist gar keine gute Entwicklung und natürlich macht sie das, was sie am besten kann, die Menschen, die sie am meisten braucht, von sich wegstoßen. Oh Mann, das tut einem richtig weh. Sie leidet ja am meisten drunter. Henrik hat ja Verständnis dafür.
Oh, und ich liebe es, wie du diese süßen Details einbaust, wie mit den extra scharfen Takoyaki und dass Nebel sie sich doch noch holt.
Oh menno, ich spüre richtig diese gedrückte Atmosphäre, man merkt, dass etwas Schlimmes bevorsteht. Es ist nicht mehr so leichtherzig wie im ersten Teil, auch wenn es immer noch witzig ist, man merkt, es wird jetzt ernst. 🙈

Danke für das tolle Kapitel!

Antwort von:  totalwarANGEL
09.10.2022 12:01
> Einen Blick auf jeden von ihnen werfen zu können am Anfang des Kapitels
Da ich ursprünglich eine neue Story eröffnen wollte, war das als Rückblick für alle gedacht, die die erste nicht gelesen haben.

> Deine Beschreibungen waren auch wieder ganz toll, ich konnte mir das alles wieder wunderbar vorstellen!
Na besser geht es doch gar nicht. 😁

Ja, Henrik der kleine Versager.
Wenigstens ist er verständnisvoll. Sonst hat er nix drauf. Auch wenn er sich sogar mit einem Kraken anlegt, wenn es sein muss.

> Missbrauchsopfer sprechen nie emotional über so was
Na ja... Missbrauch. Gut, wenn ich so darüber nachdenke, stimmt das schon. Eine Sekte, die eine komische Gottheit anbetet und Leute umbringt... ein gewisser Missbrauch findet bei den Anhängern schon statt.
> Problematik mit dem "Ich liebe dich" zwischen Cerise und Clay.
Cerise ist so eine, die gesteht sich das bis zum bitteren Ende nicht ein.
Obwohl es eigentlich offensichtlich ist...

> Dass Neb[ula]s Körper spinnt, ist gar keine gute Entwicklung
Ganz und gar nicht. Da ist ein schöner Showdown geplant. ;)

> Oh menno, ich spüre richtig diese gedrückte Atmosphäre, man merkt, dass etwas Schlimmes bevorsteht.
😈

> Danke für das tolle Kapitel!
Hast lange genug warten müssen. 😂
Von:  Regina_Regenbogen
2022-06-10T22:00:03+00:00 11.06.2022 00:00
Oh, ich vermisse den Prolog mit dem Märchen. Das hatte ich damals echt spannend gefunden!
Hatte Nebel Henryk in der ersten Version auch bereits erzählt, dass sie einen Verlobten hatte? Ich dachte, dass hätten wir da erst später erfahren.
Eigentlich mochte ich die Einteilung in kürzere Kapitel sehr. Aber ich bin auch jemand, der gerne an dem festhält, wie es anfangs war. 😂
Antwort von:  totalwarANGEL
11.06.2022 00:48
Die Kapitel waren Anfangs nur so kurz, weil ich nicht in der Lage war, sonderlich länger zu schreiben. Ich habe so währenddessen dazugelernt. Inzwischen waren die Kapitel nicht mehr "zeitgemäß", wie man immer überall so hört. ;)
Dafür ist das halbe 2 Kapitel vollkommen neu. Sogar mit Erklärung, wie Nebula überhaupt erst auf die Idee kam, die Stadt zu besuchen. Ist doch auch was.
Von:  RukaHimenoshi
2021-05-02T20:07:10+00:00 02.05.2021 22:07
Süß, dass Nebel Henryk darum gebeten hat mitzukommen. Auf den ersten Blick wirkt sie ja eher kalt und distanziert aber stimmt schon, wenn man all die Zeit alleine herumgeistert... .-.
Auch sehr faszinierend, nun schon einen Einblick in ihre Vergangenheit bekommen zu haben. Von der Waffe die man besitzt erdolcht worden zu sein... Kein netter Start einer Reise... ^^"

Übrigens sehr unterhaltsam, wie du die typischen Manga-Elemente einbaust. Man kann es sich wunderbar vorstellen! X'D
Antwort von:  totalwarANGEL
02.05.2021 22:33
> Süß, dass Nebel Henryk darum gebeten hat mitzukommen.
Sie ist zwar schon etwas grob behauen und hat einen Hang zur Gewalt, aber im Grunde ihres Herzens will sie auch nicht allein sein. ;)

> Übrigens sehr unterhaltsam, wie du die typischen Manga-Elemente einbaust.
Das ganze sollte ursprünglich ein Light Novel sein. Deshalb auch die Mangaelemente.


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